Papst: „Souveränismus führt zu Krieg, deshalb brauchen wir Dialog“

Papst Franziskus macht sich Gedanken über die Zukunft Europas, über Nationalismus und Populismus. In einem Interview mit der Turiner Tageszeitung „La Stampa – Vatican Insider“ vom Freitag sagt Franziskus, der Versuch einer Gemeinschaft, ihre Identität zu wahren, dürfe nicht zum Ausschluss anderer führen. Politiker bräuchten Kreativität und Umsicht bei der Aufnahme von Migranten.

Mario Galgano – Vatikanstadt

In dem langen Interview geht es aber nicht nur um Europa. So spricht der Papst auch über die Amazonien-Synode, die eine Antwort auf die globale Umweltkrise geben wolle. Aber diese Antwort entstehe „aus der Kirche und wird eine missionarische und evangelisierende Dimension haben“, erläutert der Papst.

Zurück zu Europa: Der Kontinent müsse – so wie die Umwelt – gerettet werden, weil es um ein wichtiges Erbe gehe, das „nicht aufgelöst werden kann und darf“. Zwei Elemente schlägt der Papst den Europäern vor: Dialog und Zuhören und zwar „ausgehend von der eigenen Identität“ und von menschlichen und christlichen Werten, die das Gegenmittel zu „Souveränismus und Populismus“ seien. Dialog und Zuhören seien der Motor für „einen Wiederanlaufprozess“, „der ununterbrochen weitergeht“.

Das Interview von Papst Franziskus mit Domenico Agasso, Vatikan-Korrespondent für „La Stampa“ und Koordinator von „Vatican Insider“, behandelte auch das Thema Einwanderung, das eng mit der politischen Herausforderung der Nationalismen in Europa verknüpft ist.

Der Traum der europäischen Gründerväter

Es bestehe die Hoffnung, dass Europa wieder jener „Traum der Gründerväter“ sein könne, so die Hoffnung des Papstes. Es handele sich um eine Vision, die durch die Umsetzung jener „historischen und kulturellen Einheit“, die den gesamten Kontinent ausmache, erfüllt werde. Obwohl es „Verwaltungsprobleme und interne Meinungsverschiedenheiten“ gegeben habe, so der Papst weiter, „kann die Ernennung von Ursula von der Leyen, einer Frau als Leiterin der Europäischen Kommission, geeignet sein, die Stärke der Gründerväter wiederzubeleben“, denn „Frauen haben die Fähigkeit, zu einen“.

Zuerst Europa, dann jeder von uns

Die größte Herausforderung für den Wiederanlauf Europas bestehe also im Dialog. „In der Europäischen Union müssen alle miteinander reden, sich austauschen, einander kennen“, sagt der Papst und erklärt, dass der „mentale Mechanismus“ hinter jeder Argumentation darin bestehe müsse, „zuerst Europa, dann jeden von uns“ zu betrachten. Dazu bekräftigt er: „Man muss auch zuhören“, während doch sehr oft nur „Kompromissmonologe“ geführt würden.

Dialog müsse mit einer klaren Vorstellung der eigenen Identität beginnen, führte Franziskus aus. „Europa hat menschliche und christliche Wurzeln, es ist die Geschichte, die uns das sagt“. Der Papst unterstreicht den Beitrag von Katholiken, Protestanten und die „wertvolle Rolle“ der Orthodoxen bei der Schaffung einer gemeinsamen Identität. Eine Identität könne aber „nicht ausgehandelt“ werden und sei „ein kultureller, nationaler, historischer und künstlerischer Reichtum“, der jedem Land eigen sei und der in den Dialog integriert werden müsse.

Öffnung für die Identitäten anderer Menschen

Das Problem, erklärt der Papst weiter, sei die Übertreibung, denn wenn man die eigene Identität über alles stelle, so werde sie zum Synonym für Schließung. „Das ist der entscheidende Punkt“, stellt er fest: „Von der eigenen Identität aus muss man sich dem Dialog öffnen, um aus den Identitäten der anderen etwas Größeres zu erhalten. Man soll nie vergessen, dass das Ganze dem Einzelteil überlegen ist“. In diesem Sinne sei der Souveränismus eine Gefahr, da er eine „Haltung der Isolation“ darstelle.

Er habe in der Tat Angst, wenn in öffentlichen Reden das „Wir“ der erste und vor allem einzige Gedanken sei. „Ein Land muss souverän sein, aber nicht geschlossen“, erklärt er. „Souveränismus ist eine Übertreibung, die immer schlecht endet: Sie führt zu Krieg.“

Migranten: Zuerst das Recht auf Leben

Für den Umgang mit Migranten zählte der Papst einmal mehr seine vier Kriterien auf: Aufnahme, Begleitung, Förderung und Integration. Über allem aber stehe das Recht auf Leben, „das das Wichtigste von allem“ sei. Andererseits müssen „Regierungen umsichtig denken und handeln“, denn „diejenigen, die verwalten, sind aufgerufen, darüber nachzudenken, wie viele Migranten sie aufnehmen können“.

Der Papst ruft Politiker auf, kreative Lösungen zu finden, etwa bei der Belebung von Regionen die unter Bevölkerungsrückgang oder Landflucht litten.

Die Amazonien-Synode ist „Dringlichkeitssynode“

Die im kommenden Oktober im Vatikan stattfindende Amazonien-Synode sei Teil von Laudato Si, der sozialen Enzyklika von Franziskus, in der es um das Bewahren der Schöpfung gehe. Es sei nicht einfach eine „grüne Enzyklika“, bekräftigte er. Vielmehr gehe es um eine Notwendigkeit, und er bezeichnete deshalb die nächste Bischofsversammlung eine „Synode der Dringlichkeit“. Er sei schockiert über die Tatsache, dass der Mensch am 29. Juli bereits alle regenerativen Ressourcen für das laufende Jahr verbraucht habe. Dies, zusammen mit dem Abschmelzen der Gletscher in Island und Grönland, den Bränden in Sibirien, dem Anstieg der Kunststoffabfälle in den Meeren und dem Risiko eines steigenden Meeresspiegels, führe dazu, dass der Planet in „einer weltweiten Notsituation“ sei.

Synode ist kein einfaches Treffen, sondern Teil des Kircheseins

Die Synode „ist kein simples Treffen von Wissenschaftlern oder Politikern. Es ist kein Parlament, es ist etwas Anderes. Sie wurde aus der Kirche geboren und wird eine missionarische und evangelisierende Dimension haben“, stellt Franziskus klar. Unter den wichtigen Themen werde es auch „die Dienste der Evangelisation und die verschiedenen Arten der Evangelisation“. Er betont in dem Interview, dass die Möglichkeit, ältere und verheiratete Männer zu Priester ordinieren, um den Mangel an Geistlichen in den Gebieten auszugleichen, nicht eines der Hauptthemen der Synode sein werde, sondern „einfach eine Anregung des Instrumentum Laboris darstellt“.

Das sich auf neun Staaten aufteilende Amazonasgebiet repräsentiere „einen entscheidenden Ort“, der zusammen mit den Ozeanen „zum Überleben des Planeten beiträgt“. Ein von „wirtschaftlichen und politischen Interessen dominierte Bereiche der Gesellschaft“ bedrohte aber dieses Gebiet. Die Staaten rief der Papst auf, Korruption zu beseitigen und das Hinnehmen der Ausbeutung zu beenden. Stattdessen gelte es, „konkrete Verantwortung zu übernehmen“.

Die Zukunft ist für junge Menschen da

Aus dem Amazonas kommt „der größte Teil des Sauerstoffs, den wir atmen“. Entwaldung bedeute daher „Tötung der Menschheit“, erinnert der Papst, der dann die Bedeutung der Pflanzen erläutert, die vor allem durch das „Verschwinden der Biodiversität“ bedroht seien. Das bedeute aber neue tödliche Krankheiten für die Menschen. Denn die Verwüstung der Natur führe unweigerlich zum Tod der Menschheit. Das Vertrauen in eine veränderte Wahrnehmung werde glücklicherweise durch die Bewegungen junger Menschen für die Ökologie gegeben, wie zum Beispiel der Bewegung „Fridays for Future“ von Greta Thunberg.

„Ich habe bei diesen jungen Menschen ein Plakat gesehen, das mich sehr berührt hat“, verrät der Papst und sagte, dass dort darauf stand: „Wir sind die Zukunft!“

(vatican news)

Papst (Franziskus) ermutigt zur Öko-Bekehrung

Papst Franziskus bei der Audienz mit der „Centesimus Annus pro Pontifice-Stiftung“ 2018 (ANSA)

Wir müssen unser Gespür für die ökologische Herausforderung weiterentwickeln: Dazu hat Papst Franziskus aufgerufen. Trotz übergroßer Probleme dürfe man die Hoffnung auf einen ökologischen Wandel nicht aufgeben, sagte das Kirchenoberhaupt im Vatikan vor den Teilnehmern der Jahrestagung der Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice.

Die päpstliche Stiftung, die vor 26 Jahren von Johannes Paul II. für die Förderung der kirchlichen Soziallehre gegründet wurde, beschäftigte sich auf der Tagung mit der Sozialenzyklika Laudato Si‘ von 2015. Franziskus würdigte im Rückblick auf diese Zeit, dass seither immer mehr Staaten sich zu den UN-Nachhaltigkeitszielen verpflichten. Ferner lobte er „zunehmende Investitionen in erneuerbare und nachhaltige Energien, neue Methoden der Energieeffizienz und eine größere Sensibilität für ökologische Anliegen besonders unter den jungen Menschen.“ Im April war es am Rand einer Generalaudienz zu einer Begegnung des Papstes mit der Klimawandel-Aktivistin Greta Thunberg gekommen.

Eine Vision, die nicht spaltet, sondern eint

Zugleich bemängelte Franziskus, in vielen Staaten sei der Fortschritt diesbezüglich „langsam oder nicht existent, manchmal sogar rückläufig“: „All das macht es schwierig, eine ökonomische, ökologische und soziale Solidarität und Nachhaltigkeit in einer humaneren Wirtschaft voranzubringen, einer Wirtschaft, die nicht nur die Befriedigung unmittelbarer Wünsche, sondern auch den Wohlstand der zukünftigen Generationen berücksichtigt“, gibt Franziskus zu. Dennoch dürfe man nicht aufgeben, sondern müsse eine wirkliche Bekehrung einleiten mit ethischen Visionen, die, so Franziskus, „den Menschen in den Mittelpunkt stellen, um niemanden an den Rändern des Lebens zurückzulassen. Eine Vision, die mehr vereint als spaltet, mehr einbezieht als ausschließt.“  Franziskus erinnerte daran, dass Laudato Si‘ keine Öko-, sondern vielmehr eine Sozialenzyklika sei. 

“unsere Identität als Söhne und Töchter unseres himmlichen Vaters”

Die Entwicklung einer ganzheitlichen Ökologie sei Berufung und Aufgabe zugleich, fuhr Franziskus fort. Zu dieser Berufung gehöre die Wiederentdeckung unserer Identität. Damit meint der Papst aber nicht die derzeit diskutierten Vorstellungen nationaler Identität, sondern vielmehr „unsere Identität als Söhne und Töchter unseres himmlischen Vaters, die nach dem göttlichen Bild geschaffen und beauftragt wurden, Hüter der Erde zu sein“. Diese Identität begründe sowohl die geschwisterliche Solidarität als auch die „geteilte Verantwortung für unser gemeinsames Haus“, erklärte Franziskus.

Die Aufgabe bestehe darin, Entwicklungsmodelle auf individueller, gemeinschaftlicher und politisch-institutioneller Ebene zu verändern. Obwohl dies geradezu einschüchternd groß erscheine, ermutigte der Papst die Teilnehmenden der Konferenz abschließend, die Hoffnung nicht zu verlieren, die auf den Vater im Himmel gründe:  „Er verlässt uns nicht, er lässt uns nicht allein, denn er hat sich selbst endgültig an unsere Erde gebunden und seine Liebe treibt uns ständig an, neue Wege vorwärts zu finden.“

Was ist Centesimus Annus Pro Pontifice?

Centesimus Annus Pro Pontifice (CAPP) ist eine päpstliche Stiftung mit Sitz im Vatikan. Papst Johannes Paul II. hatte sie 1983 zusammen mit einer Gruppe katholischer Unternehmer gegründet. Ziel der Stiftung ist die weltweite Förderung der katholischen Soziallehre. Vizepräsident im Verwaltungsrat ist der deutsche Textilunternehmer und Wirtschaftsethiker Thomas Rusche.

(vatican news – fr/gs)

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