Seltenes Ton-Dokument: Johannes Paul I. auf Deutsch

Er saß nur 33 Tage lang auf dem Stuhl des römischen Bischofs – und hinterließ dennoch einen tiefen Eindruck: Johannes Paul I., der „lächelnde Papst“. Seine freundliche, spontane Art rührte die Menschen an, umso größer war dann der Schock bei der Nachricht von seinem Tod Ende September 1978. Für ihn läuft ein Seligsprechungs-Prozess.

Nur einmal in seinem Blitz-Pontifikat hat Papst Luciani Deutsch gesprochen: einen Tag vor seinem Tod, am 27. September 1978, also vor genau vierzig Jahren. Dieses seltene Tondokument haben wir jetzt wieder aus unserem Archiv geholt – vierzig Jahre später.

Hier hören Sie die historische Aufnahme in voller Länge.

Vor deutschsprachigen Besuchern seiner Generalaudienz erzählte der erste Johannes Paul damals von einem Gebet, das ihn seine Mutter einmal gelehrt hatte. Dieses Gebet bitte Gott um immer mehr Liebe zu ihm. Er bete es noch heute jeden Tag, sagte Johannes Paul: „Ja, mit ganzem Herzen lieben – das ist die einzige Stelle, wo der Mensch streng sein darf und soll, in der Liebe zu Gott.“

(vatican news – sk)

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Weg frei für Seligsprechung von Papst Johannes Paul I.

Johannes Paul I: Bald selig – RV

Papst Franziskus hat den Weg zur Seligsprechung von Papst Johannes Paul I. frei gemacht. Er unterzeichnete am Mittwoch das Dekret, das dem 1978 gewählten und verstorbenen Papst den sogenannten heroischen Tugendgrad zuerkennt, wie der Vatikan mitteilte. Damit kann eine Seligsprechung des als „lächelnder Papst“ populären Kirchenoberhauptes stattfinden.

Bei der Audienz für den Präfekten der vatikanischen Kongregation für die Selig- und Heiligsprechungen, Kardinal Angelo Amato, am Mittwoch unterzeichnete Franziskus noch weitere Dekrete. Eines betrifft das Martyrium des ungarischen Priesters Janos Brenner, der 1957 aus Glaubenshass ermordet wurde.

Außerdem erkannte der Papst dem seligen Bernhard von Baden den heroischen Tugendgrad im Nachhinein zu. Der deutsche Adelige aus dem 15. Jahrhundert galt durch die starke Verehrung von Gläubigen über die Jahrhunderte hin bereits seit langer Zeit als selig. Der Heilige Stuhl bestätigte diesen Status im 18. Jahrhundert. Inzwischen läuft für den seligen Bernhard von Baden ein Heiligsprechungsverfahren.

(rv 09.11.2017 mg)


Seltenes Ton-Dokument: Johannes Paul I. auf Deutsch

Auf dem Weg zur Seligsprechung: Johannes Paul I.

Er saß nur 33 Tage lang auf dem Stuhl des römischen Bischofs – und hinterließ dennoch einen tiefen Eindruck: Johannes Paul I., der „lächelnde Papst“. Seine freundliche, spontane Art rührte die Menschen an, umso größer war dann der Schock bei der Nachricht von seinem Tod. Seine Seligsprechung steht bevor, Franziskus hat den heroischen Tugendgrad seines Vorgängers anerkannt.

Nur einmal in seinem Blitz-Pontifikat hat Papst Luciani Deutsch gesprochen: einen Tag vor seinem Tod, am 27. September 1978. Vor deutschsprachigen Besuchern seiner Generalaudienz erzählte er von einem Gebet, das ihn seine Mutter einmal gelehrt hatte. Dieses Gebet bitte Gott um immer mehr Liebe zu ihm. Er bete es noch heute jeden Tag, sagte Johannes Paul: „Ja, mit ganzem Herzen lieben – das ist die einzige Stelle, wo der Mensch streng sein darf und soll, in der Liebe zu Gott.“An diesem Donnerstag wurde dem „lächelnden Papst“ vom Vatikan ein „heroischer Tugendgrad“ bescheinigt; das ist eine wichtige Etappe auf seinem Weg zu einer Seligsprechung.

Hier hören Sie die Ton-Aufnahme; sie ist ein wahrer Schatz aus den Archiven von Radio Vatikan.

(rv 09.11.2017 sk)

Aussagen der Päpste über den seligen Josemaría und das Opus Dei

Saint Josémaría

JOSEMARÍA ESCRIVÁ DE BALAGUER

Johannes Paul II.

“Ein klarer Ausdruck der göttlichen Vorsehung ist die jahrhundertelange ununterbrochene von Männern und Frauen, die treu zu Christus mit ihrem Leben und ihrer Botschaft die verschiedenen Epochen der Geschichte erleuchten. Unter diesen grossen Persönlichkeiten nimmt der selige Josemaría Escrivá einen besonderen Platz ein, denn, wie ich schon am Tag seiner Seligsprechung betont habe, erinnerte er die heutige Welt an die universale Berufung zur Heiligkeit und an den christlichen Wert, den die berufliche Arbeit in den normalen Umständen jedes Einzelnen erlangen kann”. (Audienz mit den Teilnehmern des Kongresses über die Lehre des seligen Josemaría, 14.10.1993).

“Mit übernatürlichem Weitblick verkündete der selige Josemaría unermüdlich die universale Berufung zur Heiligkeit und zum Apostolat. Christus ruft alle auf, sich in der Wirklichkeit des täglichen Lebens zu heiligen; für ihn ist auch die Arbeit ein Mittel der Selbstheiligung und des Apostolates, wenn man in Vereinigung mit Christus lebt; denn als der Sohn Gottes Mensch wurde, hat er sich irgendwie mit der ganzen Wirklichkeit des Menschen und der ganzen Schöpfung vereint (vgl. Dominum et vivificantem, 50). In einer Gesellschaft, in der das unkontrollierte Streben nach materiellem Besitz vorherrscht, die Dinge in Idole und in eine Ursache der Gottesferne verwandelt, hat der neue Selige uns daran erinnert, dass genau diese Wirklichkeiten, Geschöpfe Gottes und des menschlichen Genies, zur Ehre Gottes gereichen und Anlass der Begegnung mit Christus sein können, wenn sie in rechter Weise zur Ehre des Schöpfers und zum Dienst an den Brüdern gebraucht werden”. (Seligsprechungszeremonie von Josemaría Escrivá, 17.5.1992).

Johannes Paul I.

“Escrivá de Balaguer sagte oft gemäss dem Evangelium: ‘Christus verlangt nicht nur etwas Güte, sondern viel Güte. Aber er will nicht, dass wir sie mittels ausserordentlichen Handlungen erreichen, sondern durch gewöhnliche Handlungen, wenn auch die Art und Weise wie diese Handlungen ausgeführt werden, aussergewöhnlich sein muss’. Dort, ‘nel bel mezzo della strada’ – im Büro, in der Fabrik – heiligen wir uns jedes Mal, wenn wir unsere Pflicht mit Kompetenz, aus Liebe zu Gott und mit frohem Herzen erfüllen. So verwandelt sich die tägliche Arbeit nicht in eine ‘tägliche Tragödie’ sondern in ein ‘tägliches Lächeln’”.(Artikel in Il Gazzettino, Venedig, 25.7.1978)

Paul VI.

“In seinen Worten haben wir die Begeisterung der brennenden und grosszügigen Spiritualität der gesamten Institution entdeckt, die in unserer Zeit als lebendiges Zeichen der ewigen Jugend der Kirche geboren wurde (…). Wir betrachten mit väterlicher Zufriedenheit wieviel das Opus Dei für das Reich Gottes geleistet hat und weiter leistet; der Wunsch, das Gute zu tun leitet es an; die entfachte Liebe zur Kirche und zu ihrem sichtbaren Haupt unterscheidet es; der brennende Eifer für die Seelen drängt es auf die mühsamen und schwierigen Wege des Apostolates der Präsenz und des Zeugnisses in allen Sektoren unserer Zeit”. (Handschriftlicher Brief an Msgr. Josemaría Escrivá de Balaguer, 1.10.1964).

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Quelle


Chronologie des Heiligsprechungsprozesses

1975-1980:
Seit dem Tod von Msgr. Escrivá de Balaguer am 26. Juni 1975 erhält die Postulatur der Heiligsprechung eine Vielzahl von Zeugnissen, in denen Menschen aus verschiedenen Ländern Erinnerungen aus ihrer Begegnung mit Josemaría Escrivá beschreiben. Es treffen auch nach und nach tausende von Schilderungen ein über Gunsterweisung auf seine Fürbitte hin. Dies veranschaulicht die weitverbreitete persönliche Andacht zu Josemaría Escrivá.

1980:
In Übereinstimmung mit dem von der Kongregation für die Heiligsprechung aufgestellten Zeitraum ersucht die Postulatur anlässlich des fünften Todestages Msgr. Escrivás um Aufnahme des Selig- und Heiligsprechungsprozesses. Der Antrag wird beim Vikariat von Rom gestellt, da Msgr. Escrivá in dieser Stadt gestorben ist.

1981:
Am 30. Januar gibt die Kongregation für die Heiligsprechung nach sorgfältigem Studium der vom röm. Vikariat präsentierten Unterlagen das Nihil obstat für die Promulgation des Dekretes zur Aufnahme der Heiligsprechung durch den Kardinalvikar. Am 5. Februar bestätigt der Papst den Beschluss der Kongregation, und am 19. Februar veröffentlicht Kardinal Poletti, Vikar von Rom, das entsprechende Dekret.

Am 14. März genehmigt die Kongregation die Errichtung eines weiteren Tribunals (neben dem bereits vorhandenen Tribunal des röm. Vikariates) durch den Erzbischof von Madrid, um die Zeugnisse von spanischen Bürgern oder andere in spanisch verfassten Aussagen anzunehmen.

Am 12. Mai findet in Rom die Eröffnung des Prozesses über Leben und Tugenden des Dieners Gottes statt.

Am 18. Mai wird in Madrid unter Vorsitz von Kardinal Enrique y Tarancón der Prozess eröffnet und von dem dort eingerichteten Tribunal weitergeführt.

1982:
Am 21. Januar präsidiert Kardinal Enrique y Tarancón die Konstitution eines weiteren Tribunales, das einen Prozess zur Untersuchung einer wundersamen Heilung, die der Fürsprache des Dieners Gottes zugeschrieben wird, aufnimmt. Der Vorfall ereignete sich 1976 an einer Ordensfrau, die an Krebs im Endstadium litt und plötzlich geheilt war. Am 3. April wird dieser Prozess unter Vorsitz des Madrider Erzbischofs abgeschlossen und die Originalabschrift der Akte an die Kongregation für die Heiligsprechung gesandt.

1984
Am 26. Juni präsidiert der neue Erzbischof von Madrid, Msgr. Angel Suquía, die letzte Sitzung des Madrider Prozesses über Leben und Tugenden des Dieners Gottes. Eine vollständige Originalabschrift der Akte wird der Kongregation für die Heiligsprechung übergeben.

Am 20. November erklärt die Kongregation für die Heiligsprechung in ihrem Ordentlichen Kongress die Gültigkeit des Wunderprozesses.

1986
Am 8. November schliesst unter Vorsitz des Kardinalvikars von Rom der römische Prozess über Leben und Tugenden des Dieners Gottes. Die Postulatur beginnt mit der Ausarbeitung der Positio, der gesamten Unterlagen, die der Kongregation für die Heiligsprechung zur Untersuchung vorgelegt werden müssen. In der Positio werden die in beiden Prozessen – von Rom und Madrid – erhaltenen Ergebnisse gesammelt, einer kritischen Untersuchung über den heroischen Tugendgrad des Dieners Gottes unterzogen, und weitere Dokumente zur Vervollständigung beigefügt. Die Postulatur übernimmt diese Arbeit unter der Leitung von P. Ambrogio Eszer, O.P., Relator der Kongregation für die Heiligsprechung.

1987
Am 3. April erklärt der Ordentliche Kongress der Kongregation für die Heiligsprechung in einem Dekret die Gültigkeit der beiden Prozesse (Rom und Madrid) über den heroischen Tugendgrad des Dieners Gottes; deren Rechtmässigkeit wird somit bestätigt.

1988
Im Juni wird die Ausarbeitung der Positio über Leben und Tugenden des Dieners Gottes abgeschlossen. Das Dokument, das 4 Bände mit insgesamt 6.000 Seiten umfasst, wird der Kongregation für die Heiligsprechung zur endgültigen Untersuchung übergeben.

1989
Am 19. September erhält die Positio das affirmative Votum des Kongresses der Kongregationsberater.

1990
Am 20. März erfolgt das ebenfalls affirmative Votum der Ordentlichen Kongregation der Kardinäle und Bischöfe über die Positio. Am 9. April veranlasst der Papst die Veröffentlichung des Dekretes über die heroischen Tugenden des Dieners Gottes. Nach der Promulgation dieses Dekretes kann die Postulatur nun der Kongregation die Positio des Madrider Prozesses über die angeblich wundersame Heilung vorlegen.

Am 30. Juni kommt der Medizinische Rat der Kongregation in seinem technischen Gutachten zu dem Ergebnis, dass diese Heilung nicht mit natürlichen Ursachen erklärbar ist. Am 14. Juli spricht sich der Kongress der Theologischen Berater nach Prüfung des Falles für den wunderhaften Charakter der Heilung und deren Erfolgen auf die Fürsprache des Dieners Gottes aus.

1991
Am 18. Juni überprüft die Ordentliche Kongregation der Kardinäle und Bischöfe die Unterlagen über das angebliche Wunder und gibt sein affirmatives Votum. Am 6. Juli verfügt der Papst die Erweiterung des Dekretes, in dem diese Heilung als Wunder erklärt wird. Nachdem auf diese Weise alle vom Gesetz über die Heiligsprechung geforderten Requisiten erfüllt sind, geht der Papst zur Seligsprechung über.

1992
Am 17. Mai wird Josemaría Escrivá de Balaguer von Johannes Paul II. in Rom selig gesprochen.

1993
Die Postulatur für die Heiligsprechung erfährt durch einen Brief vom 15. März 1993 von der Heilung des Arztes Dr. Manuel Nevado Rey. Mit Hilfe der Zusammenarbeit des Betreffenden werden Unterlagen gesammelt und eine umfassende Untersuchung über die Krankheit Dr. Nevados durchgeführt. Nachdem der aussergewöhnliche Charakter der Heilung feststeht, übergibt die Postulatur am 30. Dezember dem Bischof von Badajoz (Diözese in Südspanien) die gesammelten Unterlagen mit der Bitte um entsprechende Aufnahme des Prozesses über das Wunder.

1994
Die diözesane Untersuchung erfolgt in der bischöflichen Kurie von Badajoz von 12. Mai bis 4. Juli. Dann werden die Prozessakte nach Rom überstellt und von der Kongregation für die Heiligsprechung einem formalen Studium unterzogen.

1996
Die Kongregation erklärt am 26. April 1996, dass der Prozess unter voller Einhaltung der Normen und der bestehenden juridischen Praxis durchgeführt wurde (Dekret der Gültigkeit).

1997
Mit Datum vom 10. Juli 1997 bestätigt der Medizinische Rat der Kongregation für die Heiligsprechung einstimmig, dass die Heilung Dr. Nevados von einer “Krebserkrankung durch schwere chronische Radiodermitis in unheilbarem 3. Stadium” “sehr rasch, vollständig und dauerhaft; aus wissenschaftlicher Sicht unerklärlich” erfolgt ist.

1998
Am 9. Januar 1998 geben die Theologischen Berater der Kongregation zum übernatürlichen Charakter dieser Heilung und zur ursächlichen Beziehung zwischen der Anrufung des seligen Josemaría Escrivá de Balaguer und dem Verschwinden der Krankheit einstimmig ihre positive Stimme ab.

2001
Am 21. September bestätigt die Ordentliche Kongregation der Kardinäle zusammen mit Bischöfen der Heiligsprechungskongregation einstimmig den wundersamen Charakter der Heilung von Dr. Nevado auf die Fürsprache des seligen Josemaría Escrivá. Die Verlesung des Dekretes über das Wunder erfolgt in Anwesenheit des Papstes am 20. Dezember.

2002
Am 26. Februar präsidiert der Papst ein Öffentliches Ordentliches Kardinalskonsistorium zur Approbation von Heiligsprechungen verschiedener Seliger. Unter ihnen erscheint Josemaría Escrivá, dessen Heiligsprechung für 6. Oktober 2002 festgesetzt wird.

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Quelle

Kardinal Ratzinger enthüllt[e] Einzelheiten über die Wahl von Papst Johannes Paul I.

200767

„Sein unvorhergesehener Tod ermöglichte die Wahl eines Nichtitalieners“

VATIKAN, 7. Oktober 2003 (ZENIT.org).- In einem Interview mit der Monatszeitschrift „Trenta Giorni“ (Dreißig Tage) hat Joseph Kardinal Ratzinger zum erstenmal über die Wahl des 33-Tage-Papstes Albino Luciani gesprochen, der als erster den Doppelnamen Johannes Paulus annahm.

Der Präfekt der Glaubenskongregation war bereits mit dem Luciani-Papst bekannt, als dieser noch Patriarch von Venedig war, also lange vor dem Konklave von 1978.

„Es ist richtig, dass wir deutschsprachigen Kardinäle uns hin und wieder trafen. Bei diesen Begegnungen waren Kardinal Joseph Schröffer, ehemaliger Präfekt der Kongregation für das Katholische Bildungswesen sowie Erzbischof Joseph Höffner von Köln, Erzbischof Franz König von Wien und der Berliner Erzbischof Alfred Bengsch, alle Träger des Kardinalpurpurs, dabei“.

Immer wieder fanden sich auch die beiden deutschstämmigen Kardinäle aus Brasilien, Paulo Evaristo Arns und Alois Lorscheider dazu ein. Wir waren eine kleine Gruppe, und wir wollten absolut keine Entscheidung treffen, sondern nur miteinander reden. Ich ließ mich von der Vorsehung leiten, hörte immer wieder etliche Namen und sah, wie sich allmählich ein Konsens im Bezug auf den Patriarchen von Venedig herauskristallisierte“.

Über die Wahl von Papst Johannes Paul I., so Kardinal Ratzinger, sei er sehr glücklich gewesen. „Einen so gütigen und glaubensstarken Menschen als Hirten der Universalkirche zu haben, war sozusagen eine Garantie dafür, dass alles gut ausgehen würde. Er selbst war überrascht und trug schwer an einer so großen Verantwortung. Man merkte, dass ihm das nicht leicht fiel. Diesen Wahlausgang hatte er nicht erwartet. Auch war er keiner, der Karriere machen wollte“.

„Sein Tod war völlig unerwartet“, so Kardinal Ratzinger, der bei seiner Wahl selbst glaubte, dass Luciani bei bester Gesundheit war.

„Ich bin persönlich fest davon überzeugt, dass er aufgrund seiner Güte und Schlichtheit, seiner Menschlichkeit und seines großen Mutes ein Heiliger war“.

„Er hatte den Mut, die Dinge klar beim Namen zu nennen, selbst wenn er sich dabei von der vorherrschenden Meinung absetzte“. Und nach seinem Tode, so Kardinal Ratzinger, fühlten sich er und andere Kardinäle „ziemlich niedergeschlagen“.

„Dass die Vorsehung unsere Wahl mit einem „Nein“ quittierte, war schon ein harter Schlag. Aber deshalb war die Wahl Lucianis nicht falsch. Auch dieses 33-Tage-Pontifikat hat eine Bedeutung in der Kirchengeschichte. Es war nicht nur das Zeugnis seiner Güte und seines tiefen Glaubens. Sein unvorhergesehener Tod öffnete auch die Pforten für eine weitere unerwartete Wahl – die Wahl eines Nichtitalieners“.

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Quelle

Siehe dazu auch:

7 PÄPSTE führen die KIRCHE CHRISTI ins Dritte Jahrtausend nach Christus

der-Petrus-Papst

Papst PIUS XII. (Eugenio Maria Giuseppe Giovanni Pacelli)

Papst JOHANNES XXIII. (Angelo Giuseppe Roncalli)

Papst PAUL VI. (Giovanni Battista Enrico Antonio Maria Montini)

Papst JOHANNES PAUL I. (Albino Luciani)

Papst JOHANNES PAUL II. (Karol Józef Wojtyla)

Papst BENEDIKT XVI. (Joseph Aloisius Ratzinger)

Papst FRANZISKUS (Jorge Mario Bergoglio)

Kardinal Joseph Ratzinger über Papst Paul VI. und Johannes Paul I.

In this photo provided by the Basilica of the National Shrine of the Immaculate Conception, Pope Benedict XVI says Vespers in the Crypt at the Basilica of the National Shrine of the Immaculate Conception with the bishops of the United States in Washington, Wednesday, April 16, 2008. (AP Photo/Basilica of the National Shrine of the Immaculate Conception, Matthew Barrick) ORG XMIT: WX125

Benedikt XVI. am 16. April 2008

Unser Erlöser lebt, hat ein Gesicht und einen Namen: Jesus Christus

Die Homilie des Dekans des Kardinalskollegiums aus der Messe für die verstorbenen Päpste Paul VI. und Johannes Paul I. in der Petersbasilika am 28. September 2004.

von Kardinal Joseph Ratzinger

1098787337281Paul VI. mit dem Patriarchen von Venedig, Albino Luciani, bei dem Besuch des Papstes in Venedig (September 1972).

Liebe Brüder und Schwestern,
die Liturgie bietet uns im Tagesgebet und im Gebet nach der Kommunion eine Interpretation des Petrusamtes, die wie ein spirituelles Porträt der beiden Päpste Paul VI. und Johannes Paul I. erscheint, zu deren Gedenken wir diese Messe feiern. Im Tagesgebet heißt es, daß die Päpste „in der Liebe Christi … den Vorsitz in deiner Kirche geführt haben“, und in dem Gebet nach der Kommunion bitten wir den Herr, er möge seinen Dienern, den Päpsten, gewähren „in den vollen Besitz der Wahrheit zu gelangen, in der sie, mit apostolischem Freimut, die Brüder bestärkt haben.“ Liebe und Wahrheit erscheinen als die beiden Pole der den Nachfolgern Petri anvertrauten Sendung.
In der Liebe Christi den Vorsitz führen – wer würde bei diesen Worten nicht an den Brief des hl. Ignatius an die Kirche von Rom denken, der der heilige Märtyrer aus Antiochien, dem ersten Sitz des hl. Petrus, „den Vorsitz in der Liebe“ zuerkennt. In seinem Brief heißt es, daß die Kirche von Rom „im Gesetz Christi steht“; und hier spielt er auf die Worte des Paulus in dem Brief an die Galater an: „Einer trage des anderen Last; so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen“ (6,2). In der Liebe den Vorsitz führen heißt vor allem vorangehen „in der Liebe Christi“. Erinnern wir uns an dieser Stelle daran, daß die definitive Übertragung des Primats an Petrus nach der Auferstehung an die dreimal vom Herrn wiederholte Frage gebunden ist: „Simon, Sohn des Johannes, liebst Du mich mehr als diese?“ (Joh 21,15ff). Die Herde Christi weiden und den Herrn lieben sind dasselbe. Die Liebe Christi ist es, die die Schafe auf den rechten Weg geleitet und die Kirche auferbaut. Hier kommt uns unweigerlich die denkwürdige Ansprache in den Sinn, mit der Paul VI. die zweite Sitzungsperiode des II. Vatikanischen Konzils eröffnet hatte: „Te, Christe, solum novimus“ waren die entscheidenden Worte dieser Predigt. Der Papst sprach vom Mosaik in St. Paul vor den Mauern, mit der mächtigen Gestalt des Pantokrators, zu dessen Füßen Papst Honorius III. kniet, von kleiner Statur, fast unbedeutend vor der Größe Christi. Der Papst fuhr fort: Diese Szene wiederholt sich in voller Wirklichkeit hier in unserer Versammlung. Das war seine Sicht des Konzils, seine Sicht auch des Primats: wir alle zu Füßen Christi, um Diener Christi zu sein, um dem Evangelium zu dienen: Das Wesen des Christentums ist Christus, nicht einfach eine Lehre, sondern eine Person, und evangelisieren heißt zur Freundschaft mit Christus führen – zur Liebesgemeinschaft mit dem Herrn, dem wahren Licht unseres Lebens.
Den Vorsitz in der Liebe führen bedeutet – sagen wir es noch einmal – vorangehen in der Liebe Christi. Aber die Liebe Christi impliziert die Kenntnis Christi – den Glauben – und impliziert Teilhabe an der Liebe Christi: einer des anderen Last tragen, wie Paulus sagt. Der Primat ist in seinem innersten Wesen kein Ausüben von Macht, sondern ein „Einer-des anderen-Last-Tragen“; ist Verantwortung der Liebe. Die Liebe ist das genaue Gegenteil der Gleichgültigkeit dem anderen gegenüber, sie kann nicht zulassen, daß im anderen die Liebe Christi erlischt, daß Freundschaft mit dem Herrn und Kenntnis des Herrn geringer werden, daß „die Sorgen dieser Welt und der trügerische Reichtum das Wort ersticken“ (Mt 13,22). Und schließlich: Die Liebe Christi ist Liebe zu den Armen, zu den Leidenden. Wir wissen nur allzu gut, wie sehr sich unsere Päpste gegen die Ungerechtigkeit, für die Rechte der Unterdrückten, die Machtlosen, eingesetzt haben: Die Liebe Christi ist nichts Individualistisches, rein Spirituelles: Sie betrifft das Fleisch, sie betrifft die Welt, sie muß die Welt verwandeln.
Den Vorsitz in der Liebe führen geht schließlich die Eucharistie an, die die Realpräsenz der fleischgewordenen Liebe ist, Präsenz des Leibes Christi, hingegeben für uns. Die Eucharistie schafft die Kirche, schafft dieses große Netz der Gemeinschaft, das der Leib Christi ist, und schafft so die Liebe. In diesem Geist feiern wir mit den Lebenden und den Verstorbenen die heilige Messe – das Opfer Christi, aus dem die Gabe der Liebe entspringt.

1098787337375Thronender Christus, Detail des Apsismosaiks der Basilika St. Paul vor den Mauern.

Die Liebe wäre blind ohne die Wahrheit. Und daher gibt der Herr dem, der in der Liebe vorangehen soll, das Versprechen: „Simon, Simon, ich aber habe für dich gebetet, daß dein Glaube nicht erlischt“ (Lk 22,32). Der Herr sieht, daß Satan danach trachtet, „euch wie Weizen zu sieben“ (Lk 22,31). Während diese Prüfung alle Jünger betrifft, betet Christus in besonderer Weise „für dich“ – für den Glauben des Petrus, und auf dieses Gebet gründet sich die Sendung „deine Brüder zu bestärken.“ Der Glaube des Petrus kommt nicht aus seiner eigenen Kraft – die Unerschütterlichkeit des Glaubens Petri gründet sich auf das Gebet Jesu, des Sohnes Gottes: „Ich habe für dich gebetet, daß dein Glaube nicht erlischt“. Dieses Gebet Jesu ist das sichere Fundament des Petrusdienstes für alle Jahrhunderte, und das Gebet nach der Kommunion kann zu recht sagen, daß die Päpste Paul VI. und Johannes Paul I. „mit apostolischem Freimut“ ihre Brüder bestärkt haben: In einer Zeit, in der wir sehen, wie Satan die Jünger Christi „wie Weizen siebt“, war der unerschütterliche Glaube der Päpste sichtlich der Fels, auf dem die Kirche ruht.
„Ich weiß, daß mein Erlöser lebt,“ heißt es in der ersten Lesung der heutigen Liturgie aus dem Buch Hiob – er sagt es im Augenblick einer äußersten Prüfung; in einem Augenblick, da Gott sich verbirgt und sein Gegner zu sein scheint. Bedeckt vom Schleier des Leidens, ohne seinen Namen und sein Antlitz zu kennen, „weiß“ Hiob, daß sein Erlöser lebt, und diese Gewißheit ist der große Trost im Dunkel der Prüfung. Jesus Christus hat den Schleier gelüftet, der für Hiob das Antlitz Gottes verdeckte. Ja, unser Erlöser lebt, und „wir alle spiegeln mit enthülltem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wider und werden so in sein eigenes Bild verwandelt“ sagt Paulus (2Kor3,18). Unser Erlöser lebt – hat ein Gesicht und einen Namen: Jesus Christus. Unsere „Augen werden ihn schauen“ – diese Gewissheit geben uns unsere verstorbenen Päpste, und so führen sie uns „zum vollen Besitz der Wahrheit“ und bestärken uns im Glauben an unseren Erlöser. Amen.

(Deutsche Fassung aus dem italienischen Original: 30Tage)

Die letzten Nachfolger Petri und das Ökumenische Konzil Vatikanum II – 7

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II. DER HEILIGE VATER JOHANNES PAUL I. (1978)

Beim Konklave wurde Kardinal Albino Luciani von Venedig am 26. August 1978 zum Papst und Nachfolger Petri gewählt. Er nahm die Wahl an und gab sich den Namen „Johannes Paul I.“. Vor ihm gab es keinen Papst, der zwei Namen hatte. Doch er wollte mit diesen zwei Namen die Namen seiner Vorgänger Johannes und Paul übernehmen, die eine neue Epoche in der Geschichte der Kirche  eröffnet haben. Und er wollte zudem seine besondere Verbindung zu seine unmittelbaren Vorgängern zum Ausdruck bringen: Papst Johannes XXIII. weihte ihn zum Bischof, und Papst Paul VI. ernannte ihn zum Kardinal.

Johannes Paul I. erschien am Himmel der Kirche wie ein Meteor. In den 33 Tagen seines Dienstes auf dem Stuhl Petri „hat er eine ungewöhnliche Anziehungskraft ausgeübt: mit seinem »kirchlichen Sinn«, in seiner Per­sönlichkeit als Hirte und seinem Lebensstil, mit seinen demütigen, sym­pathischen Zügen, seinem Lächeln, seiner Art zu sprechen, die ihn in freundlicher und familiärer Weise mit allen ins Gespräch brachte, so, als ob er mit jedem per du gewesen wäre. Das Geheimnis dieser Ausstrah­lung, die immer noch lebendig ist, besteht in der Tatsache, daß Johannes Paul I. innerlich stets ergriffen war von der überragenden Wirklichkeit der Liebe, die von Gott kommt.“61

Albino Luciani betete regelmäßig folgendes Gebet: „Herr, ich sehne mich sehr danach, dir zu gefallen. Nimm mich wie ich bin, mit meinen Gren­zen, Schwächen und Sünden, und laß mich werden, wie du mich haben willst.“ Er lebte demütig und lehrte kontinuierlich die Demut. Als Bischof und dann als Papst war die Demut sein Wahlspruch. Auf seinem Wappen war zu lesen: „Humilitas“ (Demut). Als Bischof nahm er am Ökumeni­schen Zweiten Vatikanischen Konzil teil. Als Papst war die Verwirkli­chung des Konzils sein Programm.

„Wir wollen in der Fortführung des Erbes des Zweiten Vatikanischen Konzils fortfahren, dessen weise Grundsätze nun zur Vollendung geführt werden müssen. Wir müssen darüber wachen, daß eine vielleicht hoch­herzige, aber unüberlegte Bewegung seine Inhalte und seinen Sinn nicht entstellt und ebenfalls darüber, daß bremsende und zaghafte Kräfte sei­nen wunderbaren Erneuerungs- und Lebensimpuls nicht vermindern. Wir wollen die große Disziplin der Kirche im Leben der Priester und Gläubigen unversehrt bewahren, für die der bewährte Reichtum ihrer Geschichte im Laufe der Jahrhunderte durch Beispiele von Heiligkeit und Heldenmut bürgt.“62

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61 Johannes Paul II., Ansprache vom 28. 9. 1988, 3, 988; vgl. ders., Ansprache vom 16. 7. 1988, 3, 134; ders., An­sprache vom 26. 8. 1979, 2,172; ders., Ansprache vom 28. 8. 1979, 2,191f.

62 Johannes Paul I., Ansprache vom 27. 8. 1978, in: Insegnamenti di Giovanni Paolo I, 1978, 15.

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FÜNFTER TEIL

DER HEILIGE VATER JOHANNES PAUL II.
(1978 -)

„Eine kohärente Verwirklichung der Lehre und der Weisungen des Zweiten Vatikanischen Konzils ist und bleibt die Hauptaufgabe des Pon­tifikates.

Der Gehorsam gegenüber der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils ist der Gehorsam gegenüber dem Heiligen Geist, der der Kirche verliehen ist, um in jedem Abschnitt der Geschichte an alles zu erinnern, was Chri­stus selbst gesagt hat, um »die Kirche alles zu lehren« (vgl. Joh 14,26). Der Gehorsam gegenüber dem Heiligen Geist zeigt sich in der authentischen Erfüllung der Aufgaben, die das Konzil vorgegeben hat, in vollkommener Übereinstimmung mit der von ihm vorgelegten Lehre»1

Der Heilige Vater Johannes Paul II. ist ein Papst, der das Ökumenische Zweite Vatikanische Konzil in außerordentlicher Weise versteht und ver­wirklicht. Er integriert es, vom Geist Christi bewegt, systematisch in das Leben der Kirche und das in einem Umfang und einer Tiefe, die Erstau­nen hervorruft. In diesem Rahmen erscheint die wahre Größe des Heili­gen Vaters und die prophetische Rolle seines Pontifikats für die Kirche und für die Menschheit in dieser Zeit des großen Umbruches und für die Zukunft.

I. EIN PAPST DES ÖKUMENISCHEN
ZWEITEN VATIKANISCHEN KONZILS

1. Ein Papst des Konzils

Der Priester Karol Wojtyla empfing am 28. September 1958 in Krakau (Polen) die Bischofsweihe. Er besaß die besondere Gnade, das Zweite Va­tikanische Konzil von Anfang an mit vorbereiten und in den verschiede­nen Phasen seiner Durchführung seinen Beitrag leisten zu dürfen.

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1 Johannes Paul II., Ansprache vom 6.11.1979, 2, 1062-1063; vgl. ders., Ansprache vom 17.10.1978, 4f; ders. Ansprache vom 19.11.1984, 2, 1249.

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Erzbischof Karol Wojtyla wurde 1967 von Papst Paul VI. zum Kardinal ernannt und zeichnete sich durch die Verwirklichung des Konzils im Le­ben der Diözese Krakau aus. Das Konzil war der Leitgedanke seines Den­kens und seiner pastoralen Tätigkeit.

„Das Zweite Vatikanische Konzil bleibt das grundlegende Ereignis im Leben der Kirche unserer Zeit: grundlegend durch die Vertiefung der ihr von Christus anvertrauten Reichtümer, der in ihr und durch sie das myste­rium salutis, das Heilswerk, fortsetzt und den Menschen mitteilt; grundle­gend für den fruchtbaren Kontakt mit der heutigen Welt zum Zweck der Evangelisierung und des Dialoges auf sämtlichen Ebenen und mit allen Menschen guten Willens.

Für mich war immer das II. Vatikanum – an dem teilzunehmen und an dessen Fortgang aktiv mitzuarbeiten ich die besondere Gnade hatte ­besonders in den Jahren meines Pontifikates der feste Bezugspunkt für mein ganzes pastorales Tun in dem bewußten Bemühen, seine Weisungen auf der Ebene jeder Kirche und der ganzen Kirche in konkrete und ge­treue Anwendung umzusetzen.

Es gilt, unablässig auf jene Quelle zurückzugreifen.“2

Am 16. Oktober 1978 wurde Karol Wojtyla zum Papst gewählt und gab sich den Namen Johannes Paul II. Dieser Name bringt zum Ausdruck, daß er sich mit seinen drei unmittelbaren Vorgängern auf dem Stuhl Petri ganz eng verbunden fühlt. Johannes Paul II. hat das kostbare Erbe seiner unmittelbaren Vorgänger und insbesondere den großen Schatz des letz­ten Konzils übernommen.

Johannes Paul II. wohnt geistlich in den erhabenen Stockwerken des mystischen Hochhauses Vatikanum II, im Jerusalem, auf dem Gipfel der theologischen und anthropologischen Welt. Der Papst entfaltete, vom Geist der Wahrheit erleuchtet, in organischer Kontinuität mit der großen Tradition und insbesondere mit der Lehre seiner unmittelbaren Vorgän­ger auf dem Stuhle Petri die neue Sicht des Konzils, die alle Wirklichkei­ten umfaßt. Er verwirklicht das Konzil richtig, das heißt seinem „Geist“ und seinem „Buchstaben“ nach. Als der höchste Mystagoge führt er das Volk Gottes in das „Heilige“ und in das „Allerheiligste“ des Tempels (des Geheimnisses) des II. Vatikanums.

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2 Johannes Paul II., Ansprache vom 25. 1. 1985; vgl. ders., Ansprache vom 29. 9. 1985, 2, 802. Zur Verbindung Johannes Pauls II. zu seinen vier unmittelbaren Vorgängern; vgl. Redemptor hominis, Nr. 2-4; ders., Ansprache vom 13.5. 1982, 2,1584; ders., Ansprache vom 28. 9. 1983, 2, 670; ders., Ansprache vom 6. 11. 1983, 2, 997f; Reconciliatio et poenitentia, Nr. 25: Johannes Paul II. erklärt, vor allem Paul VI. sei sein geistlicher Vater und Lehrer gewesen.

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Johannes Paul II. ist der schöpferischste Papst in der Geschichte der Kirche. Seine „Veröffentlichungen“ von 1978-1992 sind quantitativ zwei­mal größer als jene seines Vorgängers Paul VI. Er ist der dritte universelle Lehrer des Ökumenischen Zweiten Vatikanischen Konzils. Die Kirche wird in Zukunft einmal die ausgezeichnete Größe ihres Lehrers bewun­dern und anerkennen.

2. Ein Papst des großen Umbruches

Die Kirche wird im Jahr 2000 ein Heiliges Jahr feiern. Das große Jubi­läum 2000 „ruft uns die Kernwahrheit unseres Glaubens in Erinnerung und macht sie uns in besonderer Weise wieder bewußt, die der hl. Johan­nes am Anfang seines Evangeliums ausgedrückt hat: »Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt« (Joh 1,14), und an einer anderen Stelle: »Gott hat die Welt so sehr geliebt, daß er seinen einzigen Sohn hin­gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verlorengeht, sondern das ewige Leben hat« (Joh 3,16).“3

Das große Jubiläum ist das zweitausendjährige Geburtsfest Christi und der von ihm erwirkten Erlösung. Das große Jubiläum stellt das Ende des zweiten Jahrtausends der Christenheit und den Anfang des dritten dar. Diese Jahrfeier erfordert von der ganzen Kirche, von den Ortskirchen und von der Universalkirche, eine Zeit intensiver Vorbereitung.

Dennoch ist die Feier des großen Jubiläums nicht nur eine wenn auch feierliche Erinnerung an die Geburt Jesu Christi und an die Erlösung. Die Kirche nähert sich „dem Ende des zweiten Jahrtausends, das alle an die Ankunft des Wortes in der »Fülle der Zeit« (Gal 4,4) erinnert und diese gleichsam neu gegenwärtig setzen soll.“4

„Aus dieser Sicht kann man sagen, daß das Zweite Vatikanische Konzil ein Ereignis der Vorsehung darstellt, durch das die Kirche die unmittelbarere Vorbe­reitung auf das Jubiläum des Jahres 2000 in Gang gesetzt hat. Denn es han-

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3 Ders., Redemptor hominis, 1; ders., Ansprache vom 16. 4. 1988, 1, 914: „Die Treue der Kirche zu Christus steht auf dem Spiel in der Weise, wie sie die Menschwerdung Gottes und die Erlösung verkündigen wird, in der Weise, wie sie innerlich und öffentlich die wichtigste Jahresfeier der Menschheit begehen wird.“

4 Ders., Dominum et vivificantem, Nr. 61; ders., Ansprache vom 24. 1. 1994: „Der Beginn des dritten christlichen Jahrtausends stellt zweifellos einen wichtigen Abschnitt nicht nur für die Gemeinschaft der Kirche, sondern auch für die Stadt Rom, für Europa, für die gesamte Menschheit dar. Dies soll nicht verstanden werden, als ob man dem Chiliasmus huldige: Ich bin vielmehr der festen Überzeugung, daß das Jahr 2000 das »große Mysterium« des Glaubens neu gegenwärtig setzen wird.“

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delt sich um ein Konzil, das sich auf das Geheimnis Christi und seiner Kirche konzentriert und zugleich offen ist für die Welt. Diese Öffnung war die evan­gelische Antwort auf die moderne Evolution der Welt mit den umwälzen­den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, das von einem Ersten und einem Zweiten Weltkrieg, von der Erfahrung der Konzentrationslager und von entsetzlichen Gemetzeln gepeinigt worden ist. Das Geschehene zeigt mehr denn je, daß die Welt der Läuterung und der Umkehr bedarf.“5

Jedes Ökumenische Konzil ist in der Geschichte der Kirche von der göttlichen Vorsehung vorbereitet. Das Ökumenische Zweite Vatikanische Konzil ist ein zentrales Ereignis im Leben der Kirche am Ende des zwei­ten christlichen Jahrtausends. Das Konzil beschließt sozusagen die Kir­chengeschichte des zweiten christlichen Jahrtausends, ja ihrer beiden Jahrtausende. Und es beginnt ein neues Zeitalter der Kirche, die sich hauptsächlich im dritten Jahrtausend nach Christus entfalten wird. Das Zweite Vatikanische Konzil ist auch ein zentrales Ereignis für das Leben und für das Heil der Menschheit des 20. Jahrhunderts, denn es zeichnet die Wege ihrer großen Reinigung und Umkehr vor. Die Kirche schreitet von der ersten zur zweiten umfassenden Evangelisierung und Inkultu­ration des Evangeliums weiter, indem sie in diesen Jahren das große Kon­zil in die Praxis umsetzt.

Johannes Paul II. übernahm schon zu Beginn seines Pontifikates diese Verpflichtung: „die Kirche und die Menschheit auf das dritte Jahrtausend vorzubereiten. „6

Johannes Paul II. bereitet die Kirche und die Menschheit auf den gro­ßen Übergang ins dritte Jahrtausend nach Christus vor, indem er die konziliare Erneuerung verwirklicht. Er ist ein Papst des letzten Ab­schnittes des 20. Jahrhunderts und des zweiten Jahrtausends nach Chri­stus; er ist ein Papst des großen Überganges vom zweiten zum dritten christlichen Jahrtausend; er ist ein Papst des großen Überganges von der ersten zur zweiten universellen Evangelisierung und Inkulturation des Evangeliums. Johannes Paul II. ist ein Papst der großen Wende der Epo-

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5 Ders., Tertio millennio adveniente, Nr.18; ders., Ansprache vom 1. 12. 1992, 2, 790: „Das Zweite Vatikanische Konzil hat die Kirche auf den Übergang vom zweiten zum dritten christlichen Jahrtausend nach Christi Geburt vorbereitet“; ders., Schreiben an Kardinal Ratzinger zum Fall Lefèbvre, 3. 4. 1988, in: EnV 11, 315: „Wir sind zutiefst davon überzeugt, daß der Geist der Wahrheit, der zur Kirche spricht (vgl. Offb 2,7.11.17 u. a.), auf eine besonders feierliche und autoritative Weise durch das Zweite Vatikanische Konzil gesprochen hat, um die Kirche darauf vorzubereiten, in das dritte Jahrtausend nach Christi Geburt einzutreten“; vgl. ders., Ansprache vom 13. 6. 1994.

6 Ders., Ansprache vom 11. 10. 1986, 2,1002; vgl. ders., Ansprache vom 29. 5. 1994.

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chen, in der die Neuzeit endgültig am Untergehen ist und eine neue Welt ersteht.

„Unsere – der Bischöfe – derzeitigen pastoralen Bemühungen sollten auf die Schaffung jener tiefen und dynamischen Auffassung von Kirche abzie­len, welche diese im Jahr 2000 kennzeichnen muß. Die Kirche des Millenniums muß sich besser der Tatsache bewußt sein, daß sie das Reich Gottes in seinem Anfangsstadium ist. Sie muß zeigen, daß die Treue zu Christus für sie eine Lebensfrage ist und muß daher mit allen Kräften bestrebt sein, auf die großen Herausforderungen der Heiligkeit, der Evangelisierung und des Dienstes einzugehen. Gleichzeitig muß die Kirche des Millenni­ums als klares Zeichen ihrer Endzeitlichkeit aufscheinen, indem sie im Glauben jenes Geheimnis lebt, das noch nicht restlos enthüllt ist. Wenn sie das tut, muß sie mit dem heiligen Paulus sagen, daß „kein Auge gese­hen und kein Ohr gehört hat, was (…) Gott denen bereitet hat, die ihn lie­ben« (1 Kor 2,9).„7

Johannes Paul II. steigt an der Spitze des Volkes Gottes den Berg des Herrn hinauf und beobachtet mit der teleskopischen Optik des Glaubens und der Vernunft aufmerksam die theologische und anthropologische Welt von heute. Darüber hinaus durchschweift er mit dem teleskopischen Blick des Glaubens die Jahre vor dem großen Jubiläum; er schaut auf das Jahr des großen Jubiläums und richtet seinen Blick weit in das dritte christliche Jahrtausend hinein. Auf der Grundlage des letzten Konzils entfaltet er prophetisch jene tiefe und dynamische Sicht, welche die Kir­che des großen Jubiläums kennzeichnen muß. Er bemüht sich mit allen Kräften, um auf die Herausforderungen der Heiligkeit, der Evangelisie­rung und des Dienstes zu antworten. Johannes Paul II. ist ein großer Pro­phet der neuen Zeit der Kirche und der Menschheit. Er ist ein leuchtendes Zeichen, ein außerordentlich heller Stern des neuen Zeitalters der Kirche und der Welt.

II. DIE ERNEUERUNG DES OSTERGEHEIMNISSES
DES GOTTMENSCHEN

„In unserer Zeit hat das Zweite Vatikanische Konzil uns Christen alle er­neut dazu aufgerufen, unser ganzes Leben im Lichte des Ostergeheimnisses

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7 Ders., Ansprache vom 16. 4. 1988, 1, 909.

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Jesu Christi zu begreifen und zu verwirklichen. Die Konstitution über die heilige Liturgie lehrt: »Dieses Werk der Erlösung der Menschen und der vollendeten Verherrlichung Gottes, dessen Vorspiel die göttlichen Macht­erweise am Volk des Alten Bundes waren, hat Christus, der Herr, erfüllt, besonders durch das Pascha-Mysterium: sein seliges Leiden, seine Aufer­stehung von den Toten und seine glorreiche Himmelfahrt. In diesem My­sterium ,hat er durch sein Sterben unseren Tod vernichtet und durch sein Auferstehen das Leben neu geschaffen‘ (Osterpräfation im Missale Roma­num). Denn aus der Seite des am Kreuze entschlafenen Christus ist das wunderbare Sakrament der ganzen Kirche hervorgegangen« (SC 5).“8

Das Drama der Ablehnung Jesu Christi ist gleichsam der Kern der Er­eignisse, die in Jerusalem während des Paschafestes stattgefunden haben. Christus wurde von seinem Volk Israel (vom auserwählten Volk) und von den Heiden verworfen. Jesus wurde vom religiösen und vom weltlichen Gericht zum Tode verurteilt. Er wird mißhandelt, gegeißelt, mit Dornen gekrönt und zur Richtstätte geführt. Auf Golgotha wird Christus zwi­schen zwei Verbrechern gekreuzigt, und stirbt am Karfreitag in höchster Verlassenheit. Zuletzt wird er vom Kreuz herabgenommen und in ein neues Grab gelegt, das in den Felsen gehauen war. Das Grab befindet sich am Fuß von Golgotha. So vollzieht sich die totale und endgültige Ableh­nung des Gott-Menschen: von Gott und den Menschen. Doch am Tag nach dem heiligen Sabbat, das heißt am dritten Tage, ersteht Christus glorreich zum unsterblichen Leben und steigt siegreich aus dem Grabe.

Pascha ist der Übergang des Herrn. Jesus Christus ist durch den Tod am Kreuz auf Golgotha durch das Grab gegangen und hat sich in seiner Auf­erstehung in der Frühe des dritten Tages offenbart. Durch das Geheimnis des Kreuzes und der Auferstehung ist der Gottmensch durch die Geschich­te und die Geographie des Menschen und der Menschheit gegangen und hat sie aus der Knechtschaft der Sünde, vom Tod und von Satan befreit. Dieser Übergang ist das Ostern des Neuen und Ewigen Bundes. In diesem

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8 Johannes Paul II., Ansprache vom 19. 10. 1985, 2, 1043; vgl. ders., Ansprache vom 6. 4. 1980, 1, 821; ders., Ansprache vom 7.4. 1991,1, 712f; ders., Ansprache vom 23.3. 1989, 1647f; ders., Ansprache vom 22. 3. 1989, 1, 636-637: „»Ostern« bedeutet – wie bekannt – »Übergang«, ein Wort, das auf verschiedene Weise interpretiert wird: Es erinnert zunächst an den geschichtlichen und abenteuerlichen »Auszug« der Juden unter der Führung von Moses, aus der Knechtschaft der Ägypter in die Freiheit des von Gott auserwählten Volkes mit dem Ziel der Ankunft des Messias. Das Wort bezeichnet dann das Opfer des Lammes, das von den Juden vor ihrem Aufbruch und später jedes Jahr zum Gedenken an diesen »Auszug« dargebracht wurde. Dann ist auch Jesus selbst damit gemeint, der Messias, das wahre Lamm, dessen Opfer die Menschheit vom Joch der Sünde befreit und den »Übergang« vom Alten zum Neuen Testament vollzogen hat. Und schließlich bedeutet »Ostern« den Übergang Jesu vom Tod zum neuen Leben. Tatsächlich bedeutet ‚Ostern« im allgemeinen Wortsinn gerade die glorreiche Auferstehung Christi am dritten Tag nach seinem Tod am Kreuze, wie er vorhergesagt hatte.“

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Übergang offenbarte sich Jesus Christus endgültig als „Der, der ist“, näm­lich als Gott (Jahwe), als Erlöser. Kraft des Überganges Christi ereignete sich der größte Umbruch in der Geschichte: der Übergang des Menschen (der Menschheit), der im Stande der Sünde, der Knechtschaft des Todes und Satans war, zum Menschen im Stande der Gnade, der Gerechtigkeit und der Freiheit der Adoptivkinder Gottes.

Das Konzil (insbesondere die Konstitution Gaudium et spes) beschreibt die großen Bewegungen und Umwandlungen in der modernen Welt. Das Konzil beurteilt und behandelt sie im Lichte des österlichen Geheimnisses Jesu Christi. Die Kirche beurteilt und behandelt in der Zeit nach dem Konzil alle Geschehnisse im Lichte eines erneuerten Glaubens an das Pascha-Mysterium Christi.

1. Das große Begräbnis des Gottmenschen in der modernen Welt

a) Eine Meta-Versuchung

„Die Schlange des Buches Genesis, der Drache der Geheimen Offenba­rung ist der Geist der Finsternis, der Fürst der Lüge, der, weil er Gott und alles Göttliche ablehnt, zur inkarnierten »Ablehnung« geworden ist.“9 Der Papst spricht hier von Satan, den Jesus den „Vater der Lüge“ (Joh 8,44) nennt. Satan kämpft gegen Gott, der Wahrheit und Liebe ist. „Der Wider­spruch ist die Verfälschung der Wahrheit und die Nachäffung der Liebe.“10 Indem Satan Gott widerspricht, verführt und täuscht er den Menschen.

Das dritte Kapitel des Buches Genesis beschreibt das Geheimnis der ersten Versuchung und des Sündenfalles Adams. Die alte Schlange sagt zu Adam und Eva: Wenn ihr die verbotene Frucht eßt, „werdet ihr wie Gott sein“ (Gen 3,5). Der Vater der Lüge verführt den Menschen mit der Lüge, daß heißt mit der „Anti-Wahrheit“ („Anti-Wort“). Satan verfälscht die Wahrheit über den Menschen: wer der Mensch ist und welches die un­überschreitbaren Grenzen seines Seins und seiner Freiheit sind. Diese „Anti-Wahrheit“ ist möglich, weil Satan die Wahrheit darüber, wer Gott ist, verfälscht, weil er die Wahrheit über das höchste Gut verfälscht. Er ver­dächtigt Gott den Schöpfer im Gewissen des Menschen, ja er klagt ihn

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9 Ders., Ansprache vom 15. 8. 1984, 2, 204.

10 Ders., Ansprache vom 18. 4. 1982, 1, 1238.

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sogar an. Der Fürst der Finsternis stellt Gott als Feind seiner eigenen Ge­schöpfe und vor allem als Feind des Menschen, als Ursache von Gefahr und Bedrohung für den Menschen hin. So fordert er den Menschen her­aus, Gegner Gottes zu werden.

Der erste Mensch unterlag der Versuchung, kehrte Gott den Rücken zu und verlor das ewige Leben. Er wurde Knecht der Sünde, des Todes und Satans; er verschloß in einem gewissen Sinn seine Freiheit vor Gott und öffnete sie in einem gewissen Sinn für den „Vater der Lüge“. Mit seinem Sündenfall hat Adam einen großen Umbruch eingeleitet: den Übergang des Menschen im Stande der Gnade, der Gerechtigkeit und Freiheit, zum Menschen im Stande der Sünde, der Ungerechtigkeit und der Knecht­schaft des Todes und Satans, den Übergang vom „neuen Menschen“ (vom irdischen und himmlischen Menschen) zum „alten Menschen“ (zum ir­dischen und unterirdischen Menschen).

Aufgrund des Wirkens des „Vaters der Lüge“ gibt es durch die ganze Menschheitsgeschichte hindurch einen ständigen Druck auf den Men­schen, Gott zu verneinen und dies bis zum Haß: „Selbstliebe bis zur Ver­achtung Gottes.“11 Dieses Wort des heiligen Augustinus zeigt, was die Grundlage der „geheimen Macht der Gesetzwidrigkeit“ (2 Thess 2,7) in der Geschichte des Menschen und der Menschheit ist. Dieser geheimen Macht widerstreitet in der Geschichte der Menschen und der Menschheit das „Geheimnis unseres Glaubens“ (1 Tim 3,16). Das Geheimnis unseres Glau­bens hat sein letztes Fundament in Christus, der sich selbst erniedrigte und gehorsam war bis zum Tod am Kreuz; deshalb hat Gott ihn erhöht (vgl. Phil 2,6-11). In der Geschichte des Menschen und der Menschheit spielt sich ein unaufhörlicher Kampf ab zwischen dem „Geheimnis unse­res Glaubens“ und der „geheimen Macht der Gesetzwidrigkeit“.

„Ich bin zugleich ein irdischer und himmlischer Mensch.“12 Die Ge­schichte der Menschheit läuft im Zeichen des Kampfes zwischen dem im gekreuzigten und auferstandenen Gottmenschen „neuen Menschen“ (dem irdischen und himmlischen Menschen) und dem alten in Adam „ge­fallenen Menschen“ (dem irdischen und unterirdischen Menschen) ab.

„Wir leben in einem besonderen Zeitabschnitt der Versuchung für den Men­schen. Wir erkennen verschiedene Phasen dieser Versuchung, angefangen von der ersten in Kapitel 3 des Buches Genesis bis zu den so bedeutenden

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11 Augustinus De Civitate Dei, XIV, 28, in: CCL 48, S. 451.

12 Gregor von Nazianz, Orat. 7, 23, in: PG 35, 786; vgL Johannes Paul II., Ansprache vom 3. 2. 1982, 1, 288f.

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Versuchungen, denen Jesus selbst ausgesetzt wurde: sie sind gleichsam die Zusammenfassung aller Versuchungen, die aus der dreifachen Begehrlich­keit entspringen. Dennoch geht die gegenwärtige Versuchung viel weiter (man könnte von einer »Meta-Versuchung« sprechen); sie geht »über« all das »hinaus«, was im Laufe der Geschichte das Thema der Versuchung des Menschen bestimmt hat, und zeigt zur gleichen Zeit, so kann man sagen, den Grund einer jeden Versuchung. Der Mensch von heute ist der Versuchung ausgesetzt, Gott im Namen seines eigenen Menschseins abzulehnen.“13

„»Wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, und wer sich selbst ernied­rigt, wird erhöht werden« (Lk 14,11). (…) Die Geschichte lehrt, daß der Stolz leider die Ursache unermeßlicher Übel gewesen ist und bleibt; auch die Leugnung Gottes oder die Auflehnung gegen ihn sind fast immer Ausdruck einer Vernunft, die sich selbst zu genügen glaubt, sich aber nicht beugen will vor der allmächtigen Majestät des Schöpfers und sein Geheimnis nicht annehmen mag.“14

Mit dem Bruch des Bundes zwischen Glauben und Verstand, zwischen Glauben und Kultur ist in Europa die neuzeitliche rationalistische Phi­losophie entstanden. Die neue Philosophie hat sich vom christlichen Glauben gelöst und damit eine große Wende vollzogen: den Übergang vom irdischen und himmlischen Menschen (von dem in Christus dem Ge­kreuzigten und Auferstandenen neuen Menschen) zum irdischen und unterirdischen Menschen (zum alten Menschen in Adam), von der oberen Hemisphäre der Kirche auf die untere Hemisphäre der in Adam gefalle­nen Menschheit. Die moderne Philosophie ist immanentistisch: sie be­trachtet die Welt als ein in sich geschlossenes System. Diese Philosophie hat den Menschen in das Grab der Unterwelt eingeschlossen (in die Welt unter die Ebene der sichtbaren Erde und des sichtbaren Universums) und in die materielle Welt (auch die materielle Welt verwandelt sich für den immanentistischen Menschen in ein Grab, aus dem er nicht mehr heraus­kommt).

Die moderne Philosophie erträgt das Geheimnis (und die Geheimnisse)

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13 Johannes Paul II., Ansprache vom 1.6. 1980, 1, 1598.

14 Ders., Ansprache vom 31. 8. 1986, 2, 512-511; vgl. ders., Ansprache vom 24.3.1 994; ders., Ansprache vom 1.4. 1994; ders., Ansprache vom 13. 10. 1985, 2, 955; ders., Ansprache vom 28. 1. 1991, 1, 228-229; ders., Ansprache vom 16. 4. 1992, 1, 1120: »Die Sünde ist der Tod der Seele. Die Ablehnung Gottes ist der Tod des Menschen, der nach dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffen ist“; ders., Reconciliatio et paenitentia, Nr. 17: Die Ablehnung Gottes „zeigt sich im Abfall von Gott und im Götzendienst, das heißt in der Zurückweisung des Glaubens an die geoffenbarten Wahrheiten und in der Gleichsetzung Gottes mit gewissen geschaffenen Wirklichkeiten, die man dabei zu Idolen oder falschen Göttern macht.“

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nicht mehr, sondern bekämpft es ganz radikal. Sie entleert das Geheimnis des Kreuzes Christi und begräbt den Gottmenschen. Sie bringt das ge­offenbarte Geheimnis Gottes und das Geheimnis des Menschen – der nach dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffen ist – unter die Erde. Aus der modernen Philosophie ist in Europa die immanentistische Ideologie in ihren vielfältigen geschichtlichen Formen entstanden.

Der Stern des höllischen Abgrundes versucht den Menschen wie nie zuvor, „wie Gott zu sein“ (Gen 3,5): das eigene „Ich“ an die Stelle Gottes zu setzen. Die Meta-Versuchung ist sozusagen in verschiedenen Formen der immanentistischen, atheistischen und materialistischen Ideologie des 19. und 20. Jahrhunderts Fleisch geworden. Die Ideologie strebt danach, die Religion auszurotten. Sie behauptet, die Religion stelle eine radikale „Entfremdung des Menschen“ dar, als ob der Mensch, wenn er Gott anbe­tet, seines eigenen Menschseins beraubt würde. Die Ideologie verfälscht grundsätzlich die Wahrheit über den Menschen, eben weil sie die Wahr­heit über Gott verfälscht.

Die Ideologien, die sich unter dem Mantel des Humanismus, des Heils, der Wissenschaftlichkeit und des irdischen Messianismus vorstellten, ha­ben zu einem immer heftigeren Kampf gegen den Gott-Menschen geführt: gegen Gott und gegen den Menschen. Sie begruben und begraben den Gottmenschen systematisch im Bereich der unterirdischen Menschheit ­in einem neuen Grab. Und damit begruben und begraben sie systematisch das Geheimnis Gottes und das Geheimnis des Menschen. Indem sie den „Tod Gottes“ verkünden, haben die Ideologien „den Menschen auf die Welt“ reduziert, auf die Dimensionen der absoluten Immanenz „in den Grenzen der Welt“. Dies bringt die Perspektive des „Todes“ des „Men­schen“ mit sich. Der Mensch „verliert“ die geistige und unsterbliche Seele und „stirbt“ als Person. Der Mensch ist bereits hermetisch in einem Grab eingeschlossen, das mit „wissenschaftlichen“ Siegeln versiegelt ist. Er lebt, „als ob es Gott nicht gäbe“. In dem neuen Grab „geht der alte Mensch in Verblendung und Begierde zugrunde“ (Eph 4,22).

Die Ideologien „richten sich nicht nur gegen die Kirche, gegen die ka­tholische Religion, sondern sie richten sich gegen die Religion überhaupt, sie sind atheistisch, ja sogar antitheistisch.“15

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15 Johannes Paul II., Ansprache vom 31.8.1988, 1, 325; vgl. ders., Ansprache vom 17.12.1980, 2, 1706f; ders., Dominum et vivificantem, Nr. 55; ders., Reconciliatio et paenitentia, Nr. 14f.

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Die Erfolge der Wissenschaft und Technik haben dem modernen Men­schen das Gefühl einer immer größeren Herrschaft gegeben und indirekt auch ein Gefühl der Unabhängigkeit von Gott, der der Anfang und das En­de all dessen ist, was existiert. Die Ideologien verabsolutieren den Men­schen und die sichtbare, vergängliche Welt. Andererseits sind sie auf den Pol des Nichts und auf den Polarstern des höllischen Abgrundes ausge­richtet. Deshalb haben sie den irdischen Fortschritt des Menschen und vieler Nationen bei der Errichtung der größten Form des Turmes von Ba­bel (der Stadt Babylon) angekurbelt und kurbeln ihn auch weiterhin an. Da dieser Bau in seiner eschatologischen Richtung auf den Pol des Nichts ausgerichtet ist, ist er dem Gesetz des Verderbens und der Eitelkeit unter­worfen.

„Denn das Begehren des Fleisches richtet sich gegen den Geist, das Be­gehren des Geistes aber gegen das Fleisch“ (Gal 5,17). Das „Fleisch“ meint in der Sprache des Apostels Paulus nicht nur den äußeren Menschen, son­dern auch den Menschen, der innerlich der „Welt“ unterworfen ist: der fleischliche Mensch, das heißt der irdische und unterirdische Mensch. Der Mensch, der „nach dem Fleisch“ lebt, ist der Mensch der „Sinne“, der Mensch der dreifachen Begehrlichkeit, der säkularisierte Mensch. Der fleischliche Mensch widersetzt sich dem Wirken des Geistes Jesu Christi, der jede Sünde aufdeckt und die Vergebung der Sünden bringt. Deshalb widersetzt sich der „fleischliche Mensch“ auch dem „geistlichen Men­schen“ (dem irdischen und himmlischen Menschen), der nach dem Geiste Jesu Christi, des Gekreuzigten und Auferstandenen, lebt.

Die Ideologien schließen und entwickeln mit dem „Vater der Lüge“ einen Bund. Indem sie gegen Gott kämpfen, verdunkeln sie im Menschen das Sündenbewußtsein und führen schließlich zum Verlust des Schuldbe­wußtseins und zur Verdunkelung des Gewissens in einer sehr großen Menge der Menschen. Sie verherrlichen den irdischen und unterirdischen Menschen und führen ihn innerlich auf den Weg, der hinab zur Polarstadt Babylon und zum höllischen Abgrund führt.

  1. b) Der große Abstieg in ein neues Grab

Die „Frau mit der Sonne bekleidet“ (Offb 12,1) stellt die Gottesmutter und auch die Kirche dar. Der „Herrscher dieser Welt“ (Joh 12,31) und der „Vater der Lüge“ (Joh 8,44) bekämpft die Gottesmutter und das Kind, das Symbol des neuen Lebens. Satan widerstreitet im 20. Jahrhundert wie nie zuvor der Gottesmutter und ihrem Sohn und will die Kirche und die Welt der Menschen verführen und ihnen schaden. Im 20. Jahrhundert ist der Kampf zwischen Christus und Satan, zwischen der mit der Sonne beklei­deten Frau und dem Drachen, zwischen Gut und Böse, zwischen dem „Geheimnis der Frömmigkeit“ und der „geheimen Macht der Gottlosig­keit“, zwischen dem irdisch-himmlischen Menschen und dem irdisch-un­terirdischen Menschen so erbittert wie nie zuvor.

„Wenn der Mensch eine Zivilisation schaffen will, die Gott aus ihrem Horizont ausschließt, so erzeugt er furchtbare Verbrechen und schreck­liches Unheil. Jedesmal, wenn die Menschen ihre Stadt ohne die Werte errichten wollten, die dem »Sein aus Gott« (vgl. 1 Joh 4,6) entstammen, haben sie schließlich Mauern und Schranken zwischen sich aufgebaut.“16

„Gegensätzliche Totalitarismen und kranke Demokratien haben die Geschichte unseres Jahrhunderts geprägt. Die sich abwechselnden und entgegengesetzten Systeme tragen zwar jeweils ihr eigenes, unverwech­selbares Gesicht, doch ich glaube, es ist kein Irrtum, sie als Abkömmlinge jener Kultur der Immanenz zu betrachten, die sich im Europa der letzten Jahrhunderte weit verbreitet hat und zu Formen des persönlichen und kollektiven Lebens führte, die Gott nicht kennen und seinen Plan für den Menschen mißachten.“17

„Die Bedrohungen des Lebens nahmen im Laufe der Zeit nicht ab, son­dern ganz im Gegenteil, sie vergrößerten sich. Es waren nicht nur Bedro­hungen des Lebens von außen, von den Kräften der Natur her oder von weiteren »Kains«, die ihren jeweiligen »Abel« töteten; nein, es kam zu wis­senschaftlich und systematisch programmierten Bedrohungen. Das 20. Jahrhun­dert ist ein Zeitalter massiver Angriffe auf das Leben, eine Serie von Krie­gen ohne Ende und eine massive Vernichtung von unschuldigem, menschlichem Leben. Die falschen Propheten und Lehrer erfreuen sich größten Erfolges.“18

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16 Johannes Paul II., Ansprache vom 26. 2. 1994.

17 Ders., Ansprache vom 5. 9. 1993, 2, 643.

18 Ders., Ansprache vom 14. 8. 1993, 2, 485; vgl. ders., Centesimus annus, Nr. 44f; ders., Christifideles laici, Nr. 5; ders., Ansprache vom 24. 6. 1990, 1, 1670: „Was dem Menschen heutzutage jedoch abgeht, ist eine Haltung der Demut, denn zu keiner Zeit war der Mensch tiefer in die Untermenschlichkeit gesunken als heute. Wie kann er zum Beispiel das Leben gerade dann, wenn es seines Schutzes am meisten bedürfte, geringschätzen? Menschsein muß zur Tragödie werden, wenn der Mensch immer wieder versucht, aus eigener Kraft sich über sich selbst in Gottes Höhe zu erheben. Dem folgt notwendigerweise der Sturz in die Tiefe“; vgl. ders., Ansprache vom 7. 12. 1990, 2, 1394: Das 20. Jahrhundert ist das Jahrhundert der größten Zerstörung des Menschen. Europa ist in diesem

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Die immanentistischen Ideologien des 19. Jahrhunderts, die augen­scheinlich so vielversprechend waren, haben im 20. Jahrhundert einen Rückschritt der Menschheit ohnegleichen verursacht. Diese Ideologien, die ihren Sitz in der Polarstadt Babylon haben, verherrlichen gewisse christliche und menschliche Werte ohne Ende. Zugleich haben sie die christlichen Völker geschickt zum allmählichen Abfall vom gekreuzigten und auferstandenen Gottmenschen und von der Kirche geführt. Sie haben sie verführt, Schritt für Schritt auf die untere Hemisphäre der Menschheit hinabzusteigen: in ein neues Grab und in eine neue babylonische Gefan­genschaft. Die genannten Ideologien haben sich darüber hinaus in der nichtchristlichen Welt ausgebreitet.

Das ungewöhnliche Wachstum der absteigenden Spirale der Mensch­heit in dem neuen Grab hat die „sogenannte Kultur des Todes“ geschaf­fen und erzeugt sie auch weiterhin noch. In Wirklichkeit handelt es sich um eine Anti-Kultur oder um eine Anti-Zivilisation, die sich durch Aus­beutung, Knechtschaft, Gewalt, Mord, Abtreibung, Euthanasie, Krieg, Brudermord, willkürliche Gefangennahmen, Konzentrationslager, Prosti­tution, Pornographie, moralischen Verfall, usw. (vgl. GS 27) ausbreitet. Die genannte Zivilisation des Todes ist ein vielsagendes Zeichen dafür, daß „die Welt unter die Knechtschaft der Sünde (und des Bösen) geraten ist“ (GS 2). Ja, wie nie zuvor in der Geschichte steht die Welt des 20. Jahr­hunderts „unter der Macht des Bösen“ (1 Joh 5,19).

„»Jedem, der etwas gegen den Menschensohn sagt, wird vergeben wer­den; wer aber den Heiligen Geist lästert, dem wird nicht vergeben wer­den« (Lk 12,10). (…) Die Lästerung besteht nicht eigentlich in verletzenden Worten gegen den Heiligen Geist, sondern in der Weigerung, das Heil an­zunehmen, welches Gott dem Menschen durch den Heiligen Geist anbietet, der in der Kraft des Kreuzesopfers wirkt.“19

Die Lästerung gegen den Heiligen Geist ist eine Sünde, die nicht ver­geben werden kann: der Mensch widersetzt sich hartnäckig dem Wirken

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Jahrhundert von Konflikten gezeichnet, die so barbarisch sind wie nie zuvor; ders., Ansprache vom 15. 8. 1993, 2, 497-498: „In unserem Jahrhundert hat die »Kultur des Todes« — wie zu keiner anderen Zeit in der Geschichte — eine soziale und institutionelle Form der Legalität angenommen, um die entsetzlichsten Verbrechen an der Menschheit zu rechtfertigen: Völkermord, »Endlösungen«, ethnische Säuberungen« und die weitverbreitete Sitte, den menschlichen Wesen, noch bevor sie geboren werden oder zur natürlichen Grenze des Todes gelangt sind, das Leben zu nehmen“; ders., Ansprache vom 15. 11. 1991, 2, 1159: Die in sehr vielen Ländern legalisierte Abtreibung „ist die Ursache von Massakern in einem nie zuvor in der Geschichte gekannten Ausmaß.“

19 Johannes Paul II., Dominum et vivificantem, Nr. 45; vgl. Reconciliatio et paenitentia, 18; ders., Ansprache vom 28. 3. 1986, 1, 879.

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des Heiligen Geistes, der ihn seiner Sünde überführt und ihm die Verge­bung der Sünden bringen will. Der Mensch beansprucht ein anmaßendes „Recht“, nämlich im Bösen zu verharren und zu leben, als ob es Gott nicht gäbe. Der Mensch geht, indem er sündigt, innerlich auf den höllischen Abgrund zu und verhärtet sein Herz. Sein Sündenbewußtsein, das zutiefst mit dem moralischen Bewußtsein (Gewissen) verbunden ist, verdunkelt sich. Mit dem Gewissen verdunkelt sich auch sein Sinn für Gott; und wenn der Mensch daher diesen entscheidenden, inneren Bezugspunkt verliert, dann verliert er auch das Sündenbewußtsein.

Der Verlust des Sündenbewußtseins ist daher eine Form und eine Frucht der Leugnung Gottes, nicht nur der atheistischen, sondern auch der säkularistischen. Der Prozeß bzw. der zunehmende Verlust des Sünden­bewußtseins und die Ausbreitung der Verfinsterung des Gewissens in der menschlichen Welt des 20. Jahrhunderts sind beeindruckend und beängstigend. Die Sünde des 20. Jahrhunderts ist der Verlust des Sündenbe­wußtseins.

Eine technische Revolution ohnegleichen prägt das 20. Jahrhundert. „Unter ihnen treten vor allem jene »Mittel« hervor, die in ihrer Eigenart nicht nur den einzelnen Menschen, sondern die Masse und die ganze menschliche Gesellschaft erreichen und beeinflussen können: die Presse, der Film, der Rundfunk, das Fernsehen und andere gleicher Art. Man nennt sie darum zu Recht »soziale Kommunikationsmittel«“ (IM 1).

„Die sozialen Kommunikationsmittel in ihrer mannigfaltigen Vielfalt ­Presse, Kino, Rundfunk und Fernsehen – sind in der Welt von heute die hauptsächlichen Faktoren der öffentlichen Meinung.“20

Die Massenmedien haben die Verbreitung der Kultur, der Bilder und die rasche Verbreitung von Nachrichten, Meinungen, Werten, kulturellen

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20 Ders., Botschaft vom 24. 1. 1986, 1, 186; ders., Ansprache vom 1. 3. 1991, 1, 437: Die Massenmedien sind „die Hauptquellen für Information, Bildung, Leitung und Anregung für das Verhalten des einzelnen, der Familie und der Gesellschaft“; vgl. ders., Redemptoris missio, Nr. 37; ders., Ansprache vom 18. 9. 1990, 2, 645: „Die Sünde verfügt heute über weit mächtigere und verfänglichere Mittel, sich die Gewissen zu unterwerfen, als in der Vergangenheit. Die ansteckende Gewalt schlechter Darbietungen und Beispiele kann sich der Kanäle bedienen, die, mit großer Überzeugungskunst operierend, von der ganzen vielgestaltigen Skala der Massenmedien angeboten werden. So kommt es dazu, daß Modelle abwegigen Verhaltens immer mehr der öffentlichen Meinung aufgedrängt werden, und zwar nicht nur so, als ob es sich dabei um etwas Rechtmäßiges handle, sondern sogar so, als ob solche Verhaltensweisen kennzeichnend seien für ein offenes und reifes Gewissen“; ders., Ansprache vom 25. 10. 1981, 2, 496: „Leider wird heute von den Kommunikationsmitteln, insbesondere von audiovisuellen, ein »instinkthafter Humanismus« gelehrt und im Volk verbreitet, der den willkürlichen Wert des spontanen Instinktes, des Hedonismus und der Aggressivität verherrlicht.“

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und wissenschaftlichen Daten ermöglicht, die in einer einfachen und ein­prägsamen Sprache übertragen werden.

Die sozialen Kommunikationsmittel bieten, wenn sie gut angewendet werden, der Menschheitsfamilie große Vorteile. Ihr schlechter Gebrauch verursacht dagegen große Schäden. Vor allem der Einsatz dieser Mittel hat den Lauf der Geschichte des einzelnen, der Gesellschaft, der Nationen und der Menschheit beschleunigt.

Durch Ideologien als Weltanschauungen (laikale Religionen) und ir­dische Messianismen hat die Stadt Babel ihren größten Kampf gegen die Stadt Jerusalem begonnen. Die Stadt Babylon bedient sich in diesem Kampf im 20. Jahrhundert zunehmend der sozialen Kommunikationsmit­tel (Massenmedien).

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat der Mißbrauch der ge­nannten Mittel enorm zu- und der rechte Gebrauch erheblich abgenom­men. Durch die Massenmedien verbreitet die Stadt Babylon immer mehr den Anti-Dekalog und die Hauptlaster. Besonders der Mißbrauch des Fernsehens war und ist ein entsetzliches Mittel, um die Gewissen, insbe­sondere der Jugendlichen, zu verführen und zu verderben. Die Ideolo­gien benutzten und benutzen die Massenmedien hauptsächlich, um das Christentum und die anderen Religionen zu säkularisieren und um eine Zivilisation ohne Gott aufzubauen. Sie lenkten und lenken programma­tisch die große Wanderung der Christen von der oberen Hemisphäre der Kirche in das Grab der unteren Hemisphäre der Menschheit und in die babylonische Gefangenschaft. Und sie förderten und fördern die Prozesse der tiefsten und umfangreichsten Entpersonalisierung der Menschen und der Völker.

Seit 1939 (seit dem Tode Pius XI.) bis 1989 „haben sich Europa und die Welt so sehr verändert, daß scheinbar viele Jahrhunderte vergangen sind.“21

Europa ist aus dem Zweiten Weltkrieg geschlagen und noch gespalte­ner hervorgegangen. Europa hat mehr als alle anderen Kontinente unter den Folgen der Spaltung der Menschheit in zwei sich gegenüberstehende

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21 Johannes Paul II., Ansprache vom 17.3.1989,1,592; vgl. ders., Redemptoris missio, Nr. 32; ders., Ansprache vom 15. 6. 1992, 1, 1820: „Seit den Jahren des Konzils und insbesondere seit den historischen Ereignissen im Jahr 1989 hat sich das Bild der Welt tiefgreifend verändert“; ders., Ansprache vom 14. 5. 1989, 1, 1254: Die christlichen Völker „haben größtenteils, obwohl sie in der Schule der Glaubenswahrheit erzogen wurden, den übernatürlichen Sinn des Lebens verloren; vgl. ders., Christfideles laici, Nr. 34.

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ideologische, politische und militärische Machtblöcke gelitten, deren höchstes Lebens- und Handlungsgesetz ein grundsätzliches und unüber­windbares Mißtrauen gewesen war. Das Jahr 1989 war der Anfang einer Wende in Osteuropa. Die verschiedenen Mauern der marxistischen Ideo­logie sind gefallen. Vielen Völkern haben sich Wege zur Freiheit eröffnet. Die Spaltung der Menschheit in die zwei erwähnten Blöcke war zu Ende, doch neue, gigantische Herausforderungen haben sich gestellt.

In der letzten Phase des 20. Jahrhunderts strebt die Menschheit mit einer außergewöhnlichen Beschleunigung zur Einheit hin. Und dies dank der auf­steigenden Spirale der Kirche, der Christenheit und der Menschheit, die sich der Spirale des zentrifugalen Pluralismus der Stadt Babel widersetzt. Vielleicht ist in den Plänen der göttlichen Vorsehung die. große Stunde des afrikanischen Kontinents gekommen. Denn in Afrika findet eine im­mer größere Wanderung der Menschen zu Christus statt und daher aus der unteren Hemisphäre der Menschheit auf die obere Hemisphäre der Kirche.

c) Ein vollkommenes und endgültiges Begräbnis der Menschheit?

„Täuschen wir uns nicht durch eine falsche Hoffnung! Wenn Feind­schaft und Haß nicht aufgegeben werden, wenn es nicht zum Abschluß fester und ehrenhafter Verträge kommt, die für die Zukunft einen allge­meinen Frieden sichern, dann geht die Menschheit, die jetzt schon in Ge­fahr schwebt, trotz all ihrer bewundernswürdigen Wissenschaft jener dunklen Stunde entgegen, wo sie keinen anderen Frieden mehr spürt als die schaurige Ruhe des Todes“ (GS 83).

„Und wir sind alle aufgerufen und sogar verpflichtet, uns der furchtbaren Herausforderung des letzten Jahrzehntes des zweiten Jahrtausends zu stel­len; und das auch, weil die bevorstehenden Gefahren uns alle bedrohen: eine Weltwirtschaftskrise, ein Krieg ohne Grenzen, ohne Sieger und ohne Besiegte.“22

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22 Johannes Paul II., Sollicitudo rei socialis, Nr. 47; vgl. ders., Ansprache vom 18. 11. 1980, 2,1328f; ders., Ansprache vom 10. 1. 19 93,1, 48-49; ders., Ansprache vom 14. 12. 1989, 2,1539; ders., Ansprache vom 15. 6. 1992, 1, 1819: „Die Menschheit ist in den letzten fünfzig Jahren wahrhaftig fähig geworden, sich selbst zu zerstören“; ders., Ansprache vom 12. 11. 1983, 2, 1057: „Vor diesem Schwerkranken, der in Todesgefahr schwebt, der die ganze Menschheit ist (…)“; vgl. ders., Ansprache vom 12. 6. 1984, 1, 1691; vgl. ders., Ansprache vom 18. 3. 1984, 1, 709; ders., Ansprache vom 24. 6. 1988, 2, 2135: „Die Geschichte lehrt uns, daß Menschen und Völker, die ohne Gott auszukommen glauben, stets der Katastrophe der Selbstzerstörung preisgegeben sind.“ Man sollte an dieser Stelle vielleicht bedenken, daß die Kernenergie 30 Millionen Mal größer ist als die chemische Energie der

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Am Ende des 20. Jahrhunderts tobt der Kampf zwischen dem Wort Got­tes und dem Wort des Bösen, zwischen der mit der Sonne bekleideten Frau und dem apokalyptischen Drachen, zwischen dem „Geheimnis der Fröm­migkeit“ und der „geheimen Macht der Gottlosigkeit“. Im letzten Jahr­zehnt des 20. Jahrhunderts befindet sich die Menschheit in einer Lage, die bisher noch nie so schlimm gewesen ist. Wie nie zuvor will sie sich in ihrem Stolz auf die Ebene Gottes erheben und ist damit geistig an den Rand des Abgrunds herabgestiegen. Sie hat in der äußeren Ordnung ein enormes apokalyptisches Waffenpotential zur Hand. Mehr als in den Jahrzehnten zuvor ist sie von einem Nuklearkrieg bedroht, von einer apokalyptischen Selbstzerstörung.

Die Menschheit, die sich in ihrem Inneren begraben und zum Kampf gegen Gott den Schöpfer und Erlöser zusammengerottet hat, könnte sich auch in der äußeren Ordnung „wissenschaftlich“ mit den apokalypti­schen Waffen selbst begraben. Die Spirale der Ablehnung des lebendigen Gottes führt schicksalhaft zum „Frieden“ eines furchtbaren Todes.

Der Nuklearkrieg wäre der Dritte Weltkrieg. Er wäre ein Krieg ohne Grenzen und ohne Sieger und Besiegte. Johannes Paul II. spricht häufig von der Bedrohung der Selbstzerstörung der Menschheit. Er versucht mit allen Mitteln, den Selbstmord der Menschheit zu verhindern, die in ihrem Todeskampf immer lauter „den Tod Gottes“ verkündet. Für die Mensch­heit ist der einzig mögliche Weg des Heiles die Rückkehr zu Gott auf dem Weg der Umkehr.

„Die Wirren unseres Jahrhunderts sind der Todeskampf einer alten Welt. „23

„Die Jahre, die wir erleben, können gewiß als Übergang von einer Epo­che zu einer anderen betrachtet werden. Vor unseren Augen haben wir eine Welt im Umbruch. Die Menschheit steht gleichsam an einem Scheide­weg. Die Herausforderung der Freiheit ist seit jeher Größe und Gefahr für den Menschen. Aber die gegenseitige Abhängigkeit der Völker gibt heute dieser Herausforderung einen neuen, ganzheitlichen, weltumspannenden Aspekt.“24

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herkömmlichen konventionellen Waffen. Ders., Ansprache vom 27. 6. 1988, 2, 2204: „Unvergeßlich ist die tragische Einsicht einer Romangestalt bei Dostojewskij: „Wenn es keinen Gott gäbe, dann sei alles erlaubt.« Schreckensbilder aus Vergangenheit und Gegenwart haben manche dazu verleitet, den Menschen mit einem gefährlichen Raubtier zu vergleichen, dessen Auslöschung in der postulierten Evolution der Materie kein Schaden wäre.“

23 Johannes Paul II., Ansprache vom 30. 3. 1985, 1, 876.

24 Ders., Ansprache vom 13. 2. 1994; vgl. ders., Ansprache vom 30. 3. 1983, 1, 854; ders., Salvifici doloris, Nr. 8.

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In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben die Sünden wie nie zuvor zugenommen. Die ganze, ungeheure Bandbreite der Kreuze der Sünden verschmilzt zu einem ungeheuren Kreuz. Es handelt sich um das Kreuz ohne Christus, um ein negatives Kreuz, an das sich die Menschheit mit ihren Gesetzesübertretungen selbst geschlagen hat. Man könnte auch sagen, der Böse habe durch die Sünde die Menschheit an dieses furcht­bare Kreuz geschlagen. An diesem schwersten und unerträglichsten Kreuz durchlebt die Menschheit ihr tiefstes Leiden und ihren To­deskampf.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nimmt – fast proportional zu den Irrtümern und zu den Übertretungen der heutigen Zivilisation – in der menschlichen Welt das Leid zu. Ein Atomkrieg würde in unvorstellbarer Weise und in unvergleichlicher Intensität die Leiden vermehren und mit der Zerstörung ganzer Städte, Regionen, Nationen usw. verbinden, bis zur möglichen Selbstzerstörung der Menschheit. Die Menschheit könnte in einem Meer von Blut ertrinken – in einem Meer von Feuer, das sie selbst wissenschaftlich programmiert, vorbereitet und dann mit eigener Hand angezündet hat.

2. Das große Begräbnis des Gottmenschen in der Kirche von heute

a) Ein großer zentrifugaler Pluralismus

„Man muß die Tatsache berücksichtigen, daß die modernen Formen der Versuchung des Menschen, der den Menschen als Absolutes begreift, auch die Gemeinschaft der Kirche hineinzieht. Und so werden sie zu Formen ihrer eigenen Versuchung, die darauf hinzielt, sie von ihrer vollen Erneuerung abzubringen, zu der sie der Geist der Wahrheit gerade durch das Konzil unseres Jahrhunderts berufen hat.“25

„Uns scheint, daß Gott uns durch die heutigen Schwierigkeiten tiefer den Wert, die Bedeutung und die zentrale Stelle des Kreuzes Jesu Christi lehren will. Deshalb ist die Beziehung zwischen Menschheits- und Heils­geschichte im Lichte des Ostergeheimnisses zu erklären. (…).

In dieser österlichen Perspektive, welche die Einheit von Kreuz und Auferstehung bekräftigt, läßt sich der wahre vom falschen Sinn des so­genannten »aggiornamento« unterscheiden. Ausgeschlossen ist eine

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25 Johannes Paul II., Ansprache vom 1. 6. 1980, 1, 1599.

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leichtfertige Angleichung, die zur Säkularisierung der Kirche führen könnte. Ebenso bleibt ausgeschlossen eine starre Verkapselung der Ge­meinschaft der Gläubigen in sich selbst.“26

Durch die Formen der Meta-Versuchung gefährden die Pforten der Un­terwelt unmerklich die Glieder des pilgernden Gottesvolkes: die Hirten, die Theologen und die Gläubigen. Der apokalyptische Drache versucht zuerst die „Sterne vom Himmel“ (vgl. Offb 12,4) zu fegen, das heißt die Hirten und die Lehrer (Theologen) der Kirche zu versuchen und auf Ab­wege zu bringen, sie auf die Erde, ja in die Unterwelt zu stürzen. Mit a­llen Mitteln versucht er, sie vom rechten Verständnis und von der Ver­wirklichung des Zweiten Vatikanischen Konzils abzubringen.

Indem die Christen in irgendeiner Weise den Formen der Meta-Versu­chung nachgeben, entsteht in der nachkonziliaren Zeit im katholischen Volk die absteigende Spirale. Sie verkörpert den Pluralismus der Apostel und der Jünger am Karfreitag: Sie fliehen in jeder Hinsicht vom Mittel­punkt der Heilsgeschichte und der Heilsgeographie: vom gekreuzigten Gottmenschen. Der Progressismus und der Integralismus stellen zwei horizontal entgegengesetzte Teile der Spirale nach unten dar.

„In dieser nachkonziliaren Zeit sind wir Zeugen, wie die Kirche stark daran arbeitet, daß das vom Zweiten Vatikanischen Konzil dargestellte »Neue« (»novum«) in rechter Weise ins Bewußtsein und Leben der einzel­nen Gemeinden des Volkes Gottes Eingang finde. Allerdings machen sich neben diesen Bemühungen Tendenzen bemerkbar, die auf dem Weg, das Konzil zu verwirklichen, eine gewisse Schwierigkeit bereiten. Eine dieser Tenden-zen ist vom Verlangen nach Änderungen gekennzeichnet, die nicht mehr im Einklang stehen mit Lehre und Geist des Zweiten Vatika­nischen Konzils, auch wenn sie sich auf das Konzil zu berufen suchen. Diese Änderungen möchten einen Fortschritt ausdrücken; darum wird diese Tendenz mit dem Namen »Progressismus« bezeichnet. Der Fort­schritt ist in diesem Fall ein Streben nach der Zukunft, die mit der Ver­gangenheit bricht und nicht die Funktion der Tradition berücksichtigt, die grundlegend für die Sendung der Kirche ist, damit diese in der Wahr­heit bleiben kann, die ihr von unserem Herrn Jesus Christus und den Aposteln überliefert ist und von ihrem Lehramt sorgfältig gehütet wird.

Die entgegengesetzte Tendenz, die gewöhnlich als »Konservativismus« oder auch als »Integralismus« bezeichnet wird, bleibt bei der Vergangen-

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26 Schlußdokument der außerordentlichen Bischofssynode 1985, in: EnV 9, 1775.

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heit selbst stehen, ohne das berechtigte Streben nach der Zukunft zu be­rücksichtigen, das sich gerade im Werk des Zweiten Vatikanischen Kon­zils gezeigt hat.“27

Der Progressismus und der Integralismus schreiten unter dem Pontifi­kat Johannes Pauls II. beschleunigt auf ihren Wegen fort. Der Integralis­mus lehnt unter dem Vorwand einer größeren Treue zur Kirche die Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils, seine Anwendung und die Reformen, die daraus hervorgehen, systematisch ab. Er hält es für zu „fortschritt­lich“. Er verhärtet sich und fixiert sich auf eine bestimmte Zeit der theolo­gischen Formulierungen und liturgischen Ausdrucksformen, die er ver­absolutiert. Vom Lehramt und von der lebendigen Überlieferung ge­trennt, versteift er sich auf weitere Irrtümer. Indem sich der Integralismus dem Zweiten Vatikanischen Konzil widersetzt, wendet er sich innerlich von der Katholischen Kirche ab und verläßt sie. Und er bringt diese Ab­kehr auch in der äußeren Ordnung zum Ausdruck. Der extremste Flügel des Integralismus trennte sich 1988 mit dem Schisma von Erzbischof Lefèbvre offiziell von der Kirche.

Der Progressismus ist gefährlicher als der Integralismus: er ist theolo­gisch durchgearbeiteter, eindrucksvoller, subtiler. Er ist auch gefährli­cher, insofern er weiter verbreitet ist.

Der Progressismus betrachtet das Zweite Vatikanische Konzil entweder als „überholt“ oder er legt es so aus, daß er nicht (genügend) das Lehramt und die ständige Tradition der Kirche berücksichtigt. Er möchte sich auf vielerlei Weise „an die Welt“ in ihrer „gegenwärtigen“ und „modernen“ Gestalt „angleichen“. Indem er in den gewaltigen Strudel der Umwand­lungen der modernen Welt hineingerät, verdunkelt sich damit seine Schau von der unwandelbaren Natur der katholischen Lehre und des Zweiten Vatikanischen Konzils. Der Progressismus ersetzt Schritt für Schritt die konziliare Erneuerung der Lehre und der Pastoral mit einem säkularisierenden Transformismus.

„Man muß heute stark und wachsam sein gegenüber den geläufigen Gefahren und den Versuchungen einer gewissen falschen säkularisti­schen Erneuerung, die in Wirklichkeit nicht erneuert, sondern zerstört.“28

Der Progressismus dreht dem Polartag Christi, der in der Kirche leuch-

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27 Johannes Paul II., Schreiben an Kardinal Ratzinger zum Fall Lefèbvre, 3. 4. 1988, in: EnV 11, 315-317; vgl. ders., Schreiben vom 2. 7. 1988, in: EnV 11, 696f.

28 Johannes Paul II., Ansprache vom 22.6. 1984, 1, 1989; vgl. ders., Ansprache vom 11. 4. 1985, 1, 1001.

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tet, den Rücken zu. Er schreitet auf der absteigenden Spirale fort und dringt in den „Tag“ der heutigen Welt ein. Dieser menschliche Tag ist aber von einer Polarnacht durchdrungen, die durch die modernen Irrtü­mer hereingebrochen ist. Der Progressismus endet letztlich in zweideuti­gen Kompromissen mit dem Geist der Welt. Das wesentlich Christliche wird „enteignet“ unter dem Anschein einer „Aneignung“, die in Wirk­lichkeit nur bei Worten stehen bleibt. Die Folge ist die „Angleichung“ an die Welt, statt sie zu christianisieren.

Der Progressismus ersetzt das sonnige, übernatürliche aggiornamento in der Wahrheit und in der Liebe durch das finstere aggiornamento der Angleichung an die moderne Welt. Er säkularisiert die Kirche und führt so die Finsternis der heutigen Irrtümer und die weltlichen Gewohnheiten in sie ein.

b) Ein großer Abstieg in ein neues Grab

„Man darf Geist und Buchstabe des Konzils nicht trennen.“29

„Eine objektive Überprüfung der Gesamtsituation zeigt, daß die größ­ten Schwierigkeiten und gewisse Polarisierungen in bezug auf die Lehre und die Anwendung der Konzilsdokumente einseitigen Ansichten sowie bruchstückhaften und zweideutigen Interpretationen entspringen, die oft dem Geist des Konzils widersprechen und die Richtigstellung nicht be­achten, die das kirchliche Lehramt zum richtigen Zeitpunkt angeboten hat.“30

Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil litt die Kirche unter den Schmerzen einer Umwandlung von nie dagewesenem Ausmaß: im Über­gang von der ersten zur zweiten umfassenden Form der Evangelisierung und der Inkulturation. Im letzten Abschnitt des 20. Jahrhunderts tobt der Kampf zwischen dem „Geheimnis der Frömmigkeit“ und der „geheimen Macht der Gesetzwidrigkeit“ stärker als je zuvor. Unter dem Pontifikat Johannes Pauls II. setzen die Mächte der Finsternis ihren totalen und end­gültigen Angriff gegen die Kirche fort, ja sie verstärken ihn sogar noch.

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29 Schlußdokument der außerordentlichen Bischofssynode 1985, in: EnV 9, 1745.

30 Johannes Paul II., Ansprache vom 15. 2. 1987,1, 345; ders., Ansprache vom 18. 5. 1985, 1, 479: „Aber weil sie (die Grundprinzipien des Zweiten Vatikanischen Konzils) falsch in Angriff genommen, falsch verstanden und falsch angewandt wurden, hat dies hier und da zu Verwirrungen und Uneinigkeit geführt, so daß ein Verfall des Religiösen unumgänglich war.“

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Durch einen tiefgreifenden Prozeß der Säkularisierung des Heiles drin­gen sie auch weiterhin in die Kirche ein. Der Vormarsch der Mächte der Finsternis dauert also an und somit auch eine Belagerung der Kirche „von außen“ und „von innen“. Von außen greifen der theoretische und prakti­sche materialistische Atheismus sowie der Säkularismus, das Konsum­denken, die christlichen und nichtchristlichen Sekten, usw. sie an.

Im Laufe des Pontifikates Johannes Pauls II. dringt das große „babylo­nische Heer“ immer subtiler in die Kirche ein und verbreitet sich in ihr. Die Invasion schreitet auf dem Gebiet der Schriftauslegung und der heili­gen Überlieferung voran, und auch die Verdrängung des Lehramtes der Kirche nimmt immer mehr zu. Die säkularisierende Strömung der Theo­logie fährt damit fort, den Geist und den Buchstaben des Konzils zu tren­nen. Das babylonische Heer hört nicht auf, das Zweite Vatikanische Kon­zil mit verkürzten, oberflächlichen, bruchstückhaften und zweideutigen Interpretationen zu überschwemmen und zu ersetzen, die oft seinem ei­gentlichen Geist widersprechen. Der Rauch Satans ist schon in die Kirche eingedrungen und verbreitet und verdichtet sich zunehmend. In diesem Zusammenhang nimmt der Abfall der Katholiken von der Kirche immer größere Ausmaße an, und es bildet sich zudem eine „neue“ Kirche: eine säkularisierte Kirche.

„Das höchste Gut, welches der Christ besitzt, ist die Reinheit und Unver­sehrtheit seines Glaubens.“31

„Wir müssen realistisch sehen, daß die Christen sich heute größtenteils verloren, verirrt, unsicher und sogar enttäuscht fühlen. Es haben sich in weitem Umfang Ideen verbreitet, die der offenbarten und schon immer gelehrten Wahrheit widersprechen. Wahre und eigentliche Irrlehren im dogmatischen und moralischen Bereich wurden in Umlauf gebracht, die Zweifel, Verwirrung und Auflehnung hervorrufen. Man hat auch die Li­turgie verstümmelt. Die Christen sind dem intellektuellen und morali­schen »Relativismus« verfallen und daher dem Permissivismus, so daß sie vom Atheismus, Agnostizismus, von der vagen moralischen Aufklärung, von einem soziologischen Christentum ohne definierte Dogmen und ohne objektive Moral versucht werden.“32

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31 Johannes Paul II., Ansprache vom 21. 12. 1984, 2,1629.

32 Ders., Ansprache vom 6. 2. 1981, 1, 235; vgl. ders., Ansprache vom 5. 12. 1983, 2, 1259f; Schlußdokument der außerordentlichen Bischofssynode 1985, in: EnV 9, 1745: „Man darf den pastoralen Charakter nicht von der lehrmäßigen Gültigkeit der Konzilsdokumente trennen“; Johannes Paul II., Redemptoris missio, Nr. 11: „Die Versuchung besteht darin, das Christentum auf eine rein menschliche Weisheit zur reduzieren, gleichsam als

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Schon zu Zeiten Pauls VI. betonte die theologisch-säkularisierende Strömung die pastorale Dimension des Zweiten Vatikanischen Konzils auf Kosten der doktrinellen Dimension. Diese säkularisierende Strömung trennte die erste Dimension von der zweiten und stellte sie fälschlicher­weise gegen die andere. Dort, wo diese Trennung vorgenommen wurde, verursachte sie den Tod der echten Verwirklichung des Konzils und so­mit seine Beerdigung in einem neuen Grab. In der Folgezeit entstand ein soziologisches Christentum ohne definierte Dogmen und ohne objektive Moral. Der beschriebene Prozeß setzt sich in der Zeit Johannes Pauls II. fort.

In den Jahren des Pontifikates Johannes Pauls II. begräbt die absteigen­de und umgekehrte theologische Spirale mit ihren Anhängern auch wei­terhin den Gott-Menschen und somit das offenbarte Mysterium Gottes und das Geheimnis des Menschen. In diesem neuen Grab entwickelte sie dann weiterhin eine neue theologische Pseudowissenschaft. Man kann sagen, daß sie die subtilste und weitreichendste „Gnosis“ in der Kirchen­geschichte geschaffen hat. Diese „Gnosis“ zerstört unbemerkt wie ein Krebsgeschwür den katholischen Glauben; sie führt zum Verlust des Glaubens und zur Apostasie. Auf diese Weise zerstört die neue „Gnosis“ die Kirche. In welchen Bereichen diese neue „Gnosis“ schon in die Kirche eingedrungen ist, habe ich schon bei Paul VI. behandelt. Im folgenden sollen kurz einige weitere Bereiche dieser Gnosis umrissen werden.

Die christliche Anthropologie

„Viele Ereignisse der zeitgenössischen Geschichte schmerzen und be­drängen uns: Die »christliche Anthropologie« steht im Widerspruch zur immanentistischen und historizistischen Anthropologie ohne jeden Bezug zur Offenbarung. Denn die Grundlage der christlichen Anthropologie ist

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Lehre des guten Lebens“; ders., Ansprache vom 18.9.1982,3,475: In unserer Zeit „tauchen die antike Gnosis auf oder wieder auf, die leugnende Dreistigkeit, die das Herz des katholischen Glaubens berührt“; vgl. ders., Ansprache vom 10. 7. 1986, 2, 950-951.
Ders., Ansprache vom 26. 3. 1982, 1, 1007: „Zu viele oberflächliche und unzureichend fundierte Popularisierun­gen sind der Natur, daß sie den Glauben des christlichen Volkes, diesen Glauben der heiligen Konzilien, den die lebendige Tradition der Kirche überliefert, ins Wanken bringen“; vgl. ders., Ansprache vom 9.3. 1988, 1, 596 und ders., Ansprache vom 13. 4. 1988, 1, 877f; ders., Ansprache vom 18. 5. 1989, 1, 1277-1278; ders., Ansprache vom 10. 5. 1981, 1, 1152-1153; ders., Ansprache vom 25. 1. 1987, 1, 197; ders., Brief vom 2. 7. 1988, in: EnV 11, 698-701; ders., Ansprache vom 17. 3. 1992, 1, 616; vgl. Ansprache vom 13. 4. 1988, 1, 878-879: Einige neue theologische Theorien lösen die richtige Lehre über die Einheit des Gottessohnes und Menschensohnes in Christus auf: die Lehre der „hypostatischen Union“; Pius XI., Lux veritatis, in: Encicliche I, 993: „Leugnet man also die Lehre von der hypostatischen Union, auf der die Dogmen von der Menschwerdung und Erlösung des Menschen gründen und feststehen, fällt und bricht jedes Fundament der katholischen Religion ein.“

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der Begriff der »menschlichen Person«, die von Gott geschaffen, von Chri­stus erlöst, von der Kirche erleuchtet und für ihr Handeln ewig verant­wortlich ist.“33

„Die anthropologische Sicht, aus der zahlreiche Strömungen in den Bereich der psychologischen Wissenschaften der modernen Zeit einflie­ßen, ist in ihrer Gesamtheit entschieden unvereinbar mit den wesentli­chen Elementen der christlichen Anthropologie. Das aber, weil sie ver­schlossen ist für die Werte und den Sinngehalt, die das immanent Gege­bene übersteigen und es dem Menschen ermöglichen, sich auf die Liebe Gottes und zum Nächsten als seine endgültigen Berufung hin zu orien­tieren.“34

Das Konzil hat die Humanwissenschaften (das bedeutet jegliche Wis­senschaft über den Menschen) im Lichte der katholischen Theologie be­trachtet. Auf diese Weise hat es sie in der neuen umfassenden Sicht der menschlichen Person, der Gesellschaft und der Menschheit gereinigt, er­hoben und integriert. Die absteigende und umgekehrte theologische Strö­mung förderte und fördert auch weiterhin einen umgekehrten Prozeß: sie reduziert die christliche Anthropologie auf das Niveau der immanentisti­schen modernen Humanwissenschaften und führt sie so in ein neues Grab.

Die soeben genannten Wissenschaften stehen in ihrer Gesamtheit unter der Herrschaft positivistischer und historizistischer Voraussetzungen. Sie ignorieren den Schöpfer des Menschen, den Menschen als Ebenbild Got­tes, die Heilsgeschichte und Heilsgeographie mit dem Fall und der Erlö­sung des Menschen. Die Geschichte des Menschen setzen sie nicht in Be­ziehung zur Ewigkeit. Sie besitzen keine Gesamtsicht der menschlichen Person, der Gesellschaft und der Menschheit. Sie sind partiell und ver­kürzend. Ihre Sprache ist oft mißverständlich und enthält gravierende Irrtümer. Die modernen Humanwissenschaften widersprechen der christ­lichen Anthropologie, die im wesentlichen eine „Anthropologie der Auferste­hung“ ist.

Schon zu Zeiten von Augustinus (gest. 430) bestand die Gefahr einer pelagianischen Interpretation. Diese Gefahr „scheint neuerlich in unserer Epoche aufzutauchen. Pelagius behauptete, der Mensch könne auch ohne

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33 Johannes Paul IS., Ansprache vom 23. 12. 1984, 2,1652.

34 Ders., Ansprache vom 5. 2. 1987,1, 272; vgl. ders., Ansprache vom 25. 1. 1988, 1,194f.

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göttliche Gnade ein rechtschaffenes und glückliches Leben führen. Die göttliche Gnade sei somit für ihn nicht nötig. Die Wahrheit ist jedoch, daß der Mensch tatsächlich zum Heil berufen ist, daß ein rechtschaffenes Le­ben die Voraussetzung für dieses Heil ist und daß das Heil nicht ohne den Beistand der Gnade erreicht werden kann. Letztendlich kann nur Gott, der auf die Mitwirkung des Menschen wartet, den Menschen retten.“35

Indem der moderne Rationalismus die Erbsünde leugnet, trifft er das Herz der gesamten christlichen Soteriologie, d. h. der theologischen Überle­gungen über das Heil. Die Lehre von der Erbsünde und von der Notwen­digkeit der göttlichen Gnade für ein rechtschaffenes Leben wird ausge­grenzt, wodurch eine umgekehrte theologische Strömung die pelagiani­sche Irrlehre in gewissem Sinne erneuert. Einige Autoren, die vom Polyge­nismus ausgehen (die Menschheit auf der Erde stamme nicht von einem einzigen Menschen ab, sondern von verschiedenen Zweigen, die sich aus den Affen entwickelt hätten), leugnen – jeweils mehr oder weniger offen­sichtlich -, daß die Sünde, die in der Menschheit großes Unheil angerich­tet hat, auf den Ungehorsam Adams, des „ersten Menschen“ und Gestalt des zukünftigen, zurückgeführt werden kann (vgl. GS 22.13). Auch die Evolutionstheorie (nach der der Mensch vom Affen abstammt), kann des­halb nicht akzeptiert werden, weil sie ganz klar der unmittelbaren Er­schaffung jeder einzelnen Seele durch Gott widerspricht. Auch eine ex­egetische Richtung meint die biblische Erzählung vom Sündenfall des Menschen (vgl. Gen 3) entmythologisieren zu müssen. Sie hebt damit aber die kirchliche Lehre über die Erbsünde auf.

Im Laufe der Jahrhunderte mußte sich die Kirche mit gewissen falschen Auslegungen der Heiligen Schrift auseinandersetzen. In diesem Rahmen hat sie die Lehre über die Erbsünde und über die Notwendigkeit der gött­lichen Gnade für ein rechtschaffenes Leben und für das Heil des Men­schen entwickelt. Diese Lehre wurde durch ein immer tieferes Verständ­nis der göttlichen Offenbarung entwickelt. Indem die neuen Theorien die­se sichere und unfehlbare Lehre verdampften, haben sie für die kurzsich­tigen Denker dichten Nebel und zahlreiche neue „wissenschaftliche“ My­then geschaffen. Tatsächlich wurden weder der Polygenismus noch die Evolutionstheorie von der modernen Wissenschaft bewiesen. Auch die kurzsichtige moderne Bibelwissenschaft, die zu der oben genannten Ent­mythologisierung geführt hat, schaffte einen neuen Mythos.

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35 Johannes Paul II., Die Schwelle der Hoffnung überschreiten, 220; vgl. Paul VI., Ansprache vom 11.7.1966, 366-367

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„Ein radikaler Feminismus jedoch, der die Rechte der Frauen zu ver­treten sucht, indem er grundlegende, klare und beständige ethische Leh­ren angreift und ablehnt, bringt nicht die volle Wirklichkeit zum Aus­druck, noch fördert er die wahre Würde der Frauen, die im Plane Gottes nicht nur einen zeitlichen Wert, sondern auch eine ewige Bestimmung hat. Maria, die Mutter Jesu und Mutter der Kirche, die Frau in ihrem vor­züglichen Sinn, verkörpert diese radikale Würde der Frau. Maria spielte eine entscheidende Rolle am Wendepunkt der Geschichte; sie nimmt auch heute weiterhin Einfluß auf unser Leben.“36

Der christlichen Anthropologie gemäß sind Mann und Frau in gleichem Maße menschliche Personen: denn beide wurden nach dem Bilde und Gleich­nis des personalen Gottes erschaffen (vgl. Gen 1, 26-27). Eine solche Gleichheit darf jedoch niemals den Unterschied der Geschlechter verdun­keln oder ignorieren. Der Unterschied von Mann und Frau schließt ihre notwendige Ergänzung ein, die sowohl für die Kirche, als auch für die Gesellschaft sehr wertvoll ist.

„Die Entdeckung der Vertikale, der Absolutheit Gottes ist es, die die Probleme der Welt sinnvoll und die horizontale Öffnung dringend und wirksam werden läßt. Dies ist heute ein mehr denn je kostbarer Hinweis gegen die leichtsinnige Versuchung des christlichen Horizontalismus, der vom Streben nach dem Höchsten absieht; ein Hinweis gegen die Versu­chung des »Psychologismus«, der die geheimnisvolle Gegenwart und das unerwartete Wirken der Gnade ignoriert; ein Hinweis gegen einen Akti­vismus, der von irdischen Zielen ausgeht und nur in ihnen ihren End­punkt hat; ein Hinweis gegen eine Verbrüderung, die darauf verzichtet, sich an der gemeinsamen Vaterschaft Gottes auszurichten.“37

Ausgehend von den Daten der modernen Humanwissenschaften wollte man im Prozeß der Abflachung ein neues Christentum aufbauen, das von der ununterbrochenen Tradition, die es mit dem Glauben der Apostel

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36 Johannes Paul II., Schreiben vom 22. 2. 1989, in: EnV 11, 1369; vgl. ders., Die Schwelle der Hoffnung über­schreiten, 241-242; vgl. ders., Mulieris dignitatem; vgl. ders., Ansprachen vom 6. 7., 22. 6. und 13. 7. 1994.

37 Johannes Paul II., Ansprache vom 25. 1. 1983, 1, 205; Paul VI., Ansprache vom 25. 12. 1975, 1570: Das 20. Jahr­hundert ist „bereit, die Anthropologie — das heißt das menschliche Interesse — über die Theologie, das heißt die Betrachtung des göttlichen Seins, zu stellen „; Zur Verflachung der christlichen Anthropologie und dann der pastoralen Praxis und Katechese vgl. Paul VI., Apostolisches Schreiben vom 8. 12. 1970, 520; ders., Ansprache vom 10. 7. 1968, 855f; ders., Ansprache vom 16. 4. 1969, 920; ders., Ansprache vom 15. 1. 1969, 849; ders., Ansprache vom 28. 7. 1971, 655; ders., Octogesima adveniens Nr. 3840; Johannes Paul II., Ansprache vom 5. 12. 1983, 2,1260f; ders., Ansprache vom 2. 7. 1980, 2, 45; ders. Ansprache vom 15. 11. 1982, 3,1285; ders., Ansprache vom 4. 11. 1982, 3,1131; ders. Catechesi tradendae, Nr. 58. 61.

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verbindet, losgelöst ist. Die allgemeine Sprache der christlichen Anthro­pologie wurde so auf verschiedene Weise reduziert und mit anderen Teil­sprachen der modernen Humanwissenschaften vermischt. Und so ent­stand ein „wissenschaftliches“ Christentum ohne definierte Dogmen, oh­ne objektive Moral, ohne asketische und mystische Lehre usw.

Dieser Prozeß der „wissenschaftlichen“ Säkularisierung des Christen­tums hat in seiner zweiten Phase einen beachtlichen Teil der Katechese überflutet, zertrümmert und zerstört. Er hat zudem aus einem großen Teil der Pastoral die klassische asketische und mystische Lehre verdrängt. Die modernen Humanwissenschaften sind, in einem säkularisierten christli­chen Gewand, bestimmendes Hauptkriterium für die pastorale Tätigkeit in der „neuen“ Kirche geworden.

Die Moraltheologie

„Es ist nämlich eine neue Situation gerade innerhalb der christlichen Gemein­schaft entstanden, die hinsichtlich der Sittenlehre der Kirche die Verbrei­tung vielfältiger Zweifel und Einwände menschlicher und psychologi­scher, sozialer und kultureller, religiöser und auch im eigentlichen Sinne theologischer Art erfahren hat. Es handelt sich nicht mehr um begrenzte, gelegentliche Einwände, sondern um eine globale und systematische In­fragestellung der sittlichen Lehrüberlieferung aufgrund bestimmter an­thropologischer und ethischer Auffassungen. Diese haben ihre Wurzel in dem mehr oder weniger verborgenen Einfluß von Denkströmungen, die schließlich die menschliche Freiheit der Verwurzelung in dem ihr wesent­lichen und für sie bestimmenden Bezug zur Wahrheit beraubt. So wird die herkömmliche Lehre über das Naturgesetz, über die Universalität und bleibende Gültigkeit seiner Gebote abgelehnt; Teile der kirchlichen Mo­rallehre werden für schlechthin unannehmbar gehalten; man ist der Mei­nung, das Lehramt dürfe sich in Moralfragen nur einmischen, um die »Ge­wissen zu ermahnen« und »Werte vorzulegen«, nach denen dann ein jeder autonom die Entscheidungen und Entschlüsse seines Lebens inspirieren wird.“38

Die Entchristlichung, die auf all jenen Völkern lastet, die einstmals reich an Glauben und christlichem Leben waren, bringt den Verlust des Glau-

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38 Johannes Paul II., Veritatis splendor, Nr. 4; vgl. ders., Ansprache vom 10.4.1986, 1, 969f; ders., Ansprache vom 13.5.1982, 2, 1582: „Der moralische Verfall bringt den Verfall der Gesellschaft mit sich.“

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bens und den Verfall oder die Verdunkelung des moralischen Empfindens mit sich. Das Bewußtsein von der Eigentümlichkeit der evangelischen, das heißt christlichen Moral, verschwindet langsam, und es kommt zu einer Verdunkelung der Grundprinzipien und der fundamentalen ethischen Werte. Die wesentliche Verbindung von Wahrheit-Gutem-Freiheit gerät aus den Fugen. Die Krise der Wahrheitserkenntnis löst die Krise der Frei­heit aus. Die Bindung zwischen der Wahrheit (dem Sittengesetz) und dem freien Willen zerbricht. Der Mensch wird „wie Gott“ (vgl. Gen 3,5). Er ent­scheidet in absoluter Unabhängigkeit von seinem Schöpfer, was gut und was böse ist.

Die heute weit verbreiteten subjektivistischen, relativistischen und uti­litaristischen Tendenzen beanspruchen ihre volle kulturelle und soziale Legitimität. Die begriffliche Verkürzung des Lebens der menschlichen Person und der Gesellschaft auf eine rein materialistische und weltliche Ebene zeugte den Hedonismus und Moralpermissivismus.

Nach dem Konzil verdrängte die absteigende und umgekehrte Strö­mung der katholischen Moraltheologie die Heilige Schrift, die heilige Überlieferung und das Lehramt der Kirche. Sie wollte die Morallehre vor allem auf die menschliche Vernunft gründen. Auf der Grundlage einer Wissenschaft aus dem kurzsichtigen Blick hat sie eine rationale Moral ausgearbeitet, die bisweilen auch „autonome Moral“ genannt wird. Diese neue Moral enthält gravierende Irrtümer, die beweisen, daß es sich dabei um einen Zerfall der katholischen Moral in einem neuen Grab handelt. In der Enzyklika Veritatis splendor (1993) behandelt Johannes Paul II. die „au­tonome Moral“ und macht systematisch ihre Irrtümer deutlich.

Die autonome Moral „hat eine scharfe, der katholischen Lehre wider­sprechende (Konzil von Trient, Session VI, Dekret über die Recht­fertigung Cum hoc tempore, can. 19-21, in: DzH 1569-1571) Unterscheidung eingeführt zwischen einer sittlichen Ordnung, die menschlichen Ursprungs sei und nur innerweltlichen Wert habe, und einer Heilsordnung, für die nur bestimmte Absichten und innere Haltungen im Hinblick auf Gott und den Nächsten Bedeutung hätten. Folglich gelangte man dahin, das Vorhan­densein eines spezifischen und konkreten, universal gültigen und blei­benden sittlichen Gehaltes der göttlichen Offenbarung zu leugnen: Das bindende Wort Gottes würde sich darauf beschränken, eine Ermahnung, eine allgemeine »Paränese« anzubieten; sie mit wahrhaft »objektiven«, das heißt an die konkrete geschichtliche Situation angepaßten, normativen Bestimmungen aufzufüllen, wäre dann allein Aufgabe der autonomen Vernunft. Eine derart verstandene Autonomie führt natürlich dazu, daß eine spezifische Kompetenz der Kirche und ihres Lehramtes hinsichtlich bestimmter, das sogenannte »Humanum« betreffender sittlicher Normen geleugnet wird: Sie gehörten nicht zum eigentlichen Inhalt der Offenba­rung und wären als solche, im Hinblick auf das Heil, nicht von Bedeu­tung. „39

Die autonome Moral hat den Bund zwischen Glauben und Moral, zwi­schen Wahrheit (Sittengesetz) und Freiheit gebrochen. Sie folgte den Richtungen der modernen Philosophie und der modernen Humanwissen­schaften und verursachte damit den Bruch zwischen Metaphysik, christli­cher Anthropologie und Ethik. Das eigene Gewissen des Menschen schaf­fe die moralischen Normen, weshalb diese auch in den verschiedenen Kulturen und Epochen unterschiedlich seien. Es gäbe daher keine mora­lischen Normen, die allgemein und unveränderlich seien. Der Dekalog sei ein „kulturelles Produkt“, das an den antiken, semitischen Nahen Osten gebunden sei. Er sei eine dieser Gegend entsprechende Regel. Eine menschliche Handlung sei nicht in sich gut oder schlecht; ihre Qualität hänge einzig und alleine von ihrem Zweck (Teleologismus) und von den vorhersehbaren und berechenbaren Konsequenzen (Konsequenzialismus) ab; oder sie stehe in Zusammenhang mit der Wertung und dem Vergleich, den der Mensch zwischen dem höheren Gut und dem geringeren Übel anstelle (Proportionalismus).

Die neue „autonome Moral“ entleert den Sinn des Kreuzes und der Auferstehung Christi sowie der Heiligkeit Gottes und zerstört das tradi­tionelle Erbe christlicher und katholischer Sittenlehre. Die Entleerung des Geheimnisses vom Gottmenschen endet mit der Entleerung des Geheim­nisses von Gott und dem Menschen. Der alte Mensch, der in einem neuen Grab ruht, verwest dort, weil er seiner dreifachen Begehrlichkeit nach­gibt.

Die Befreiungstheologie

„Wenn man sich einzig und allein auf den Menschen und seine be­grenzten und einseitigen Ansichten stützt, gelangt man zu Formen der »Befreiung«, die schließlich nur neue und häufig noch ernstere Zustände sittlicher Versklavung vorbereiten.“40

39 Johannes Paul II., Veritatis splendor, Nr. 37.

40 Johannes Paul II., 14. 4. 1983, 1, 947.

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„Oft kommt in Völkern, die sich unter unsagbarem Einsatz bemühen, dort eine größere Gerechtigkeit zu schaffen, wo die sozioökonomische Ungleichheit groß ist und die Lebensbedingungen vieler manchmal un­menschlich sind, die Versuchung auf, die Sendung der Kirche auf die Su­che nach einem rein zeitlichen Projekt oder sogar auf das politische Han­deln zu verkürzen. Wohin dies führt, ist so für alle klar: man entleert die christliche Botschaft ihrer wesentlichen Inhalte, man ist dem Glauben untreu, man verrät das Evangelium.“41

Die wahre Form der Befreiungstheologie fördert die vollkommene Be­freiung des Menschen, der Gesellschaft und der Menschheit. Sie bestätigt den Primat der geistigen und ewigen Befreiung des Menschen: die Befrei­ung des Menschen von der inneren Sklaverei der Sünde und des Teufels. Aus dieser Befreiung entspringt die äußerliche und zeitliche Befreiung des Menschen, der Gesellschaft und der Völker.

Die säkularisierte Form der Befreiungstheologie entstand in Europa. Weiterentwickelt und verbreitet hat sie sich dann vor allem in Lateiname­rika. Die falsche Form der Befreiungstheologie versammelt in einer be­sonderen Synthese die Irrtümer der absteigenden und umgekehrten theo­logischen Spirale. Auf der anderen Seite nähert sie sich auch der Ideolo­gie des Marxismus und akzeptiert einige ihrer Grundkategorien.

Die falsche Form der Befreiungstheologie grenzt das Lehramt der Kir­che und die heilige Überlieferung aus. Sie versteht die göttliche Offenba­rung in der spezifischen Optik einer sozialpolitischen Befreiung. Sie stellt Jesus als Revolutionär hin und führt den Begriff „Klassenkampf“ in die Kirche ein. Dieser Kampf entfesselt eine heftige Revolution, die zur sozia­len Befreiung führen soll. Außerdem würde sich die „Kirche der Armen“ durch diesen Kampf vom Joch der „hierarchischen Kirche“ befreien, die zur herrschenden und unterdrückenden Klasse gehört.

Die obengenannte Theologie spricht von einer geistigen Befreiung. Sie stellt aber die sozialpolitische, horizontale und rein äußerliche Befreiung in den Mittelpunkt, um den sich alles dreht. Damit verdreht sie aber das

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41 Ders., Ansprache vom 15. 5. 1988, 2,1453. Zur Befreiungstheologie verweisen wir auf die beiden Instruktionen der Kongregation für die Glaubenslehre vom 6. 8. 1984, in: EnV 9, 866-927 und vom 22. 3. 1986, in: EnV 10, 118- 239. Papst Johannes Paul II. hat die falsche Form der Befreiungstheologie mehrmals zurechtgewiesen; vgl. ders., Ansprache vom 21. 12. 1984, 2, 1630-1631: „Die Kirche hat eine Option oder vorrangige Liebe für die Armen. Man beachte: eine vorrangige Liebe und daher keine ausschließliche oder ausschließende Liebe, denn die Heilsbotschaft richtet sich an alle. Es handelt sich darüber hinaus um eine Option, die wesentlich das Wort Gottes zur Grundlage hat und nicht Kriterien, welche die Humanwissenschaften oder entgegengesetzte Ideologien bieten“; vgl. ders., Ansprache vom 15. 10. 1991, 2, 872; vgl. ders., Ansprache vom 28. 1. 1979, 1, 215: Das Bild von Jesus als politischer Revolutionär, als Revolutionär aus Nazareth, ist falsch.

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eigentliche Verständnis der christlichen Befreiung. Sie führt die Christen vom übernatürlichen Stand der Freiheit der Kinder Gottes hinab auf die Ebene einer modernen Form unterirdischer Sklaverei.

Die Ekklesiologie

„Nach zwanzig Jahren (zwanzig Jahre nach dem Konzil) hat die außer­ordentliche Synode der Bischöfe festgestellt, daß »man zuviel von der Er­neuerung der äußeren Strukturen der Kirche spricht und nur wenig von Gott und von Christus«.“42

„Leider ist seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil eine neue Ekklesio­logie auf dem Vormarsch, die von einigen sozialen Kommunikationsmit­teln stark unterstützt wird. Sie hat sich angemaßt, der Kirche die Wege vorzugeben, die allerdings nicht mehr die Wege des Ökumenischen Zwei­ten Vatikanischen Konzils sind.“43

Die säkularisierende theologische Strömung hat eine sträfliche Ekkle­siologie entworfen. Diese neue umgekehrte Ekklesiologie hat die Kirche als Geheimnis des Glaubens an den Rand gedrängt. Die Kirche ist zu ei­ner menschlichen Struktur geworden, die sich radikal gemäß der jeweili­gen Zeit verändert. Auf der Grundlage der modernen Humanwissen­schaften und eines soziologischen Christentums ohne feste Dogmen hat diese Ekklesiologie unterschiedliche, kurzsichtige und partielle Auffas­sungen von der Kirche entworfen. Indem man die „Strukturen“ ablehnte, die der „konstantinischen, feudalen, bürokratischen, vorkonziliaren Kir­che (…)“ entsprechen, entwarf man die Auffassung einer „geistigen, cha­rismatischen, freien, demokratischen, volkstümlichen, für die Armen be-

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42 Johannes Paul II., Ansprache vom 12. 4. 1986, 1, 989.

43 Ders., Ansprache vom 28. 6. 1980, 1, 1895. Zum allein „charismatischen“ und nicht-institutionellen, „neuen“ und nicht herkömmlichen, „volkstümlichen“ Kirchenverständnis verweisen wir auf ders., Ansprache vom 2. 7. 1980, 2, 42; ders., Ansprache vom 4. 3. 1983, 1, 572; ders., Ansprache vom 17. 3. 1992, 1, 616-617: „Die Bischöfe erkann­ten auf der Synode von 1985 an, daß »das partielle Lesen des Konzils« und eine «einseitige Darstellung der Kirche als eine nur institutionelle Größe die Kirche ihres Geheimnisses beraubt«, zu großen Mangelerscheinungen vor allem bei der Jugend geführt haben, die «die Kirche als reine Institution kritisch einschätzt« (Schlußdokument der außerordentlichen Bischofssynode, I, 4). Mit Schmerz stellen wir fest, daß Kräfte, die dem Aufbau des Leibes Christi dienen sollten, zuweilen das Gegenteil bewirken, weil sie Opfer einer verfehlten Ekklesiologie geworden sind, die den übernatürlichen Charakter der Sendung der Kirche sowie der Mittel übersieht, die ihr Christus zur Durchführung dieser Sendung anvertraut hat“; vgl. Paul VI., Ansprache vom 18. 11. 1970, 1115.
Vgl. Johannes Paul II., Ansprache vom 2. 3. 1987, 1, 478: Die Gegenüberstellung von Charisma und Institution ist so schädlich wie nie zuvor; ders., Ansprache vom 28. 6. 1986, 1, 1965: Der Ekklesiologie des Zweiten Vatika­nischen Konzils ist das philosophisch-politische Prinzip der Demokratie fremd.

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stimmten, nachkonziliaren Kirche …“

„Denn unmittelbar nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil gehörte der Begriff »Communio« (Gemeinschaft) mit dem Begriff »Volk Gottes« zu den Begriffen (der Kirche), die in größerem Maß das Interesse der theolo­gischen Überlegungen anzog. Neben der wirklichen Vertiefung der Ekk­lesiologie in der Zeit nach dem Konzil tauchten jedoch auch Tendenzen auf, die diese Schlüsselbegriffe verkürzt auslegten. Damit war die Gefahr gegeben, daß man die katholische Ekklesiologie veränderte. Der Begriff »Communio« wurde im horizontalen und soziologischen Sinn verstanden, und es schlich sich ein Begriff in die Kirche ein, der sie auf einen Bund von Teilkirchen reduzierte.“44

In der Ekklesiologie des Konzils besteht eine vollkommene Harmonie zwischen der Gesamtkirche und der Teilkirche, der Einheit und der Com­munio, dem Amt des Nachfolgers Petri und der Rolle des Bischofskollegi­ums. Jede Teilkirche schöpft ihr Leben aus der Gesamtkirche. Die Grün­dung der Kirche auf Petrus (vgl. Mt 16,18) bringt die Verbindung mit der Gesamtkirche und mit der römischen Kirche als deren Zentrum mit sich, als konstitutives Element der Teilkirche und des Kircheseins überhaupt. Das ist der Dreh- und Angelpunkt für eine gute Theologie der Ortskirche. Die Ortskirche würde zu einer Sekte, wenn sie nur noch bestimmte Teile des „depositum fidei“ (Glaubensschatzes) verkündete oder wenn sie die Verbindung mit dem Nachfolger Petri aufkündigte.

In der nachkonziliaren Zeit verdrängte die umgekehrte Ekklesiologie den Begriff der Kirche als mystischen Leib Christi und betonte auf ein­seitige Weise die Kirche als Volk Gottes. Sie deutete außerdem den Be­griff des Volkes Gottes in einem eher horizontalen und soziologischen Sinn. Die absteigende und umgekehrte Ekklesiologie hat einen zentrifu­galen Pluralismus auf der Ebene der Hirten und der Ortskirchen geför­dert. Man betrachtete die Ortskirche fast als selbstgenügsam, während man die Gesamtkirche als einen Bund der Ortskirchen verstand.

Während des Pontifikates Pauls VI. begann dieser zentrifugale Pluralis­mus einige Gebiete der Kirche zu stören, indem er gefährliche Gleichge­wichtsstörungen verursachte. In diesen Gebieten verringerte sich die Ein­heit der Teilkirche mit der Gesamtkirche; man neigte manchmal dazu, das

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44 Johannes Paul II., Ansprache vom 19. 11. 1993, 2, 1293; vgl. Paul VI., Ansprache vom 23. 6. 1972, 673; vgl. Johannes Paul II., Ansprache vom 21. 12. 1984, 2, 1624; vgl. ders., Ansprache vom 4. 12. 1992, 2, 808; ders., Ansprache vom 18. 11. 1992, 2, 626; Kongregation für die Glaubenslehre, Schreiben an die Bischöfe der Katho­lischen Kirche über einige Aspekte der Kirche als Communio, 28. 5. 1992.

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Prinzip zu ignorieren, daß das Amt des Nachfolgers Petri „von innen heraus“ zum Wesen jeder Teilkirche gehört; die Verbindung eines Teils der Ortsbischöfe mit dem Papst, dem Hirten des ganzen pilgernden Got­tesvolkes wurde schwächer. Dieser gefährliche Prozeß schreitet während des Pontifikates Johannes Pauls II. fort und vertieft sich.

„Der Ökumenismus ist mit der Verschmelzung der konfessionellen Grenzen nicht vereinbar, insofern dieser die Inhalte des Glaubens ver­wässert, den wir von den Aposteln empfangen haben, und ebensowenig mit einer unterschiedslosen Zulassung der Gläubigen einer anderen kirchlichen Gemeinschaft zur Eucharistie, die uns eigen ist.“45

Die Kirche wird manchmal, im Hinblick auf die Lehre des Zweiten Va­tikanischen Konzils, „Sakrament des Dialoges“ genannt. In ihr vollzieht sich ein beständiger Dialog: das Gespräch Gottes mit dem Menschen und das Gespräch des Menschen mit Gott und mit den anderen Menschen. Nach dem Konzil ist die Katholische Kirche in einen breiten Dialog mit den verschiedenen Kreisen der Menschheit getreten: mit den getrennten Kirchen, den nichtchristlichen Religionen, der zeitgenössischen Welt. Der erste Dialogkreis ist der ökumenische Kreis.

Die aufsteigende Spirale des katholischen Volkes führt unter der Lei­tung des Lehramtes den ökumenischen Dialog in der Wahrheit, der Liebe und im Gebet. Die absteigende und umgekehrte Spirale des Volkes ver­mischt hingegen die konfessionellen Grenzen. Sie neigt dazu, alle christli­chen Konfessionen zu verschmelzen. Sie will also durch die Verschmel­zung aller christlichen Kirchen (die Katholische Kirche wäre damit nur eine von vielen Kirchen), eine „ökumenische“ Kirche errichten. Der fal­sche Ökumenismus schadet von innen heraus der Katholischen Kirche.

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45 Johannes Paul II., Ansprache vom 9. 3. 1983, 1, 678; ders., Ansprache vom 1. 6. 1980, 1, 1599: „Nach dem Denken Pauls VI., und man kann sagen nach dem Konzil, bedeutet »Dialog« gewiß »Öffnung«, die Fähigkeit, einen anderen von Grund auf zu verstehen: seine Geschichte, den Weg, den er zurückgelegt hat, die Inspirationen, die ihn beseelen. Dies bedeutet aber weder Indifferentismus noch in irgendeiner Weise »die Kunst, die Grundbegriffe zu vermischen«; und dennoch betrachtet man diese Kunst leider allzuoft als entsprechende Einstellung zum »Dialog«. Umso weniger bedeutet es, die Wahrheiten der eigenen Überzeugungen, des eigenen »Glaubensbekennt­nisses« zu »verschleiern«“; vgl. ders., Ansprache vom 21.4. 1990, 1, 951; ders., Schreiben vom 15. 5. 1980, in: EnV 7, 366-369; vgl. ders., Ansprache vom 19. 1. 1990, 1, 120: Der Dialog der Kirche mit den verschiedenen Kreisen der Menschheit, der allein von der Liebe inspiriert ist (vgl. GS 92), bedeutet nicht, die Notwendigkeit habe abgenom­men, den katholischen Glauben und die katholische Sittenlehre vor Angriffen zu verteidigen. Ders., Ansprache vom 4. 3. 1983, 1, 574: Der falsche Ökumenismus „kann nur zu Schaffung illusorischer Einheiten führen und neue Spaltungen verursachen. Wie schmerzlich wäre es, wenn das, was zum Wiederaufbau der Einheit der Christen dienen soll und was eine pastorale Priorität der Kirche in dieser Stunde der Geschichte darstellt, sich aufgrund der Kurzsichtigkeit der Menschen, aufgrund von falschen Kriterien, in eine Quelle neuer und schlimmerer Spaltungen verwandelte!“; vgl. ders., Ansprache vom 18. 8. 1991, 2, 343.

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Die Eschatologie

„Ein Schlüsselbegriff für das Verständnis der allgemeinen Lehre des Konzils ist der Begriff »Eschatologie«46

Das griechische Wort („eschaton“) bedeutet soviel wie „letz­tes“. Die Eschatologie ist die „Wissenschaft von den Letzten Dingen“. Die Eschatologie beherrscht das gesamte Verständnis des christlichen Lebens, der Geschichte, der Zeit, der menschlichen Schicksale nach dem Tod (je­ne, die der alte Katechismus und die Predigt die „Letzten Dinge“ nann­ten, d. h. Tod, Gericht, Hölle und Paradies). Die Eschatologie umfaßt be­sonders das Verständnis des göttlichen Planes über die Menschheit und die Welt sowie über den Epilog der Sendung Christi (die Auferstehung der Toten, das Jüngste Gericht, der Himmel der Gerechten, die Hölle der Bösen, die Umwandlung der materiellen Welt).

In einem stark personalistischen Stil konfrontierte die traditionelle Pa­storal von Zeit zu Zeit jeden Christen mit den „Letzten Dingen“, um ihn zu einer „Überprüfung“ des Lebens im Sakrament der Buße anzuregen. So führte sie ihn zum Gitter des Beichtstuhles, erweckte den christlichen Heldenmut, erzeugte nicht nur „große“ Heilige, die auch tatsächlich hei­liggesprochen wurden, sondern auch „alltägliche“ Heilige, in dem Sinn, den der Begriff in der frühchristlichen Literatur hatte.

„Man kann sagen, daß noch in der jüngsten katechetischen und keryg­matischen Tradition der Kirche eine regelrecht individuelle Eschatologie vor­herrschte, die sich an einer im übrigen tief in der göttlichen Offenbarung verwurzelten Dimension ausrichtete. Die Perspektive, die das Konzil bie­tet, ist die einer Eschatologie der Kirche und der Welt.

Die Überschrift des 7. Kapitels von Lumen gentium offenbart genau die ses Verständnis; sie lautet: »Der endzeitliche Charakter der pilgernden Kirche«.“47

Im 7. Kapitel von Lumen gentium legt das Konzil eine Eschatologie von Kirche und Welt vor, die auf das Geheimnis Christi ausgerichtet ist: eine christozentrische Eschatologie. In diese wesentlich biblische Sicht hat das Konzil die traditionelle Eschatologie eingebettet, die sich um die soge­nannten „Letzten Dinge“ drehte.

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46 Paul VI., Ansprache vom 8. 9. 1971, 746.

47 Johannes Paul II., Die Schwelle der Hoffnung überschreiten, 206.

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„Auf das Offenbarungswort Christi hin sind wir der Unsterblichkeit der Seele gewiß. In Wirklichkeit ist das Leben nicht im Horizont dieser Welt eingeschlossen: Die Seele, die unmittelbar von Gott geschaffen wur­de, bleibt bestehen, wenn das physiologische Ende des Körpers erreicht ist; sie ist unsterblich.“48

In den letzten Jahrzehnten sind einige neue theologische Interpretatio­nen erschienen, die nicht mit der Eschatologie des Konzils übereinstim­men, und haben sich verbreitet. Eine gewisse theologische Richtung be­hauptet, die Kirchenväter hätten die biblische Anthropologie nicht un­versehrt bewahrt und folglich auch nicht die biblische Eschatologie. Sie hätten den platonischen, anthropologischen Dualismus übernommen und die Lehre der griechischen Philosophie über die Unsterblichkeit der menschlichen Seele entwickelt. Gemäß dem „biblischen“ Denken dieser neuen Richtung kennt die Bibel nicht die Unsterblichkeit der Seele, son­dern nur den Tod des ganzen Menschen. Einige Autoren behaupten, der Mensch stehe im Moment des Todes auf, er treffe den verherrlichten Chri­stus und trete mit ihm in das ewige Leben ein.

Indem sie die biblische Anthropologie und Eschatologie im Kontext der antiken Welt inkulturierten, haben die Kirchenväter sie nicht entstellt, sondern weiterentwickelt. Mit der Theorie von der Auferstehung des Menschen im Augenblick des Todes werden einige der höchsten Gipfel der Absurdität erreicht. Während die Leiche des Menschen noch vor den Augen aller aufgebahrt ist, wäre der gestorbene Mensch schon vollkom­men (mit Leib und Seele) in die ewige Herrlichkeit auferstanden und ein­gegangen! Diese Theorie vergeistigt in einem solchen Maße den Körper, daß er sich praktisch in eine „unsterbliche Seele“ verwandelt: genau in das, was sie an ihrem Ausgangspunkt bestreitet.

Die Theorie schafft sogar die Zwischenzeit zwischen dem physiologi­schen Tod des Menschen und seiner Auferstehung am Ende der Welt ab. Sie beseitigt außerdem die Auferstehung der Toten am Ende der Welt und das Jüngste Gericht. Sie macht zudem die Beerdigungsriten der Kirche, ihre Bitten für die Verstorbenen und ihre Totenverehrung absurd.

„Die Frage der Hölle hat von Origenes bis in unsere Zeit – bis zu Michail Bulgakow und Hans Urs von Balthasar – schon immer die großen Denker

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48 Johannes Paul II., Ansprache vom 2. 11. 1983, 2, 961; vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Schreiben vom 17. 5. 1979, in: EnV 6,1034-1043; Entscheidungen über den Glaubensartikel Carnis resurrectionem,14. 2. 1983, in: EnV 9, 494496.

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der Kirche beunruhigt. In Wahrheit hatten die ersten Konzilien die Theorie von der sogenannten finalen Apokatastasis zurückgewiesen, der zufolge die Welt nach ihrer Zerstörung wiederhergestellt wird und alle Geschöpfe gerettet werden. Diese Theorie schaffte indirekt die Hölle ab.“49

Die Lehre von den aufeinanderfolgenden und endlosen Zyklen der Exi­stenz des Kosmos und die Lehre von der Reinkarnation der menschlichen Seelen waren in der Antike sehr geläufig. Unter ihrem Einfluß ist Orige­nes (gest. 251) zur irrigen Theorie der Apokatastasis gelangt. Einige Jahr­hunderte lang hat diese Theorie das Bewußtsein der Hirten und der Gläu­bigen verwirrt; deshalb hat die Kirche sie verurteilt.

Der Irrtum der Apokatastasis kehrt heute in gewissem Sinne zurück; er ist jedoch in elegante theologische Theorien verpackt. Eine gewisse theo­logische Richtung bekräftigt, daß die Lehre von der Existenz der Dämo­nen und Verdammten zum mythologischen Repertoire gehöre. Weil Gott Liebe ist, verurteilt er niemanden zur Hölle. Die Hölle ist also leer! Eine andere theologische Richtung erkennt zwar die Existenz der Dämonen an, sie hat aber folgende These aufgestellt: Man müsse das Heil aller Men­schen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft erhoffen. Aus der Perspektive dieser These hat diese Richtung die gesamte Lehre der Heiligen Schrift und der heiligen Überlieferung über das Schicksal der Menschen nach dem persönlichen Gericht und nach dem Jüngsten Gericht neu interpretiert und verkürzt.

„In Wirklichkeit ruht das ewige Heil des Menschen nur in Gott. Die Ablehnung Gottes von seiten des Menschen führt, wenn sie endgültig ist, folgerichtig zur Ablehnung des Menschen von seiten Gottes (vgl. Mt 7,23; 10,33), zur Verdammnis.“50

Gott ist in Christus in erster Linie und vor allem Erlöser, weil er Liebe und Barmherzigkeit ist. Aber er ist auch gerechter Richter: ein Richter

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49 Johannes Paul II., Die Schwelle der Hoffnung überschreiten, 211.

50 Johannes Paul II., Ansprache in Fatima am 13.5. 1982, 2,1581; vgl. Salvifici doloris, Nr. 14; Pius XII., Ansprache vom 24. 7. 1940, in: Discorsi II,190-191: „Alle Jünger verließen Jesus im ersten Augenblick des Leidens und flohen (vgL Mt 26,56). Allen wurde jedoch vergeben; allen, außer dem, der sich, weil er es nicht wagte, sich dem Herzen Jesu zu übergeben, durch einen fatalen Strick den Weg zur göttlichen Barmherzigkeit versperrte. Auch wenn ihr aller Sünden der Welt schuldig wäret, dürftet ihr diesen nicht jene hinzufügen, welche nicht zuläßt, daß die Güte Gottes noch größer als eure Sünden ist und sie vergeben kann“; Johannes Paul II., Ansprache vom 22. 11. 1981, 2, 721: „Christus spricht (beim Jüngsten Gericht) von den Böcken «zu seiner Linken«. Es sind diejenigen, die sein Reich abgelehnt haben. Sie haben nicht nur Gott abgelehnt, indem sie meinten und verkündeten, sein Reich zerstöre das unteilbare Reich des Menschen in der Welt, sondern sie haben auch den Menschen abgelehnt: Sie haben ihn nicht aufgenommen, ihn nicht besucht, ihm nicht zu essen und zu trinken gegeben.“

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nämlich, der das Gute belohnt und das Böse bestraft. Indem der Mensch den unendlichen und ewigen Gott endgültig ablehnt, verurteilt er sich selbst zur endgültigen Trennung von ihm: zur Hölle. Christus spricht ganz deutlich von denjenigen, die nach dem Jüngsten Gericht in den Ort der ewigen Qual eingehen werden (vgl. Mt 7,23; 10,33). Es sind alle Chri­sten und Menschen, die im Zustand der Todsünde gestorben sind (vgl. LG 14.17.48; Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 1033-5).

Die These von der Hoffnung auf die Errettung aller Menschen ist in gravierender Weise falsch, weil sie schon implizit die Unterscheidung und Trennung von Guten und Bösen abschafft, die Christus im persönli­chen Gericht bestätigt und im Jüngsten Gericht wiederholt (vgl. Hebr 9,27; Kor 5,10; Mt 25,31-46). Sie äußert aber explizit diese Abschaffung in der obenerwähnten Neuinterpretation. Ist diese Proklamation der Hoff­nung auf das Heil aller gerade in einer Zeit, in der viele Menschen und Christen sogar das Sündenbewußtsein verloren haben, nicht vielleicht eine Art, diese völlig einzuschläfern? Und ist es nicht vielleicht die Art und Weise, wie auch jene eingeschläfert werden, die mehr oder weniger schläfrig sind, und wie die Wachen schläfrig gemacht werden? Müßte man nicht besser die Dringlichkeit der Buße und der Bekehrung zum le­bendigen Gott verkünden, um die Schlafenden aufzuwecken und die Schläfrigen wachzuhalten?

„Von den »Letzten Dingen« sprechen nur wenige, und sie sagen nur wenig. Das Konzil erinnert uns aber an die ernsten eschatologischen Wahrheiten, die uns betreffen, eingeschlossen jene schreckliche Wahrheit von einer möglichen ewigen Strafe, die wir Hölle nennen und über die Jesus keine Zurückhaltung übt (vgl. Mt 22,13; 25,41). Das 7. Kapitel von Lumen gentium (insbesondere wenn es Mt 24,36-44; Offb 3,3, usw. zitiert) faßt die eschatologische Lehre der Kirche deutlich und nachdrücklich zu­sammen, die auch in nicht wenigen anderen Konzilstexten durchschim­mert (vgl. AG 9; GS 18.38; LG 6.8.35), und schmälert damit keineswegs den göttlichen Heilsplan der Barmherzigkeit, der Güte und Liebe, von dem die ganze Lehre des Konzils ein Zeugnis sein will, sondern erhellt ihn vielmehr.

Während uns heute einerseits die Säkularisierung das Bewußtsein von der schrecklichen Gefahr für unsere Zukunft nimmt und während ande­rerseits ein einfacher Rückgriff auf charismatische und prophetische Hal­tungen vielen den ehrgeizigen Schwindel der Selbstgenügsamkeit im Ur­teil über die strengen Forderungen des christlichen Lebens und über die Geschicke des Menschen verleiht, ist es höchst nützlich und notwendig, die Lehren des Konzils über die Hauptpunkte des Lebens, die eschatologischen Ziele unserer Existenz, deren Wirklichkeit uns das Wort Gottes in der Bibel und das Lehramt der Kirche in seinen authentischen Auslegun­gen versichert, vor Augen zu haben (vgl. Sir 7,40). Dies verleiht unserem in der Zeit pilgernden Schritt Richtung und Kraft (vgl. GS 39; AA 5), wäh­rend das Herz den eschatologischen Schluß des Neuen Testamentes seufzt: »Komm Herr Jesus!« (Offb 22,20).“51

Unter dem Einfluß des Säkularisationsprozesses einerseits und der Wirkung einiger neuer theologischer („einschläfernder“) Theorien auf dem Gebiet der Eschatologie andererseits, haben nicht wenige Hirten, Prediger, Katecheten und Erzieher damit begonnen, die Meditation und Kontemplation der „Letzten Dingen“ im Rahmen der konziliaren Escha­tologie zu vernachlässigen. Mit der Zeit begann ihre teleskopische Optik des Glaubens unscharf zu werden. Während sie ihre vagen und partiellen Vorstellungen von den „Letzten Dinge“ weitergaben, haben sich zahlrei­che Christen auf dem Weg zur himmlischen Heimat verlaufen. In der grö­ßer werdenden und um sich greifenden Verwirrung haben viele Amts­träger der Kirche praktisch aufgehört, von den „Letzten Dingen“ zu spre­chen. Sie haben die kindliche Furcht vor Gott, dem Ursprung der Weis­heit, verloren. Deshalb hat sich in ihrer teleskopischen Sicht der Horizont der „Letzten Dinge“ verdunkelt. Nachdem sie selbst die Angst vor dem ewigen Verderben verloren haben, haben sie auch nicht mehr den Mut, „mit der Hölle zu drohen“; damit ist in gewissem Sinne der „letzte Ret­tungsanker“ für das irrige Gewissen des Menschen untergegangen.

Die Liturgie der Kirche

Während des Pontifikates Johannes Pauls II. fährt die absteigende und umgekehrte theologische Spirale im neuen Grab damit fort, die Disziplin der Kirche und die allgemeine Ordnung in ihrer Liturgie zu zersetzen. Der Integralismus akzeptiert die Liturgiereform nicht. Der Progressismus entfernt sich von den vom Apostolischen Stuhl vorgegebenen Normen

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51 Paul VI., Ansprache vom 8. 9. 1971, 749; vgl. Johannes Paul II., Die Schwelle der Hoffnung überschreiten, 205f; ders., Ansprache vom 2. 11. 1983, 2, 962-963: „Die ganze Lehre und alle Gesinnungen Jesu sind auf die ewigen Wirklichkeiten ausgerichtet. Im Hinblick auf diese Wirklichkeiten zögert der göttliche Meister nicht, harten Verzicht und große Opfer zu verlangen. Die Wirklichkeit unseres Todes darf das Leben weder traurig stimmen noch in seinem Tun blockieren; es soll es nur äußerst ernst machen. (…) Die uns vom Gedächtnis der Ver­storbenen vorgeschlagenen Überlegungen reihen sich in das große Kapitel von den »Letzten Dingen« ein – Tod, Gericht, Himmel, Hölle. Wir müssen diese Perspektive ununterbrochen vor Augen haben. Sie ist das Geheimnis, warum unser Leben immer sinnvoll ist und in der Kraft der Hoffnung jeden Tag gelebt wird. Betrachten wir oft die Letzten Dinge, und wir werden immer mehr den tiefen Sinn des Lebens begreifen“

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und fördert phantasievolle Neuerungen.

Bei der Durchführung der Liturgiereform müssen mehr oder weniger schwerwiegende Abweichungen erkannt und beklagt werden. „So findet man bisweilen Auslassungen oder unerlaubte Hinzufügungen, außerhalb der festgesetzten Normen, erfundene Riten, Haltungen oder Gesänge, die dem Glauben oder dem Sinn für das Heilige abträglich sind, Mißbräuche in der Praxis der Generalabsolution, Verwechslungen zwischen dem Amtspriestertum, das an die Weihe gebunden ist, und dem gemeinsamen Priestertum der Gläubigen, das sein eigenes Fundament in der Taufe hat.

Man darf es nicht hinnehmen, daß einige Priester sich das Recht anma­ßen, eucharistische Hochgebete zusammenzustellen oder Texte der Heili­gen Schrift durch profane Texte zu ersetzen. Initiativen dieser Art – weit davon entfernt, mit der Liturgiereform als solcher oder den aus ihr her­vorgegangenen Büchern verbunden zu sein – widersprechen ihr direkt, entstellen sie und berauben das christliche Volk des authentischen Reich­tums der Liturgie der Kirche.“52

Während des Pontifikates Johannes Pauls II. nehmen schwere Mißbräu­che in der Praxis der Generalabsolution zu. Diese treffen das Herz des Sakramentes der Buße. Außerdem nimmt die Zahl der Einzelbeichten ab, und es wächst hingegen die Zahl der Orte, wo sie ganz verschwinden. Hingegen steigt die Zahl der unwürdigen Kommunionen, die das Herz des Sakramentes der Eucharistie treffen. Diese unwürdigen Kommunio­nen verletzen gleichzeitig die Kirche, weil die Eucharistie „die Kirche stiftet“. Die eucharistische Irrlehre, die Paul VI. zurückgewiesen hat, setzt mit großer Kühnheit ihren Weg fort.

Die absteigende und säkularisierende theologische Spirale verdrängt weiterhin die Anbetung Jesu in der Eucharistie, die Verehrung der Mutter Gottes und der Mutter der Kirche und schafft die Verehrung der Engel und Heiligen, die verschiedenen Frömmigkeitsübungen und insbesonde­re das Gebet des heiligen Rosenkranzes ab.

c) Die Kirche und die Antikirche

„Alle Lehren unseres Glaubens fließen in einer lebendigen Person zu-

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52 Johannes Paul II., Schreiben vom 4. 12. 1988: EnV 11, 999.

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sammen, die Jesus Christus ist.“53

„Wie groß ist die Zahl derer, die das Evangelium nach ihrem Gutdün­ken verkürzen und sich einen bequemen Jesus zurecht zimmern, indem sie die transzendente Göttlichkeit leugnen oder die reale geschichtliche Menschheit zerstören oder die Unversehrtheit seiner Botschaft manipu­lieren.“54

Im Laufe des Pontifikates Johannes Pauls II. setzt sich in der Kirche die Entwicklung eines parallelen theologischen Lehramtes fort. Dieses be­streitet mit seinem Dissens zur Lehre das Lehramt der Kirche und wider­spricht ihm. Das parallele Lehramt mit seinen Anhängern begräbt Jesus Christus auch weiterhin. Damit beerdigt es in seinem Bereich auch das Glaubensgut und die Kirche. Die neue theologische Pseudowissenschaft hat ein neues Evangelium verfaßt: ein neues Anti-Evangelium. Dieses Anti-Evangelium ist ein paralleles Evangelium und daher eine wesentli­che Verfälschung des Evangeliums Jesu. Es legt einen falschen Gott-Men­schen vor: einen falschen Gott und einen falschen Menschen.

„Wir leben in einer Zeit, in der man eine radikale Konfrontation spürt und erfährt, die sich überall durchsetzt. Es gibt nicht nur eine Form, es gibt davon verschiedene in der Welt; Glaube und Unglaube; Evangelium und Anti-Evangelium; Kirche und Anti-Kirche; Gott und Anti-Gott, wenn wir dies so sagen können. Es gibt keinen Anti-Gott, doch es kann im Men­schen einen Anti-Gott geben, der Mensch kann nämlich in sich die radika­le Leugnung Gottes hervorbringen.“55

Die Kurve des großen Abfalles vom wahren Glauben und damit von der Katholischen Kirche läuft am Ende des 20. Jahrhunderts ihrem Höhe­punkt entgegen. Es vertieft sich in zunehmendem Maße das Auseinander-

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53 Johannes Paul II., Ansprache vom 24. 6. 1988, 2, 2150.

54 Ders., Ansprache vom 1. 7. 1987, 1, 43; ders., Ansprache vom 27. 1. 1988, 1, 257: Heute ist die Tendenz verbreitet, „Jesus nur noch als Menschen zu betrachten und vorzustellen: zwar als ungewöhnlichen und außerordentlichen Menschen, aber doch immer und nur als Menschen.“ Zum parallelen Lehramt und seinem Widerspruch zum Lehramt der Kirche verweisen wir auf ders., Ansprache vom 1. 2. 1985, 1, 344; ders., Ansprache vom 2. 2. 1985, 1, 370-371; ders., Ansprache vom 18. 5. 1985, 1, 1481; ders., Ansprache vom 11. 10. 1985, 2, 922; ders., Ansprache vom 18. 5. 1989, 1, 1279; ders., Ansprache vom 12. 10. 1992, 2, 319-320; Kongregation für die Glaubenslehre, Schreiben vom 24. 5. 1990, in: EnV 12, 217f.

55 Johannes Paul II., Ansprache vom 2. 11. 1980, 2,1045; zur Spaltung der Kirche verweisen wir auf ders., Ansprache vom 1. 6. 1980, 2, 1596; ders., Ansprache vom 12. 3. 1982, 1, 827; ders., Reconciliatio et paenitentia, Nr. 2; ders., Ansprache vom 21. 1. 1990, 1,142f; ders., Ansprache vom 28. 9. 1990, 2, 766. Ich behandle hier nur die Anti-Kirche in ihrer „katholischen“ Form.

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gehen zwischen der aufsteigenden und der absteigenden Spirale des ka­tholischen Volkes und damit auch die Spaltung innerhalb der Kirche.

Ein entscheidender Faktor bei der Bildung der „neuen“ Kirche ist die neue theologische Pseudowissenschaft. Die „neue“ Kirche ist eine Anti­-Kirche: eine parallele Kirche, die eine wesentliche Verfälschung der Ka­tholischen Kirche darstellt. Die Antikirche bleibt nach außen hin in der Katholischen Kirche, während sie innerlich im neuen Grab der unteren Hemisphäre der Menschheit ruht. Die Antikirche ist die Trägerin des fal­schen Christus. Sie untergräbt die Kirche „von innen heraus“.

Die Kirche ist mehr als je zuvor von außen her vom fortschreitenden Atheismus in seinen diversen Formen bedroht. Sie ist von innen her mehr als je zuvor von der Antikirche bedroht. Jedoch ist die zweite Bedrohung größer und gefährlicher.

„Der heilige Paulus schreibt: »Die geheime Macht der Gesetzwidrigkeit ist schon am Werk (…)« (2 Thess 2,7). Müssen wir das nicht auch über un­sere Zeit sagen? Die geheime Macht der Gesetzwidrigkeit, des Abfalles von Gott, hat nach den Worten des Paulusbriefes eine innere Struktur und eine bestimmte dynamische Stufenfolge: » … muß der Mensch der Gesetz­widrigkeit erscheinen …, der Widersacher, der sich über alles, was Gott oder Heiligtum heißt, so sehr erhebt, daß er sich sogar in den Tempel Got­tes setzt und sich als Gott ausgibt« (2 Thess 2,3-4). Hier haben wir also eine innere Struktur des Verneinens, der Entwurzelung Gottes aus dem Her­zen der Menschen und der Entwurzelung von Gott aus der menschlichen Gesellschaft und dies mit dem Ziel, wie man sagt, einer vollkommenen »Humanisierung« des Menschen, das heißt, den Menschen im volleren Sinn zum Menschen zu machen und ihn in einer gewissen Weise an Got­tes Stelle zu setzen, gleichsam zu »vergöttlichen«.“56

„Der Apostel sagt: »Es ist die letzte Stunde.« Er fügt aber gleich hinzu: »(…), daß der Antichrist kommt, und jetzt sind viele Antichristen gekommen. Daran erkennen wir, daß es die letzte Stunde ist« (2 Joh 2,18).“57

Der Antichrist ist jeder, der Christus widerspricht. Viele Antichristen, unter sich zusammengeschlossen, bilden einen kollektiven Antichrist. In der Geschichte sind schon verschiedene Formen von kollektiven Antichri­sten aufgetreten. Die Prophezeiung des Apostels Paulus über den gesetz-

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56 Johannes Paul II., Ansprache vom 19. 11. 1980, 2,1349.

57 Ders., Ansprache vom 31. 12. 1993, 2,1589.

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widrigen Menschen im Heiligtum Gottes – das die Kirche Christi ist – be­zieht sich auf eine bestimmte historische Person. Diese Person wird der Antichrist sein als größter Widersacher Christi in der Geschichte und da­mit als seine größte Verfälschung.

Die absteigende Spirale der Antikirche hat ihren Sitz in der Polarstadt Babylon. Die absteigende Spirale der modernen Welt hat ihren Sitz in der gleichen Stadt. Die Antikirche ist im wesentlichen mit der Stadt Babylon verbunden. Die absteigende Spirale der „geheimen Macht der Gesetz­widrigkeit“ hat eine eigene Dynamik, die schrittweise ihrem Höhepunkt zustrebt: sie bereitet die Inthronisierung des bösen Menschen – des Anti­christen – im Heiligtum der Kirche vor. Der gesetzwidrige Mensch im Heiligtum der Kirche wird der Gipfel des großen Abfalles sein.

Der Antichrist wird das Oberhaupt der Antikirche sein, nicht aber das Haupt der wahren Kirche, die Christus für immer treu bleiben wird. Der Antichrist wird hingegen versuchen, die wahre Kirche vollständig und endgültig zu zerstören. Johannes Paul II. spielt auf einen besonderen Fall des christlichen Volkes an (vgl. Redemptoris Mater, Nr. 52). In der kurzen Herrschaftszeit des Antichristen wird der Abfall von Christus und von Gott so tief sein und solche Ausmaße annehmen wie nie zuvor.

3. Der Übergang ins neue Zeitalter
im gekreuzigten, begrabenen und auferstandenen Gottmenschen

a) Ein Papst des siegreichen Kreuzes

„Die Lehre vom Kreuz ist »Gottes Kraft und Gottes Weisheit« (1 Kor 1,24). Sie ist der Höhepunkt der Frohbotschaft; sie führt zur Fülle der Wahrheit über Gott und über den Menschen. (…)

Dieser Berg bleibe als Zeugnis am Ende des zweiten Jahrtausends nach Christus und gleichsam als die Ankündigung des neuen, des dritten Jahr­tausends der Erlösung und des Heiles, das nirgends sonst zu finden ist, nur im Kreuz und in der Auferstehung unseres Erlösers.“58

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58 Johannes Paul II., Ansprache vom 7. 9. 1993, 2, 671-672; vgl. ders., Ansprache vom 27. 3. 1993; vgl. ders., An­sprache vom 27. 2. 1994; ders., Ansprache vom 1. 4. 1994; vgl. ders., Ansprache vom 29. 5. 1994: Mit dem „Evangelium vom Leiden“ schreitet die Kirche dem dritten Jahrtausend entgegen; vgl. ders., Ansprache vom 1. 12. 1992, 2, 793: „Sanguis martyrum semen christianorum“ – das Blut der Märtyrer ist der Same der Christen (Tertullian, Apol., 50, in: PL 1, 535).

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Am 7. September 1993 bestieg Johannes Paul II. den Berg der Kreuze in Siauliai in Litauen. Auf diesem Berg sind mehrere tausend Holzkreuze verschiedener Größe aufgestellt und auf seinem Gipfel steht das Kreuz Christi. Der Aufstieg des Heiligen Vaters hat eine symbolische Bedeutung für die Kirche des 20. Jahrhunderts und für sein Pontifikat. Im 20. Jahr­hundert wurde die Kirche auf viele Arten und vor allem auf dem europäi­schen Kontinent verfolgt und mit Christus gekreuzigt. Auf diese Weise ist eine reiche Ernte an Märtyrern herangereift, vielleicht die größte nach den ersten Jahrhunderten des Christentums.

Die Kirche wird aus dem Gekreuzigten geboren und wiedergeboren, „aus der Seite des am Kreuze entschlafenen Christus“ (SC 5). Aus dem Blut der Märtyrer des 20. Jahrhunderts ist ein neuer Frühling des Chri­stentums erblüht, vor allem der herrliche Frühling des Zweiten Vatika­nischen Konzils.

Wie seine Vorgänger Paul VI. und Johannes Paull. verwirklicht Johan­nes Paul II. das Konzil auf dem steilen Weg des Kreuzes Christi. Auf die­sem Weg verwirklicht der Papst die konziliare Öffnung zum unendlichen Gott und zur zeitgenössischen Welt. Johannes Paul II. geht dem ganzen pilgernden Volk Gottes auf dem strahlenden und siegreichen Weg des Kreuzes voraus. Die aufsteigende (theologische) Spirale folgt dem Heili­gen Vater. Indem die Hirten, Theologen und Gläubigen die siegreiche Kraft des Kreuzes Christi aufnehmen, überwinden sie den heutigen gro­ßen zentrifugalen Pluralismus. Auf den aufsteigenden Pfaden des zen­tripetalen Pluralismus vereinigen sie sich in einer immer tieferen Gemein­schaft.

b) Der neue Himmel und die neue Erde

„Diese heilige Synode will (…) die Kräfte aller Gläubigen sammeln, da­mit das Volk Gottes, auf dem schmalen Weg des Kreuzes vor­anschreitend, die Herrschaft Christi des Herrn, vor dessen Augen die Jahrhunderte stehen (vgl. Sir 36,19), ausbreite und seiner Ankunft die We­ge bahne“ (AG 1).

„»Dies ist der Tag, den der Herr gemacht hat« (Ps 118,24). Er selbst hat die­sen Tag – Christus, »unser Pascha« (vgl. 1 Kor 5,7) – gemacht. Er selbst ist in gewissem Sinn dieser Tag. Er, der »Licht vom Licht, Gott von Gott, gezeugt nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater« ist: der Eckstein.“59

„Die Kirche des Millenniums wird noch die Kirche sein, die durch Leiden gereinigt wird und den heilbringenden Wert dieser Leiden gut kennt. Auch in dieser Erfahrung der Reinigung wird die Kirche laut rufen müssen, »daß die Leiden der gegenwärtigen Zeit nichts sind im Vergleich zu der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll« (Röm 8,18).“60

Die Kirche lebt in einem einzigen Tag: im Tag des gekreuzigten und auferstandenen Christus, und sie lebt deshalb in der Morgenröte des Ta­ges des Dreieinen Gottes. Der Heilige Geist erhebt die Kirche auf dem Kreuzweg Christi mit dem auferstandenen Christus und taucht sie in den polaren, umfassenden und ewigen Tag des Herrn ein. Durch die soge­nannte „Nacht der Sinne“ und die sogenannte „Nacht des Geistes“ bil­den sich die neuen Menschen im gekreuzigten und auferstandenen Gott­menschen – die irdischen und himmlischen Menschen; die kleinen Kin­der Gottes, die der Geist des Vaters und des Sohnes in die Sonne der gött­lichen Gnade einkleidet.

Im letzten Abschnitt des 20. Jahrhunderts wird die Kirche immer mehr gekreuzigt. Die ungeheure Zahl der Kreuze der Kirche fließt in das eine Kreuz hinein: die Kirche ist mit dem gekreuzigten Christus gekreuzigt. In der gekreuzigten Kirche nimmt das läuternde und heilbringende Leiden zu. Die Gott und Christus feindlich gesinnte Welt kreuzigt die Kirche mit einer unermeßlichen Zahl von negativen Kreuzen der Sünde. Die Antikir­che kreuzigt auf verschiedene Arten die Kirche „von innen“.

Auf dem Weg des Kreuzes und der Auferstehung des Gottmenschen verwirklicht die aufsteigende Spirale des katholischen Volkes das aggior­namento (die Erneuerung) des Zweiten Vatikanischen Konzils. Durch die große Nacht des Karfreitages der heutigen Kirche wird eine erneuerte, strahlende Kirche des neuen Zeitalters geboren.

„Diese Sache, die ich euch vorlegen werde, ist die größte Sache, die sich der Menschheit nach Ankunft des Christentums dargeboten hat. Keine

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59 Johannes Paul II., Ansprache vom 26. 4. 1992, 1, 1191.

60 Ders., Ansprache vom 16. 4. 1988, 1, 909; vgl. ders., Ansprache vom 23. 9. 1990, 2, 727; ders., Ansprache vom 1. 12. 1992, 2, 792-793; ders., Ansprache vom 6. 4. 1988, 1, 824-825: Der Tag des Paschas Christi „dauert fort, ja er nimmt kein Ende. Er ist der Tag des endgültigen Sieges Christi über den Teufel, die Sünde und den Tod; der Tag, der über den Ablauf der Zeit hinaus die unendliche Perspektive des ewigen Lebens eröffnet, wo das Opferlamm immer noch und weiterhin sich dem Vater für uns, aus Liebe zu uns, darbietet. (…) Alles ist neu, alles ist heilig, weil Christus unser Osterlamm geopfert ist. In diesem Heute von Ostern wird das ewige Heute des Himmelreiches vorweggenommen.“

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Generation hat je eine so große Verantwortung für die Zukunft getragen wie die unsrige. Nie zuvor hat der Mensch so viele Möglichkeiten beses­sen, die Zukunft unwiderruflich zu bestimmen: im Guten wie im Bösen. Kurz, wir befinden uns in jenen ganz genauen, besonders ernsten ge­schichtlichen Augenblicken, in denen die höchsten Werte des mensch­lichen Zusammenlebens auf dem Spiel stehen. Wir stehen vor der Alter­native zwischen ihrer unvorstellbaren Entwicklung oder ihrem Fall ohne Wie derkehr.“61

„Auf der Schwelle zu einem neuen Jahrtausend, auf das sich die ganze Kirche vorbereitet, gleicht die Welt einem Acker, der auf die Ernte war­tet.“62

Im Gleichnis vom „Unkraut unter dem Weizen“ (vgl. Mt 13,24-30) ermahnt Christus seine Jünger, bis zur Erntezeit zu warten. Die Endphase des zwei­ten christlichen Jahrhunderts ist „die letzte Stunde“ (vgl. 1 Joh 2,18), in der die Menschheit reif für die Ernte des Guten (des Weizens) und des Bösen (des Unkrauts) ist. Die Ernte vollzieht sich in der großen apokalyptischen Drangsal. In der Zeit des Antichrists wird die Ernte der Märtyrer Christi ihren Höhepunkt erreichen. Die Felder der Menschheit, auf denen Weizen und Unkraut reif sind, werden von den verschiedenen Geißeln gemäht werden: und dies auf eine ganz besondere Art, durch den Krieg mit apoka­lyptischen Waffen. Dann werden ein großer Teil der Menschheit und viele Nationen buchstäblich weggefegt sein. Bei der unermeßlichen Ernte auf unserem Planeten scheint der Tod zu triumphieren.

Wenn auch die Erde mit ihren Bewohnern zu schwanken scheint (vgl. Ps 75,4), wird die Kirche noch fest im siegreichen Kreuz Christi verankert sein: „Stat Crux, dum volvitur orbis“ (das Kreuz steht, während sich der Erdball dreht). Weil die Kirche mit Christus an dem Kreuz verbleibt, wird sie in dieser großen epochalen Wende nicht untergehen. Mit dem Kreuz Christi wird die Kirche das große negative Kreuz der Welt aufwiegen und für das Überleben der Menschheit kämpfen. Das Kreuz der Welt wird scheinbar überlegen sein durch das Kreuz des Antichrists und der Anti­kirche, durch das Reich der großen Finsternis, der Lüge, des Irrtums, der

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61 Johannes Paul II., Ansprache vom 11. 5. 1986, 1, 1387-1388.

62 Ders., Ansprache vom 15. 8. 1993, 2, 500; vgl. ders., Ansprache vom 31. 12. 1993, 2,1589; ders., Ansprache vom 28. 6. 1991, 1, 1815; ders., Ansprache vom 6. 6. 1989, 1, 1537-1538: „An jedem Tag, der vergeht, liegt eine neue Welt in Geburtswehen. Die Menschheit befindet sich in der Schwebe zwischen einer Zukunft von Hoffnung und Verhei­ßungen und einer Zukunft von Gewalt und Armut“; ders., Ansprache vom 3.4. 1987, 1, 1005: „An der Schwelle zum dritten Jahrtausend befindet sich die Menschheit in einem kritischen und entscheidenden Augenblick eines Umwandlungsprozesses ohnegleichen.“

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Angst, des Schreckens und des Todes, usw., das viel Schutt und Asche anhäufen wird … Im Endkampf zwischen dem Kreuz der Kirche und dem Kreuz der Welt wird sich die große Drangsal ihrem Ende nähern.

„In einem wichtigen Augenblick ihres Lebens muß die Kirche des Mil­lenniums sich bereit erklären, dem Herrn zu jeder Stunde zu begegnen und weiterhin treu und in freudiger Hoffnung auf seine Wiederkunft zu warten.“63

„Seht Christus, den »Gesalbten«! Seht ihn, »der uns liebt und uns von unseren Sünden erlöst hat durch sein Blut« (Offb 1,5).

Seht Ihn, das Pascha, den Vorübergang des lebendigen Gottes! Und Ihn, der kommen wird: »Siehe er kommt mit den Wolken, und jedes Auge wird ihn sehen, auch alle, die ihn durchbohrt haben; und alle Völker der Erde wer­den seinetwegen jammern und klagen« (Offb 1,7).

Christus, das Pascha unseres Hinübergehens und unserer Zukunft in Gott.“64

Der Christus des Millenniums ist kein schwacher und unwirksamer Christus. Er ist der gekreuzigte und auferstandene Christus, der 2000 Jah­re lang über die Irrtümer und Übel der Menschheit gesiegt hat. „Der Chri­stus des Millenniums ist der Erstgeborene von den Toten, »der König der Könige und Herr aller Herren« (Offb 19,16), der ewige Sohn Gottes, das fleischgewordene Wort, der Mensch, der sich als »der Lebendige« (Offb 1,18) erweist und zu seiner Kirche spricht: »Fürchte dich nicht!« (Offb 1,17).“65 Der Christus des Millenniums ist der triumphierende Sieger, der im Glanz seiner Gottheit und seiner Menschheit auf den Wolken des Him­mels kommt. Er ist derjenige, der kommt „wie die aufgehende Sonne aus der Höhe“ (vgl. Lk 1,78) und den großen Tag des Herrn ausstrahlt.

„Das Millennium ist der größte Augenblick der Verherrlichung des Kreuzes Christi und der Verkündigung der Vergebung durch sein Blut.“66

„Im Kreuze Christi wird der Gott der Liebe und Wahrheit, der Barm-

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63 Johannes Paul II., Ansprache vom 16.4. 1988,1, 909.

64 Ders., Ansprache vom 23. 3. 1989, 1, 645; vgl. ders., Ansprache vom 24. 11. 1991, 2,1256f.

65 Johannes Paul II., Ansprache vom 16. 4. 1988, 1, 910-911.

66 Johannes Paul II., Ansprache vom 16. 4. 1988, 1, 912.

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herzigkeit und Gerechtigkeit verherrlicht.“67

Wenn der Heilige Geist „gekommen sein wird, wird er die Welt überfüh­ren und aufdecken, was Sünde, Gerechtigkeit und Gericht ist“ (Joh 16,7f). Der Augenblick, da der verherrlichte Christus erscheint, ist die höchste Ver­herrlichung seines Kreuzes, der Triumph des Kreuzes. Durch die Wun­den seiner Kreuzigung bringt und sendet Christus auf außergewöhnliche Weise den Heiligen Geist. Es gibt ein besonderes Gericht für die Men­schen, die sich äußerlich an den Kreuzungspunkten der geographischen Längen- und Breitengrade und innerlich an den Kreuzungspunkten der Längen- und Breitengrade der theologischen und anthropologischen Welt befinden.

Die Menschen und Nationen wenden ihren Blick demjenigen zu, den sie mit ihren Sünden durchbohrt haben (vgl. Joh 19,37; Offb 1,17; Sach 12, 10). Im brennenden Licht des Heiligen Geistes sehen die Menschen klar ihr ganzes Leben und alle Kreuze ihrer Sünden in bezug auf den gekreu­zigten Christus und durch ihn in bezug auf Gott. Sie erkennen ihre eige­nen Sünden im ganzen Ausmaß des Bösen, das ihnen aufgrund der „ge­heimen Macht der Gesetzwidrigkeit“ eigen ist. Sie sehen ganz klar ihre Wege und ihren gegenwärtigen Standort in der theologischen und an­thropologischen Welt. Darüber hinaus überzeugt der Heilige Geist die Menschen, im Hinblick auf das Kreuz Christi, von der barmherzigen Lie­be Gottes, der bereit ist, ihre Sünden zu vergeben und sie zu retten.

Die Wiederkunft Christi in Herrlichkeit und sein Gericht über die ein­zelnen Menschen und die Nationen stellen das Ende der Welt dar: das Ende einer alten Welt. Christus aktualisiert sehr machtvoll seinen voll­kommenen und endgültigen Sieg über Satan und die Mächte des Bösen, den er durch sein Leiden und Kreuz errungen hat. Satan und die Dämo­nen werden in die Hölle geworfen. Der unbußfertige Teil der Menschheit wird zusammen mit den Mächten der Finsternis vollständig und endgül­tig besiegt. Die Stadt Babylon wird ebenso verschwinden wie der Anti­christ und die Antikirche. Der große Tag des Herrn wird für das mächtige Heer des Bösen wahrhaft ein Tag des Schreckens sein: der Tag der großen

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67 Ders., Ansprache vom 27. 4. 1986, 1, 1162; ders., Dominum et vivificantem, Nr. 27f; ders., Ansprache vom 6. 4. 1983, 1, 899: „Mit der Liturgie der Kirche können wir nicht nur hoc Passionis (in dieser Passionszeit) das Kreuz als »einzige Hoffnung« und Quelle der »Vergebung« grüßen, wie wir es am Karfreitag getan haben, sondern auch in hac triumphi gloria (in dieser Zeit des glorreichen Triumphes), wie wir am Fest seiner Erhöhung singen. Von diesem strahlenden und glorreichen Geheimnis des Kreuzes (fulget Crucis mysterium) schreibt der heilige Petrus in seinem ersten Brief“; vgl. ders., Ansprache vom 17. 4. 1988, 1, 973: Wie die Sonne nach einem Gewitter den Himmel erleuchtet, so soll die Seele im Licht des glorreichen Kreuzes Christi erstrahlen; vgl. ders., Ansprache vom 30. 3. 1983, 1, 855: Das Kreuz Christi ist der Anfang der universalen restauratio.

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Strafe.

„Die Kirche macht sich den Ausspruch von Pontius Pilatus zu eigen: »Ecce homo« (Joh 19,5). Die Verkündigung des Millenniums muß die Verkün­digung dieses Menschen, die Verkündigung Jesu Christi sein und die Erhö­hung der ganzen Menschheit in ihm. Das Wort, das immer beim Vater und als solches die Wahrheit und das Leben der Menschheit ist, ist für die Menschheit der Weg, da es das menschliche Fleisch angenommen hat (vgl. Augustinus, Tract. in loan. 34,9).„68

„Das große Jubiläum 2000 enthält also eine Botschaft der Befreiung durch das Wirken des Geistes, der allein den Menschen und Gemein­schaften helfen kann, – in dem er sie mit dem »Gesetz des Geistes, der in Jesus Christus lebendig macht« (Röm 8,2), führt -, sich aus den alten und neuen Zwängen zu befreien, wobei sie auf diese Weise das volle Maß der wahren Freiheit des Menschen entdecken und verwirklichen.“69

Nach dem geheimnisvollen Gesetz des göttlichen Heilsplanes folgt dem Kreuz Christi die Auferstehung. Im Augenblick der größten Verherrlichung des Kreuzes wird die mit dem gekreuzigten Christus gekreuzigte Kirche auf außergewöhnliche Weise dem auferstandenen Christus gleichgestal­tet. Der in Herrlichkeit wiedergekommene Christus gießt durch die Wun­den seiner Kreuzigung den Heiligen Geist in außerordentlicher Fülle über seine Kirche aus. Durch die besondere Fülle des zweiten Pfingsten erneu­ert er sie an seinem großen Tag vollkommen und von Grund auf und be­kleidet sie mit großem Licht und Glanz.

Die Wiederkunft Christi in Herrlichkeit und sein Gericht über die ein­zelnen Menschen und über die Nationen sind der Beginn einer neuen Welt: der Anfang des neuen Himmels und der neuen Erde – der völlig erneuerten und ganz schönen Kirche und der erneuerten Menschheit.

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68 Johannes Paul II., Ansprache vom 16. 4. 1988, 1, 911.

69 Ders., Dominum et vivcantem, Nr. 60; ders., Ansprache vom 20. 10. 1991, 2, 964: „Wir erleben gerade einen entscheidenden Augenblick. Man hat den Eindruck, daß eine entscheidende Seite der Geschichte der ganzen Menschheit am Ende dieses Jahrtausends umgeblättert wird“; ders., Ansprache vom 30. 3. 1986, 1, 891: „Christus ist zwar in einem ganz bestimmten Augenblick der Geschichte auferstanden, aber er wartet darauf, in der Geschichte unzähliger Menschen auferstehen zu können, in der Geschichte der einzelnen und der Völker. Und diese Auferstehung setzt die Mitwirkung des Menschen, aller Menschen voraus. Das letzte Wort Gottes über das menschliche Geschick ist nicht der Tod, sondern das Leben, ist nicht die Verzweiflung, sondern die Hoffnung. Zu dieser Hoffnung ruft die Kirche die Menschen von heute auf. Sie wiederholt ihnen die unglaubliche, aber wahre Botschaft: Christus ist auferstanden! Möge die ganze Welt mit ihm auferstehen! Halleluja!“; vgl. ders., Dominum et vivificantem, Nr. 2; ders., Christifideles laici, Nr. 64.

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Der Heilige Geist erneuert das Antlitz der Erde der Menschen. Im be­sonderen Gericht schlagen sich die reuigen Menschen und Nationen an die Brust, bekehren sich zu Christus und kehren durch Christus, den Weg, zu Gott zurück. Dann erschafft der Dreieine Gott die im unterirdi­schen Grab ruhende Menschheit neu. Im gekreuzigten und auferstande­nen Christus steigt die Menschheit durch den Geist der Liebe aus dem Grab der unteren Hemisphäre, tritt in die obere ein und kehrt in die Arme Gottes zurück. Durch eine herrliche und wunderbare Auferstehung steht Christus auch in der Geschichte und Geographie der Menschen auf und steigt aus dem Grab heraus. Es verschwinden auch die jahrhundertealten und tausendjährigen Spaltungen unter den Christen.

„Das Millennium ist deshalb die Stunde unserer christlichen Identität in seiner katholischen Universalität“70in der einen Kirche Christi.

c) Die neue Ära der Kirche

Der in Herrlichkeit wiederkommende Christus erneuert alles, er führt endgültig das neue Zeitalter der Kirche und der Menschheit herbei und errichtet sein Reich in der ganzen Welt. Er befreit auch den sichtbaren Himmel und die sichtbare Erde von der Sklaverei der Verderbnis, der sie in großem Maße durch den Götzendienst der Menschheit im modernen Zeitalter ausgesetzt waren. Der neue Himmel und die neue Erde sind darauf hingeordnet, im größten Triumph Christi und seiner Kirche der Heiligsten Dreifaltigkeit das höchste Lob zu singen.

„Das Leben der Kirche mit Christus ist in Gott verborgen, bis sie mit ihrem Bräutigam vereint in Herrlichkeit erscheint (vgl. Kol 3, 1-4)“(LG 6).

Die Auferstehung Christi in Jerusalem ist der Anfang der „endgültigen Vollendung“ alles Geschaffenen in Christus. Die irdische Kirche ist in ihrer eschatologischen Dimension verwurzelt: in der Dimension der endgülti­gen Vollendung alles Geschaffenen in Christus. Das neue Zeitalter wird das letzte Zeitalter der Kirche sein: das Zeitalter des „neuen Himmels und der neuen Erde“ (Offb 21,1), das Zeitalter der vollkommenen Voll­endung der ganzen Schöpfung in Christus.

Die neue Ära wird „die Zeit der endgültigen und höchsten Freude der

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70 Johannes Paul II., Ansprache vom 16. 4. 1988, 1, 911.

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heiligen Stadt, der Kirche, des neuen Jerusalems sein. Für diesen letzten und ewigen Augenblick ist sie geschaffen und gewollt vom Herzen Got­tes. Sie »kommt also vom Himmel her herab« (Offb 21,5), von Gott, weil sie Frucht der göttlichen Liebe und Initiative ist, Frucht der Gnade, wel­che die ganze Menschheitsgeschichte krönt. »Sie war bereit wie eine Braut, die sich für ihren Bräutigam geschmückt hat« (Offb 21,2), denn in der Kirche vollzieht sich der endgültige Bund, und in ihr wird die Liebe zur Vollkommenheit, zu ihrer Vollendung geführt. Alle im Laufe ihrer Geschichte vergossenen Tränen und alle Tränen der Menschen über das Böse, die Schuld und die Bosheit werden verschwinden, denn Gott selbst, »der Gott unter den Menschen« (Offb 21,3), wird ihre Tränen trocknen, weil er selbst die vollkommene Freude eines jeden Menschen ist. Der wunderbare Abschnitt aus der Geheimen Offenbarung sagt uns, daß der Mensch in den Gedanken Gottes zu dieser vollkommenen, nie endenden Freude bestimmt ist, wenn er endgültig zu einer neuen Schöpfung befreit sein wird: »Seht, ich mache alles neu!« (Offb 21,5).

Wir sind die pilgernde Kirche. Wir sind auf dem Weg des himmlischen Jerusalems zu dieser endgültigen »Neuheit des Himmels und der Erde«, die von Gott und von Christus dem Gekreuzigten und Auferstandenen kommt.“71

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71 Johannes Paul II., Ansprache vom 27. 4. 1986, 1, 1165-1166; vgl. ders., Ansprache vom 16. 4. 1988, 1, 909-910; ders., Ansprache vom 8. 1. 1992, 1, 35: „Die Kirche geht ihrem eschatologischen Ziel entgegen, der vollkommenen Verwirklichung der Hochzeit mit Christus, wie sie die Geheime Offenbarung beschreibt, der Endphase ihrer Geschichte.“

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Quelle: Ivan Pojavnik: DAS MYSTERIUM DES KONZILS – Erster Band – Meckenheim – 1996 – Maximilian-Kolbe-Verlag – ISBN 3-924413-13-4

DER HERR WÄHLT UNSERE WENIGKEIT – DAS KONKLAVE VON PAPST LUCIANI

 

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Johannes Paul I. mit Kardinal Joseph Ratzinger (3. September 1978)

Fünfundzwanzig Jahre nach dem Konklave, bei dem Papst Luciani gewählt wurde.
Kardinal Ratzinger erzählt von seiner Ernennung zum Erzbischof von München und zum Kardinal durch Paul VI. im Jahr 1977, und von den beiden Konklaven des Jahres 1978.

Von Gianni Cardinale

Der Sommer des Jahres 1978 war für die katholische Kirche wahrlich kein x-beliebiger Sommer. Im Laufe von nur wenigen Wochen fanden sich die Kardinäle zweimal im Konklave zusammen, um den Nachfolger Petri zu wählen. Am 6. August war nämlich, nach 15 Jahren Pontifikat, Paul VI. gestorben. Am 26. September jenes Jahres hätte er seinen 81. Geburtstag begehen können. So wurde dann, am 26. August, nach einem „Blitzkonklave“ – zwei Tage und vier Wahlgänge – der Patriarch von Venedig, Albino Luciani, zum Papst gewählt: Johannes Paul I. Er wäre am 17. Oktober 66 Jahre alt geworden. Doch diesen Geburtstag konnte er nicht mehr feiern: sein Pontifikat dauert gerade 33 Tage. Am Morgen des 28. September fand man den Papst tot in seinem Schlafzimmer. So versammelte sich das Kardinalskollegium also erneut zum Konklave, bei dem am 16. Oktober – nach acht Wahlgängen in drei Tagen – der 58jährige Erzbischof von Krakau, Karol Wojtyla, zum Papst gewählt wurde. Er nahm den Namen Johannes Paul II. an und wurde der erste polnische Papst in der Geschichte, der erste Nicht-Italiener nach 456 Jahren.
30Tage wollte nun, fünfundzwanzig Jahre später, an diese dramatischen Ereignisse jenes Sommers erinnern und bat Kardinal Joseph Ratzinger um ein Gespräch. Der 76Jährige ist zweifelsohne der bekannteste unter den 21 Kardinälen des derzeitigen Kardinalskollegiums, die an den beiden Konklaven von 1978 teilgenommen haben. Der bayrische Kardinal erzählte uns auch von seinen Begegnungen und Gesprächen mit Papst Montini und Luciani in den Jahren 1977 und 1978.

Kardinal Joseph Ratzinger vorzustellen, erübrigt sich. Der Theologe, der sich seit der Zeit des II. Vatikanischen Konzils einen Namen gemacht hat, wurde 1977 zum Erzbischof von München und Freising ernannt und von Paul VI. zum Kardinal kreiert. Er ist derzeit der einzige, von Montini kreierte europäische Kardinal, der in ein eventuelles Konklave einziehen würde. Ratzinger, der 1981 von Papst Wojtyla nach Rom gerufen wurde, steht seither der Kongregation für die Glaubenslehre vor, der Päpstlichen Bibelkommission und der internationalen Theologenkommission. Er ist der bisher dienstälteste Dikasterienleiter in der Römischen Kurie. Im November 1998 wurde er zum Vizedekan des Kardinalskollegiums gewählt, Ende vergangenen Jahres zum Dekan.

Eminenz, Paul VI. ernannte Sie am 24. März 1977 zum Erzbischof von München, drei Monate später kreierte er Sie zum Kardinal.

JOSEPH RATZINGER: Zwei oder drei Tage nach meiner Bischofsweihe am 28. Mai wurde ich von meiner Ernennung zum Kardinal informiert, die also fast mit der Bischofsweihe zusammenfiel. Es war eine große Überraschung für mich. Ich habe noch heute keine Erklärung dafür. Ich weiß jedoch, daß Paul VI. um mein Wirken als Theologe wußte. Er hatte mich nämlich schon ein paar Jahre vorher – ich glaube 1975 – gebeten, im Vatikan die geistlichen Exerzitien zu predigen. Ich fühlte mich damals jedoch weder im Italienischen noch im Französischen sicher genug, um mich auf ein solches Abenteuer einzulassen, und lehnte ab. Aber es war ein Beweis dafür, daß mich der Papst kannte. Msgr. Karl Rauber, der heute Nuntius in Belgien ist und damals eng mit dem Substituten Giovanni Benelli zusammenarbeitete, könnte etwas damit zu tun gehabt haben. Tatsache ist, daß mir gesagt wurde, daß bei den drei zur Wahl stehenden Kandidaten für das Amt des Erzbischofs von München und Freising die persönliche Wahl des Papstes auf meine Wenigkeit fallen würde.

Das Konsistorium vom 27. Juni 1977 war eine Art „Minikonsistorium“ mit nur fünf neuernannten Kardinälen…

RATZINGER: Ja, wir waren eine kleine, interessante und sympathische Gruppe. Bernardin Gantin war dabei – außer mir der einzige, der noch lebt. Dann noch Mario Luigi Ciappi, der Theologe des Päpstlichen Hauses, Benelli natürlich, und Frantisek Tomasek, der bereits ein Jahr zuvor in pectoreernannt worden war und mit uns zusammen den Kardinalspurpur erhielt.

Wie man hört, soll Benelli, den man am 3. Juni zum Erzbischof von Florenz ernannt hatte, die Namen für dieses „Minikonsistorium“ „ausgesucht“ haben…

RATZINGER: Mag sein. Ich habe nie den Wunsch verspürt, diesen Dingen auf den Grund zu gehen. Und das will ich auch jetzt nicht. Ich respektiere die Vorsehung, und es interessiert mich nicht, welcher Werkzeuge sie sich bedient.

Welche Erinnerung haben Sie an diese Zeremonie?

RATZINGER: Bei der Überreichung des Biretts in der Aula Paul VI. hatte ich den anderen neuernannten Kardinälen gegenüber einen großen Vorteil. Keiner der anderen vier Kardinäle hatte eine große Familie dabei. Benelli hatte lange in der Kurie gearbeitet, er war in Florenz nicht sehr bekannt, und deshalb waren auch nicht viele Gläubige aus der toskanischen Hauptstadt gekommen; Tomasek – damals gab es den Eisernen Vorhang noch – konnte gar keine Begleiter mitbringen; Ciappi war ein Theologe, der sozusagen stets auf seiner Insel gearbeitet hatte; Gantin stammt aus Benin, und für Afrikaner ist es bis Rom ja nicht gerade ein Katzensprung. Für mich dagegen waren viele Menschen da: fast alle in der Aula Versammelten waren aus München oder Bayern.

Da haben Sie Eindruck gemacht…

RATZINGER: Offensichtlich. Ich bekam den meisten Applaus. Die Präsenz der Gläubigen aus München war nicht zu übersehen. Und der Papst war sichtlich zufrieden, seine Wahl sozusagen bestätigt zu sehen.

Hatten Sie Gelegenheit, sich mit dem Papst zu unterhalten?

RATZINGER: Nach der Liturgie, bei der uns der Papst den Ring überreichte, sagte man mir, daß mich Paul VI. in Privataudienz sprechen wollte. Ich war viele Jahre lang ein einfacher Professor gewesen, weit entfernt von den Spitzen der Hierarchie, und wußte nicht so recht, wie ich mich verhalten sollte, fühlte mich in dieser Situation etwas unbehaglich. Ich wagte es nicht, mit dem Papst zu sprechen, weil ich mir zu unbedeutend vorkam, er aber war sehr freundlich zu mir und ermutigte mich. Es war ein Gespräch, das keinen spezifischen Zweck verfolgte; er wollte mich einfach nur kennenlernen, vielleicht, weil Benelli ihm von mir erzählt hatte.

Was ist Ihnen aus dem letzten Pontifikatsjahr von Paul VI. noch in Erinnerung?

Am 26. August 1978,  nach einem „Blitzkonklave“,  wurde Kardinal Albino Luciani zum Papst gewählt. Er nahm den Namen Johannes Paul I. an.

Am 26. August 1978, nach einem „Blitzkonklave“, wurde Kardinal Albino Luciani zum Papst gewählt. Er nahm den Namen Johannes Paul I. an.

RATZINGER: Ich war damals zusammen mit den anderen bayrischen Bischöfen zum ad-limina-Besuch nach Rom gekommen. Dabei hatten wir eine sehr schöne Begegnung mit dem Papst. Paul VI. begann, deutsch zu sprechen, was er auch ganz gut machte, aber dann ging er doch wieder zum Italienischen über, weil die Kommunikation so einfacher war. Er war sehr offen und herzlich, erzählte uns von seinem Leben und seiner ersten Begegnung mit unserer Heimat. Er berichtete, daß er sich recht verloren gefühlt hatte, als man ihn als jungen Priester nach München geschickt hatte, daß ihm aber viele Menschen begegnet waren, die ihm geholfen hatten. Es war ein persönliches Gespräch, ohne große Ansprachen: es war offensichtlich, daß er uns sein Herz öffnen, mit einigen seiner Mitbrüder im Bischofsamt einfach nur ein paar Erinnerungen teilen wollte.

Sind Sie während des Pontifikats Pauls VI. noch öfters nach Rom gekommen?

RATZINGER: Ja, zu seinem achtzigsten Geburtstag [am 26. September 1977, Anm.d.Red.]. Am 16. Oktober feierte er in St. Peter eine feierliche Messe. Als er dabei einen Vers aus der GöttlichenKomödie zitierte, in dem Dante von „jenem Rom“ sprach, „wo Christus selbst ein Römer“ [Läuterungsberg, 32. Gesang, 102, Anm.d.Red.], war ich sehr beeindruckt. Paul VI. stand in dem Ruf, ein Intellektueller zu sein, der mit anderen nicht leicht warm wurde. In jenem Moment aber hatte er eine unerwartete Wärme für Rom gezeigt. Ich kannte diese Worte Dantes nicht, oder konnte mich zumindest nicht daran erinnern. Sie haben mich wirklich sehr beeindruckt. Es waren Worte, mit denen Paul VI. seine Liebe für Rom zum Ausdruck bringen wollte, das zur Stadt des Herrn geworden ist, zum Zentrum Seiner Kirche.

Wie haben Sie vom Tod Montinis erfahren?

RATZINGER: Ich machte gerade in Österreich Urlaub. Am Morgen des 6. August sagte man mir, daß sich der Heilige Vater plötzlich unwohl gefühlt hatte. Ich rief den Generalvikar in München an, und bat ihn, sofort die ganze Diözese aufzufordern, für den Papst zu beten. Dann machte ich einen kurzen Ausflug, und als ich zurückkam, erhielt ich einen Anruf, in dem man mir mitteilte, daß sich der Gesundheitszustand des Papstes verschlechtert hätte. Kurz danach rief man mich wieder an und sagte mir, daß er gestorben sei. Ich beschloß, am nächsten Morgen nach München zu fahren, und gab noch am selben Abend fürs Fernsehen ein Interview. Dann schrieb ich einen Brief an die Diözese und machte mich auf den Weg nach Rom.

Wo Sie an der Beerdigung des Papstes teilnahmen.

RATZINGER: Mich beeindruckte die absolute Schlichtheit des Sarges mit dem Evangelienbuch darauf. Diese vom Papst gewollte Armut war fast schon schockierend. Aber auch die Totenmesse war beeindruckend: sie wurde von Kardinal Carlo Confalonieri zelebriert, der über achtzig war und daher nicht am Konklave teilnehmen konnte: er hielt eine eindrucksvolle Homilie. Und beeindruckend war auch die Messe von Kardinal Pericle Felici, in der er beschrieb, wie der Wind bei der Beerdigung des Papstes die Seiten des Evangelienbuches umgeblättert hätte, das auf dem Sarg lag. Ich kehrte dann nach München zurück, um ein Requiem zu feiern: der Dom war zum Bersten voll. Danach machte ich mich wieder auf den Weg nach Rom, um am Konklave teilzunehmen.

Sie waren damals sozusagen ein „Kardinalsneuling“…

RATZINGER: Ich war einer der jüngsten, aber da ich Diözesanbischof war, gehörte ich der Klasse der Kardinalpriester an und kam daher protokollarisch noch vor vielen Kurienkardinälen, die der Klasse der Diakone angehörten. So nahm ich also nicht einen der letzten Plätze ein. Ich erinnere mich daran, daß ich beim Essen, wo ebenfalls die Rangordnung beachtet wurde, zwischen den Kardinälen Silvio Oddi und Felici saß, zwei „italianissimi“ unter den Kardinälen.

Hatten Sie tatsächlich eine wichtige Rolle in diesem Konklave?

RATZINGER: Es ist wahr, daß wir uns mit einigen deutschsprachigen Kardinälen ein paar Mal getroffen haben. Bei diesen Treffen war Joseph Schöffer dabei, der ehemalige Präfekt der Kongregation für das katholische Bildungswesen, Joseph Höffner aus Köln, der große Franz König aus Wien – der noch am Leben ist –, Alfred Bengsch aus Berlin; und schließlich noch die deutschstämmigen Brasilianer Paulo Evaristo Arns und Aloísio Lorscheider. Wir waren eine kleine Gruppe. Es lag ganz und gar nicht in unserer Absicht, irgendwelche Entscheidungen zu treffen; wir wollten uns einfach nur ein wenig unterhalten. Ich habe mich von der Vorsehung leiten, die Namen an mir vorbeiziehen lassen und dann sehen können, wie sich schließlich ein Konsens zugunsten des Patriarchen von Venedig herausbildete.

Kannten Sie ihn?

RATZINGER: Ja, ich hatte ihn persönlich im August 1977 kennengelernt, als ich mich in den Sommerferien im Priesterseminar von Brixen aufhielt. Albino Luciani stattete mir dort seinen Besuch ab. Südtirol gehört zur Kirchenprovinz „Dreivenetien“, und da er ein ausgesprochen freundlicher Mann war, fühlte er sich als Patriarch von Venedig geradezu verpflichtet, seinen jungen Mitkardinal aufzusuchen. Ich selbst fühlte mich eines solchen Besuches unwürdig. Bei dieser Gelegenheit konnte ich seine große Einfachheit bewundern, aber auch seine umfassende Bildung. Er erzählte mir, diese Gegend sehr gut zu kennen. Als Kind war er mit seiner Mutter zum Marienheiligtum von Weißenstein gepilgert, einem Kloster italienischsprachiger Serviten auf 1000 Meter Höhe, das von den Gläubigen Ventiens häufig aufgesucht wurde. Luciani hatte viele schöne Erinnerungen an diese Stätten, weshalb er auch besonders gern nach Brixen gekommen war.

Vorher hatten Sie noch nicht seine Bekanntschaft gemacht?

RATZINGER: Nein. Ich lebte, wie ich schon sagte, in der akademischen Welt, weit entfernt von der Hierarchie, und die Spitzen der Kirche waren mir nicht persönlich bekannt.

Sind Sie ihm dann noch einmal begegnet?

RATZINGER: Nein, erst beim Konklave von 1978.

Hatten Sie dort Gelegenheit, ein paar Worte mit ihm zu wechseln?

RATZINGER: Ja, aber nur wenige, schließlich kannten wir uns. Es gab viel zu tun und zu meditieren.

Was haben Sie bei seiner Wahl empfunden?

RATZINGER: Ich war sehr glücklich. Einen so gütigen Mann mit einem so leuchtenden Glauben als Hirten der universalen Kirche zu haben, war eine Garantie dafür, daß alles gut gehen würde. Für ihn selbst war es eine Überraschung, und er war sich der großen Verantwortung wohl bewußt. Man konnte sehen, daß ihm das ein bißchen zu schaffen machte. Er hatte nicht mit seiner Wahl gerechnet. Er war kein Mann, der Karriere machen wollte, sondern empfand die Ämter, die man ihm übertragen hatte, als Dienst und auch als Leiden.

Wann haben Sie zum letzten Mal mit ihm gesprochen?

RATZINGER: Am Tag seiner Amtseinführung, am 3. September. Die Erzdiözese München und Freising ist Partnerdiözese der Diözesen Ecuadors, und in Guayaquil war für den Monat September ein nationaler marianischer Kongress angesetzt worden. Die Bischöfe des Landes hatten darum gebeten, daß ich der Päpstliche Delegat bei diesem Kongress sei. Johannes Paul I. hatte das Ansuchen bereits gelesen und zugestimmt; wir sprachen also bei den traditionellen Glückwünschen der Kardinäle über meine Reise, und er erbat den Segen über mich und die ganze Kirche in Ecuador.

Sind Sie dann nach Ecuador geflogen?

RATZINGER: Ja, und dort ereilte mich die Nachricht vom Tod des Papstes. Übrigens auf recht merkwürdige Weise. Ich schlief im Bischofshaus von Quito. Ich hatte die Tür nicht verschlossen, denn im Haus des Bischofs fühle ich mich geborgen wie in Abrahams Schoß. Es war mitten in der Nacht, als plötzlich ein Lichtstrahl in mein Zimmer fiel und eine Person im Karmelitenhabit hereinkam. Über das Licht und diese so düster gekleidete Person, die mir wie ein Unheilsbote vorkam, hatte ich mich ein wenig erschreckt. Ich war mir nicht sicher, ob ich wach war oder träumte. Doch dann erkannte ich, daß es sich um den Weihbischof von Quito handelte [Alberto Luna Tobar, heute emeritierte Erzbischof von Cuenca, Anm.d.Red.]. Er sagte mir, daß der Papst gestorben sei. So erfuhr ich also von diesem traurigen und vollkommen unerwarteten Ereignis. Trotz dieser Nachricht gelang es mir, mit Gottes Hilfe wieder einzuschlafen. Am darauffolgenden Morgen feierte ich mit einem deutschen Missionar die Messe, der in den Fürbitten „für unseren toten Papst Johannes Paul I.“ betete. An dem Gottesdienst nahm auch mein Sekretär teil, der ein Laie war, und der danach zu mir kam und mich sichtlich bestürzt darauf aufmerksam machte, daß sich der Missionar im Namen geirrt hätte, daß er für Paul VI. hätte beten müssen, nicht für Johannes Paul I. Er wußte noch nicht, daß Albino Luciani tot war.

Sie haben den Papst beim Konklave gesehen. Sie haben ihm Ihre Glückwünsche überbracht. Kam er Ihnen da wie ein Mann vor, der nur einen Monat später tot sein würde?

RATZINGER: Ich hatte den Eindruck, daß es ihm gut geht. Gewiß, er schien nicht gerade ein Mann von starker physischer Gesundheit zu sein. Aber wie viele Menschen wirken schwächlich, und werden dann hundert Jahre alt. Auf mich wirkte er wie jemand, der gesund ist. Ich bin kein Arzt, aber auf mich machte er den Eindruck, jemand zu sein, der, wie ich selber auch, nicht gerade von starker körperlicher Konstitution ist. Aber diese Menschen haben nicht selten eine höhere Lebenserwartung.

Sein Tod kam für Sie also vollkommen unerwartet?

RATZINGER: Ja, vollkommen unerwartet.
Ich war sehr glücklich. Einen so gütigen Mann mit einem so leuchtenden Glauben als Hirten der universalen Kirche zu haben, war eine Garantie dafür, daß alles gut gehen würde. Für ihn selbst war es eine Überraschung, und er war sich der großen Verantwortung wohl bewußt.

Sind bei Ihnen Zweifel aufgekommen, als man zu munkeln begann, daß der Papst keines natürlichen Todes gestorben wäre?

RATZINGER: Nein.

Der Bischof von Belluno-Feltre, der Salesianer Vincenzo Savio, hat angekündigt, am 17. Juni das nihil obstat der Kongregation für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse erhalten zu haben; das bedeutet, daß der Seligsprechungsprozess des Dieners Gottes Albino Luciani eingeleitet werden kann. Wie denken Sie darüber?

RATZINGER: Ich selbst habe keinen Zweifel daran, daß er ein Heiliger war. Wegen seiner großen Güte, Einfachheit, Demut. Und wegen seines großen Mutes. Er hatte den Mut, die Dinge beim Namen zu nennen, auch wenn er damit gegen den Strom schwamm. Und schließlich auch wegen seiner großen Kultur des Glaubens. Er war ein Mann von hoher theologischer Bildung, versehen mit ausgeprägtem Pastoralsinn und reichen seelsorgerlichen Erfahrungen. Seine katechetischen Schriften sind von großem Wert. Und wunderschön ist auch sein Buch Illustrissimi, das ich unmittelbar nach seiner Wahl gelesen habe. Ja, ich bin fest davon überzeugt, daß er ein Heiliger ist.

Obwohl Sie ihm nur dreimal begegnet sind?

RATZINGER: Ja, und das war ausreichend dafür, daß mir seine leuchtende Gestalt diese Überzeugung einflößte.

Welche Stimmung herrschte beim zweiten Konklave von 1978 im Kardinalskollegium vor?

RATZINGER: Nach diesem unerwarteten Tod waren wir alle etwas deprimiert. Es war ein schwerer Schlag gewesen. Gewiß, auch der Tod von Paul VI. hatte uns mit Trauer erfüllt. Aber Montinis Leben war ein erfülltes gewesen. Ein Leben, das einen natürlichen Abschluß gefunden hatte. Er selbst wartete auf seinen Tod, sprach von seinem Tod. Nach einem so großen Pontifikat hatte es einen neuen Anfang gegeben mit einem Papst ganz anderer Art, aber doch in voller Kontinuität. Daß die Vorsehung dann aber zu unserer Wahl „nein“ gesagt hatte, war wirklich ein schwerer Schlag. Auch wenn die Wahl Lucianis kein Fehler gewesen war. Diese dreiunddreißigTage Pontifikat hatten in der Kirchengeschichte durchaus ihre Bedeutung.

Welche?

RATZINGER: Das Zeugnis der Güte und eines frohen Glaubens. Aber nicht nur das: dieser unerwartete Tod machte auch etwas Unerwartetes möglich. Die Wahl eines nicht-italienischen Papstes.

Hatte man eine solche Hypothese beim ersten Konklave von 1978 in Betracht gezogen?

RATZINGER: Man hat auch davon gesprochen. Aber es war nicht sehr naheliegend, auch, weil da die positive Gestalt Albino Lucianis war. Danach dachte man, daß es etwas ganz Neuem bedurfte.

(Original italienisch:
Deutsche Fassung: 30Tage)

PAUL VI. UND JOHANNES PAUL I. VON JOHANNES PAUL II. GEEHRT

Albino_Luciani,_1973_(2)

Papst Paul VI. kreiert Erzbischof Luciani zum Kardinal

GEDENKMESSE FÜR DIE VERSTORBENEN PÄPSTE
PAUL VI. UND JOHANNES PAUL I.

PREDIGT VON JOHANNES PAUL II.

Donnerstag, 28. September 2000

1. »Legt euren Gürtel nicht ab, und laßt eure Lampen brennen!« (Lk 12, 35).

Viele Male lädt Christus die Jünger im Evangelium zur Wachsamkeit ein. Eigentlich handelt es sich um einen deutlichen Aufruf: Wacht! Seid bereit! Dieser Aufruf gilt auch uns, verehrte Brüder, die wir um den Altar des Herrn versammelt sind, um sein Opfer für die auserwählten Seelen der Päpste Paul VI. und Johannes Paul I. zu feiern. Es ist in diesem Moment ergreifend, an sie zu denken und sie beide zu sehen, wie sie »mit angelegtem Gürtel und brennenden Lampen« dank ihres persönlichen Tugendgrads und ihres Dienstes für die endgültige Begegnung mit Christus, dem Herrn, bereit sind.

Insbesondere für Papst Luciani hat sich die Seligpreisung wörtlich erfüllt: »Selig die Knechte, die der Herr wach findet, wenn er kommt« (Lk 12,38). Und daß er in seinem Eifer für die Kirche wachsam war, zeigt der tiefe Eindruck, den er in den Herzen der Gläubigen – trotz seines kurzen Pontifikats – hinterlassen hat.

2. In diesem Jahr bekommt die traditionelle Feier für meine verehrten Vorgänger Paul VI. und Johannes Paul I. durch die Gnadenzeit des Jubiläums einen besonderen Sinn und eine größere geistliche Wirkung.

Genauer betrachtet, kommt diese Feier nicht nur den Seelen dieser unserer verstorbenen Brüder zugute, sondern sie ist auch zu unserem Wohl, die wir hier im Gebet versammelt sind. Wenn uns nun die Möglichkeit gegeben ist, dieser Verstorbenen zu gedenken, so laden sie uns von jenseits der Schwelle des Todes dazu ein, über das letzte Ziel dieser irdischen Pilgerschaftnachzudenken.

3. »Was kann uns scheiden von der Liebe Christi?« (Röm 8, 35). Es ist der Apostel Paulus, der diese Frage stellt. Wir kennen die Antwort: die Sünde trennt den Menschen von Gott, aber die Geheimnisse der Menschwerdung, des Leidens, des Todes und der Auferstehung Christi haben den gebrochenen Bund wiederhergestellt. Niemand und nichts kann uns von der Liebe Gottes, des Vaters, trennen, die in der Kraft des Heiligen Geistes von Jesus Christus geoffenbart und verwirklicht ist. Der Tod selbst, vom Gift der Sünde befreit, hat seinen Schrecken verloren: für den, der glaubt, ist er zum Schlaf geworden, der die ewige Ruhe im verheißenen Land vorwegnimmt.

Das Buch der Weisheit hat uns daran erinnert, daß »der Gerechte aber, kommt auch sein Ende früh, […] in Gottes Ruhe ein[geht]«, denn »er gefiel Gott und wurde von ihm geliebt« (Weish 4,7,10). Welch große Liebe hat der Vater für die verehrten Päpste Paul VI. und Johannes Paul I. vorgesehen! Er hat sie zum Glauben gerufen, zum Priestertum, zum Bischofsamt und zum Petrusamt. Er hat sie bereichert mit unzähligen Gaben der Weisheit und Tugenden. Und wir, die wir für sie beten, vertrauen darauf, »daß Gnade und Erbarmen seinen Auserwählten zuteil wird« (Weish 4,15). Wir sagen Dank, daß er sie der Kirche zum Geschenk gemacht hat. Durch ihr Zeugnis und ihren Dienst wurde – und wird auch heute noch – die Kirche aufgebaut.

4. »Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott« (Ps 42,3a). Dieser Durst, den Papst Montini und Papst Luciani so stark gespürt haben, wird dann gestillt sein, wenn »sie kommen und Gottes Antlitz schauen werden« (vgl. Ps 42, 3b).

In die Schar der Seligen, die bereits Gottes Herrlichkeit schauen, sind seit kurzer Zeit zwei Päpste aufgenommen: Pius IX. und Johannes XXIII. Ihrer besonderen Fürsprache vertrauen wir heute unsere Gebetsanliegen an, damit in der himmlischen Liturgie Paul VI. und Johannes Paul I. voranschreiten: »wie ich zum Haus Gottes zog in festlicher Schar, mit Jubel und Dank in feiernder Menge« (Ps 42,5).

Dort, am Thron des Höchsten, möge sie die selige Jungfrau Maria empfangen, in deren unbefleckter Schönheit sie endlich in Vollendung jene Kirche bewundern können, die sie auf Erden geliebt und der sie gedient haben.

Copyright 2000 © Libreria Editrice Vaticana

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Quelle

JOHANNES PAUL I. – Der Welt gezeigt, nicht geschenkt – Der Papst eines neuen Morgens

Zweites Kapitel

Jahre der Kindheit und Weg zum Priestertum

Kaum hatte der kleine Albino begonnen, die ersten Schritte durch das zweistöckige, grau getünchte Haus des Vaters zu tun und sich im engen Umkreis des heimatlichen Gebirgsdorfes umzusehen, als aus der großen Welt von Ferne her unheilvolles Gewitter mit Donner und tödlichen Blitzen näherrückte: der Krieg.

Im Schatten des Krieges

Nachdem im Oktober 1917 die österreichisch-ungari­schen Truppen die jahrelang heiß umkämpfte Isonzo-Linie durchbrechen konnten, räumten die ita­lienischen Armeen das Gebiet am Oberlauf des Piave, das Cadore, und zogen sich in Stellungen am unteren Piave zurück. Vergeblich versuchten die Österreicher ein Jahr lang in diese 200 km lange Front eine Bresche zu schlagen, um so das venezianische Tiefland in die Hand zu bekommen. Dann erfolgte die Gegenoffen­sive, und es kam vom 24. Oktober bis 3. November 1918 zur letzten Schlacht des Krieges, die den Unter­gang des damaligen Österreich bezeichnete. Unter dem Namen der in der Nähe gelegenen Stadt Vittorio Veneto ging sie in die Geschichte ein.

So waren über endlose Monate hinweg auch das Agordino und Cadore Frontgebiet. In den Berichten der Oberkommandos mag, von heldenhaften Kämp­fen, ruhmreichen Schlachten, strategischen Rückzü­gen die Rede sein, und die militärwissenschaftlichen Analysen mögen das Besondere der alpinen Kriegs­schauplätze mit den vielen kleinen Gefechten von le­diglich lokaltaktischer Bedeutung untersuchen – Kinder und Mütter erleben den Krieg anders. Man­che Namen von Gebirgstälern, Ortschaften, Bergpäs­sen, Höhen, die bisher als das gemeinsame Erbe der Bergbewohner so freundlich vertraut geklungen hat­ten, hörte man jetzt von den Lippen der Leute mit ganz anderer Stimme aussprechen als früher – halblaut, wie die von sterbenden Angehörigen. In den Familien fehlten die Männer des besten Alters; dafür hatte sich in den Wohnstuben die Angst eingenistet, ob nicht draußen Schritte zu hören wären, ob nicht angeklopft würde und ein alter Carabiniere schweigend aus sei­ner Tasche die Nachricht über den abwesenden Sohn oder Bruder oder Vater zöge: tot.

Eines Tages rückten österreichische Kaiserjäger in den Bergen herunter in das Tal ein, die „Todeschi“, mit welcher Bezeichnung im Dialekt alle die zusam­mengeworfen wurden, die jenseits der Alpenpässe lebten, auch sie Söhne der Alpen, vom gleichen Men­schenschlag und von der gleichen Liebe zu ihrer Hei­mat beseelt. Als der Krieg zu Ende ging, begruben die Menschen von hüben und drüben mit ihren Toten auch ihre Feindschaft und kamen überein, jedes Jahr an einem Sonntag die wiedergefundene Brüderlich­keit zu feiern. Dabei galt es dann, große Mengen ita­lienischen Weins zu trinken und nicht minder große Mengen österreichischer Wurst zu verzehren – natür­lich nach einer Messe im Freien auf der blühenden Wiese.

Erfahrungen des Kindes

Die Armut blieb Dauergast im Haus der Luciani; zu ihr gesellten sich als Untermieter Hunger und Krank­heit. Im Alter von zwei oder drei Jahren bekam Albino eine Bronchiallungenentzündung, die offenbar nicht völlig ausheilte; jedenfalls mußte er Jahre später als Seminarist eine Lungeninfektion – Spätfolge der Krankheit als Kleinkind – in einem Sanatorium aus­kurieren.

Von den harten Zeiten der Kindheit erzählt sein Bruder Edoardo: „Als Albino fünf Jahre alt war (also in der schlimmsten Kriegszeit), wußte er leider schon, was Hunger ist. Unsere Mutter hat oft erzählt, wie weh es ihr getan hat, wenn der Kleine sie nach Brot fragte und wieder einmal keins im Hause war. Unsere Familie zählte zu den ärmsten im Dorf. Von Mai bis Oktober liefen wir Kinder barfuß, um Schuhe zu spa­ren. Für den Winter hatten wir Holzpantinen. Auch durch Kühehüten haben mein Bruder und ich uns ein Zubrot verdient.“

Selbstverständlich gab es in Forno di Canale eine Dorfschule, und selbstverständlich besuchte sie Al­bino wie alle anderen Kinder. Das hat er nicht vergessen, wenn er später schreibt: „Ich sehe mich wieder als Kind auf den Bänken meiner Schule von Canale, mit den Gefühlen, von denen Goldsmith in ‚Das ver­ödete Dorf‘ spricht: staunend, den Mund aufgesperrt, vor dem Lehrer, und alle fragen sich, wie das nur mög­lich sei, daß aus so kleinen Zeilen so große, wunder­bare Dinge hervorgehen können.“

Es nimmt auch nicht weiter wunder, daß der kleine Schüler „Die Abenteuer des Pinocchio“ liest, die Ge­schichte vom hölzernen Bengele, die von überra­schenden Einfällen, märchenhaften Verwandlungen, fabelhaften Tieren, Humor, Spott und Lebensweisheit nur so übersprudelt — eines der wenigen Meisterwerke der Kinder-Weltliteratur, die von Kindern auch wirk­lich gelesen und geliebt werden. Schon eher kann es verwundern, daß sich einer im gereiften Alter — und als Patriarch von Venedig — dankbar des Pinocchio er­innert und ihm einen „Brief“ schreibt: „Ich war sie­ben, als ich zum ersten Mal Deine ‚Abenteuer‘ las. Ich kann Dir gar nicht sagen, wie sehr sie mir gefielen und wie oft ich sie verschlungen habe. In Dir als Kind er­kannte ich mich selbst, in Deiner Lebenswelt meine eigene. Wir oft ranntest Du mitten in den Wald, durch die Felder, an den Strand, auf die Straßen. Und mit Dir liefen der Fuchs und die Katze, der Hund Bollo, die Buben, die Dir eine Schlacht mit ihren Schulbüchern lieferten. Mir kam es vor, als würde ich rennen, als wären es meine Kameraden, die Straßen und Felder meines Landes. Auch ich wurde auf dem Schulweg in ‚Schlachten‘ verwickelt; im Winter flogen Schnee­bälle, zu allen Jahreszeiten gab es Raufereien. Zum Teil kassierte ich, zum Teil gab ich heraus, wobei ich versuchte, ‚Einnahmen‘ und ‚Ausgaben‘ gleich groß zu halten und zu Hause nicht zu heulen. Sonst, wenn ich was vorgeheult hätte, hätte man mir vielleicht noch ‚den Rest‘ gegeben!“

Der Vater, der immer wieder für viele Monate nach Deutschland oder Frankreich oder in die Schweiz zie­hen mußte, um Arbeit zu finden, brachte nicht nur das bitter nötige Geld nach Hause, sondern auch so­zialistische Ideen. Um in Deutschland als Gastarbei­ter das Brot für die Familie verdienen zu können, wurde er Mitglied der sozialistischen Gewerkschafts­bewegung, die hier anders als im Italien des Risorgimento und der ungelösten „Römischen Frage“ nicht die gleiche scharf antiklerikale Ausrichtung be­saß. Das Verhältnis zwischen Kirche und Staat war damals in Italien bis in die Wurzel vergiftet. Es herrschte das Klima eines schwelenden und immer wieder neu geschürten Hasses gegen alles Kirchliche, so daß es nicht überraschend ist, wenn der soziali­stisch eingestellte Vater Luciani eine Zeitlang als „Priesterfresser“ gelten konnte. Ausgerechnet er er­hält — es war um 1922, und er war wieder einmal für längere Zeit nicht zu Hause, sondern in Frankreich ­von der Familie einen Brief mit der Nachricht, daß sein zehnjähriger Sohn Albino ihn um seine Einwilli­gung bittet, Priester zu werden.

Erster Berufswunsch

Die letzten Gründe, wie ein solcher Wunsch in einem Kind aufkeimt, weiß kein Mensch. Jedenfalls war Albino ein Junge wie jeder andere. In Canale d’Agordo kann man sich noch an gemeinsam verbrachte Kin­derjahre erinnern. „Ich war ein paar Jahre älter“, er­zählt der heute neunundsechzigjährige Del Bon, sei­nes Zeichens Maurer wie der Vater des Papstes, „aber in der Schule bin ich zurückgeblieben, weil ich oft fehlte, um meinem Vater auf dem Feld zu helfen. Wir wurden ganz gute Freunde, obwohl er mich nie seine Hausarbeiten abschreiben ließ. Einmal fragte uns der Lehrer in der Klasse, was wir gerne von Beruf werden möchten. Albino erklärte rundheraus, daß er Priester werden wolle. ,Was, so ein Bengel wie du? Was für ein Priester sollte wohl aus dir werden!“ Die fünfund­siebzig Jahre alte Romana Fioco will es anders wissen: „Albino war immer ein guter Junge. Im Sommer, wenn er aus der Schule kam, half er der Familie auf dem Felde.“

Die Mutter Albinos war eine ebenso tatkräftige wie überzeugend fromme Frau. In den schweren Jahren, da ihr im Krankenhaus in Venedig täglich die Schmer­zen und Tränen der Menschen begegneten, ist ihr Glaube in die Tiefe gewachsen. Nicht durch Argu­mente und Diskussionen, sondern durch die schwei­gende Überzeugungskraft eines christlichen Lebens führte sie ihren Mann zur Kirche zurück; vielleicht brach in ihm die Einsicht durch, daß Elend und Leiden und die schlimmen Dinge in der Welt ihren verbor­genen Wert haben, ja eine explosive Kraft, Seelen zu verwandeln. Die Mutter starb 1948, der Vater vier Jahre später, beide ruhen auf dem kleinen Friedhof ihres Heimatdorfes, „die geliebten Eltern in Erwar­tung der Auferstehung“.

Der Wunsch des zehnjährigen Albino, Priester zu werden, mag auch durch folgendes Erlebnis ausgelöst worden sein. Ein Kapuziner war ins Dorf gekommen und hatte Fastenpredigten gehalten, echte Kapuziner­predigten, einfach und handfest, herzlich und zün­dend, daß sich auch noch das widerstrebendste Ge­wissen ergeben mußte. So ähnlich möchte er auch einmal werden, eröffnete sich der Junge seiner Mutter. Sie besprachen es mit dem Dorfpfarrer, Don Filippo Carli, der den Rat gab, noch ein Jahr zu warten und dann Albino aufs Knabenseminar nach Feltre zu schicken. Auch die Eltern meinten, mit einer so wichtigen Entscheidung müsse man sich Zeit lassen, aber als nach einem Jahr der Wunsch des Jungen sich nicht geändert hatte, stimmte auch der Vater zu.

Albino Luciani 11

In Feltre

Mit elf Jahren kommt Albino Luciani nach Feltre. Für den Jungen aus dem ärmlichen Gebirgsdorf öffnet sich eine neue Welt: prächtig bemalte Häuser, mächtige Palazzi, alte Stadtmauern, ein großer Marktplatz mit dem Markuslöwen auf einer Säule, die Kathedrale mit einem spätmittelalterlichen Campanile und nicht weit davon entfernt das Knabenseminar, das ihn nun für Jahre aufnehmen sollte.

Die Einrichtung von Seminarien zur Heranbildung von Weltpriestern geht auf das Konzil von Trient zu­rück. Das 1563 beschlossene Dekret, das sich trotz al­ler Schwierigkeiten bei der Durchführung als äußerst folgenreiches Instrument der Kirchenreform erweisen sollte, verpflichtete die Bischöfe, in ihren Diözesen Anstalten zu errichten, in denen die künftigen Prie­ster die auf die Aufgaben der Seelsorge ausgerichtete Ausbildung und Erziehung erhalten sollten. Später er­folgte die Aufteilung in Kleines oder Knabenseminar (für die humanistische Ausbildung) und in Großes oder Priesterseminar (für die philosophisch-theologi­sche Ausbildung).

Der Lebensweg des kleinen Luciani wurde für viele Jahre von der streng geregelten Lebensordnung eines Seminars mit ihrem Rhythmus von Gebet, Unter­richt, Erholung geprägt. Nicht die große Kathedrale, sondern das stille Kirchlein Mariä Himmelfahrt ver­sammelte die Zöglinge zu den täglichen Gebetszeiten. Es steht an dem Platz, der nach dem seligen Bernar­dino Tomitano benannt ist. Dieser Franziskaner­mönch des 15 . Jahrhunderts stammte aus Feltre und war zu seiner Zeit einer der berühmtesten und ge­suchtesten Prediger Italiens. Er begnügte sich nicht damit, von der Kanzel gegen ein Krebsübel seiner Zeit, den Wucher, zu wettern, sondern antwortete auf die Ausbeutung der Notleidenden mit der Gründung von Leihanstalten, den sogenannten Montes pietatis, ei­ner sozialen Einrichtung, die sich in Italien, aber auch in Frankreich und Deutschland schnell ausbreitete. Wenn Albino vom Apostolat des seligen Bernardino hörte, wurde er sicherlich an die Geldnöte daheim erinnert und an die Opfer seiner Eltern.

Ein Großteil seines alltäglichen Lebens war von Unterricht und Lernen ausgefüllt. Der Schüler Lu­ciani machte seine Sache gut. Am Ende des fünften Gymnasialjahres zum Beispiel wies sein Zeugnis folgende Noten auf (das italienische Zensurensystem geht von eins bis zehn, welches die beste Note ist): Italienisch, Latein und Griechisch siebeneinhalb; Französisch und Mathematik sieben; Geschichte und Geographie zehn; Religion acht.

Über die ersten Seminarjahre erzählt ein Mitschü­ler, der später in den italienischen Männerorden der Somasker eintrat, Pater Saba De Rocco; er stammt aus dem gleichen Dorf wie Luciani (dieser holte als Pa­triarch seinen alten Schulfreund, der weit in der Welt herumkam und neun Jahre lang Generaloberer seines Ordens war, an die Kurie von Venedig): „Don Albino trat zwei Jahre nach mir ins Seminar ein. Obwohl wir verschiedenen Unterricht hatten, hielt uns die ge­meinsame Herkunft aus Canale d’Agordo zusammen. Ich habe ihn in Erinnerung als einen sehr lebendigen, hochbegabten Jungen. Was mich am meisten beein­druckte, war seine Fähigkeit, ein Buch nach dem an­deren zu lesen und ihren Inhalt mit erstaunlicher Ge­nauigkeit im Gedächtnis zu behalten.“

Geliebte Bücher

Schon das Kind Albino war von den Entdeckungen und Abenteuern gepackt, die man durch das Lesen von Büchern erleben kann. Diese Leidenschaft wird ihn nicht mehr loslassen, weder als Schüler und Semina­risten noch als Lehrer und Bischof. Der Weg, den die Bücher ermöglichen, führt ihn aber nicht aus der Wirklichkeit, wie Menschen nun einmal sind und le­ben, heraus, sondern im Gegenteil näher an die farbige, vielgestaltige, unerschöpfliche Welt des Men­schen heran, die in keinem abstrakten Begriff aufgeht und die auch die schöpferischste Phantasie nicht voll­ends einholen kann. Die Figuren, die die Dichter ge­schaffen haben, und die Gestalten, die die Geschichte hervorgebracht hat, werden zum Spiegel, der die Wege des Menschen, das Rätsel des eigenen Ichs und das Geheimnis Gottes ein wenig zu verstehen hilft. Die „Briefe“, die er später als Patriarch an ebenso be­rühmte wie verschiedenartige Persönlichkeiten der Vergangenheit schreiben sollte, zeigen eine erstaun­liche Breite, wen er alles kennt — dank der Bücher.

Zu „Pinocchio“, „Tom Sawyer“, „Gulliver“ und „David Copperfield“ kommen die zweihundertfünf­undfünfzig Personen, die Manzonis Roman „Die Ver­lobten“ bevölkern, ein gewaltiges Panorama mensch­lichen Lebens, eine „Geschichte von armen Leuten“, in der die Hochwohlgeborenen keineswegs fehlen, aber nach der wahrer Adel des Menschen darin be­steht, sich in den Dienst der Armen zu stellen.

1906 hatte der Italiener Carducci den Literaturno­belpreis erhalten. In einem seiner Werke schildert der Dichter, wie er in einer Kutsche den Chiarone-Fluß entlangfährt, hagere Gäule, trübes Wetter, graues Licht des sinkenden Tags, und wie er dabei ein Buch (des altenglischen Dichters Marlowe) liest, aus dessen Zeilen der eisige Nebel einer grauenvollen Traurig­keit aufsteigt. Schließlich hält er das nicht mehr aus und wirft das Buch in die Fluten des Flusses. Luciani schreibt: „Damals war ich ein Junge. Klar, daß ich mich fragte: Was war denn in jenem Buch wohl so grauenvoll? Aus dem Wasser des Chiarone kann ich es nicht wieder herausfischen. Wer weiß, ob ich es nicht aus der Bibliothek fische? Ich habe es gefunden: ‚Die tragische Geschichte des Doktor Faust‘.“

Die Schule vermittelte ihm Begegnungen mit der humanistischen Bildung, die nicht abbrechen sollten. Auch wenn die modernen Natur- und Humanwissen­schaften einen tiefen Wandel herbeigeführt haben, „bin ich dafür“ — schreibt er an Quintilian, den ersten staatlich besoldeten Professor für Rhetorik im Rom des ersten nachchristlichen Jahrhunderts, dessen „Schule der Beredsamkeit“ zu einem der großen abendländischen Erziehungsbücher wurde —, „daß von der humanistischen Bildung nicht alles in der Schule wegfällt und daß Eure berühmtesten Grund­sätze weiterhin Einfluß auf die Erzieher behalten. Es würde schon der folgende genügen: Non multa, sed multum. Das heißt: In der Schule nicht vielerlei Dinge, sondern gründlich. Don Bosco hat diese Ma­xime auf seine Weise wieder aufgegriffen, wenn er schrieb: ,Viel macht, wer wenig macht, aber das macht, was er machen soll; nichts macht, wer viel macht, aber nicht das macht, was er machen soll!“

Klassiker des Humanismus, wie Petrarca, Enea Sil­vio Piccolomini, Erasmus oder auch Thomas Morus, wurden ihm vertraute Bekannte und selbstverständ­lich auch jener als Erzieher wohl Größte des 16. Jahr­hunderts in Italien, des Cinquecento, der aus der glei­chen Stadt stammte, wo Luciani zur Schule ging: Vittorino da Felixe. Dieser nannte seine Erziehungs­stätte „Casa giocosa — Fröhliches Haus“, und hierhin kam neben den Schülern aus den reichen Adelsfami­lien „noch eine andere Schar, in deren Ausbildung Vittorino vielleicht sein höchstes Lebensziel erkannte: die Armen und Talentvollen, die er in seinem Hause nährte und erzog ,per l’more di Dio‘, neben jenen Vornehmen, welch letztere sich hier gewöhnen muß­ten, mit dem bloßen Talent unter einem Dache zu wohnen“ (Jacob Burckhardt).

„In den Ferien“, erzählt sein Bruder Edoardo über Albinos Seminarzeit, „setzte er seine Studien fort, aber er half uns auch bei der Arbeit auf dem Feld. Da­bei trug er immer die Soutane, auch wenn er sich den Tragkorb mit Heu auf die Schultern lud.“ Dem Dorf­pfarrer war aber die Bücherliebe des Jungen nicht ver­borgen geblieben, und so holte er sich ihn heran, um Archiv und Bibliothek der Pfarrei zu ordnen.

Als Luciani seine Studien im Priesterseminar von Belluno fortsetzte, fand er hier eine ausgesucht reich­haltige Bibliothek vor, die seinem Entdeckungsdrang neue Nahrung bot. Das „Gregoriano“ geht zurück auf den hochgelehrten Papst Gregor XVI., der aus Belluno stammte und das Seminar in den dreißiger Jahren des 9. Jahrhunderts gegründet hatte; dabei legte er größte Sorgfalt auf die Bibliothek, die mittelalterliche Hand­schriften und Inkunabeln zu ihren Kostbarkeiten zählt. Kein Zweifel, daß Luciani später als Patriarch nicht nur ein schönes Zitat aus einer Predigt Bernhar­dins von Siena wiederholt, sondern aus seiner eigenen Erfahrung als Schüler und Student schreibt: „Liebe die Bücher, und du bleibst in Verbindung mit den gro­ßen Menschen der Vergangenheit: ,Du wirst mit den Menschen reden, und sie werden mit dir reden; sie werden dich hören, und du wirst sie hören, und daraus wirst du große Freude schöpfen.“‚

Albino Luciani 10

Priesterseminar

Nachdem sich an dem Wunsch des Schülers Luciani, Priester zu werden, nichts geändert hatte, kam er 1928 ins Priesterseminar nach Belluno. Drei Jahre dauerten die humanistisch-philosophischen Studien, vier Jahre das eigentliche theologische Studium. Der Tageslauf sah so aus: 5.3o Aufstehen, 6.00 Betrach­tung, 6.3o heilige Messe, 7.3o Frühstück, 8.00-13.00 Vorlesungen, 13.0o Mittagessen, danach Besuchung des Allerheiligsten, 14.00-16.00 Gemeinsamer Spa­ziergang, 16.00-18.00 Studium, danach Freizeit, 18.3o Rosenkranz, 19.0o Studium, 20.00 Abendessen, da­nach Freizeit, 21.0o Abendgebet und Nachtruhe.

Dem theologischen Studium wurden u. a. folgende Lehrbücher zugrunde gelegt: Dogmatik HervéMoral Pighi, Tumolo Jorio; Kirchenrecht Capello, a Coro­nata, Cocchi; Kirchengeschichte Todesco; Heilige Schrift Simon Prado; Homiletik Segneri; Liturgik Mioni; Aszetik Tanquerey.

Der Studienabschluß des Seminaristen Luciani be­stätigte seine Begabung, die sich schon in Feltre gezeigt hatte; in fast allen Fächern erhielt er neun und neuneinhalb, in Kirchengeschichte zehn, in Liturgik acht (zehn ist die Höchstnote). Seinen Leh­rern und seinem Bischof war diese Begabung nicht verborgen geblieben, und es wundert nicht, daß er nach seiner Priesterweihe wieder ins Priesterseminar berufen wurde, diesmal als Lehrer. Alles in allem genommen, ist das Seminar in Belluno der Ort, an dem Luciani die weitaus meisten Jahre seines Lebens ver­bracht hat.

Hingabe

Am 7. Juli 1935 wurde Albino Luciani in Belluno zum Priester geweiht, und wie bei jedem Geistlichen ge­hört nun zu seinen Aufgaben, das Wort des Evangeli­ums zu verkünden, das Gedächtnis des Herrn in der Messe zu feiern, ihm nachzufolgen, den Menschen zu dienen und in allem Gott zu lieben. Darüber zu schreiben, gesteht er selbst in seinem „Brief“ an Jesus, ist schwer: „Du weißt es. Mit Dir in beständigem Ge­spräch zu bleiben, darum bemühe ich mich. Aber das in einen Brief zu bringen, ist schwierig — so persön­liche Dinge, Du verstehst.“ Und am Schluß dieses Briefes (und des ganzen Buches) heißt es: „Ich habe geschrieben, aber niemals bin ich damit so unzufrie­den gewesen wie diesmal. Mir kommt es vor, als hätte ich das meiste ausgelassen, was man von Dir sagen könnte, als wäre ganz schlecht gesagt, was man viel besser sagen müßte. Ein Trost bleibt: Wichtig ist nicht, daß einer über Christus schreibt, sondern daß viele Christus lieben und nachfolgen. Und das kommt zum Glück — trotz allem — noch vor.“

Die letzten Worte der Kleinen Theresia heißen: „Mein Gott, ich liebe dich!“ Ihre Autobiographie hatte der junge Priester zum ersten Male mit siebzehn Jahren gelesen. Später schreibt er, wiederum in einem „Brief“ an die Heilige: „Es war für mich ein Blitz­schlag. ‚Geschichte eines Maienblümleins‘ hatten Sie das genannt. Mir erschien es als die ,Geschichte einer Stahlfeder‘ wegen der Willenskraft, des Muts, der Ent­schiedenheit, die davon ausstrahlten. Nachdem ein­mal die Straße der vollkommenen Hingabe an Gott gewählt war, konnte Ihnen nichts mehr den Weg ver­sperren: weder Krankheit noch äußere Schwierigkei­ten, noch innere Nebel und Finsternisse. Daran erin­nerte ich mich, als man mich krank ins Sanatorium brachte; es war in jenen Jahren, als Penizillin und An­tibiotika noch nicht erfunden waren und den Patien­ten früher oder später der Tod erwartete. Ich schämte mich, weil ich ein bißchen Angst hatte: ,Theresia war dreiundzwanzig, bis dahin gesund und voller Lebens­lust‘, sagte ich mir, und sie wurde von. Freude und Hoffnung überströmt, als sie den ersten Bluthusten im Mund spürte … und du willst anfangen zu zittern? Du bist Priester, sei auf der Hut, stell dich nicht dumm an!“