DIE HERMENEUTIK DER HEILIGEN SCHRIFT [der Bibel] IN DER KIRCHE

Aus dem nachsynodalen apostolischen Schreiben
VERBUM DOMINI
Seiner Heiligkeit Papst Benedikt XVI.:

Die Kirche als der ursprüngliche Ort der Bibelhermeneutik

29. Ein weiteres großes, während der Synode aufgekommenes Thema, auf das ich jetzt aufmerksam machen möchte, ist die Auslegung der Heiligen Schrift in der Kirche. Gerade durch die innere Verbindung zwischen Wort und Glauben wird deutlich, daß die authentische Bibelhermeneutik nur im kirchlichen Glauben angesiedelt sein kann, der im »Ja« Marias sein Urbild besitzt. Der hl. Bonaventura sagt in diesem Zusammenhang, daß es ohne den Glauben keinen Schlüssel zur Heiligen Schrift gibt: »Das ist die Erkenntnis Jesu Christi, aus der die Sicherheit und das Verständnis der ganzen Heiligen Schrift wie aus einer Quelle hervorgehen. Niemand kann zu ihr vordringen und sie erkennen, wenn er nicht vorher den Glauben besitzt, der Licht, Tor und Fundament der ganzen Heiligen Schrift ist«.[84] Und der hl. Thomas von Aquin sagt unter Berufung auf Augustinus mit Nachdruck: »Auch der Buchstabe des Evangeliums tötet, wenn im Innern die heilsame Gnade des Glaubens fehlt«.[85]

So können wir ein grundlegendes Kriterium der Bibelhermeneutik in Erinnerung rufen: Der ursprüngliche Ort der Schriftauslegung ist das Leben der Kirche. Dies verweist auf den kirchlichen Bezug nicht als äußeres Kriterium, dem die Exegeten sich beugen müssen, sondern es ist ein Erfordernis, das in der Schrift selbst und in der Weise, wie sie sich im Laufe der Zeit herausgebildet hat, liegt. Denn »die Glaubenstraditionen bildeten das lebendige Umfeld, in das sich die literarische Tätigkeit der Verfasser der Heiligen Schrift einfügen konnte. Hierzu gehörten auch das liturgische Leben und die äußere Tätigkeit der Gemeinschaften, ihre geistige Welt, ihre Kultur und ihr geschichtliches Schicksal. Die biblischen Verfasser nahmen an alledem teil. In ähnlicher Weise verlangt also die Auslegung der Heiligen Schrift die Teilnahme der Exegeten am ganzen Leben und Glauben der Glaubensgemeinschaft ihrer Zeit«.[86] »Da die Heilige Schrift in dem Geist gelesen und ausgelegt werden muß, in dem sie geschrieben wurde«,[87] müssen also die Exegeten, die Theologen und das ganze Volk Gottes sie als das betrachten, was sie wirklich ist: als das Wort Gottes, das sich uns durch menschliche Worte mitteilt (vgl. 1Thess2,13). Das ist eine immerwährende, in der Bibel selbst enthaltene Gegebenheit: »Keine Weissagung der Schrift darf eigenmächtig ausgelegt werden; denn niemals wurde eine Weissagung ausgesprochen, weil ein Mensch es wollte, sondern vom Heiligen Geist getrieben haben Menschen im Auftrag Gottes geredet« (2Petr 1,20). Im übrigen ist es gerade der Glaube der Kirche, der in der Bibel das Wort Gottes erkennt, wie der hl. Augustinus sehr schön sagt: »Ich würde nicht an das Evangelium glauben, wenn mich nicht die Autorität der katholischen Kirche dazu bewegen würde«.[88] Der Heilige Geist, der das Leben der Kirche beseelt, ist es, der dazu befähigt, die Schriften authentisch auszulegen. Die Bibel ist das Buch der Kirche, und aus ihrem Eingebettetsein im kirchlichen Leben entspringt auch ihre wahre Hermeneutik.

30. Der hl. Hieronymus erinnert daran, daß wir die Schrift niemals alleine lesen können. Wir finden zu viele verschlossene Türen und gleiten leicht in den Irrtum ab. Die Bibel wurde vom Volk Gottes und für das Volk Gottes unter der Eingebung des Heiligen Geistes geschrieben. Nur in dieser Gemeinschaft mit dem Volk Gottes können wir wirklich mit dem »Wir« in den Kern der Wahrheit eintreten, die Gott selbst uns mitteilen will.[89] Der große dalmatische Gelehrte, für den »Unkenntnis der Schrift Unkenntnis Christi« [90] ist, sagt, daß die Kirchlichkeit der Bibelauslegung kein von außen auferlegter Anspruch ist: Das Buch ist wirklich die Stimme des pilgernden Gottesvolkes, und nur im Glauben dieses Volkes befinden wir uns sozusagen in der richtigen Tonart, um die Heilige Schrift zu verstehen. Eine authentische Auslegung der Bibel muß stets in harmonischer Übereinstimmung mit dem Glauben der katholischen Kirche stehen. Zu einem Priester sagte Hieronymus: »Halte fest an der überlieferten Lehre, in der du unterwiesen wurdest, damit du im Sinne der gesunden Lehre ermahnen und jene widerlegen kannst, die ihr widersprechen«.[91]

Ansätze, die unter Ausklammerung des Glaubens an den heiligen Text herangehen, können zwar interessante Elemente zutage fördern, indem sie auf die Struktur des Textes und seine Formen eingehen, ein solcher Versuch wäre jedoch stets nur vorbereitender Art und vom Aufbau her unvollständig. So hat die Päpstliche Bibelkommission ein in der modernen Hermeneutik allgemein anerkanntes Prinzip wiedergegeben und bekräftigt: »Das richtige Verständnis des biblischen Textes ist nur dem zugänglich, der eine lebendige Beziehung zu dem hat, wovon der Text spricht«.[92] All das unterstreicht die Beziehung zwischen dem geistlichen Leben und der Hermeneutik der Schrift. Denn »mit dem Wachsen des Lebens im Geiste weitet sich bei der Leserschaft das Verständnis der Wirklichkeiten, von denen der biblische Text spricht«.[93] Die Intensität einer authentischen kirchlichen Erfahrung fördert unwillkürlich ein authentisches Glaubensverständnis hinsichtlich des Wortes Gottes, und umgekehrt ist zu sagen, daß das gläubige Lesen der Schrift das kirchliche Leben selbst steigert. Von diesem Ansatz her können wir das bekannte Wort des hl. Gregor des Großen neu erfassen: »Die göttlichen Worte wachsen mit dem, der sie liest«.[94] So bildet und fördert das Hören auf das Wort Gottes die kirchliche Gemeinschaft mit allen, die im Glauben unterwegs sind.

»Die Seele der heiligen Theologie«

31. »Deshalb sei das Studium des heiligen Buches gleichsam die Seele der heiligen Theologie«:[95] Dieses Wort der dogmatischen Konstitution Dei Verbum ist uns in diesen Jahren immer vertrauter geworden. Wir können sagen, daß es in der Zeit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil im Zusammenhang mit theologischen und exegetischen Studien oft als Symbol für das neuerliche Interesse an der Heiligen Schrift zitiert wurde. Auch die XII. Versammlung der Bischofssynode hat dieses bekannte Wort oft erwähnt, um auf das Verhältnis hinzuweisen, das in bezug auf den heiligen Text zwischen historischer Forschung und Hermeneutik des Glaubens besteht. In dieser Hinsicht haben die Väter mit Freude das vermehrte Studium des Wortes Gottes in der Kirche innerhalb der letzten Jahrzehnte gewürdigt und ihren herzlichen Dank gegenüber den zahlreichen Exegeten und Theologen ausgedrückt, die durch ihre Hingabe, ihren Einsatz und ihr Fachwissen einen wesentlichen Beitrag zur Vertiefung des Schriftverständnisses geleistet haben und leisten, indem sie sich mit den komplexen Problemen auseinandersetzen, die unsere Zeit der Bibelforschung stellt.[96] Ein aufrichtiger Dank gilt auch den Mitgliedern der Päpstlichen Bibelkommission in all diesen Jahren, die in enger Zusammenarbeit mit der Kongregation für die Glaubenslehre fortwährend ihren fachlich versierten Beitrag leisten, indem sie sich besonderen Fragen widmen, die mit dem Studium der Heiligen Schrift verbunden sind. Darüber hinaus hat die Synode die Notwendigkeit verspürt, sich über den gegenwärtigen Stand der Bibelforschung und ihre Bedeutung im theologischen Bereich Gedanken zu machen. Von der fruchtbaren Beziehung zwischen Exegese und Theologie hängt nämlich ein großer Teil der pastoralen Wirkkraft der Arbeit der Kirche und des geistlichen Lebens der Gläubigen ab. Es ist mir daher wichtig, einige Reflexionen aufzugreifen, die in den Auseinandersetzungen der Synode mit diesem Thema zum Vorschein gekommen sind.

Entwicklung der Bibelforschung und kirchliches Lehramt

32. Zunächst muß der Nutzen anerkannt werden, der dem Leben der Kirche aus der historisch-kritischen Exegese und den anderen Methoden der Textanalyse, die in jüngerer Zeit entwickelt wurden, erwachsen ist.[97] Für die katholische Sichtweise der Heiligen Schrift ist die Berücksichtigung dieser Methoden unverzichtbar und mit dem Realismus der Inkarnation verbunden: »Diese Notwendigkeit ergibt sich aus dem christlichen Prinzip, das wir in Joh 1,14 finden: Verbum caro factum est. Das historische Faktum ist eine Grunddimension des christlichen Glaubens. Die Heilsgeschichte ist keine Mythologie, sondern wirkliche Geschichte und muß deshalb mit den Methoden ernsthafter Geschichtswissenschaft untersucht werden«.[98] Die Bibelforschung verlangt daher die Kenntnis und den rechten Gebrauch dieser Forschungsmethoden. Obgleich sich in der Moderne die Sensibilität dafür in der Forschung stärker entwickelt hat – wenn auch nicht überall in gleichem Maße –, gab es doch in der gesunden kirchlichen Überlieferung stets eine Liebe zum Studium des »Buchstabens«. Man denke in diesem Zusammenhang nur an die monastische Kultur, der wir letztlich die Grundlage der europäischen Kultur verdanken und an deren Wurzel das Interesse am Wort steht. Zum Verlangen nach Gott gehört die Liebe zum Wort in all seinen Dimensionen: »Weil im biblischen Wort Gott unterwegs ist zu uns und wir zu ihm, darum muß man lernen, in das Geheimnis der Sprache einzudringen, sie in ihrem Aufbau und in der Weise ihres Ausdrucks zu begreifen. So werden gerade durch die Gottsuche die profanen Wissenschaften wichtig, die uns den Weg zur Sprache zeigen«.[99]

33. Das lebendige Lehramt der Kirche, dessen Aufgabe es ist, »das geschriebene oder überlieferte Wort Gottes verbindlich zu erklären«,[100] hat in kluger und ausgewogener Weise dazu beigetragen, die richtige Haltung hinsichtlich der Einführung neuer Methoden der historischen Analyse zu finden. Ich beziehe mich insbesondere auf die Enzykliken Providentissimus Deus von Papst Leo XIII. und Divino afflante Spiritu von Papst Pius XII. Mein verehrter Vorgänger Papst Johannes Paul II. hat die Bedeutung dieser Dokumente für die Exegese und die Theologie anläßlich der Feier des 100. bzw. des 50. Jahrestages ihrer Promulgation in Erinnerung gerufen.[101] Durch den Beitrag von Papst Leo XIII. konnte die katholische Interpretation der Bibel vor den Angriffen des Rationalismus bewahrt werden, ohne einen Rückzug in einen geistlichen, unhistorischen Sinn vorzunehmen. Er lehnte die wissenschaftliche Kritik nicht ab, sondern mißtraute nur »vorgefaßten Meinungen, die angeblich eine wissenschaftliche Grundlage haben, in Wirklichkeit jedoch unterschwellig den Bereich der Wissenschaft überschreiten«.[102] Papst Pius XII. sah sich hingegen den Angriffen der Anhänger einer sogenannten mystischen Exegese ausgesetzt, die jeden wissenschaftlichen Ansatz ablehnte. Die Enzyklika Divino afflante Spiritu hat mit großer Feinfühligkeit vermieden, die Vorstellung einer Dichotomie zwischen der »wissenschaftlichen Exegese« für den apologetischen Gebrauch und der »dem internen Gebrauch vorbehaltenen geistlichen Interpretation«, zu erzeugen. Vielmehr spricht sie sowohl von der »theologischen Tragweite des methodisch definierten wörtlichen Sinnes« als auch von der Zugehörigkeit der »Bestimmung des geistlichen Sinnes … zum Bereich der wissenschaftlichen Exegese«.[103] Auf diese Weise lehnen beide Dokumente einen »Bruch zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen, zwischen der wissenschaftlichen Forschung und der Sicht des Glaubens, zwischen dem wörtlichen Sinn und dem geistlichen Sinn« ab.[104] Dieses Gleichgewicht floß später in das Dokument der Päpstlichen Bibelkommission von 1993 ein: »Die katholischen Exegeten dürfen bei ihrer Interpretationsarbeit nie vergessen, daß sie das Wort Gottes auslegen. Ihr gemeinsamer Auftrag ist noch nicht beendet, wenn die Quellen unterschieden, die Gattungen bestimmt und die literarischen Ausdrucksmittel erklärt sind. Das Ziel ihrer Arbeit ist erst erreicht, wenn sie den Sinn des biblischen Textes als gegenwartsbezogenes Wort Gottes erfaßt haben«.[105]

Die Bibelhermeneutik des Konzils: Eine zu übernehmende Anleitung

34. Vor diesem Horizont kann man die großen Auslegungsprinzipien der katholischen Exegese, die vom Zweiten Vatikanischen Konzil – besonders in der dogmatischen Konstitution Dei Verbum – dargelegt wurden, um so mehr würdigen: »Da Gott in der Heiligen Schrift durch Menschen nach Menschenart gesprochen hat, muß der Schrifterklärer, um zu erfassen, was Gott uns mitteilen wollte, sorgfältig erforschen, was die heiligen Schriftsteller wirklich zu sagen beabsichtigten und was Gott mit ihren Worten kundtun wollte«.[106] Einerseits hebt das Konzil als wesentliche Elemente zur Erfassung der Aussageabsicht des heiligen Autors die Untersuchung der literarischen Gattungen und die Kontextualisierung hervor. Da aber andererseits die Schrift in demselben Geist ausgelegt werden muß, in dem sie geschrieben wurde, führt die dogmatische Konstitution drei grundlegende Kriterien an, die dazu dienen, die göttliche Dimension der Bibel zu berücksichtigen: 1) Auslegung des Textes mit Rücksicht auf die Einheit der ganzen Schrift – das wird heute kanonische Exegese genannt, 2) Berücksichtigung der lebendigen Überlieferung der Gesamtkirche, und schließlich 3) Beachtung der Analogie des Glaubens. »Nur dort, wo beide methodologische Ebenen, die historisch-kritische und die theologische, berücksichtigt werden, kann man von einer theologischen Exegese sprechen, die allein der Heiligen Schrift angemessen ist«.[107]

Zu Recht haben die Synodenväter gesagt, daß das positive Ergebnis der Anwendung der modernen historisch-kritischen Forschung nicht zu leugnen ist. Während jedoch die heutige akademische – auch die katholische – Exegese im Bereich der historisch-kritischen Methode, einschließlich der in jüngerer Zeit vorgenommenen Ergänzungen, auf hohem Niveau arbeitet, ist ein entsprechendes Studium der theologischen Dimension der biblischen Texte einzufordern, damit die Vertiefung gemäß der drei von der dogmatischen Konstitution Dei Verbum angegebenen Elemente voranschreitet.[108]

Die Gefahr des Dualismus und die säkularisierte Hermeneutik

35. In diesem Zusammenhang muß auf die große Gefahr eines Dualismus hingewiesen werden, der heute bei der Beschäftigung mit der Heiligen Schrift aufkommt. Wenn zwischen den beiden Ansatzebenen unterschieden wird, so geschieht dies keinesfalls in der Absicht, sie voneinander zu trennen, noch sie gegeneinander auszuspielen oder sie auch einfach nur nebeneinanderzustellen. Allein in gegenseitiger Abhängigkeit sind sie sinnvoll. Eine Trennung zwischen ihnen, die zu nichts führt, läßt leider nicht selten Exegese und Theologie einander fremd erscheinen, »selbst auf höchster akademischer Ebene«.[109] Ich möchte hier auf die in besonderer Weise besorgniserregenden Folgen hinweisen, die vermieden werden müssen.

a) Zunächst, wenn die Exegese nur auf die erste Ebene reduziert wird, dann wird die Schrift selbst zu einem Buch der Vergangenheit, »aus dem man wohl moralische Erkenntnisse ziehen und die Geschichte erfahren kann, aber das Buch als solches spricht nur von der Vergangenheit und es handelt sich um eine nicht wirklich theologische, sondern eine rein historiographische Exegese, Geschichte der Literatur«.[110] In einer solchen Verkürzung wird das Ereignis der Offenbarung Gottes durch sein Wort, das in der lebendigen Überlieferung und in der Schrift an uns weitergegeben wird, natürlich in keiner Weise verständlich.

b) Das Fehlen einer Hermeneutik des Glaubens in bezug auf die Schrift zeigt sich außerdem nicht nur in Form einer Abwesenheit, sondern an ihre Stelle tritt unvermeidlich eine andere Hermeneutik – eine positivistische, säkularisierte Hermeneutik, deren grundlegender Schlüssel die Überzeugung ist, daß das Göttliche sich in der Menschheitsgeschichte nicht zeigt. Dieser Hermeneutik zufolge muß dann, wenn ein göttliches Element vorhanden zu sein scheint, dieses auf andere Weise erklärt und alles auf das menschliche Element reduziert werden. Infolgedessen werden Auslegungen vorgelegt, die die Historizität der göttlichen Elemente leugnen.[111]

c) Eine solche Haltung muß unweigerlich dem Leben der Kirche Schaden zufügen, da sie Zweifel aufkommen läßt an den wesentlichen Geheimnissen des Christentums und ihrem historischen Wert, wie zum Beispiel die Einsetzung der Eucharistie und die Auferstehung Christi. Damit wird nämlich eine philosophische Hermeneutik aufgezwungen, die die Möglichkeit, daß das Göttliche in die Geschichte eintritt und in ihr gegenwärtig ist, leugnet. Die Übernahme einer solchen Hermeneutik in die theologischen Studien führt unvermeidlich zu einem heftigen Dualismus zwischen der Exegese, die nur auf der ersten Ebene stattfindet, und der Theologie, die in eine Spiritualisierung des Schriftsinnes abdriftet, die das historische Wesen der Offenbarung nicht berücksichtigt.

All das kann sich auch auf das geistliche Leben und auf die Seelsorge nur negativ auswirken: »Die Abwesenheit dieser zweiten methodologischen Ebene hat einen tiefen Graben zwischen der wissenschaftlichen Exegese und der lectio divina aufgerissen. So kommt es auch gerade deshalb manchmal zu Ratlosigkeit bei der Vorbereitung der Homilien«[112]. Außerdem muß darauf hingewiesen werden, daß dieser Dualismus manchmal dem intellektuellen Ausbildungsweg sogar einiger Priesteramtskandidaten Unsicherheit und wenig Standfestigkeit verleiht.[113] »Wo die Exegese nicht Theologie ist, kann die Heilige Schrift nicht die Seele der Theologie sein und umgekehrt, wo die Theologie nicht wesentlich Auslegung der Schrift in der Kirche ist, hat die Theologie kein Fundament mehr«.[114] Es ist daher unbedingt notwendig, den Hinweisen der dogmatischen Konstitution Dei Verbum in diesem Zusammenhang wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

Glaube und Vernunft im Zugang zur Schrift

36. Zu einem umfassenderen Verständnis der Exegese und somit ihrer Beziehung zur gesamten Theologie kann, glaube ich, das beitragen, was in diesem Zusammenhang Papst Johannes Paul II. in der Enzyklika Fides et ratio geschrieben hat. Er sagte nämlich: »Nicht unterschätzt werden darf zudem die Gefahr, die der Absicht innewohnt, die Wahrheit der Heiligen Schrift von der Anwendung einer einzigen Methode abzuleiten, und dabei die Notwendigkeit einer Exegese im weiteren Sinn außer acht läßt, die es erlaubt, zusammen mit der ganzen Kirche zum vollen Sinn der Texte zu gelangen. Alle, die sich dem Studium der Heiligen Schriften widmen, müssen stets berücksichtigen, daß auch den verschiedenen hermeneutischen Methoden eine philosophische Auffassung zugrunde liegt: sie gilt es vor ihrer Anwendung auf die heiligen Texte eingehend zu prüfen«.[115]

Diese weitblickenden Überlegungen machen deutlich, daß im hermeneutischen Zugang zur Heiligen Schrift die richtige Beziehung zwischen Glaube und Vernunft auf dem Spiel steht. Die säkularisierte Hermeneutik der Heiligen Schrift wird ja von einer Vernunft betrieben, die sich grundsätzlich der Möglichkeit verschließen will, daß Gott in das Leben der Menschen eintritt und in menschlichen Worten zu den Menschen spricht. Auch in diesem Fall gilt also die Aufforderung, den Horizont der eigenen Rationalität zu erweitern.[116] Bei der Anwendung von Methoden zur historischen Analyse muß man es daher vermeiden, gegebenenfalls vorhandene Kriterien zu übernehmen, die die Offenbarung Gottes im Leben der Menschen von vornherein ausschließen. Die Einheit der beiden Interpretationsebenen der Heiligen Schrift setzt letztlich eine Harmonie von Glauben und Vernunft voraus. Einerseits bedarf es eines Glaubens, der eine angemessene Beziehung zur rechten Vernunft unterhält und daher niemals zum Fideismus verkommt, der fundamentalistische Auslegungen der Schrift unterstützen würde. Andererseits bedarf es einer Vernunft, die sich bei der Untersuchung der in der Bibel vorhandenen historischen Elemente offen zeigt und nicht von vornherein alles zurückweist, was über den eigenen Maßstab hinausgeht. Im Übrigen muß sich die Religion des fleischgewordenen Logos dem Menschen, der aufrichtig nach der Wahrheit und nach dem endgültigen Sinn seines Lebens und der Geschichte sucht, als zutiefst vernünftig erweisen.

Wörtlicher Sinn und geistlicher Sinn

37. Wie die Synodenversammlung gesagt hat, ergibt sich ein wichtiger Beitrag zur Wiedererlangung einer angemessenen Schrifthermeneutik auch aus dem erneuten Hören auf die Kirchenväter und ihren exegetischen Ansatz.[117] Tatsächlich besitzt die Theologie der Kirchenväter noch heute großen Wert, weil in ihrem Mittelpunkt das Studium der Heiligen Schrift in ihrer Ganzheit steht. Die Väter sind nämlich zunächst einmal und im wesentlichen »Kommentatoren der Heiligen Schrift«.[118] Ihr Vorbild kann »die modernen Exegeten einen wirklich religiösen Zugang zur Heiligen Schrift sowie eine Auslegung lehren, die stets dem Kriterium der Gemeinschaft mit der Erfahrung der Kirche folgt, die vom Heiligen Geist geleitet in der Geschichte unterwegs ist«.[119]

Auch wenn die patristische und mittelalterliche Tradition natürlich nicht die philologischen und historischen Ressourcen besaß, die der modernen Exegese zur Verfügung stehen, erkannte sie doch die verschiedenen Sinngehalte der Schrift, angefangen beim wörtlichen; es ist »der durch die Worte der Schrift bezeichnete und durch die Exegese, die sich an die Regeln der richtigen Textauslegung hält, erhobene Sinn«.[120] Thomas von Aquin sagt zum Beispiel: »Alle Sinngehalte [der Heiligen Schrift] gründen auf dem wörtlichen«.[121] Man muß sich jedoch stets bewußt sein, daß zur Zeit der Kirchenväter und im Mittelalter jede Form der Exegese, auch die wörtliche, auf der Grundlage des Glaubens betrieben wurde und nicht unbedingt zwischen wörtlichem Sinn und geistlichem Sinn unterschieden wurde. In diesem Zusammenhang sei an das klassische Distichon erinnert, das die Beziehung zwischen den verschiedenen Sinngehalten der Schrift zum Ausdruck bringt:

»Littera gesta docet, quid credas allegoria,
Moralis quid agas, quo tendas anagogia.
Der Buchstabe lehrt die Ereignisse; was du zu glauben hast, die Allegorie;
die Moral, was du zu tun hast; wohin du streben sollst, die Anagogie«.[122]

Wir sehen hier die Einheit und die Unterscheidung von wörtlichem Sinn und geistlichem Sinn, wobei sich dieser wiederum in drei Sinngehalte unterteilt, mit denen die Inhalte des Glaubens, der Moral und der eschatologischen Spannung umschrieben werden.

Letztendlich erkennen wir den Wert und die Notwendigkeit der historisch-kritischen Methode trotz ihrer Grenzen an und lernen gleichzeitig von der patristischen Exegese: »Man ist der Absicht der biblischen Texte nur in dem Maß treu, in dem man versucht, durch ihre Formulierungen hindurch die Wirklichkeit des Glaubens zu erreichen, die in ihnen zur Sprache kommt, und diese mit der Glaubenserfahrung der heutigen Zeit verbindet«.[123] Nur aus dieser Perspektive heraus kann man erkennen, daß das Wort Gottes lebendig ist und sich in der Gegenwart unseres Lebens an jeden Menschen richtet. In diesem Sinne behält das, was die Päpstlichen Bibelkommission gesagt hat, volle Gültigkeit: Sie definiert den geistlichen Sinn dem christlichen Glauben entsprechend als den Sinn, »den die biblischen Texte ausdrücken, wenn sie unter dem Einfluß des Heiligen Geistes im Kontext des österlichen Mysteriums Christi und des daraus folgenden neuen Lebens gelesen werden. Diesen Kontext gibt es tatsächlich. Das Neue Testament erkennt darin die Erfüllung der Schriften. So ist es natürlich, die Schriften im Lichte dieses neuen Kontextes zu lesen, der das Leben im Heiligen Geiste ist«.[124]

Die Notwendigkeit der Überschreitung des »Buchstabens«

38. Wenn die Gliederung zwischen den verschiedenen Sinngehalten der Schrift festgestellt wird, ist es also entscheidend, den Übergang vom Buchstaben zum Geist zu erfassen. Dieser Übergang findet nicht automatisch und von sich aus statt; vielmehr bedarf es einer Überschreitung des Buchstabens: »Denn das Wort Gottes selber ist nie einfach schon in der reinen Wörtlichkeit des Textes da. Zu ihm zu gelangen verlangt eine Transzendierung und einen Prozeß des Verstehens, der sich von der inneren Bewegung des Ganzen leiten läßt und daher auch ein Prozeß des Lebens werden muß«.[125] So entdecken wir, warum ein authentischer Interpretationsprozeß niemals nur ein intellektueller Prozeß ist, sondern auch ein Prozeß des Lebens, der das volle Eingebundensein in das kirchliche Leben als ein »vom Geist geleitetes« Leben (vgl. Gal 5,16) verlangt. Auf diese Weise werden die in Nr. 12 der dogmatischen Konstitution Dei Verbum hervorgehobenen Kriterien deutlicher: Eine solche Transzendierung kann im einzelnen literarischen Fragment nur in Beziehung zur Gesamtheit der Schrift stattfinden. Es ist ja ein einziges Wort, zu dem hin die Überschreitung erfolgen soll. Diesem Prozeß wohnt eine Dramatik inne, denn im Prozeß der Transzendierung hat der Übergang, der in der Kraft des Heiligen Geistes geschieht, unvermeidlich auch mit der Freiheit eines jeden Menschen zu tun. Der hl. Paulus hat diesen Übergang in seinem eigenen Leben in ganzer Fülle erfahren. Was die Überschreitung des Buchstabens und sein Verstehen allein vom Ganzen her bedeutet, hat er drastisch ausgedrückt in dem Satz: »Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig« (2Kor 3,6). Der heilige Paulus entdeckt, daß der »freimachende Geist einen Namen hat und so die Freiheit ein inneres Maß: „Der Herr ist der Geist. Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“ (2Kor 3,17). Der befreiende Geist ist nicht einfach die eigene Idee, die eigene Ansicht des Auslegers. Der Geist ist Christus, und Christus ist der Herr, der uns den Weg zeigt«.[126] Wir wissen, wie auch für den hl. Augustinus dieser Übergang dramatisch und befreiend zugleich war. Er glaubte an die Schrift, die ihm zunächst so uneinheitlich und manchmal ungeschliffen vorgekommen war, eben aufgrund dieser Transzendierung, die er vom hl. Ambrosius durch die typologische Auslegung lernte, für die das gesamte Alte Testament ein Weg auf Christus hin ist. Für Augustinus hat die Überschreitung des Buchstabens den Buchstaben selbst glaubwürdig gemacht und ihm ermöglicht, endlich die Antwort zu finden auf die tiefste Unruhe seines Herzens, das nach der Wahrheit dürstete.[127]

Die innere Einheit der Bibel

39. In der Schule der großen Überlieferung der Kirche lernen wir, im Übergang vom Buchstaben zum Geist auch die Einheit der ganzen Schrift zu erfassen, denn das Wort Gottes, das unser Leben hinterfragt und es ständig zur Umkehr aufruft, ist eines.[128] In diesem Zusammenhang werden wir sicher geleitet durch die Worte von Hugo von Sankt Viktor: »Die ganze göttliche Schrift bildet ein einziges Buch, und dieses einzige Buch ist Christus, spricht von Christus und findet in Christus seine Erfüllung«.[129] Gewiß, unter rein geschichtlichem oder literarischem Gesichtspunkt ist die Bibel nicht einfach nur ein Buch, sondern eine Sammlung literarischer Texte, deren Abfassung sich über mehr als ein Jahrtausend erstreckte und deren einzelne Bücher nicht leicht als Teile einer inneren Einheit erkennbar sind; es bestehen sogar sichtbare Spannungen zwischen ihnen. Das gilt bereits innerhalb der Bibel Israels, die wir Christen als das Alte Testament bezeichnen. Es gilt noch mehr, wenn wir als Christen das Neue Testament und seine Schriften gleichsam als hermeneutischen Schlüssel mit der Bibel Israels verknüpfen und sie so als Weg zu Christus auslegen. Im Neuen Testament wird der Ausdruck »die Schrift« (vgl. Röm 4,3; 1Petr 2,6) normalerweise nicht verwendet, sondern vielmehr »die Schriften« (vgl. Mt 21,43; Joh 5,39; Röm 1,2; 2Petr 3,16), die freilich zusammen dann doch als das eine Wort Gottes an uns angesehen werden.[130] Daraus wird deutlich, daß es die Person Christi ist, die allen »Schriften« in dem Bezug auf das eine »Wort« Einheit verleiht. So versteht man die Aussage in Nr. 12 der dogmatischen Konstitution Dei Verbum, die auf die innere Einheit der ganzen Bibel als entscheidendes Kriterium für eine korrekte Hermeneutik des Glaubens verweist.

Die Beziehung zwischen dem Alten und dem Neuen Testament

40. Unter dem Gesichtspunkt der Einheit der Schriften in Christus müssen sich sowohl die Theologen als auch die Seelsorger der Beziehungen zwischen dem Alten und dem Neuen Testament bewußt sein. Vor allem ist eindeutig, daß das Neue Testament selbst das Alte Testament als Wort Gottes anerkennt und somit die Autorität der Heiligen Schriften des jüdischen Volkes aufgreift.[131] Es erkennt sie implizit an, indem es dieselbe Ausdrucksweise verwendet und oft auf Stellen aus diesen Schriften anspielt. Es erkennt sie explizit an, indem es viele Stellen zitiert und zur Argumentation heranzieht. Die auf den Texten des Alten Testaments gründende Argumentation stellt so im Neuen Testament einen entscheidenden Wert dar, der jenen einfacher menschlicher Beweisführungen übersteigt. Im vierten Evangelium sagt Jesus in diesem Zusammenhang, daß »die Schrift nicht aufgehoben werden kann« (Joh 10,35), und der hl. Paulus präzisiert im besonderen, daß die Offenbarung des Alten Testaments für uns Christen auch weiterhin gilt (vgl. Röm 15,4; 1Kor 10,11).[132] Außerdem bekräftigen wir, »daß Jesus von Nazaret ein Jude war und das Heilige Land das Mutterland der Kirche ist«;[133] die Wurzel des Christentums liegt im Alten Testament, und das Christentum nährt sich stets aus dieser Wurzel. Daher hat die gesunde christliche Lehre stets jede Form des Markionismus abgelehnt, der immer wiederkehrt und auf verschiedene Weise dazu neigt, das Alte und das Neue Testament einander entgegenzusetzen.[134]

Außerdem sagt das Neue Testament selbst, daß es mit dem Alten übereinstimmt, und verkündet, daß im Geheimnis des Lebens, des Todes und der Auferstehung Christi die Heiligen Schriften des jüdischen Volkes ihre vollkommene Erfüllung gefunden haben. Es muß jedoch angemerkt werden, daß der Begriff der Erfüllung der Schriften komplex ist, da er eine dreifache Dimension beinhaltet: den grundlegenden Aspekt der Kontinuität mit der Offenbarung des Alten Testaments, einen Aspekt des Bruches sowie einen Aspekt der Erfüllung und Überwindung. Das Geheimnis Christi steht in einer Kontinuität der Absicht zum Opferkult des Alten Testaments; es hat sich jedoch auf eine ganz andere Weise verwirklicht, die vielen Verheißungen der Propheten entspricht, und hat so eine nie dagewesene Vollkommenheit erlangt. Das Alte Testament ist nämlich voller Spannungen zwischen seinen institutionellen und seinen prophetischen Gesichtspunkten. Das Ostergeheimnis Christi, hingegen, stimmt – wenn auch in unvorhersehbarer Weise – mit den Prophezeiungen und dem vorausweisenden Aspekt der Schriften vollkommen überein; dennoch weist es deutliche Gesichtspunkte einer Diskontinuität zu den Institutionen des Alten Testaments auf.

41. Diese Überlegungen zeigen die unersetzliche Bedeutung des Alten Testaments für die Christen auf, heben aber zugleich die Originalität der christologischen Auslegung hervor. Schon zur Zeit der Apostel und dann in der lebendigen Überlieferung wurde die Einheit des göttlichen Plans in den beiden Testamenten von der Kirche durch die Typologie verdeutlicht, die nicht willkürlicher Art ist, sondern den vom heiligen Text berichteten Ereignissen innewohnt und daher die ganze Schrift betrifft. Die Typologie »findet in den Werken Gottes im Alten Bund „Vorformen“ [Typologien] dessen, was Gott dann in der Fülle der Zeit in der Person seines menschgewordenen Wortes vollbracht hat«.[135] Die Christen lesen also das Alte Testament im Licht des gestorbenen und auferstandenen Christus. Wenn die typologische Auslegung den unerschöpflichen Sinngehalt des Alten Testamentes in bezug auf das Neue Testament offenbart, darf sie jedoch nicht dazu verleiten zu vergessen, daß auch das Alte Testament selbst seinen Offenbarungswert behält, den unser Herr selber bekräftigt hat (vgl. Mk 12,29-31). Daher »will das Neue Testament auch im Licht des Alten Testamentes gelesen sein. Die christliche Urkatechese hat beständig auf dieses zurückgegriffen [vgl. 1Kor 5,6-8; 10,1-11.]«.[136] Aus diesem Grund haben die Synodenväter gesagt, daß »das jüdische Bibelverständnis den Christen beim Verständnis und Studium der Schriften helfen kann«.[137]

»Das Neue Testament liegt im Alten verborgen, und das Alte ist im Neuen offenbar«[138] – so die scharfsinnige und weise Äußerung des hl. Augustinus zu diesem Thema. Es ist also wichtig, sowohl in der Seelsorge als auch im akademischen Bereich die enge Beziehung zwischen den beiden Testamenten deutlich hervorzuheben und mit dem hl. Gregor dem Großen daran zu erinnern, daß »das Neue Testament die Verheißungen des Alten Testaments sichtbar gemacht hat; was dieses in verborgener Weise ankündigt, verkündet jenes offen als gegenwärtig. So ist das Alte Testament Vorausschau des Neuen Testaments; und das Neue Testament ist der beste Kommentar zum Alten Testament«.[139]

Die »dunklen« Stellen der Bibel

42. Im Zusammenhang mit der Beziehung zwischen dem Alten und dem Neuen Testament hat sich die Synode auch mit dem Thema der Bibelstellen auseinandergesetzt, die aufgrund der darin gelegentlich enthaltenen Gewalt und Unsittlichkeit dunkel und schwierig erscheinen. Diesbezüglich muß man sich vor Augen führen, daß die biblische Offenbarung tief in der Geschichte verwurzelt ist. Der Plan Gottes wird darin allmählich offenbar und wird erst langsam etappenweise umgesetzt, trotz des Widerstands der Menschen. Gott erwählt ein Volk und erzieht es mit Geduld. Die Offenbarung paßt sich dem kulturellen und sittlichen Niveau weit zurückliegender Zeiten an und berichtet daher von Tatsachen und Bräuchen wie zum Beispiel Betrugsmanövern, Gewalttaten, Völkermord, ohne deren Unsittlichkeit ausdrücklich anzuprangern. Das läßt sich aus dem historischen Umfeld heraus erklären, kann jedoch den modernen Leser überraschen, vor allem dann, wenn man die vielen »dunklen« Seiten menschlichen Verhaltens vergißt, die es in allen Jahrhunderten immer gegeben hat, auch in unseren Tagen. Im Alten Testament erheben die Propheten kraftvoll ihre Stimme gegen jede Art von kollektiver oder individueller Ungerechtigkeit und Gewalt. Dadurch erzieht Gott sein Volk in Vorbereitung auf das Evangelium. Es wäre daher falsch, jene Abschnitte der Schrift, die uns problematisch erscheinen, nicht zu berücksichtigen. Vielmehr muß man sich bewußt sein, daß die Auslegung dieser Stellen den Erwerb entsprechender Fachkenntnisse voraussetzt, mittels einer Ausbildung, die die Texte in ihrem literarischen und geschichtlichen Zusammenhang und in christlicher Perspektive liest, deren endgültiger hermeneutischer Schlüssel »das Evangelium und das neue Gebot Jesu Christi ist, das im Ostergeheimnis Erfüllung gefunden hat«.[140] Ich fordere daher die Theologen und die Seelsorger auf, allen Gläubigen zu helfen, auch an diese Stellen heranzugehen, und zwar durch eine Lesart, die ihre Bedeutung im Licht des Geheimnisses Christi offenbar werden läßt.

Christen und Juden im Hinblick auf die Heiligen Schriften

43. In Anbetracht der engen Beziehungen, die das Neue an das Alte Testament binden, ergibt es sich von selbst, jetzt die Aufmerksamkeit der besonderen Verbindung zwischen Christen und Juden zuzuwenden, die sich daraus ableitet und die niemals vergessen werden darf. Papst Johannes Paul II. hat zu den Juden gesagt: Ihr seid »unsere „bevorzugten Brüder“ im Glauben Abrahams, unseres Patriarchen«.[141] Natürlich bedeuten diese Worte keine Absage an den Bruch, von dem das Neue Testament in bezug auf die Institutionen des Alten Testaments spricht, und erst recht nicht an die Erfüllung der Schriften im Geheimnis Jesu Christi, der als Messias und Sohn Gottes erkannt wird. Dieser tiefe und radikale Unterschied beinhaltet jedoch keineswegs eine gegenseitige Feindschaft. Das Beispiel des hl. Paulus (vgl. Röm 9-11) zeigt im Gegenteil, daß »eine Haltung des Respekts, der Hochschätzung und der Liebe gegenüber dem jüdischen Volk … die einzige wirklich christliche Haltung in einer heilsgeschichtlichen Situation [ist], die in geheimnisvoller Weise Teil des ganz positiven Heilsplans Gottes ist«.[142] Paulus sagt nämlich über die Juden: »Von ihrer Erwählung her gesehen sind sie von Gott geliebt, und das um der Väter willen. Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt« (Röm 11,28-29).

Außerdem gebraucht der hl. Paulus das schöne Bild vom Ölbaum, um die ganz engen Beziehungen zwischen Christen und Juden zu beschreiben: Die Kirche der Völker ist wie ein wilder Oliventrieb, der in den edlen Olivenbaum des Bundesvolkes eingepfropft wurde (vgl.
Röm 11,17-24). Wir nähren uns also aus denselben spirituellen Wurzeln. Wir begegnen einander als Brüder – Brüder, die in gewissen Augenblicken ihrer Geschichte ein gespanntes Verhältnis zueinander hatten, sich aber jetzt fest entschlossen darum bemühen, Brücken beständiger Freundschaft zu bauen.[143] Papst Johannes Paul II. sagte außerdem: »Wir haben viel gemeinsam, und wir können zusammen so viel für Frieden, für Gerechtigkeit und für eine menschlichere und brüderlichere Welt tun«.[144]

Ich möchte noch einmal bekräftigen, wie wertvoll für die Kirche der Dialog mit den Juden ist. Dort, wo die Möglichkeit besteht, sollten auch öffentliche Gelegenheiten zur Begegnung und Diskussion geschaffen werden, die das gegenseitige Kennenlernen, die Wertschätzung füreinander und die Zusammenarbeit fördern, auch beim Studium der Heiligen Schrift.

Die fundamentalistische Auslegung der Heiligen Schrift

44. Nachdem wir uns bis jetzt eingehend dem Thema der Bibelhermeneutik in ihren verschiedenen Aspekten gewidmet haben, können wir nun das auf der Synode mehrmals zur Sprache gebrachte Thema der fundamentalistischen Auslegung der Heiligen Schrift angehen.[145] Zu diesem Thema hat die Päpstliche Bibelkommission im Dokument Die Interpretation der Bibel in der Kirche wichtige Hinweise gegeben. In diesem Zusammenhang möchte ich die Aufmerksamkeit vor allem auf jene Lesarten richten, die das wahre Wesen des heiligen Textes mißachten, indem sie subjektivistische und willkürliche Interpretationen unterstützen. Die von der fundamentalistischen Lesart befürwortete »Wörtlichkeit« ist nämlich in Wirklichkeit ein Verrat sowohl am wörtlichen als auch am geistlichen Sinn, indem sie den Weg für Instrumentalisierungen verschiedener Art öffnet, zum Beispiel durch die Verbreitung kirchenfeindlicher Auslegungen der Schrift selbst. Der problematische Aspekt »dieses fundamentalistischen Umgangs mit der Heiligen Schrift liegt darin, daß er den geschichtlichen Charakter der biblischen Offenbarung ablehnt und daher unfähig wird, die Wahrheit der Menschwerdung selbst voll anzunehmen. Für den Fundamentalismus ist die enge Verbindung zwischen Göttlichem und Menschlichem in der Beziehung zu Gott ein Ärgernis. … Er hat deshalb die Tendenz, den biblischen Text so zu behandeln, als ob er vom Heiligen Geist wortwörtlich diktiert worden wäre. Er sieht nicht, daß das Wort Gottes in einer Sprache und in einem Stil formuliert worden ist, die durch die jeweilige Epoche der Texte bedingt sind«.[146] Das Christentum vernimmt im Gegensatz dazu in den Wörtern das Wort, den Logos selbst, der sein Geheimnis durch diese Vielfalt und durch die Wirklichkeit einer menschlichen Geschichte hindurch ausbreitet.[147] Die wahre Antwort auf eine fundamentalistische Interpretation ist die »Auslegung der Heiligen Schrift im Glauben«. Diese Lesart, »die von alters her in der Überlieferung der Kirche praktiziert wurde, sucht nach der rettenden Wahrheit für das Leben des einzelnen Gläubigen und für die Kirche. Diese Lesart erkennt den historischen Wert der biblischen Überlieferung an. Gerade aufgrund dieses Wertes als historisches Zeugnis will sie die lebendige Bedeutung der Heiligen Schrift wiederentdecken, die auch für das Leben des Gläubigen von heute bestimmt ist«,[148] ohne dabei die menschliche Vermittlung des inspirierten Textes und seine literarischen Gattungen außer acht zu lassen.

Der Dialog zwischen Seelsorgern, Theologen und Exegeten

45. Die wahre Hermeneutik des Glaubens bringt einige wichtige Konsequenzen im Bereich der Pastoralarbeit der Kirche mit sich. Gerade die Synodenväter haben in diesem Zusammenhang zum Beispiel regelmäßigere Kontakte zwischen Seelsorgern, Exegeten und Theologen empfohlen. Die Bischofskonferenzen sollten diese Begegnungen fördern, »um eine größere Gemeinsamkeit im Dienst am Wort Gottes zu unterstützen«.[149] Eine solche Zusammenarbeit hilft allen, die eigene Arbeit besser durchzuführen zum Wohl der ganzen Kirche. Sich nämlich in den Gesichtskreis der Pastoralarbeit zu versetzen bedeutet auch für die Wissenschaftler, dem heiligen Text in seinem Wesen als Mitteilung zu begegnen, die der Herr den Menschen für das Heil macht. Darum gilt die Empfehlung, die bereits die dogmatische Konstitution Dei Verbum formuliert: »Die katholischen Exegeten und die anderen Vertreter der theologischen Wissenschaft müssen in eifriger Zusammenarbeit sich darum mühen, unter Aufsicht des kirchlichen Lehramts mit passenden Methoden die göttlichen Schriften so zu erforschen und auszulegen, daß möglichst viele Diener des Wortes in den Stand gesetzt werden, dem Volke Gottes mit wirklichem Nutzen die Nahrung der Schriften zu reichen, die den Geist erleuchtet, den Willen stärkt und die Menschenherzen zur Gottesliebe entflammt«.[150]

Bibel und Ökumene

46. Im Bewußtsein, daß die Kirche ihr Fundament in Christus besitzt, dem fleischgewordenen Wort Gottes, hat die Synode die Zentralität des Bibelstudiums im ökumenischen Dialog hervorgehoben, im Hinblick auf den vollkommenen Ausdruck der Einheit aller Gläubigen in Christus.[151] In der Schrift selbst finden wir ja das an den Vater gerichtete innige Gebet Jesu, daß seine Jünger alle eins sein sollen, damit die Welt glaubt (vgl. Joh 17,21). All das bestärkt uns in der Überzeugung, daß das gemeinsame Hören und Meditieren der Schrift uns eine reale, wenn auch noch nicht volle Gemeinschaft leben läßt,[152] denn »das gemeinsame Hören der Schriften führt zum Dialog der Liebe und läßt den Dialog der Wahrheit wachsen«.[153] Gemeinsam das Wort Gottes hören; die lectio divina der Bibel halten; sich überraschen lassen von der Neuheit des Wortes Gottes, die nie alt wird und sich nie erschöpft; unsere Taubheit für jene Worte überwinden, die nicht mit unseren Meinungen oder Vorurteilen übereinstimmen; hören und studieren in der Gemeinschaft der Gläubigen aller Zeiten – all das stellt einen Weg dar, der beschritten werden muß, um die Einheit im Glauben zu erreichen, als Antwort auf das Hören des Wortes.[154] In diesem Sinn waren die Worte des Zweiten Vatikanischen Konzils wirklich erhellend: So »ist die Heilige Schrift gerade beim [ökumenischen] Dialog ein ausgezeichnetes Werkzeug in der mächtigen Hand Gottes, um jene Einheit zu erreichen, die der Erlöser allen Menschen anbietet«.[155] Es ist daher gut, das Wort Gottes intensiver zu studieren, sich stärker mit ihm auseinanderzusetzen und unter Wahrung der geltenden Normen und der verschiedenen Traditionen die ökumenischen Wortgottesdienste zu vermehren.[156] Diese liturgischen Feiern nutzen der Ökumene, und wenn sie in ihrer wirklichen Bedeutung erlebt werden, stellen sie tiefe Momente echten Gebetes dar, um Gott zu bitten, den ersehnten Tag, an dem wir alle am selben Mahl teilhaben und aus demselben Kelch trinken können, bald herbeizuführen. Im Rahmen einer richtigen und lobenswerten Förderung dieser Momente muß jedoch darauf geachtet werden, daß sie den Gläubigen nicht als Ersatz für die Teilnahme an der Heiligen Messe angeboten werden, die unter das Sonntagsgebot fällt.

Innerhalb dieser Tätigkeit, die das Studium und das Gebet betrifft, sehen wir, sachlich betrachtet, daß es auch Aspekte gibt, die noch vertieft werden müssen und in denen wir noch voneinander entfernt sind, wie zum Beispiel das Verständnis der Kirche als maßgebliches Subjekt der Auslegung und die entscheidende Rolle des Lehramts.[157]

Außerdem möchte ich hervorheben, was die Synodenväter über die Bedeutung gesagt haben, die den Übersetzungen der Bibel in die verschiedenen Sprachen im Rahmen dieser ökumenischen Arbeit zukommt. Wir wissen, daß die Übersetzung eines Textes keine rein mechanische Arbeit ist, sondern in gewissem Sinne zur Auslegung gehört. In diesem Zusammenhang hat der ehrwürdige Diener Gottes Papst Johannes Paul II. gesagt: »Wer sich erinnert, wie sehr die Debatten rund um die Heilige Schrift besonders im Abendland die Spaltungen beeinflußt haben, vermag zu erfassen, was für einen beachtlichen Fortschritt diese Gemeinschaftsübersetzungen darstellen«.[158] Darum ist die Förderung der Gemeinschaftsübersetzungen der Bibel Teil der ökumenischen Arbeit. Ich möchte an dieser Stelle allen danken, die diese wichtige Verantwortung übernommen haben, und sie ermutigen, ihr Werk fortzusetzen.

Konsequenzen für die Ausrichtung der theologischen Studien

47. Aus einer angemessenen Hermeneutik des Glaubens ergibt sich noch eine weitere Konsequenz: Es muß gezeigt werden, was sie für die exegetische und theologische Ausbildung insbesondere der Priesteramtskandidaten bedeutet. Es muß dafür gesorgt werden, daß das Studium der Heiligen Schrift wirklich die Seele der Theologie ist, da man in ihr das Wort Gottes erkennt, das heute an die Welt, an die Kirche und an jeden persönlich gerichtet ist. Wichtig ist, daß die in der Nr. 12 der dogmatischen Konstitution Dei Verbum genannten Kriterien wirklich berücksichtigt und vertieft werden. Es muß vermieden werden, einen Wissenschaftsbegriff aufrechtzuerhalten, demzufolge die wissenschaftliche Forschung der Schrift gegenüber einen neutralen Standpunkt einnimmt. Darum ist es notwendig, daß die Studenten zusammen mit dem Studium der Sprachen, in denen die Bibel geschrieben wurde, und der entsprechenden Auslegungsmethoden ein tiefes geistliches Leben pflegen, um zu verstehen, daß man die Schrift nur erfassen kann, wenn man sie lebt.

Aus dieser Sicht heraus empfehle ich, daß das Studium des überlieferten und niedergeschriebenen Wortes Gottes stets in einem zutiefst kirchlichen Geist geschehen soll. Zu diesem Zweck müssen in der akademischen Ausbildung die Beiträge des Lehramts zu diesen Themen gebührend berücksichtigt werden. »Das Lehramt ist nicht über dem Wort Gottes, sondern dient ihm, indem es nichts lehrt, als was überliefert ist, weil es das Wort Gottes aus göttlichem Auftrag und mit dem Beistand des Heiligen Geistes voll Ehrfurcht hört, heilig bewahrt und treu auslegt«.[159] Es muß also darauf geachtet werden, daß die Studien in Anerkennung der Tatsache stattfinden, daß »die Heilige Überlieferung, die Heilige Schrift und das Lehramt der Kirche gemäß dem weisen Ratschluß Gottes so miteinander verknüpft und einander zugesellt sind, daß keines ohne die anderen besteht«.[160] Ich wünsche daher, daß das Studium der in der Gemeinschaft der Universalkirche ausgelegten Heiligen Schrift, der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils entsprechend, wirklich die Seele der Theologie sein möge.[161]

Die Heiligen und die Auslegung der Schrift

48. Die Auslegung der Heiligen Schrift bliebe unvollständig, wenn sie nicht auch jene anhörte, die wirklich das Wort Gottes gelebt haben, also die Heiligen:[162] »Viva lectio est vita bonorum«.[163] Die tiefste Auslegung der Schrift kommt in der Tat von jenen, die sich durch das Wort Gottes – im Hören, im Lesen und in der ständigen Betrachtung – formen ließen.

Es ist gewiß kein Zufall, daß die großen Spiritualitäten, welche die Kirchengeschichte gezeichnet haben, aus einer ausdrücklichen Bezugnahme auf die Schrift heraus entstanden sind. Ich denke zum Beispiel an den heiligen Abt Antonius, den das Wort Christi bewegte: »Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib das Geld den Armen; so wirst du einen bleibenden Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach« (Mt 19,21).[164] Nicht weniger eindrücklich fragt der hl. Basilius der Große sich in seinem Werk Moralia: »Was macht den Glauben aus? Die volle und zweifelsfreie Gewißheit der Wahrheit der von Gott inspirierten Worte« … »Was macht den Gläubigen aus? Durch jene volle Gewißheit der Bedeutung der Worte der Schrift gleichgestaltet zu werden ohne zu wagen, etwas wegzunehmen oder hinzuzufügen«.[165] Der hl. Benedikt verweist in seiner Regel auf die Schrift als »verläßliche Wegweisung für das menschliche Leben«.[166] Als der hl. Franz von Assisi – so Thomas von Celano – hörte, daß die Jünger Christi »weder Gold noch Silber, noch Geld besitzen dürfen, keine Vorratstasche, kein Brot und keinen Wanderstab mit auf den Weg nehmen und weder Schuhe noch zwei Hemden haben sollten … wurde er sogleich von der Freude im Heiligen Geist erfüllt und rief: „Das ist es, was ich begehre, worum ich bitte, das zu tun ich von ganzem Herzen ersehne!“«.[167] Die hl. Klara von Assisi greift voll und ganz die Erfahrung des hl. Franziskus auf, wenn sie schreibt: »Die Lebensweise des Ordens der Armen Schwestern … ist diese: Das heilige Evangelium unseres Herrn Jesus Christus zu befolgen«.[168] Der hl. Dominikus de Guzmán »erwies sich überall, in den Worten wie in den Werken, als ein Mann des Evangeliums«,[169] und er wollte, daß auch seine Brüder im Predigerorden »Männer des Evangeliums« sein sollten.[170] Die hl. Theresia von Jesus, die in ihren Schriften ständig auf biblische Bilder Bezug nimmt, um ihre mystische Erfahrung zu beschreiben, erinnert daran, daß Jesus selbst ihr offenbart, daß »alles Übel der Welt daher kommt, daß man die Wahrheit der Heiligen Schrift nicht deutlich kennt«.[171] Die hl. Thérèse vom Kinde Jesu findet die Liebe als ihre persönliche Berufung, indem sie die Schriften erforscht, insbesondere die Kapitel 12 und 13 des Ersten Korintherbriefs.[172] Die Heilige selbst beschreibt die Anziehungskraft der Schrift: »Sobald sich mein Blick auf das Evangelium richtet, atme ich sofort den Wohlgeruch des Lebens Jesu ein und weiß, wohin ich mich wenden soll«.[173] Jeder Heilige ist wie ein Lichtstrahl, der vom Wort Gottes ausgeht: So denken wir auch an den hl. Ignatius von Loyola in seiner Suche nach der Wahrheit und in der geistlichen Entscheidungsfindung; an den hl. Johannes Bosco in seiner Leidenschaft für die Erziehung der Jugend; an den hl. Johannes Maria Vianney in seinem Bewußtsein um die Größe des Priestertums als Gabe und Aufgabe; an den hl. Pio von Pietrelcina als Werkzeug der göttlichen Barmherzigkeit; an den hl. Josemaría Escrivá in seiner Verkündigung des universalen Rufs zur Heiligkeit; an die sel. Teresa von Kalkutta, Missionarin der Nächstenliebe Gottes für die Ärmsten der Armen, bis hin zu den Märtyrern des Nationalsozialismus und des Kommunismus, auf der einen Seite vertreten durch eine Karmelitin, die hl. Theresia Benedicta vom Kreuz (Edith Stein), und auf der anderen durch den Kardinalerzbischof von Zagreb, den sel. Alois Stepinac.

49. Die Heiligkeit in bezug auf das Wort Gottes gehört also gewissermaßen zur prophetischen Überlieferung, in der das Wort Gottes das Leben des Propheten selbst in den Dienst nimmt. In diesem Sinne stellt die Heiligkeit in der Kirche eine Hermeneutik der Schrift dar, der sich niemand entziehen kann. Der Heilige Geist, der die heiligen Autoren inspiriert hat, ist derselbe, der auch die Heiligen antreibt, das Leben für das Evangelium hinzugeben. In ihre Schule zu gehen ist ein sicherer Weg, um zu einer lebendigen und wirkkräftigen Hermeneutik des Wortes Gottes zu gelangen.

Von dieser Verbindung zwischen dem Wort Gottes und der Heiligkeit wurde uns auf der XII. Generalversammlung der Bischofssynode unmittelbar Zeugnis gegeben, als am 12. Oktober auf dem Petersplatz die Kanonisierung von vier neuen Heiligen stattfand. Es waren der Priester Gaetano Errico, der Gründer der Kongregation der Missionare von den Heiligsten Herzen Jesu und Mariä; Mutter Maria Bernarda Bütler, die aus der Schweiz gebürtige Missionarin in Ecuador und in Kolumbien; Schwester Alfonsa von der Unbefleckten Empfängnis, die erste in Indien geborene kanonisierte Heilige, und die junge Ecuadorianerin Narcisa de Jesús Martillo Morán. Durch ihr Leben haben sie in der Welt und der Kirche Zeugnis abgelegt von der immerwährenden Fruchtbarkeit des Evangeliums Christi. Bitten wir den Herrn, daß durch die Fürsprache dieser Heiligen, die gerade in den Tagen der Synodenversammlung über das Wort Gottes heiliggesprochen wurden, unser Leben jener »gute Boden« sein möge, auf den der göttliche Sämann das Wort säen kann, auf daß es in uns Frucht der Heiligkeit bringe, »dreißigfach, ja sechzigfach und hundertfach« (Mk 4,20).


[84]  Breviloquium, Prol.,Opera Omnia, V, Quaracchi 1891, S. 201-202.
[85]  Summa Theologiae, Ia-IIae, q. 106, a. 2.
[86] Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation der Bibel in der Kirche (15. April 1993), III,A,3: Ench. Vat. 13, Nr. 3035.
[87] Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei Verbum, 12.
[88]  Contra epistolam Manichaei quam vocant fundamenti, V,6: PL 42, 176.
[89] Vgl. Benedikt XVI., Generalaudienz (14. November 2007): L’Osservatore Romano (dt.), 23. November 2007, S. 2.
[90]  Commentariorum in Isaiam libriProl.: PL 24, 17.
[91]  Epistula 52, 7: CSEL 54, S. 426.
[92] Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation der Bibel in der Kirche (15. April 1993), II,A,2: Ench. Vat. 13, Nr. 2988.
[93]  Ebd., II,A,2: Ench.Vat. 13, Nr. 2991.
[94]  Homiliae in Ezechielem I,VII,8: PL 76, 843D.
[95] Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei Verbum, 24; vgl. Leo XIII., EnzyklikaProvidentissimus Deus (18. November 1893), Pars II, sub fineASS 26 (1893-94), 269-292; Benedikt XV., Enzyklika Spiritus Paraclitus (15. September 1920), Pars IIIAAS 12 (1920), 385-422.
[96] Vgl. Propositio 26.
[97] Vgl. Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation der Bibel in der Kirche (15. April 1993), A-B: Ench. Vat. 13, Nrn. 2846-3150.
[98] Benedikt XVI., Beitrag auf der XIV. Generalkongregation der Synode (14. Oktober 2008)L’Osservatore Romano (dt.), 31. Oktober 2008, S. 19; vgl. Propositio 25.
[100] Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei Verbum, 10.
[101] Vgl. Johannes Paul II., Ansprache anläßlich des 100. Jahrestages der Enzyklika Providentissimus Deus und des 50. Jahrestagesder Enzyklika Divino Afflante Spiritu (23. April 1993): AAS 86 (1994), 232-243.
[102]  Ebd., Nr. 4: AAS 86 (1994), 235.
[103]  Ebd., Nr. 5: AAS 86 (1994), 235.
[104]  Ebd., Nr. 5: AAS 86 (1994), 236.
[105] Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation der Bibel in der Kirche (15. April 1993), III,C,1: Ench. Vat. 13, Nr. 3065.
[106] Nr. 12.
[107] Benedikt XVI., Beitrag auf der XIV. Generalkongregation der Synode (14. Oktober 2008)L’Osservatore Romano (dt.), 31. Oktober 2008, S. 19; vgl. Propositio 25.
[108] Vgl. Propositio 26.
[109]  Propositio 27.
[110] Benedikt XVI., Beitrag auf der XIV. Generalkongregation der Synode (14. Oktober 2008)L’Osservatore Romano (dt.), 31. Oktober 2008, S. 19; vgl. Propositio 26.
[111] Vgl. ebd.
[112]  Ebd.
[113] Vgl. Propositio 27.
[114] Benedikt XVI., Beitrag auf der XIV. Generalkongregation der Synode (14. Oktober 2008)L’Osservatore Romano (dt.),
31. Oktober 2008, S. 19.
[115] Johannes Paul II., Enzyklika Fides et ratio (14. September 1998), 55: AAS 91 (1999), 49-50.
[117] Vgl. Propositio 6.
[118] Vgl. Augustinus, De libero arbitrio, III,XXI,59: PL 32, 1300; De Trinitate, II,1,2: PL 42, 845.
[119] Kongregation für das katholische Bildungswesen, Instr. Inspectis dierum (10. November 1989),26: AAS 81 (1990), 618.
[121]  Summa Theologiae, I, q. 1, a. 10, ad 1.
[123] Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation der Bibel in der Kirche (15. April 1993), II,A,2: Ench. Vat. 13, Nr. 2987.
[124]  Ebd., II,B,2: Ench. Vat. 13, Nr. 3003.
[126]  Ebd.
[127] Vgl. Benedikt XVI., Generalaudienz (9. Januar 2008)L’Osservatore Romano (dt.), 18. Januar 2008, S. 2.
[128] Vgl. Propositio 29.
[129]  De arca Noe, 2,8: PL 176, 642C-D.
[131] Vgl. Propositio 10; Päpstliche Bibelkommission, Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel (24. Mai 2001), 3-5: Ench. Vat. 20, Nrn. 748-755.
[132] Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 121-122.
[133]  Propositio 52.
[134] Vgl Päpstliche Bibelkommission, Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel (24. Mai 2001), 19: Ench. Vat. 20, Nrn. 799-801; Origenes, Homiliae in Numeros 9,4: SC 415,238-242.
[136]  Ebd., 129.
[137]  Propositio 52.
[138]  Quaestiones in Heptateuchum, 2,73: PL 34, 623.
[139]  Homiliae in Ezechielem, I,VI,15: PL 76, 836.
[140]  Propositio 29.
[141] Johannes Paul II., Botschaft an den Oberrabbiner von Rom (22. Mai 2004): L’Osservatore Romano (dt.), 4. Juni 2004, S. 7.
[142] Päpstliche Bibelkommission, Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel (24. Mai 2001), 87: Ench. Vat.20, Nr. 1150.
[143] Vgl. Benedikt XVI., Ansprache bei der Abschiedszeremonie auf dem Internationalen Flughafen »Ben Gurion« in Tel Aviv (15. Mai 2009)L’Osservatore Romano (dt.), 22. Mai 2009, S. 15.
[144] Johannes Paul II., Ansprache im Oberrabinat »Hechal Shlomo« (23. März 2000): L’Osservatore Romano (dt.), 7. April 2000, S. 9.
[145] Vgl. Propositiones 46.47.
[146] Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation der Bibel in der Kirche (15. April 1993), I,F: Ench. Vat. 13, Nr. 2974.
[148]  Propositio 46.
[149]  Propositio 28.
[150] Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei Verbum, 23.
[151] Es ist jedoch anzumerken, daß Katholiken und Orthodoxe, was die sogenannten deuterokanonischen Bücher des Alten Testaments und ihre Inspiration betrifft, nicht genau denselben Bibelkanon haben wie Anglikaner und Protestanten.
[152] Vgl. Relatio post disceptationem, 36.
[153]  Propositio 36.
[154] Vgl. Benedikt XVI., Ansprache an die Mitglieder des Ordentlichen Rates des Generalsekretariats der Bischofssynode (25. Januar 2007): AAS 99 (2007), 85-86.
[155] Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 21.
[156] Vgl. Propositio 36.
[157] Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei Verbum, 10.
[158] Enzyklika Ut unum sint (25. Mai 1995), 44: AAS 87 (1995),947.
[159] Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei Verbum, 10.
[160]  Ebd.
[161] Vgl. ebd., 24.
[162] Vgl. Propositio 22.
[163] Gregor der Große, Moralia in Job, XXIV,VIII,16:
PL 76, 295.
[164] Vgl. Athanasius, Vita Antonii, II: PL 73, 127.
[165] Regula LXXX, XXII: PG 31, 867.
[166]  Regel, 73,3: SC 182, 672.
[167] Thomas von Celano, Vita prima Sancti Francisci, IX, 22: FF 356.
[168]  Regula, I,1-2: FF 2750.
[169] Jordan von Sachsen, Libellus de principiis Ordinis Praedicatorum, 104: Monumenta Fratrum Praedicatorum Historica, Rom 1935, 16, S. 75.
[170] Predigerorden, Erste Konstitutionen oder Consuetudines, II, XXXI.
[171]  Leben 40,1.
[172] Vgl. Geschichte einer Seele, Ms B, 3r o.
[173]  Ebd., Ms C, 35v o.

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Quelle

Benedikt XVI. versetzt Moderne Theologie und seine Vorgänger in Rotation

Historische Begegnung am 17. Januar 2010: Rabbi Elio Toaff und Papst Benedikt XVI vor der Synagoge in Rom Foto: Vatican Media / CPP

Mater ecclesiae hält die katholische Welt in Bewegung

Von René Udwari

Er hat es schon wieder getan. Er ist alt, emeritiert, längst „abgeschrieben“ und noch immer rührt er sich. Noch immer publiziert er, längst im Ruhestand und außer Dienst, kontrovers zu Themen, die den Neu-Theologen und Feuilletonisten Europas und Nordamerikas heilige Kühe sind. Und moduliert, für einen „Mozart der Theologie“ eigentlich schon viel zu alt, vorsichtig und behutsam die Begriffe und Schlüsse der modernen Theologie, um sie nahezu unbemerkt in die Richtung der katholischen Theologie aller Zeiten zu schubsen.

Es scheint, als ob Papa emeritus Benedikt XVI. seine journalistischen und theologischen Widersacher in Schrecken versetzt. Gefährlich sei es, unter Ratzingers theologischen Konstruktionen als Theologenkollege hindurchzuschreiten, raunt es aus dem bergischen Off.

Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ muss ihn mittlerweile entweder für heiligmäßig oder für den Leibhaftigen halten. Sie traut ihm jedenfalls Wunder zu. Denn nach Ansicht ihres Kommentators ist es Benedikt XVI. zu verdanken, dass sein heimgegangener Vorgänger im Petrusamt nun im Grab rotiere (FAZ vom 18.7.2018). Die Ruhe an der Grabstelle in der St.-Sebastian-Kapelle des Petersdomes ergibt jedoch, dass der Kommentator hier metaphorisch zum Ausdruck bringen wollte, dass Johannes Paul II. sicher nicht einverstanden gewesen wäre mit einem Text seines Nachfolgers, der in diesem Sommer in der theologischen Zeitschrift „Communio“ veröffentlicht wurde.

Benedikt XVI. setzt sich in dem Text mit dem Verhältnis von katholischer Kirche und Judentum auseinander. Der Aufsatz nimmt kritisch die katholische Position zum jüdisch-christlichen Verhältnis und deren Begründung auf katholischer Seite auseinander, so wie sich beide in der Zeit nach der Erklärung Nostra Aetate entwickelt haben.

Wie bereits nach der Zulassung der Karfreitagsfürbitte im römischen Ritus ist weniger der Inhalt des Aufsatzes, sondern vielmehr die Person Benedikts XVI. selbst unter Beschuss. Theologen und Journalisten sind auf der Pirsch, um den Papst, der im Paradiesgarten des interreligiösen Dialogs wildern gegangen ist, zur Strecke zu bringen. Es nützt ihm nichts, dass er jetzt und früher schon den Antisemitismus ausdrücklich verdammt und mit dem christlichen Glauben für unvereinbar erklärt hat. Es nützt ihm nichts, dass er nur Nuancen in den theologischen Sätzen, die das katholische Verständnis des Verhältnisses von Kirche und Judentum definieren, anders beurteilt. Diese Nuancen streben zu der von Benedikt XVI. propagierten „Hermeneutik der Kontinuität,“ die in den Dokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils die ununterbrochene Fortsetzung der katholischen Lehrtradition sehen will.

Ob und inwieweit dies überhaupt denkbar ist, ist innerhalb der verschiedenen theologischen Positionen umstritten. Wer diese Kontinuität behauptet, muss die auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil gewachsenen Texte aber auch an die beständige Lehre, dass „außerhalb der Kirche kein Heil“ besteht, anknüpfen können. Denn immerhin hat das Konzil von Florenz 1441 den schon von dem Heiligen Cyprian von Karthago (gest. 258) geprägten Satz zum Dogma erhoben. Das darf also als katholische Tradition gelten. Seither wird dieses Dogma wenigstens so verstanden, dass im Himmel alle katholisch sind, dass also auch Nicht-Katholiken wenigsten im allerletzten Moment Ihres Lebens dem dreifaltigen Gott, den die Kirche verkündet, und vor allem „Christus, dem Retter aller Menschen“ (so wie es die geschmähte Neufassung der Karfreitagsfürbitte formuliert) gegenüberstehen und sich für oder gegen ihn entscheiden.

Alles anders und vor allem besser?

Wer die Aussagen des Zweiten Vatikanische Konzils als Bruch mit der Tradition deutet, der kann freilich die These aufstellen, dass insbesondere mit der durch Papst Paul VI. verkündeten Erklärung Nostra Aetate im Verhältnis der Kirche zu anderen Religionsgemeinschaften mit einem Schlag alles anders und vor allem besser geworden sei. Hinsichtlich des Judentums würdigt diese Erklärung die Gemeinsamkeiten zwischen den Heiligen Schriften beider Religionen und enthält die Aussage, dass man die Juden allgemein nicht als „verworfen“ bezeichnen dürfe.

Papst Johannes Paul II. sprach später von einem „nie gekündigten Bund“ Gottes mit dem Volk Israel. Dieses Wort legt die Messlatte für kirchliche Diskussion zum jüdisch-katholischen Dialog hoch. Darauf hat sich als Stück der neu-theologischen Allgemeinbildung der Satz entwickelt, dass die Kirche nicht, wie früher häufig vertreten, den Sinai-Bund Gottes mit Israel abgelöst habe.

Dass Vertreter des Judentums auf diese Messlatte nicht verzichten wollen und darauf beharren, dass die Kirche über dieses Stöckchen springt, ist nicht verwunderlich. Erwarten nicht auch Katholiken von jedwedem Bischof, dass er von anderen Religionsgemeinschaften Rücksichtnahme fordert und den Glauben gegenüber den Lehren dieser anderen Religionen als wahr behauptet? Die, teils auch lautstarke und polemische, Kritik an dem Text von Seiten des Judentums ist daher als Teilnahme an einem echten Dialog, in dem beiden Seiten ihre Meinung mitteilen, deutlich zu begrüßen. Verwunderlich sind die Reaktionen auf Seiten der Theologen, die Benedikt XVI. nun wieder einmal des Antisemitismus bezichtigen.

Unschärfe der bisherigen Diskussion

Mit seinem Aufsatz zum Verhältnis von Kirche und Judentum bleibt Benedikt XVI. auf dem Boden dieser „Allgemeinbildung,“ wenn er sich hinter die These stellt, dass Israel nicht durch die Kirche als neuen Bund Gottes mit den Menschen ersetzt wurde. Er kritisiert jedoch die Unschärfe der bisherigen Diskussion und des Gebrauch der Begrifflichkeiten. Er merkt an, dass die moderne Theologie eine frühere, „vorkonziliare“ Substitutionstheorie behauptet, die sich als einheitliche Lehre und unter diesem Begriff aber nicht nachweisen lasse.

Der Begriff des „nie gekündigten Bundes“ zwischen Gott und den Juden sei ebenfalls zu undifferenziert für den theologischen Gebrauch und müsse geschärft werden. Der Aufsatz erwähnt auch die Tempelzerstörung und die Diaspora der Juden. Katholische Theologen nehmen nun zum Anlass, hieraus die Fundamente einer christlichen Rechtfertigung des Antisemitismus zu lesen. Blind sei Benedikt XVI. gegenüber der „Ideologiegeschichte“ seiner Kirche, so Gregor Maria Hoff. Als sei die Kirche ein Weltanschaulicher Verein, der an einer Ideologie bastele. Diese Argumentation wird weder der Person des angegriffenen noch dem Wesen der Theologie gerecht.

Sicher ist die Standortbestimmung für die katholische Kirche in ihrem Verhältnis zum Judentum in der öffentlichen Debatte nicht einfach, da Grob-Historiker und anti-kirchlich eingestellte Meinungsmacher mit wohlfeiler Vereinfachung sämtliches Unrecht, dass Juden in christlichen Gesellschaften durch christliche Laien und durch weltliche Autoritäten widerfahren ist der Kirche anlasten, bis hin zum Judenhass der Nationalsozialisten.

Die Sorge einiger Theologen, dass negative Aussagen des kirchlichen Lehramts über das Judentum an sich dem Hass auf einzelne Menschen oder Menschengruppen Vorschub leisten könnten, ist einerseits anhand der historischen Tatsachen verständlich. Andererseits ist nicht auf den ersten Blick nachvollziehbar, warum katholische Theologen nicht deutlich die kirchliche Verdammung der Gewalt gegen Juden unterstreichen und stattdessen katholische Aussagen zur Abgrenzung von Glaubensinhalten in beiden Religionen in einen Topf schmeißen mit rassistischem Gedankengut und Menschenhass. Es ist unverständlich, weshalb Geschichtsforschung und Überlegungen zur Heilsgeschichte miteinander vermengt werden. Der Vorwurf an Text Benedikts XVI., genau dies getan zu haben, als er die Einschränkungen des „nie gekündigten Bundes“ in Zusammenhang mit Diaspora und Tempel erwähnt, fällt also auf seine Kritiker zurück.

Dem Verständnis, warum die theologische Ebene für die Kritik an Benedikt XVI. nicht ausreicht, mag der Gedanke nachhelfen, dass es hier nur vordergründig um ein konkretes, heikles theologisches Detail geht und dass im Hintergrund vielmehr der Relativismus und katholische Theologie im Ganzen miteinander ringen.

Man muss noch nicht einmal zur Frage, wie die Kirche zum Judentum steht und wie Katholiken sich gegenüber Juden verhalten sollen (Stichwort: „Judenmission“) gelangen, um Zeuge dieses Ringkampfes zu sein. Schon bei der Frage, für wie verbindlich die Kirche den katholischen Glauben hält („extra ecclesia salus non est„) würde Benedikt der XVI. nach in den Augen seiner Kritiker seine Amtsvorgänger seit Paul VI. im Grab rotieren lassen. Da sei es schon verwerflich, als Christ und Katholik Gottes Bund mit Israel mit Fokus auf Christus zu deuten. Theologische Giganten wie Michael Böhnke sitzen zu Gericht und stempeln Ratzinger zum theologischen Zwerg, weil seine Dogmatik nicht „im Dienst der Versöhnung“ steht.

Dass der katholische Glaube die Versöhnung des Menschen mit Gott verkündet, und dass die Kirche diese Versöhnung zuerst anstreben muss, bevor man über Dialog und Versöhnung mit anderen Religionsgemeinschaften nachdenkt, ist bei diesem Urteilsspruch unerheblich. Erheblich und Maßstab sollen „der Geist des Konzils“ und „der christlich-jüdische Dialog“ sein. Eine Anknüpfung an die katholische Lehrtradition und überhaupt nur die Suche nach ihr darf es daher nicht geben. „Teuflisch“ sei Ratzingers wirken daher, urteilt der selbsternannte Richter Böhnke.

Solche Pamphlete entziehen sich einer sachlichen Kritik. Interessant wird stattdessen sein, ob die wissenschaftlich fundierte und sachlich vorgetragene Kritik, die auf Schwachstellen in der Argumentation Benedikts XVI. hinweist und gleichzeitig die progressive Auslegung der Erklärung Nostra Aetatevorantreiben will (z.B. Pater Christian Rutishauser SJ), tonangebend bleibt oder ob sich weitere Stimmen unter den Theologen mit Benedikt auf die Suche nach der Harmonie der Tradition begeben. Das gäbe der Verständigung zwischen katholischer Kirche und Judentum die Chance, zu einem spannenden Dialog zu werden, in dem sich tatsächlich beide Seiten etwas zu sagen haben. Es wäre auch die Chance, innerhalb der Theologie einen echten Dialog über Bruch und Kontinuität anzustellen.

René Udwari ist Rechtsanwalt. Er ist in Frankfurt am Main und Köln tätig.

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Quelle

»Die Bibel beschäftigt sich nicht mit den Einzelheiten der physischen Welt, deren Kenntnis der Erfahrung und dem Nachdenken des Menschen anvertraut wird.«

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ANSPRACHE VON JOHANNES PAUL II.
AN DIE TEILNEHMER DER VOLLVERSAMMLUNG DER
PÄPSTLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN

31. Oktober 1992

 

Meine Herren Kardinäle, Exzellenzen,
meine Damen und Herren!

1. Der Abschluß der Vollversammlung der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften bietet mir die willkommene Gelegenheit, ihre ehrenwerten Mitglieder zu treffen in Anwesenheit meiner wichtigsten Mitarbeiter und der Chefs der diplomatischen Missionen, die beim Heiligen Stuhl akkreditiert sind. Allen gilt mein herzlicher Gruß. Meine Gedanken richten sich in dieser Stunde an Professor Marini-Bettólo, der aus Krankheitsgründen nicht unter uns weilen kann; ich wünsche ihm von Herzen alles Gute für baldige Genesung und versichere ihn meines Gebetes.

Begrüßen möchte ich ferner jene Persönlichkeiten, die zum erstenmal an eurer Akademie teilnehmen; ich danke ihnen, daß sie zugestimmt haben, zu euren Arbeiten mit ihrem Fachwissen beizutragen.

Ferner begrüße ich gern den hier anwesenden Professor Adi Shamir, Professor am »Weizmann-Institut der Wissenschaften« in Rehovot (Israel), dem die Akademie die Goldmedaille Pius’ XI. verliehen hat. Ich spreche ihm zugleich meine herzlichsten Glückwünsche aus.

Auf zwei Themen ist heute unsere Aufmerksamkeit gerichtet. Sie sind eben fachkundig vorgestellt worden, und ich möchte Kardinal Paul Poupard und Pater George Coyne für ihre Darlegungen danken.

2. An erster Stelle möchte ich die Päpstliche Akademie der Wissenschaften dazu beglückwünschen, daß sie auf ihrer Vollversammlung ein ebenso wichtiges wie aktuelles Thema behandeln wollte: nämlich die komplexen Verhältnisse auf den Gebieten der Mathematik, Physik, Chemie und Biologie.

Das Thema der komplexen Verhältnisse bedeutet wahrscheinlich in der Geschichte der Naturwissenschaften einen ebenso wichtigen Abschnitt wie jener, der mit dem Namen Galilei verbunden ist. Damals glaubte man, man müsse ein eindeutiges Ordnungsmodell vorlegen. Die komplexen Verhältnisse weisen aber gerade darauf hin, daß wer den Reichtum der Wirklichkeit berücksichtigen möchte, notwendig eine Vielzahl von Modellen braucht.

Diese Feststellung wirft eine Frage auf, die Naturwissenschaftler, Philosophen und Theologen gleichermaßen anspricht: Wie soll man die Erklärung der Welt – ausgehend von den elementaren Seinsformen und Erscheinungen — mit der Anerkennung der Tatsache verbinden, daß »das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile«?

Will der Wissenschaftler streng und formal die Erfahrungstatsachen beschreiben, ist er gezwungen, auf über die strenge Wissenschaft hinausreichende Begriffe zurückzugreifen, deren Verwendung gleichsam von der Logik seines Vorgehens gefordert ist. Natürlich muß die Natur dieser Begriffe exakt verdeutlicht werden, denn sonst gelangt man zu unangemessenen Grenzüberschreitungen, die die streng wissenschaftlichen Entdeckungen mit einer Weltanschauung oder ideologischen oder philosophischen Aussagen verknüpft, die keineswegs streng dazugehören. Hier wird erneut die Wichtigkeit der Philosophie deutlich, die sowohl die Erscheinungen als auch ihre Deutung in Betracht zieht.

3. Denken wir zum Beispiel an die Erarbeitung neuer wissenschaftlicher Theorien, die das Leben erklären sollen. Streng methodisch darf man sie nicht unmittelbar im einheitlichen Rahmen der Wissenschaft deuten. Zumal wenn man jenes Leben, das der Mensch ist, und sein Gehirn betrachtet, darf man nicht sagen, diese Theorien würden für sich allein schon ein Ja oder Nein zur Geistseele bedeuten, oder auch, sie würden einen Beweis für die Lehre von der Schöpfung bieten oder im Gegenteil sie überflüssig machen.

Das Bemühen um weitere Deutung ist notwendig. Und eben dies ist die Aufgabe der Philosophie: die Suche nach dem globalen Sinn der Erfahrungen und Phänomene, die die Wissenschaften zusammengetragen und analysiert haben.

Die heutige Kultur erfordert ein ständiges Bemühen um eine Synthese der Erkenntnisse und eine Integration des Wissens. Gewiß verdanken wir der Spezialisierung der Forschungen sichtbare Erfolge. Doch wenn sie nicht durch ein aufmerksames Bedenken der verschiedenen Akzente des Wissens im Gleichgewicht gehalten wird, besteht die große Gefahr, eine »Kultur der Bruchstücke« zu erreichen, die tatsächlich einer Leugnung echter Kultur gleichkäme. Echte Kultur ist nämlich ohne Menschlichkeit und Weisheit nicht vorstellbar.

4. Ähnliche Anliegen hatte ich am 10. November 1979 aus Anlaß der ersten Jahrhundertfeier seit der Geburt von Albert Einstein, als ich vor dieser gleichen Akademie den Wunsch aussprach, »daß Theologen, Gelehrte und Historiker, vom Geist ehrlicher Zusammenarbeit beseelt, die Überprüfung des Falles Galilei vertiefen und in aufrichtiger Anerkennung des Unrechts, von welcher Seite es auch immer gekommen sein mag, das Mißtrauen beseitigen, das dieses Ereignis noch immer bei vielen gegen eine fruchtbare Zusammenarbeit von Glaube und Wissenschaft, von Kirche und Welt hervorruft« (AAS 71,1979, S. 1464–1465). Am 3. Juli 1981 wurde eine entsprechende Studienkommission eingesetzt. Nun aber, gerade im Jahr, wo der 350. Jahrestag des Todes von Galilei wiederkehrt, legt die Kommission nach Abschluß ihrer Arbeiten eine Reihe von Publikationen vor. Ich möchte Kardinal Poupard meine lebhafte Wertschätzung dafür aussprechen, daß er in der Abschlußphase die Forschungsergebnisse der Kommission koordiniert hat. Allen Fachleuten aber, die irgendwie an den Arbeiten der vier Gruppen dieser die Fächer übergreifenden Studien teilgenommen haben, spreche ich meine tiefe Genugtuung und meinen lebhaften Dank aus. Die in über zehn Jahren geleistete Arbeit entspricht einer vom Zweiten Vatikanischen Konzil erlassenen Weisung und läßt die verschiedenen wichtigen Punkte der Frage besser hervortreten. In Zukunft wird man die Ergebnisse der Kommission berücksichtigen müssen.

Vielleicht wird man sich darüber wundern, daß ich am Ende einer Studienwoche der Akademie zum Thema der Komplexität der verschiedenen Wissenschaften auf den Fall Galilei zurückkomme. Ist dieser Fall denn nicht längst abgeschlossen, und sind die begangenen Irrtümer nicht längst anerkannt?

Gewiß stimmt das. Doch die diesem Fall zugrundeliegenden Probleme betreffen sowohl die Natur der Wissenschaft wie die der Glaubensbotschaft. Es ist daher nicht auszuschließen, daß wir uns eines Tages vor einer analogen Situation befinden, die von beiden Teilen ein waches Bewußtsein vom eigenen Zuständigkeitsbereich und seinen Grenzen erfordern wird. Das Thema der Komplexität könnte dann einen Hinweis liefern.

5. Bei der Auseinandersetzung, in deren Mittelpunkt Galilei stand, ging es um eine doppelte Frage.

Die erste betrifft das Verstehen und die Hermeneutik der Bibel. Hier sind zwei Punkte zu betonen. Vor allem unterscheidet Galilei wie der Großteil seiner Gegner nicht zwischen dem wissenschaftlichen Zugang zu den Naturerscheinungen und der philosophischen Reflexion über die Natur, die sie im allgemeinen erfordern. Daher lehnte er den ihm nahegelegten Hinweis ab, das kopernikanische System bis zu seiner durch unwiderlegliche Beweise erwiesenen Geltung als Hypothese vorzutragen. Das war im übrigen eine Forderung seiner experimentellen Methode, die er genial eingeführt hatte.

Ferner war die geozentrische Darstellung der Welt in der Kultur der Zeit allgemein als vollkommen der Lehre der Bibel entsprechend anerkannt, in der einige Aussagen, wenn man sie wörtlich nahm, den Geozentrismus zu bestätigen schienen. Das Problem, welches sich die Theologen der Zeit stellten, war also die Übereinstimmung des Heliozentrismus mit der Heiligen Schrift. So zwang die neue Wissenschaft mit ihren Methoden und der Freiheit der Forschung, die sie voraussetzte, die Theologen, sich nach ihren Kriterien für die Deutung der Bibel zu fragen. Dem Großteil gelang dies nicht.

Merkwürdigerweise zeigte sich Galilei als aufrichtig Glaubender in diesem Punkte weitsichtiger als seine theologischen Gegner. Er schreibt an Benedetto Castelli: »Wenn schon die Schrift nicht irren kann, so können doch einige ihrer Erklärer und Deuter in verschiedener Form irren« (Brief vom 21. Dezember 1613, in der »Edizione nazionale delle Opere di Galileo Galilei«, hrsg. von A. FAVARO, Neuausgabe 1968, Band V, S. 282). (Im weiteren zitiert als: Werk. Bekannt ist ferner sein Brief an Christina von Lorena, 1615, der einem kleinen Traktat zur Hermeneutik der Bibel gleichkommt, ebd., S. 307–348).

6. Schon hier können wir eine Schlußfolgerung ziehen. Wenn eine neue Form des Studiums der Naturerscheinungen auftaucht, wird eine Klärung des Ganzen der Disziplinen des Wissens nötig. Sie nötigt sie zur besseren Abgrenzung ihres eigenen Bereiches, ihrer Zugangsweise und ihrer Methoden, wie auch der genauen Tragweite ihrer Schlußfolgerungen. Mit anderen Worten, dieses Neue verpflichtet jede Disziplin, sich genauer ihrer eigenen Natur bewußt zu werden.

Die vom kopernikanischen System hervorgerufene Umwälzung machte also eine Reflexion darüber notwendig, wie die biblischen Wissenschaften zu verstehen sind, ein Bemühen, das später überreiche Früchte für die modernen exegetischen Arbeiten bringen sollte, die ferner in der Konzilskonstitution Dei Verbum eine Bestätigung und neuen Impuls erhalten haben.

7. Die Krise, die ich eben angedeutet habe, ist nicht der einzige Faktor, der auf die Deutung der Bibel Auswirkungen gehabt hat. Wir berühren hier den zweiten, nämlich pastoralen Aspekt des Problems. Kraft der ihr eigenen Sendung hat die Kirche die Pflicht, auf die pastoralen Auswirkungen ihrer Predigt zu achten.

Vor allem muß klar sein: Diese Predigt muß der Wahrheit entsprechen. Zugleich muß man es verstehen, eine neue wissenschaftliche Tatsache zu berücksichtigen, wenn sie der Wahrheit des Glaubens zu widersprechen scheint. Das pastorale Urteil angesichts der Theorie des Kopernikus war in dem Maße schwierig zu formulieren, wie der Geozentrismus scheinbar selbst zur Lehre der Heiligen Schrift gehörte. Es wäre nötig gewesen, gleichzeitig Denkgewohnheiten zu überwinden und eine neue Pädagogik zu entwickeln, die dem Volk Gottes weiterhelfen konnte. Sagen wir es allgemein: Der Hirte muß wirklich kühn sein und sowohl eine unsichere Haltung, aber auch ein voreiliges Urteil vermeiden, da das eine wie das andere großen Schaden hervorrufen könnte.

8. Hier können wir an eine analoge Krise zu der erinnern, von der wir sprechen. Im vergangenen Jahrhundert und zu Beginn des unseren hat der Fortschritt der historischen Wissenschaften neue Kenntnisse über die Bibel und ihr Umfeld möglich gemacht. Der rationalistische Kontext aber, in dem die Ergebnisse meist dargestellt wurden, konnte sie für den christlichen Glauben schädlich erscheinen lassen. So dachten manche, die den Glauben verteidigen wollten, man müsse ernsthaft begründete historische Schlußfolgerungen abweisen. Das war aber eine voreilige und unglückliche Entscheidung. Das Werk eines Pioniers wie P. Lagrange verstand die notwendigen Unterscheidungen aufgrund sicherer Kriterien anzubieten.

Hier wäre das zu wiederholen, was ich oben gesagt habe. Es ist eine Pflicht der Theologen, sich regelmäßig über die wissenschaftlichen Ergebnisse zu informieren, um eventuell zu prüfen, ob sie diese in ihrer Reflexion berücksichtigen oder ihre Lehre anders formulieren müssen.

9. Wenn die heutige Kultur von einer Tendenz der Wissenschaftsgläubigkeit gekennzeichnet ist, war der kulturelle Horizont der Zeit des Galilei einheitlich und von einer besonderen philosophischen Bildung geprägt. Dieser einheitliche Charakter einer Kultur, der an sich auch heute positiv und wünschenswert wäre, war einer der Gründe für die Verurteilung des Galilei. Die Mehrheit der Theologen vermochte nicht formell zwischen der Heiligen Schrift und ihrer Deutung zu unterscheiden, und das ließ sie eine Frage der wissenschaftlichen Forschung unberechtigterweise auf die Ebene der Glaubenslehre übertragen.

Wie Kardinal Poupard dargelegt hat, war Robert Bellarmin, der die wirkliche Tragweite der Auseinandersetzung erkannt hatte, seinerseits der Auffassung, daß man angesichts eventueller wissenschaftlicher Beweise für das Kreisen der Erde um die Sonne »bei der Erklärung der Schriftstellen, die gegen (eine Bewegung der Erde) zu sprechen scheinen«, sehr vorsichtig sein und »vielmehr sagen müsse, wir möchten das, was bewiesen wird, nicht als falsch hinstellen« (Brief an R.A. Foscarini, 12. April 1615, vgl. zit. Werk, Band XII, S. 172). Vor ihm hatte die gleiche Weisheit schon den heiligen Augustinus schreiben lassen: »Wenn jemand die Autorität der Heiligen Schriften gegen einen klaren und sicheren Beweis ausspielen würde, fehlt ihm das Verständnis, und er stellt der Wahrheit nicht den echten Sinn der Schriften entgegen, er hat diesen vielmehr nicht gründlich genug erfaßt und durch sein eigenes Denken ersetzt, also nicht das, was er in den Schriften, sondern das, was er bei sich selber gefunden hat, dargelegt, als ob dies in den Schriften stände« (Brief 143, Nr. 7; PL 33, col. 588). Vor einem Jahrhundert hat Papst Leo XIII. diesen Gedanken in seiner Enzyklika Providentissimus Deus aufgegriffen: »Da eine Wahrheit unmöglich einer anderen Wahrheit widersprechen kann, darf man sicher sein, daß ein Irrtum in der Deutung der heiligen Worte oder bei einem anderen Diskussionsgegenstand nur behauptet wurde« (Leonis XIII Pont. Max., Acta, vol. XIII, 1894, S. 361).

Kardinal Poupard hat uns ebenfalls dargelegt, daß das Urteil von 1633 nicht unwiderruflich war und die weitergehende Auseinandersetzung erst 1820, und zwar mit dem Imprimatur für das Werk des Kanonikus Settele, geendet hat (vgl. Päpstliche Akademie der Wissenschaften, Copernico, Galilei e la Chiesa, Fine della controversia [1820]. Die Akten des Heiligen Offiziums wurden von W. Brandmüller und E.J. Greipl, Florenz, Olschki, 1992 herausgegeben).

10. Ausgehend vom Zeitalter der Aufklärung bis in unsere Tage, hat der Fall Galilei eine Art Mythos gebildet, in dem das dargelegte Bild der Ereignisse von der Wirklichkeit weit entfernt war. In dieser Perspektive war dann der Fall Galilei zum Symbol für die angebliche Ablehnung des wissenschaftlichen Fortschritts durch die Kirche oder des dogmatischen »Obskurantentums« gegen die freie Erforschung der Wahrheit geworden. Dieser Mythos hat in der Kultur eine erhebliche Rolle gespielt und dazu beigetragen, zahlreiche Männer der Wissenschaft in gutem Glauben denken zu lassen, der Geist der Wissenschaft und ihre Ethik der Forschung auf der einen Seite sei mit dem christlichen Glauben auf der anderen Seite unvereinbar. Ein tragisches gegenseitiges Unverständnis wurde als Folge eines grundsätzlichen Gegensatzes von Wissen und Glauben hingestellt. Die durch die jüngeren historischen Forschungen erbrachten Klärungen gestatten uns nun die Feststellung, daß dieses schmerzliche Mißverständnis inzwischen der Vergangenheit angehört.

11. Der Fall Galilei kann uns eine bleibend aktuelle Lehre sein für ähnliche Situationen, die sich heute bieten und in Zukunft ergeben können.

Zur Zeit des Galilei war eine Welt ohne physisch absoluten Bezugspunkt unvorstellbar. Und da der damals bekannte Kosmos sozusagen auf das Sonnensystem beschränkt war, konnte man diesen Bezugspunkt nicht entweder auf die Erde oder auf die Sonne verlegen. Heute hat keiner dieser beiden Bezugspunkte nach Einstein und angesichts der heutigen Kenntnis des Kosmos mehr die Bedeutung von damals. Diese Feststellung betrifft natürlich nicht die Stellungnahme des Galilei in der Auseinandersetzung; sie kann uns aber darauf hinweisen, daß es jenseits zweier einseitiger und gegensätzlicher Ansichten eine umfassendere Sicht gibt, die beide Ansichten einschließt und überwindet.

12. Eine weitere Lehre ist die Tatsache, daß die verschiedenen Wissenschaftszweige unterschiedlicher Methoden bedürfen.

Galilei, der praktisch die experimentelle Methode erfunden hat, hat, dank seiner genialen Vorstellungskraft als Physiker und auf verschiedene Gründe gestützt, verstanden, daß nur die Sonne als Zentrum der Welt, wie sie damals bekannt war, also als Planetensystem, infrage kam.

Der Irrtum der Theologen von damals bestand dagegen am Festhalten an der Zentralstellung der Erde in der Vorstellung, unsere Kenntnis der Strukturen der physischen Welt wäre irgendwie vom Wortsinn der Heiligen Schrift gefordert. Doch wir müssen uns hier an das berühmte Wort erinnern, das dem Baronius zugeschrieben wird: »Der Heilige Geist wollte uns zeigen, wie wir in den Himmel kommen, nicht wie der Himmel im einzelnen aussieht.« Tatsächlich beschäftigt sich die Bibel nicht mit den Einzelheiten der physischen Welt, deren Kenntnis der Erfahrung und dem Nachdenken des Menschen anvertraut wird. Es gibt also zwei Bereiche des Wissens. Der eine hat seine Quelle in der Offenbarung, der andere aber kann von der Vernunft mit ihren eigenen Kräften entdeckt werden. Zum letzteren Bereich gehören die experimentellen Wissenschaften und die Philosophie. Die Unterscheidung der beiden Wissensbereiche darf aber nicht als Gegensatz verstanden werden. Beide Bereiche sind vielmehr einander durchaus nicht fremd, sie besitzen vielmehr Begegnungspunkte. Dabei gestattet die Methode eines jeden Bereiches, unterschiedliche Aspekte der Wirklichkeit herauszustellen.

13. Eure Akademie führt ihre Arbeiten in dieser Geisteshaltung weiter. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, die Entwicklung des Wissens gemäß der berechtigten Autonomie der Wissenschaft zu fördern (Gaudium et spes, 36,2), die der Apostolische Stuhl in den Statuten eurer Institution ausdrücklich anerkennt.

Worauf es bei einer wissenschaftlichen oder philosophischen Theorie ankommt, ist ihre Wahrheit, oder sie muß wenigstens solide begründet sein. Zielsetzung eurer Akademie ist es aber gerade, beim derzeitigen Stand der Wissenschaft und auf ihrem eigenen Gebiet das herauszustellen und zur Kenntnis zu bringen, was als gesicherte Wahrheit oder wenigstens als derart wahrscheinlich gelten kann, daß es unklug und unvernünftig wäre, es zurückzuweisen. So lassen sich unnütze Konflikte vermeiden.

Die Ernsthaftigkeit der wissenschaftlichen Information wird daher der beste Beitrag sein, den die Akademie zur exakten Formulierung und Lösung der dringenden Probleme leisten kann, die die Kirche kraft ihrer besonderen Sendung beachten muß: Probleme, die nicht nur die Astronomie, die Physik und Mathematik betreffen, sondern ebenso die relativ neuen Disziplinen der Biologie und der Biogenetik. Viele neuen wissenschaftlichen Entdeckungen und ihre möglichen Anwendungen haben mehr denn je eine direkte Auswirkung auf den Menschen selber, auf sein Denken und Handeln, so daß sie sogar die Grundlagen des Menschlichen selber zu bedrohen scheinen.

14. Für die Menschheit gibt es eine doppelte Form der Entwicklung. Die erste umfaßt die Kultur, die wissenschaftliche Forschung und Technik oder alles das, was zum Horizont des Menschen und der Schöpfung gehört und sich mit eindrucksvoller Schnelligkeit entwickelt. Wenn diese Entwicklung aber dem Menschen nicht rein äußerlich bleiben soll, muß notwendig das Bewußtsein und seine Anwendung entwickelt werden. Die zweite Weise der Entwicklung betrifft alles Tiefere im Menschen, insofern er, die Welt und sich selbst überschreitend, sich dem zuwendet, der der Schöpfer von allem ist.

Nur dieser Weg nach oben kann am Ende dem Sein und Tun des Menschen einen Sinn geben, weil er ihn mit seinem Ursprung und Ziel in Verbindung bringt. Auf diesem doppelten horizontalen und vertikalen Weg verwirklicht sich der Mensch voll als geistiges Wesen und homo sapiens. Zu bedenken ist freilich, daß diese Entwicklung nicht einförmig und geradlinig erfolgt und der Fortschritt nicht immer harmonisch bleibt. Dies macht die Unordnung deutlich, die zur Situation des Menschen gehört. Der Wissenschaftler, der diese Entwicklung zur Kenntnis nimmt und berücksichtigt, trägt zur Wiederherstellung der Harmonie bei.

Wer sich der wissenschaftlichen und technischen Forschung widmet, nimmt als Voraussetzung seines Weges an, daß die Welt kein Chaos, sondern ein Kosmos ist, daß es also innerhalb der Naturgesetze eine Ordnung gibt, die sich erkennen und denken läßt und die deshalb eine gewisse Verwandtschaft zum Geist aufweist. Einstein pflegte zu sagen: »Was es in der Welt an ewig Unverständlichem gibt, setzt voraus, daß es verständlich ist« (In »The Journal of the Franklin Institute«, Band 221, Nr. 3, März 1936). Diese Verständlichkeit, die von den atemberaubenden Entdeckungen der Wissenschaft und Technik bestätigt wird, verweist am Ende auf den transzendenten und ursprünglichen Gedanken, der allem Sein eingeprägt ist.

Meine Damen und Herren, zum Abschluß dieser Begegnung spreche ich meine besten Wünsche aus, daß Ihre Forschungen und Überlegungen dazu beitragen, unseren Zeitgenossen nützliche Hinweise für den Aufbau einer harmonischen Gesellschaft zu geben in einer Welt, die das Menschliche mehr achtet. Ich danke Ihnen für die Dienste, die Sie dem Heiligen Stuhl leisten, und ich bitte Gott, er möge Sie mit seinen Gaben erfüllen.

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Quelle

BENEDIKT XVI. ÜBER INSPIRATION, WAHRHEIT UND AUSLEGUNG DER BIBEL

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ANSPRACHE VON BENEDIKT XVI.
AN DIE MITGLIEDER DER PÄPSTLICHEN BIBELKOMMISSION

Donnerstag, 23. April 2009

 

Herr Kardinal, Exzellenz,
liebe Mitglieder der Päpstlichen Bibelkommission!

Ich freue mich, euch wieder am Schluß eurer Jahresvollversammlung zu empfangen. Ich danke Herrn Kardinal William Levada für seine Grußadresse und für die bündige Darlegung des Themas, das in eurer Versammlung Gegenstand aufmerksamen Nachdenkens war. Ihr seid neuerlich zusammengekommen, um ein sehr wichtiges Thema zu vertiefen: Inspiration und Wahrheit der Bibel. Es handelt sich um ein Thema, das nicht nur die Theologie, sondern die Kirche selbst betrifft, da sich das Leben und die Sendung der Kirche notwendigerweise auf das Wort Gottes gründen, das Seele der Theologie ist und zugleich die ganze christliche Existenz inspiriert. Das Thema, mit dem ihr euch auseinandergesetzt habt, antwortet außerdem auf eine Sorge, die mir besonders am Herzen liegt, da die Auslegung der Heiligen Schrift für den christlichen Glauben und für das Leben der Kirche von grundlegender Bedeutung ist.

Wie sie, Herr Präsident, bereits erwähnt haben, bot Papst Leo XIII. in der Enzyklika Providentissimus Deus den katholischen Exegeten neue Ermutigungen und neue Richtlinien zum Thema Inspiration, Wahrheit und Hermeneutik der Bibel. Später nahm Pius XII. in seiner Enzyklika Divino afflante Spiritu die vorhergehende Lehre auf und ergänzte sie durch die Ermahnung an die katholischen Exegeten, zu Lösungen zu kommen, die in voller Übereinstimmung mit der Lehre der Kirche stehen, dabei aber den positiven Beiträgen der inzwischen entwickelten neuen Auslegungsmethoden gebührend Rechnung zu tragen. Der lebendige Impuls für das Bibelstudium, der, wie Sie auch gesagt haben, von diesen beiden Päpsten ausging, hat im Zweiten Vatikanischen Konzil volle Bestätigung gefunden und ist weiter entwickelt worden, was der gesamten Kirche bis heute zum Vorteil gereicht. Insbesondere die Konzilskonstitution Dei Verbum erleuchtet noch heute die Arbeit der katholischen Exegeten und lädt die Hirten und die Gläubigen ein, sich ausdauernder am Tisch des Wortes Gottes zu nähren. Das Konzil erinnert diesbezüglich vor allem daran, daß Gott der Urheber der Heiligen Schrift ist: »Das von Gott Geoffenbarte, das in der Heiligen Schrift enthalten ist und vorliegt, ist unter dem Anhauch des Heiligen Geistes aufgezeichnet worden; denn aufgrund apostolischen Glaubens gelten unserer heiligen Mutter, der Kirche, die Bücher des Alten wie des Neuen Testamentes in ihrer Ganzheit mit allen ihren Teilen als heilig und kanonisch, weil sie, unter der Einwirkung des Heiligen Geistes geschrieben, Gott zum Urheber haben und als solche der Kirche übergeben sind« (Dei Verbum, 11). Da also alles, was die inspirierten Verfasser oder Hagiographen aussagen, als vom Heiligen Geist, dem unsichtbaren und transzendenten Verfasser, ausgesagt zu gelten hat, ist folglich »von den Büchern der Schrift zu bekennen, daß sie sicher, getreu und ohne Irrtum die Wahrheit lehren, die Gott um unseres Heiles willen in heiligen Schriften aufgezeichnet haben wollte« (ebd.).

Aus dem richtigen Ansatz des Begriffs der göttlichen Inspiration und Wahrheit der Heiligen Schrift ergeben sich einige Normen, die ihre Auslegung unmittelbar betreffen. So erinnert uns die Konstitution Dei Verbum nach der Aussage, daß Gott der Urheber der Bibel ist, daran, daß in der Heiligen Schrift Gott auf menschliche Weise zum Menschen spricht. Und dieses göttlich-menschliche Zusammenwirken ist sehr wichtig: Gott spricht wirklich durch Menschen auf menschliche Weise. Für eine rechte Auslegung der Heiligen Schrift muß man daher aufmerksam erforschen, was die Hagiographen wirklich sagen wollten und was Gott durch menschliche Worte offenbaren wollte. »Denn Gottes Worte, durch Menschenzunge formuliert, sind menschlicher Rede ähnlich geworden, wie einst des ewigen Vaters Wort durch die Annahme menschlichschwachen Fleisches den Menschen ähnlich geworden ist« (Dei Verbum, 13). Diese Hinweise, die für eine rechte Auslegung historisch-literarischen Charakters als erste Dimension jeder Exegese sehr notwendig sind, erfordern sodann eine Verbindung mit den Voraussetzungen der Lehre über die Inspiration und Wahrheit der Heiligen Schrift. Da die Heilige Schrift inspiriert ist, gibt es ein höchstes Prinzip der rechten Auslegung, ohne das die heiligen Schriften lediglich toter Buchstabe aus der Vergangenheit wären: Die Heilige Schrift muß »in dem Geist gelesen und ausgelegt werden, in dem sie geschrieben wurde« (Dei Verbum, 12).

Diesbezüglich nennt das Zweite Vatikanische Konzil drei stets gültige Kriterien für eine Auslegung der Heiligen Schrift, die dem Geist, der sie inspiriert, entspricht. Zunächst gilt es, dem Inhalt und der Einheit der ganzen Schrift große Aufmerksamkeit zu schenken: Nur in ihrer Einheit ist sie Heilige Schrift. Denn bei aller Verschiedenheit der Bücher, aus denen sie besteht, ist die Heilige Schrift eine, aufgrund der Einheit des Planes Gottes, dessen Mitte und Herz Christus Jesus ist (vgl. Lk 25,25–27.44–46). Zweitens muß die Schrift im Kontext der lebendigen Überlieferung der ganzen Kirche gelesen werden. Nach einem Ausspruch des Origines: »Sacra Scriptura principalius est in corde Ecclesiae quam in materialibus instrumentis scripta«, ist »die Heilige Schrift zuerst im Herzen der Kirche, dann erst auf materielle Werkzeuge geschrieben worden«. Denn die Kirche trägt in ihrer Überlieferung das lebende Gedächtnis des Wortes Gottes, und der Heilige Geist schenkt ihr dessen Auslegung im geistlichen Sinn (vgl. Origines, Homiliae in Leviticum, 5,5). Als drittes Kriterium gilt es, der Analogie des Glaubens, das heißt dem Zusammenhang der einzelnen Glaubenswahrheiten untereinander und mit dem Gesamtplan der Offenbarung und der Fülle der in ihr enthaltenen göttlichen Ökonomie die notwendige Aufmerksamkeit zu schenken.

Aufgabe der Gelehrten, die die Heilige Schrift nach verschiedenen Methoden erforschen, ist es, den obengenannten Prinzipien gemäß zur tieferen Einsicht und Darlegung des Sinnes der Heiligen Schrift beizutragen. Das wissenschaftliche Studium der heiligen Texte ist wichtig, reicht allein aber nicht aus, weil es nur die menschliche Dimension berücksichtigen würde. Um die Kohärenz des Glaubens der Kirche zu berücksichtigen, muß der katholische Exeget darauf achten, das Wort Gottes in diesen Texten im Inneren des Glaubens der Kirche wahrzunehmen. Fehlt dieser unabdingbare Bezugspunkt, bliebe die exegetische Forschung unvollständig, weil sie ihren Hauptzweck aus den Augen verliert, ja Gefahr läuft, auf eine rein literarische Lesart reduziert zu werden, in welcher der wahre Verfasser – Gott – gar nicht mehr aufscheint. Zudem darf die Auslegung der Heiligen Schrift nicht nur eine individuelle wissenschaftliche Anstrengung sein, sondern muß ständig mit der lebenden Überlieferung der Kirche konfrontiert, in sie eingeschrieben und von ihr als authentisch bestätigt werden. Diese Norm ist entscheidend, um die richtige wechselseitige Beziehung zwischen der Exegese und dem Lehramt der Kirche zu präzisieren. Der katholische Exeget fühlt sich nicht nur als Glied der Gemeinschaft der Wissenschaftler, sondern auch und vor allem als Glied der Gemeinschaft der Gläubigen aller Zeiten. In Wirklichkeit sind diese Texte nicht den einzelnen Forschern oder der Gemeinschaft der Wissenschaftler anvertraut worden, »um deren Neugier zu befriedigen oder um Arbeits- und Forschungsmaterial zu bieten« (Divino afflante Spiritu, 35). Die von Gott inspirierten Texte sind an erster Stelle der Gemeinschaft der Gläubigen, der Kirche Christi anvertraut worden, um das Glaubensleben zu nähren und das Leben in der Liebe zu leiten. Die Einhaltung dieser Zielsetzung ist die Bedingung für die Gültigkeit und Wirksamkeit der biblischen Hermeneutik. An diese Grundwahrheit hat die Enzyklika Providentissimus Deus erinnert und festgestellt, daß die Einhaltung dieses Faktums die Bibelforschung keineswegs behindere, sondern ihren echten Fortschritt fördere. Ich würde sagen, eine Hermeneutik des Glaubens entspricht mehr der Wirklichkeit dieses Textes als eine rationalistische Hermeneutik, die Gott nicht kennt.

Der Kirche treu sein heißt nämlich, sich in den Strom der großen Tradition der Kirche zu stellen, die unter Leitung des Lehramts die kanonischen Schriften als Wort erkannt hat, das von Gott an sein Volk gerichtet wurde, und die nie aufgehört hat, über sie nachzudenken und ihren unerschöpflichen Reichtum zu entdecken. Das Zweite Vatikanische Konzil hat das mit aller Klarheit unterstrichen: »Alles, was die Art der Schrifterklärung betrifft, untersteht letztlich dem Urteil der Kirche, deren gottgegebener Auftrag und Dienst es ist, das Wort Gottes zu bewahren und auszulegen« (Dei Verbum, 12). Wie uns die eben erwähnte dogmatische Konstitution in Erinnerung ruft, besteht eine untrennbare Einheit zwischen Heiliger Schrift und Überlieferung, da beide aus ein und derselben Quelle stammen: »Die Heilige Überlieferung und die Heilige Schrift sind eng miteinander verbunden und haben aneinander Anteil. Demselben göttlichen Quell entspringend, fließen beide gewissermaßen in eins zusammen und streben demselben Ziel zu. Denn die Heilige Schrift ist Gottes Rede, insofern sie unter dem Anhauch des Heiligen Geistes schriftlich aufgezeichnet wurde. Die Heilige Überlieferung aber gibt das Wort Gottes, das von Christus dem Herrn und vom Heiligen Geist den Aposteln anvertraut wurde, unversehrt an deren Nachfolger weiter, damit sie es unter der erleuchtenden Führung des Geistes der Wahrheit in ihrer Verkündigung treu bewahren, erklären und ausbreiten. So ergibt sich, daß die Kirche ihre Gewißheit über alles Geoffenbarte nicht aus der Heiligen Schrift allein schöpft. Daher sollen beide mit gleicher Liebe und Achtung angenommen und verehrt werden« (Dei Verbum, 9). Wie wir wissen, ist die Formulierung »mit gleicher Liebe und Achtung« (»pari pietatis affectu ac reverentia«) eine Schöpfung des hl. Basilius, die dann in das Dekret Gratians aufgenommen wurde, von wo sie in das Konzil von Trient und in das Zweite Vatikanische Konzil Eingang gefunden hat. Sie drückt eben diese gegenseitige Durchdringung zwischen Heiliger Schrift und Tradition aus. Nur der kirchliche Rahmen erlaubt es, daß die Heilige Schrift als authentisches Wort Gottes verstanden wird, das zum Leitbild, zur Norm und Regelung für das Leben der Kirche und das geistliche Wachstum der Gläubigen wird. Wie ich schon gesagt habe, behindert das keineswegs eine ernsthafte, wissenschaftliche Auslegung, sondern eröffnet außerdem den Zugang zu den weiteren Dimensionen Christi, die einer rein literarischen Analyse nicht zugänglich sind, weil diese nicht dazu fähig ist, den umfassenden Sinn, der im Laufe der Jahrhunderte die Tradition des ganzen Gottesvolkes geleitet hat, in sich aufzunehmen.

Liebe Mitglieder der Päpstlichen Bibelkommission, ich möchte meine Rede damit schließen, daß ich euch allen meinen persönlichen Dank und meine Ermutigung ausspreche. Ich danke euch herzlich für die engagierte Arbeit, die ihr im Dienst des Wortes Gottes und der Kirche durch Forschung, Lehre und Veröffentlichung eurer Studien vollbringt. Dem füge ich meine Ermutigung für den Weg hinzu, der noch zurückgelegt werden muß. In einer Welt, in der die wissenschaftliche Forschung in unzähligen Bereichen immer größere Bedeutung gewinnt, ist es unerläßlich, daß die wissenschaftliche Bibelexegese auf einem angemessenen Niveau stattfindet. Das ist einer der Aspekte der Inkulturation des Glaubens, die mit der Aufnahme des Geheimnisses der Menschwerdung zur Sendung der Kirche gehört. Liebe Brüder und Schwestern, der Herr Jesus Christus, fleischgewordenes Wort und göttlicher Lehrmeister, der seinen Jüngern den Geist für das Verständnis der Schrift geöffnet hat (vgl. Lk 24,45), leite und helfe euch bei euren Überlegungen. Die Jungfrau Maria, Vorbild an Gefügigkeit und Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes, lehre euch, den unerschöpflichen Reichtum der Heiligen Schrift immer besser aufzunehmen, nicht nur durch die intellektuelle Forschung, sondern auch in eurem Leben als Gläubige, damit eure Arbeit und euer Wirken dazu beitragen können, vor den Gläubigen immer mehr das Licht der Heiligen Schrift erstrahlen zu lassen. Während ich euch der Unterstützung meines Gebets in eurer Mühe versichere, erteile ich euch als Unterpfand der göttlichen Gnaden den Apostolischen Segen.

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Siehe dazu auch:

Der fundamentalistische Umgang mit der Heiligen Schrift

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Die fundamentalistische Verwendung der Bibel geht davon aus, daß die Heilige Schrift – das inspirierte Wort Gottes und frei von jeglichem Irrtum – wortwörtlich gilt und bis in alle Einzelheiten wortwörtlich interpretiert werden muß. Mit solcher „wortwörtlicher Interpretation“ meint sie eine unmittelbare buchstäbliche Auslegung, d.h. eine Interpretation, die jede Bemühung, die Bibel in ihrem geschichtlichen Wachstum und in ihrer Entwicklung zu verstehen, von vorneherein ausschließt. Eine solche Art, die Bibel zu lesen, steht im Gegensatz zur historisch-kritischen Methode, aber auch zu jeder anderen wissenschaftlichen Interpretationsmethode der Heiligen Schrift.

Der fundamentalistische Umgang mit der Heiligen Schrift hat seine Wurzeln in der Zeit der Reformation, wo man dafür kämpfte, dem Literalsinn der Heiligen Schrift treu zu bleiben. Nach der Aufklärung erschien diese Art, die Bibel zu lesen, im Protestantismus als Reaktion auf die liberale Exegese. Der Begriff „fundamentalistisch“ wurde auf dem Amerikanischen Bibelkongreß geprägt, der 1895 in Niagara im Staate New York stattfand. Die konservativen protestantischen Exegeten legten damals „fünf Punkte des Fundamentalismus“ fest: die Lehre von der wörtlichen Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift, der Gottheit Christi, der jungfräulichen Geburt Jesu, der stellvertretenden Sühne Jesu und der körperlichen Auferstehung bei der Wiederkunft Christi. Als der fundamentalistische Umgang mit der Bibel sich in anderen Weltteilen ausbreitete, führte er in Europa, Asien, Afrika und Südamerika zu weiteren Spielarten, die alle auch die Bibel „buchstäblich“ lesen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fand der fundamentalistische Gebrauch der Bibel in religiösen Gruppen und Sekten wie auch unter den Katholiken immer mehr Anhänger.

Obschon der Fundamentalismus mit Recht auf der göttlichen Inspiration der Bibel, der Irrtumslosigkeit des Wortes Gottes und den anderen biblischen Wahrheiten insistiert, die in den fünf genannten Grundsätzen enthalten sind, so wurzelt seine Art, diese Wahrheiten darzulegen, doch in einer Ideologie, die nicht biblisch ist, mögen ihre Vertreter auch noch so sehr das Gegenteil behaupten. Denn diese verlangt ein totales Einverständnis mit starren doktrinären Haltungen und fordert als einzige Quelle der Lehre im Hinblick auf das christliche Leben und Heil eine Lektüre der Bibel, die jegliches kritisches Fragen und Forschen ablehnt.

Das Grundproblem dieses fundamentalistischen Umgangs mit der Heiligen Sch rift besteht darin, daß er den geschichtlichen Charakter der biblischen Offenbarung ablehnt und daher unfähig wird, die Wahrheit der Menschwerdung selbst voll anzunehmen. Für den Fundamentalismus ist die enge Verbindung zwischen Göttlichem und Menschlichem in der Beziehung zu Gott ein Ärgernis. Er weigert sich zuzugeben, daß das inspirierte Wort Gottes in menschlicher Sprache ausgedrückt und unter göttlicher Inspiration von menschlichen Autoren niedergeschrieben wurde, deren Fähigkeiten und Mittel beschränkt waren. Er hat deshalb die Tendenz, den biblischen Text so zu behandeln, als ob er vom Heiligen Geist wortwörtlich diktiert worden wäre. Er sieht nicht, daß das Wort Gottes in einer Sprache und in einem Stil formuliert worden ist, die durch die jeweilige Epoche der Texte bedingt sind. Er schenkt den literarischen Gattungen und der menschlichen Denkart, wie sie in den biblischen Texten vorliegen, keinerlei Beachtung, obschon sie Frucht einer sich über mehrere Zeitepochen erstreckenden Erarbeitung sind und Spuren ganz verschiedener historischer Situationen tragen.

Der Fundamentalismus betont über Gebühr die Irrtumslosigkeit in Einzelheiten der biblischen Texte, besonders was historische Fakten oder sogenannte wissenschaftliche Wahrheiten betrifft. Oft faßt er als geschichtlich auf, was gar nicht den Anspruch auf Historizität erhebt; denn für den Fundamentalismus ist alles geschichtlich, was in der Vergangenheitsform berichtet oder erzählt wird, ohne daß er auch nur der Möglichkeit eines symbolischen oder figurativen Sinnes die notwendige Beachtung schenkt.

Der Fundamentalismus hat oftmals die Tendenz, die Probleme des biblischen Textes in seiner hebräischen, aramäischen oder griechischen Sprachgestalt zu ignorieren. Nicht selten ist er eng an eine bestimmte, alte oder neue Übersetzung gebunden. Auch geht er nicht auf die Tatsache von „relectures“ in gewissen Abschnitten innerhalb der Bibel selbst ein.

Was die Evangelien anlangt, so trägt der Fundamentalismus dem Wachsen der Tradition der Evangelien keine Rechnung, sondern verwechselt naiv den Endtext dieser Tradition (das, was von den Evangelisten geschrieben wurde) mit ihrer Erstform (die Taten und Worte des geschichtlichen Jesus). Zugleich vernachlässigt er eine wichtige Dimension: die Art und Weise, wie die ersten christlichen Gemeinden selbst die Wirkung von Jesus und seiner Botschaft verstanden haben. Dabei bezeugt gerade dieses urchristliche Verständnis die apostolische Herkunft des christlichen Glaubens und ist ihr direkter Ausdruck. Der Fundamentalismus macht so den vom Evangelium selbst intendierten Anspruch unkenntlich.

Dem Fundamentalismus kann man auch eine Tendenz zu geistiger Enge nicht absprechen. Er erachtet z.B. eine alte vergangene Kosmologie, weil man sie in der Bibel findet, als übereinstimmend mit der Realität. Dies verhindert jeglichen Dialog mit einer offenen Auffassung der Beziehungen zwischen Kultur und Glauben. Er stützt sich auf eine unkritische Interpretation gewisser Bibeltexte, um politische Ideen und soziales Verhalten zu rechtfertigen, das von Vorurteilen gekennzeichnet ist, die ganz einfach im klaren Gegensatz zum Evangelium stehen, wie z.B. Rassendiskrimination und dgl. mehr.

Und schließlich trennt der Fundamentalismus die Interpretation der Bibel von der Tradition, weil er auf dem Prinzip der „sola Scriptura“ beruht. Die Tradition, die vom Geist Gottes geführt wird, entwickelt sich jedoch innerhalb der Glaubensgemeinschaft organisch aus der Heiligen Schrift heraus. Es fehlt dem Fundamentalismus die Erkenntnis, daß das Neue Testament in der christlichen Kirche entstanden ist und daß es Heilige Schrift dieser Kirche ist, deren Existenz der Abfassung ihrer Schriften schon vorausging. Aus diesem Grund ist der Fundamentalismus oft „antikirchlich“. Er erachtet die Glaubensbekenntnisse, die Dogmen und das liturgische Leben, die Teil der kirchlichen Tradition geworden sind, als nebensächlich. Das Gleiche gilt für die Lehrfunktion der Kirche selbst. Er stellt sich als eine Form privater Interpretation dar, die nicht erkennt, daß die Kirche auf der Bibel gründet und ihr Leben und ihre Inspiration aus den heiligen Schriften bezieht.

Der fundamentalistische Zugang ist gefährlich, denn er zieht Personen an, die auf ihre Lebensprobleme biblische Antworten suchen. Er kann sie täuschen, indem er ihnen fromme, aber illusorische Interpretationen anbietet, statt ihnen zu sagen, daß die Bibel nicht unbedingt sofortige, direkte Antworten auf jedes dieser Probleme bereithält. Ohne es zu sagen, lädt der Fundamentalismus doch zu einer Form der Selbstaufgabe des Denkens ein. Er gibt eine trügerische Sicherheit, indem er unbewußt die menschlichen Grenzen der biblischen Botschaft mit dem göttlichen Inhalt dieser Botschaft verwechselt.

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Quelle

Bibelkommission: Die Interpretation der Bibel in der Kirche

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PÄPSTLICHE BIBELKOMMISSION

DOKUMENT

Die Interpretation der Bibel in der Kirche

EINFÜHRUNG

 

Die Interpretation der biblischen Texte stößt auch heute auf reges Interesse und gibt zu wichtigen Diskussionen Anlaß. Diese haben in den letzten Jahren neue Dimensionen gewonnen. Da die Bibel für den christlichen Glauben, für das Leben der Kirche und für die Beziehungen zwischen Christen und Gläubigen anderer Religionen von entscheidender Bedeutung ist, wurde die Päpstliche Bibelkommission ersucht, sich zu diesem Thema zu äußern.

A. Die aktuelle Problematik

Das Problem der Bibelauslegung ist keine moderne Erfindung, wie man manchmal glauben machen will. In der Bibel selbst sehen wir, daß ihre Auslegung Schwierigkeiten bereitet. Neben eindeutigen Texten enthält sie dunkle Stellen. Als Daniel gewisse Prophetenworte von Jeremia las, suchte er lange nach ihrem Sinn (Dan 9, 2). In der Apostelgeschichte hören wir, wie ein Äthiopier im 1. Jahrhundert in bezug auf einen Abschnitt des Jesaja-Buches (Jes 53, 7-8) sich in der gleichen Lage befand und sich an einen Interpreten wenden mußte (Apg 8, 30-35). Im 2. Petrusbrief lesen wir, daß „keine Weissagung der Heiligen Schrift eigenmächtig ausgelegt werden darf“ (2 Petr 1, 20), und weiter, daß in den Briefen des Apostels Paulus „manches schwer zu verstehen (ist), und die Unwissenden, die noch nicht gefestigt sind, diese Stellen ebenso wie die übrigen Schriften zu ihrem eigenen Verderben verdrehen“ (2 Petr 3, 16).

Das Problem ist also nicht neu, doch hat es im Laufe der Zeit an Gewicht gewonnen: um zu den Fakten und Aussagen der Bibel vorzudringen, müssen die Leser sich um fast zwanzig oder dreißig Jahrhunderte zurück versetzen, und das ist nicht ohne Schwierigkeiten möglich. Zudem sind heutzutage die Probleme der Interpretation wegen der Fortschritte der Geisteswissenschaften komplexer geworden. Wissenschaftliche Methoden wurden zur Erschließung der Texte der Antike entwickelt. Inwieweit sind diese Methoden auch für die Auslegung der Heiligen Schrift geeignet? Aus pastoraler Klugheit hat die Kirche lange Zeit sehr zurückhaltend auf diese Frage reagiert, denn oft waren diese Methoden trotz ihrer positiven Werte an Optionen gebunden, die dem christlichen Glauben entgegengesetzt waren. Schließlich hat eine positive Entwicklung stattgefunden, die durch eine ganze Reihe päpstlicher Dokumente gekennzeichnet ist, angefangen von der Enzyklika Providentissimus von Leo XIII. (18. Nov. 1893) bis zur Enzyklika Divino afflante Spiritu von Pius XII. (30. Sept. 1943). Diese Entwicklung wurde durch die Erklärung Sancta Mater Ecclesia (21. April 1964) der Päpstlichen Bibelkommission und vor allem durch die Dogmatische Konstitution Dei Verbum des II. Vatikanischen Konzils (18. Nov. 1965) bestätigt.

Die Fruchtbarkeit dieser konstruktiven Haltung zeigte sich deutlich. Die biblischen Studien in der katholischen Kirche nahmen einen bemerkenswerten Aufschwung, und ihr wissenschaftlicher Wert wurde im Kreis der Wissenschaftler und unter den Gläubigen immer mehr anerkannt. Der ökumenische Dialog wurde dadurch wesentlich erleichtert. Der Einfluß der Bibel auf die Theologie verstärkte sich und half mit zu einer theologischen Erneuerung. Das Interesse an der Bibel wuchs bei den Katholiken und diente dem Fortschritt des christlichen Lebens. All jene, die eine ernsthafte Ausbildung auf diesem Gebiet erworben haben, erachten es als unmöglich, auf den Stand einer vorkritischen Auslegung zurückzukommen, die sie zu Recht als ungenügend erachten.

Zum gleichen Zeitpunkt, wo die am weitesten verbreitete wissenschaftliche Methode – die „historisch-kritische“– in der Exegese, also auch in der katholischen Exegese, allgemein angewendet wird, wird diese Methode in Frage gestellt: einerseits durch das Aufkommen anderer Methoden und Zugänge in der wissenschaftlichen Welt selbst und andererseits durch die Kritik vieler Christen, die diese Methode vom Standpunkt des Glaubens aus als mangelhaft erachten. Zur historisch-kritischen Methode, die sich, wie ihr Name sagt, besonders mit der historischen Entwicklung der Texte bzw. Traditionen beschäftigt, treten heute Methoden in Konkurrenz, die auf einem synchronen Verständnis der Texte bestehen, sei es in bezug auf die Sprache, die Komposition, die narrative Struktur oder die rhetorische Form. Außerdem wird bei vielen der Versuch der diachronen Methoden, die Vergangenheit zu rekonstruieren, durch die Tendenz ersetzt, die Texte zu hinterfragen, indem man sie in die Perspektive der heutigen Zeit setzt, sei es unter philosophischer, psychoanalytischer, soziologischer oder politischer Hinsicht. Dieser Pluralismus der Methoden und Zugänge wird von den einen als Reichtum geschätzt, bei andern jedoch hinterläßt er den Eindruck einer großen Verwirrung.

Ob diese Verwirrung nun real oder vermeintlich ist, jedenfalls liefert sie den Gegnern der wissenschaftlichen Exegese neue Argumente. Ihrer Meinung nach zeigt der Konflikt bei der Interpretation, daß man nichts dabei gewinnt, wenn die biblischen Texte den Ansprüchen der wissenschaftlichen Methoden unterworfen werden. Im Gegenteil, man verliere dabei viel. Sie betonen, die wissenschaftliche Exegese schaffe Verwirrung und löse Zweifel in Dingen aus, die vorher mühelos angenommen wurden; sie dränge gewisse Exegeten zu Positionen, die dem Glauben der Kirche in so wichtigen Fragen widersprächen, wie der jungfräulichen Empfängnis Jesu, seinen Wundern, ja sogar seiner Auferstehung und seiner Gottheit.

Auch wenn es nicht zu solchen Negierungen kommt, so charakterisiere sich ihrer Meinung nach die wissenschaftliche Exegese doch durch ihre Sterilität in bezug auf das christliche Leben. Statt einen leichteren und sichereren Zugang zu den frischen Quellen des Wortes Gottes zu schaffen, mache sie aus der Bibel ein verschlossenes Buch, dessen doch immer problematische Interpretation raffinierte technische Mittel erheische und so aus der Bibel ein Reservat für Spezialisten mache. Für diese gilt, so glauben einige, das Wort des Evangeliums: „Ihr habt den Schlüssel (der Tür) zur Erkenntnis weggenommen; ihr selbst seid nicht hineingegangen, und die, die hineingehen wollten, habt ihr daran gehindert“ (Lk 11, 52; vgl. Mt 23, 13).

Folglich ist man nun der Meinung, es sei notwendig, an die Stelle der geduldigen Arbeit der wissenschaftlichen Exegese einfachere Zugänge zu eröffnen, wie z.B. die eine oder andere Form synchroner Lesung, die man als genügend erachtet; oder man preist sogar eine sogenannte „geistliche“ Lesung der Bibel an, womit man eine Lektüre meint, die einzig und allein durch die persönliche, subjektive Eingebung geleitet ist und die diese Eingebung nähren soll. Einige suchen in der Bibel den Christus ihrer persönlichen Auffassung und die Befriedigung ihrer spontanen Religiosität. Andere behaupten, in ihr direkte Antworten auf vielerlei persönliche und die Gemeinschaft betreffende Fragen zu finden. Viele Sekten bieten eine Interpretation als allein wahr an, die sie, so behaupten sie, in einer Offenbarung erhalten hätten.

B. Ziel dieses Dokumentes

Es geht also darum, die verschiedenen Aspekte der heutigen Situation in bezug auf die Interpretation der Bibel ernsthaft zu bedenken, Kritik, Klagen und Erwartungen aufmerksam anzuhören und die durch die neuen Methoden und Zugänge eröffneten Möglich keiten zu nützen. Schließlich soll die Orientierung, die dem Auftrag der Exegese in der katholischen Kirche am besten entspricht, genau bestimmt werden.

Das ist das Ziel dieses Dokumentes. Die Päpstliche Bibelkommission möchte die Wege aufzeigen, die zu einer dem menschlichen und zugleich göttlichen Charakter der Bibel möglichst getreuen Auslegung führen. Sie erhebt nicht den Anspruch, zu allen Fragen Stellung zu beziehen, die sich in bezug auf die Bibel stellen, wie z.B. die Theologie der Inspiration. Sie will nur die Methoden prüfen, die erlauben sollen, den ganzen Reichtum, der in den biblischen Texten enthalten ist, zu erschließen, damit das Wort Gottes immer mehr zur geistigen Nahrung für die Glieder seines Volkes werden kann, zur Quelle für ein Leben aus dem Glauben, der Hoffnung und der Liebe und zum Licht für die ganze Menschheit (vgl.Dei Verbum, 21).

Um dieses Ziel zu erreichen, will dieses Dokument:

1. eine kurze Beschreibung der verschiedenen Methoden und Zugänge (1) mit ihren Möglichkeiten und Grenzen geben;
2. Fragen der Hermeneutik ansprechen;
3. Überlegungen über die spezifischen Dimensionen der katholischen Interpretation der Bibel und über ihren Bezug zu den andern theologischen Disziplinen vorlegen;
4. die Stellung erwägen, die der Interpretation der Bibel im Leben der Kirche zukommt.

I.
Methoden und Zugänge für die Interpretation

A. Historisch-kritische Methode

Die historisch-kritische Methode ist die unerläßliche Methode für die wissenschaftliche Erforschung des Sinnes alter Texte. Da die Heilige Schrift, als „Wort Gottes in menschlicher Sprache“, in all ihren Teilen und Quellen von menschlichen Autoren verfaßt wurde, läßt ihr echtes Verständnis diese Methode nicht nur als legitim zu, sondern es erfordert auch ihre Anwendung.

1. Zur Geschichte dieser Methode

Will man diese Methode in ihrem heutigen Stand richtig bewerten, muß man einen Blick auf ihre Geschichte werfen. Gewisse Elemente dieser Interpretationsmethode sind sehr alt. Sie wurden in der Antike von griechischen Kommentatoren der klassischen Literatur angewandt und später, in der patristischen Zeit, von Autoren wie Origenes, Hieronymus und Augustinus. Die Methode war damals noch wenig ausgearbeitet. Ihre modernen Formen sind das Ergebnis von Vervollkommnungen, besonders seit den Humanisten der Renaissance und ihrem recursus ad fontes. Die Textkritik des Neuen Testamentes entwickelte sich jedoch als wissenschaftliche Disziplin erst seit etwa 1800, nachdem man sich vom Textus receptus losgelöst hatte, während die Literarkritik schon auf das 17. Jahrhundert zurück geht. Bahnbrechend war das Werk von Richard Simon, der die Aufmerksamkeit auf die Doppelungen, die Differenzen im Inhalt und auf die Stilunterschiede, wie man sie im Pentateuch feststellen kann, lenkte, Feststellungen, die mit der Vorstellung eines einzigen Autors Mose nicht vereinbar sind. Im 18. Jahrhundert genügte für Jean Astruc noch die Erklärung, Mose hätte sich eben verschiedener Quellen bedient (besonders zweier Hauptquellen), um das Buch Genesis zu verfassen. Doch die Kritik bestritt in der Folge immer entschiedener die Verfasserschaft Moses für den Pentateuch selbst. Die Literarkritik beschränkte sich lange Zeit auf das Bestreben, in den Texten die verschiedenen Quellen (Dokumente) voneinander zu scheiden. So entwickelte sich dann im 19. Jahrhundert die „Urkundenhypothese“, die der Redaktion des Pentateuchs Rechnung zu tragen versucht. Vier zum Teil parallele Dokumente bzw. Quellenschriften aus verschiedenen Epochen wären miteinander verschmolzen worden: der Jahwist (J), der Elohist (E), das Deuteronomium als Quelle (D) und die Priesterschrift (P). Die letztere hätte dem Endredaktor dazu gedient, das Ganze zu strukturieren. In analoger Weise berief man sich auf die Zweiquellenhypothese, um die beobachteten Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen den drei synoptischen Evangelien zu erklären; gemäß dieser Hypothese wären die Evangelien von Matthäus und Lukas aufgrund zweier Hauptquellen entstanden: dem Evangelium von Markus einerseits, und andererseits einer Sammlung von Worten Jesu (genannt Q = Quelle). Im wesentlichen werden diese beiden Hypothesen auch heute noch in der wissenschaftlichen Exegese vertreten, sind jedoch auch umstritten.

Im Bestreben, die Chronologie der biblischen Texte zu erstellen, beschränkte sich die Literarkritik auf die Abtrennung und Zergliederung von Texteinheiten, um die verschiedenen Quellen zu unterscheiden. Sie wendete der Endgestalt des biblischen Textes nicht genügend Aufmerksamkeit zu. Die Botschaft, die dieser in seiner jetzigen Form zum Ausdruck bringt, war ihr nicht von Bedeutung (man zeigte wenig Achtung für das Werk der Redaktoren). Aus diesem Grunde konnte die historisch-kritische Methode als zersetzend und zerstörerisch erscheinen, dies um so mehr, als gewisse Exegeten unter dem Einfluß der vergleichenden Religionsgeschichte, so wie sie damals gepflegt wurde, oder philosophischer Anschauungen negative Urteile über die Bibel äußerten.

Hermann Gunkel hat die Methode aus dem Ghetto einer engverstandenen Literarkritik herausgeführt. Obwohl er die Bücher des Pentateuchs (2) weiterhin als Sammelwerke betrachtete, so wandte er doch seine Aufmerksamkeit der besonderen Beschaffenheit der verschiedenen Abschnitte zu. Er versuchte, die Gattung jeder einzelnen Einheit (z.B. „Legende“ oder „ Hymnus“), sowie ihre Herkunft oder ihren „Sitz im Leben“ (z.B. Rechtswesen, Liturgie usw.) zu bestimmen. Mit dieser Erforschung der literarischen Gattungen ist die „kritische Erforschung der Formen“ verbunden, die „Formgeschichte“, die in die Exegese der Synoptiker durch Martin Dibelius und Rudolf Bultmann eingeführt wurde. Letzterer verband das Studium der Formgeschichte mit einer biblischen Hermeneutik, die bei der existentialistischen Philosophie von Martin Heidegger Anregung suchte. Die Folge davon war, daß die Formgeschichte oft zu ernsthaften Vorbehalten führte. Doch diese Methode an und für sich führte zum Ergebnis, daß deutlich wurde, wie die neutestamentliche Überlieferung ihre Herkunft (3) in der christlichen Gemeinde hatte, und ihre Form von der Urkirche empfing, daß sie von der Verkündigung Jesu selbst zur Verkündigung über Jesus als dem Christus gelangte. Zur Formgeschichte gesellte sich die Redaktionsgeschichte, eine kritische Untersuchung der Redaktion. Diese versuchte, den persönlichen Beitrag jedes Evangelisten und die theologische Ausrichtung, die seiner Redaktionsarbeit zugrunde lag, hervorzuheben. Durch die Anwendung dieser letzten Methode wurde die Reihe der verschiedenen Schritte der historisch-kritischen Methode vollständiger: von der Textkritik kommt man zur Literarkritik, die die Texte zerlegt (Quellenforschung), dann zu einer kritischen Erforschung der Formen und schließlich zu einer redaktionsgeschichtlichen Analyse, die dem Text als ganzem ihre Aufmerksamkeit schenkt. So wurde ein klareres Verständnis der Absicht der Verfasser und der Redaktoren der Bibel möglich, und dadurch auch der Botschaft, die sie den ersten Empfängern vermitteln wollten. Die historisch-kritische Methode gewann dadurch eine hervorragende Bedeutung.

2. Prinzipien

Die Grundprinzipien der historisch-kritischen Methode in ihrer klassischen Form sind die folgenden: Es ist eine historische Methode; nicht nur, weil sie sich auf alte Texte bezieht — im vorliegenden Fall auf die der Bibel — und deren historische Tragweite erforscht, sondern auch und vor allem, weil sie versucht, den historischen Prozeß der Entstehung der biblischen Texte zu klären: dieser diachrone Prozeß war oft kompliziert und von langer Dauer. In den verschiedenen Stadien ihrer Entstehung wandten sich die Bibeltexte an verschiedene Kategorien von Zuhörern oder Lesern, die sich in verschiedenen Situationen in Raum und Zeit befanden.

Es ist eine kritische Methode, denn sie arbeitet in ihrem ganzen Vorgehen (von der Textkritik bis zur Redaktionskritik) mit Hilfe wissenschaftlicher, möglichst objektiver Kriterien, um so dem heutigen Leser den Zugang zum Inhalt der biblischen Texte zu ermöglichen, deren Sinn oft schwer zu erfassen ist.

Als analytische Methode erforscht sie den biblischen Text auf die gleiche Art und Weise wie sie jeden anderen Text der Antike erforscht. Sie erläutert ihn als Erzeugnis der menschlichen Sprache. Sie hilft dadurch aber dem Exegeten, vor allem in der Erforschung der Redaktion der Texte, den Inhalt der in der Bibel enthaltenen göttlichen Offenbarung besser zu erfassen.

3. Beschreibung

Im derzeitigen Stand ihrer Entwicklung durchläuft die historisch-kritische Methode folgende Etappen:

Die Textkritik, die seit langer Zeit geübt wird, eröffnet die Reihe der wissenschaftlichen Forschungsvorgänge. Indem sie sich auf das Zeugnis der ältesten und besten Manuskripte stützt, wie auch auf die Papyri, die alten Übersetzungen und die Patristik, versucht sie, nach bestimmten Regeln, einen biblischen Text zu erstellen, der dem Originaltext so nahe wie möglich kommt.

Danach wird der Text einer linguistischen (morphologischen und syntaktischen) und semantischen Analyse unterzogen, die die Erkenntnisse der historisch-philologischen Forschung benützt. Die Literarkritik bemüht sich dann, Anfang und Ende der großen und kleinen Texteinheiten zu bestimmen und die innere Kohärenz des Textes zu prüfen. Die Existenz von Dubletten, unvereinbaren Gegensätzen und anderen Indizien lassen den zusammengesetzten Charakter gewisser Texte erkennen; man unterteilt sie in kleine Einheiten, um deren mögliche Zugehörigkeit zu verschiedenen Quellen zu ermitteln. Die Gattungskritik versucht, die literarischen Gattungen, ihr Ursprungsmilieu, ihre spezifischen Merkmale und ihre Entwicklung zu bestimmen. Die Traditionskritik situiert die Texte in den Überlieferungsströmen, deren Entwicklung im Laufe der Geschichte sie zu präzisieren versucht. Die Redaktionskritik schließlich untersucht die Veränderungen, die die Texte erfahren haben, bevor sie zu ihrer endgültigen Form gelangten; sie analysiert diese Endgestalt, indem sie die Texte unter dem Gesichtspunkt ihrer jeweiligen Orientierungen voneinander unterscheidet. Während man in den früheren Schritten versucht hat, den Text in seinem Werden in einer diachronen Perspektive zu erklären, so schließt dieser letzte Schritt mit einer synchronen Untersuchung: Man erläutert nun den Text als solchen, dank der gegenseitigen Beziehungen der verschiedenen Elemente untereinander, und betrachtet ihn unter dem Gesichtspunkt einer Botschaft, die der Verfasser seinen Zeitgenossen vermitteln will. So kann auch die pragmatische Funktion des Textes berücksichtigt werden.

Wenn die untersuchten Texte einer historischen literarischen Gattung  (4) angehören oder in Verbindung mit geschichtlichen Ereignissen stehen, so ergänzt die historische Kritik die Literarkritik, um die geschichtliche Bedeutung des Textes im modernen Sinn des Ausdrucks festzustellen.

Auf diese Weise werden die verschiedenen Stufen der konkreten Entwicklung der biblischen Offenbarung ans Licht gebracht.

4. Bewertung

Welcher Wert kommt der historisch-kritischen Methode zumal im gegenwärtigen Stand ihrer Entwicklung zu?

Wenn diese Methode auf objektive Weise angewendet wird, schließt sie kein Apriori in sich. Wenn solche Apriori ihre Anwendung bestimmen, so kommt dies nicht von der Methode her, sondern von hermeneutischen Optionen, die die Auslegung bestimmen und tendenziös sein können.

Zu Beginn war die Methode auf Quellenkritik und Religionsgeschichte ausgerichtet; doch danach ergab sich, daß sie einen neuen Zugang zur Bibel eröffnete, indem sie aufzeigte, daß diese eine Sammlung von Schriften ist, die meistens, besonders im Alten Testament, nicht von einem einzigen Verfasser stammen, sondern eine lange Vorgeschichte haben. Diese wiederum ist unentwirrbar mit der Geschichte Israels oder derjenigen der Urkirche verflochten. Vorher war sich die jüdische und christliche Auslegung der Bibel der konkreten historischen Gegebenheiten, in denen das Wort Gottes Wurzeln gefaßt hatte, nicht so klar bewußt. Ihre Kenntnis war summarisch und unscharf. Die Konfrontation der traditionellen Exegese mit einer wissenschaftlichen Methode, die in ihren Anfängen bewußt vom Glauben absah, ihm manchmal sogar widersprach, war gewiß ein schmerzlicher Prozeß; doch später stellte er sich als heilsam heraus: nachdem die Methode endlich von den ihr anhaftenden Voreingenommenheiten befreit war, führte sie zu einem genaueren Verständnis der Wahrheit der Heiligen Schrift (vgl. Dei Verbum, 12). Gemäß Divino afflante Spiritu ist die Erforschung des Literalsinnes der Heiligen Schrift eine wesentliche Aufgabe der Exegese. Um diese Aufgabe zu erfüllen, ist es notwendig, die literarische Gattung der Texte zu bestimmen (vgl. Ench B 560). Dazu ist die Hilfe der historisch-kritischen Methode unentbehrlich.

Gewiß, die klassische Anwendung der historisch-kritischen Methode zeigt auch Grenzen, denn sie beschränkt sich auf die Forschung nach dem Sinn des biblischen Textes in den historischen Bedingungen seiner Entstehung und interessiert sich nicht für die weiteren Sinnmöglichkeiten, die im Verlauf späterer Epochen der biblischen Offenbarung und Kirchengeschichte zu Tage getreten sind. Gleich wohl hat diese Methode zu exegetischen und bibeltheologischen Werken von großem Wert beigetragen.

Seit langem hat man auf eine Vermischung der Methode mit einem philosophischen System verzichtet. Jüngst hat eine exegetische Tendenz die Methode im Sinn einer Betonung der Textgestalt auf Kosten des Interesses für seinen Inhalt umgebogen. Doch wurde diese Tendenz durch eine differenzierte Semantik (Semantik der Worte, der Sätze, des Textes) und die Erforschung der pragmatischen Dimension der Texte korrigiert.

Was den Einschluß einer synchronen Analyse der Texte in die Methode betrifft, muß man anerkennen, daß es sich um ein legitimes Unterfangen handelt. Denn der Text in seiner Endgestalt und nicht in irgendeiner früheren Fassung ist der Ausdruck von Gottes Wort. (5) Die diachrone Rekonstruktion bleibt jedoch unentbehrlich, um die geschichtliche Dynamik, die der Heiligen Schrift innewohnt, und ihre reiche Komplexität aufzuzeigen: so spiegelt z.B. das Bundesbuch (Ex 21-23) eine andere politische, soziale und religiöse Situation der israelitischen Gesellschaft wieder als die anderen Gesetzessammlungen im Deuteronomium (Dtn 12- 26) oder im Buch Levitikus (Heiligkeitsgesetz, Lev 17 -26). Man konnte der alten historisch-kritischen Exegese ihre historistische Tendenz vorwerfen, doch darf man auch nicht in das gegenteilige Extrem verfallen, d.h. in eine ausschließlich synchrone Exegese, die die Geschichte der Texte ignoriert.

So ist es Ziel der historisch-kritischen Methode, in vorwiegend diachroner Weise den Sinn hervorzuheben, den die Verfasser und Redaktoren ausdrücken wollten. Zusammen mit anderen Methoden und Zugängen öffnet sie so dem modernen Leser den Zugang zum Verständnis der Bibeltexte, wie sie heute vorliegen.

B. Neue Methoden der literarischen Analyse

Keine wissenschaftliche Methode der Erforschung der Bibel kann dem Reichtum der biblischen Texte ganz gerecht werden. So kann auch die historisch-kritische Methode nicht den Anspruch erheben, allem zu genügen. Sie läßt unweigerlich zahlreiche Aspekte der Texte, die sie erforscht, im dunkeln. Es ist deshalb nicht erstaunlich, daß heute auch andere Methoden und Zugänge vorgeschlagen werden, um den einen oder andern wichtigen Aspekt eines Textes tiefer zu erfassen.

In diesem Abschnitt (B) möchten wir einige jüngst entwickelte Methoden der literarischen Analyse vorstellen. In den folgenden Abschnitten (C, D, E) werden wir kurz verschiedene neue Zugänge prüfen; die einen beziehen sich auf Forschungen zur Tradition, andere auf die „Geisteswissenschaften“, andere wieder auf besondere zeitgenössische Situationen. Schließlich (F) werden wir uns der fundamentalistischen Lektüre der Bibel zuwenden, die jede methodische Interpretationsbemühung ablehnt.

Die biblische Exegese, die die Fortschritte der heutigen Sprach- und Literaturwissenschaften nutzt, macht sich immer mehr die neuen Methoden der Literaturanalysen zu eigen, besonders die rhetorische, narrative und semiotische Analyse.

1. Die rhetorische Analyse

In Wirklichkeit ist die rhetorische Analyse als solche keine neue Methode. Neu ist einerseits ihre systematische Anwendung auf die Interpretation der Bibel und andererseits die Entstehung und Entwicklung einer „Neuen Rhetorik“.

Die Rhetorik ist die Kunst, mit einer Rede zu überzeugen. Da im Grunde genommen alle biblischen Texte bis zu einem gewissen Grad überzeugen wollen, gehört eine gewisse Kenntnis der Rhetorik zum normalen Rüstzeug der Exegeten. Die rhetorische Analyse muß kritisch angewendet werden, denn die wissenschaftliche Exegese muß kritischen Ansprüchen genügen.

Viele neuere biblische Forschungen haben der Rhetorik in der Heiligen Schrift große Aufmerksamkeit geschenkt. Man kann drei veschiedene Zugänge unterscheiden. Der erste stützt sich auf die klassische, griechisch-lateinische Rhetorik; der zweite widmet seine Aufmerksamkeit den Abfassungsprozessen im semitischen Kulturraum; der dritte geht von modernen Erkenntnissen aus, die man „Neue Rhetorik“ nennt.

Jede Rede wird in einer bestimmten Situation gehalten, die aus drei Elementen besteht: der Redner (oder Verfasser), die Rede (oder der Text) und die Hörerschaft (oder die Empfänger). Die klassische Rhetorik unterscheidet somit drei Überzeugungsfaktoren, die zur Qualität einer Rede beitragen: die Autorität des Redners, die Argumentation der Rede und die Emotionen, welche die Rede in der Hörerschaft auslöst. Verschiedenheit von Situation und Hörerschaft beeinflussen die Rede sehr stark. Seit Aristoteles unterscheidet die klassische Rhetorik drei Redegattungen: die forensische (vor dem Gericht), die beratende (in den politischen Versammlungen) und die anschauliche (bei Feiern).

In der hellenistischen Kultur hatte die Rhetorik einen enormen Einfluß. Aus diesem Grund benützt eine immer größere Zahl von Exegeten die klassische Literatur zur Rhetorik, um gewisse Aspekte der biblischen Schriften, besonders des Neuen Testaments, genauer analysieren zu können.

Andere Exegeten wiederum richten ihre Aufmerksamkeit auf die spezifischen Merkmale der biblischen Literaturtradition. Da diese in der semitischen Kultur beheimatet ist, hat sie, wie die semitische Kultur ganz allgemein, eine betonte Vorliebe für symmetrische Kompositionen, die zwischen den verschiedenen Textelementen Verbindungen schaffen. Die Erforschung der vielfältigen Formen des Parallelismus und anderer semitischer Kompositionsweisen erlaubt es, die literarische Struktur der Texte besser zu erfassen und dadurch zu einem besseren Verständnis ihrer Botschaft zu gelangen.

Die „Neue Rhetorik“ geht von einem allgemeineren Standpunkt aus. Sie will nicht nur eine Art Inventar der Stilfiguren, der Redekunst und der Gattungen von Rede sein. Sie erforscht, warum dieser oder jener spezifische Sprachgebrauch hier oder dort wirksam ist und Überzeugung wecken kann. Sie will „realistisch“ sein, indem sie sich nicht einfach auf eine Formanalyse beschränkt. Sie widmet der Situation des Gesprächs die notwendige Beachtung. Sie erforscht Stil und Komposition als Mittel zu dem Zweck, die Hörerschaft zu beeinflussen. Zu diesem Zweck profitiert sie von den neueren Forschungsergebnissen gewisser Disziplinen wie Semiotik, Anthropologie und Soziologie.

Will man die „Neue Rhetorik“ auf die Bibel anwenden, so heißt dies, daß sie bis zum Kern der Sprache der Offenbarung als religiöse Sprache, die überzeugen soll, vordringen und ihre Wirkung im Kontext der sozialen Kommunikation bestimmen will.

Die rhetorischen Analysen verdienen hohe Beachtung, besonders in ihren jüngsten Ergebnissen, denn diese bereichern die kritische Erforschung der Texte. Sie beheben eine lange Vernachlässigung und lassen ursprüngliche Perspektiven hervortreten oder setzen sie neu ins Licht.

Die „Neue Rhetorik“ zieht zu Recht die Aufmerksamkeit auf die Überzeugungskraft der Sprache. Die Bibel ist nicht einfach eine Bekundung von Wahrheiten. Sie ist Botschaft und hat Kommunikationsfunktion in einem bestimmten Kontext. Dieser Botschaft liegt eine Argumentationsdynamik und eine rhetorische Strategie zugrunde.

Die rhetorischen Analysen haben jedoch auch ihre Grenzen. Sind sie rein deskriptiv, so haben ihre Ergebnisse oft nur stilistisches Interesse. Wegen ihrer Synchronie können sie nicht behaupten, eine unabhängige Methode darzustellen, die sich selbst genügte. Ihre Anwendung auf biblische Texte wirft Fragen auf: Gehörten die Verfasser dieser Texte einem hochkultivierten Milieu an? Bis zu welchem Punkt benützten sie bei der Abfassung ihrer Texte die Rhetorikregeln? Welche Rhetorik ist für die Analyse solcher Texte geeigneter: die griechisch-lateinische oder die semitische? Ist man nicht versucht, gewissen biblischen Texten eine allzu entwickelte Rhetorik zuzuschreiben? Solche und andere Fragen wollen selbstverständlich vom Gebrauch solcher Analysen nicht abraten; sie wollen nur davor warnen, sich ihrer ohne Unterscheidung zu bedienen.

2. Die narrative Analyse

Die narrative Exegese bietet eine Verständnis- und Kommunikations-Methode für die biblische Botschaft, die deren Erzählungs- und Zeugnischarakter entspricht. Dieser Charakter ist eine Hauptform der Kommunikation zwischen Menschen und somit eine Charakteristik auch der Heiligen Schrift. In ihr legt das Alte Testament eine Heilsgeschichte dar, deren Erzählung sich auswirkt und zum Inhalt des Glaubensbekenntnisses, der Liturgie und der Katechese führt (vgl. Ps 78, 3-4; Ex 12, 24-27; Dtn 6,20 -25; 26,5 -11). Die Verkündigung des christlichen Kerygmas ihrerseits enthält die Erzählungsfolge von Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi, Geschehnisse, deren ausführliche Erzählung in den Evangelien enthalten ist. Auch die Katechese bietet sich in narrativer Form dar (vgl. 1 Kor11 , 23- 25).

Was die narrativen Zugänge betrifft, ist es wichtig, analytische Methoden und theologische Reflexion zu unterscheiden.

Zahlreiche analytische Methoden werden heute verwendet. Die einen gehen von der Erforschung der narrativen Modelle der Vergangenheit aus. Die andern stützen sich auf aktuelle „Narratologien“, die gewisse Gemeinsamkeiten mit der Semiotik haben können. Die narrative Analyse widmet ihre Aufmerksamkeit besonders den Textelementen, auf denen der Spannungsbogen, die Charaktere und der Gesichtspunkt des Erzählers beruhen; sie erforscht die Art und Weise, wie eine Geschichte erzählt wird, um den Leser in „die Welt der Erzählung“ und ihr Wertsystem miteinzubeziehen.

Verschiedene Methoden unterscheiden zwischen „realem Autor“ und „implizitem Autor“, zwischen „realem Leser“ und „implizitem Leser“. Der „reale Autor“ ist derjenige, der die Erzählung verfaßt hat. Mit „implizitem Autor“ bezeichnet man das Bild des Autors, so wie es der Text nach und nach durch die Lektüre erscheinen läßt (seine Kultur, sein Temperament, seine Tendenzen, sein Glaube usw.). Beim „realen Leser“ geht es um alle Personen, die Zugang zum Text haben, angefangen von den ersten Empfängern, die ihn gelesen oder gehört haben, bis zu den heutigen Lesern oder Hörern. Unter dem „impliziten Leser“ versteht man denjenigen, der vom Text vorausgesetzt oder produziert wird, der fähig ist, die notwendigen geistigen und affektiven Bewegungen zu vollziehen, um in die Welt der Erzählung einzutreten und so darauf zu antworten, wie es der reale Autor durch den impliziten Autor erstrebt.

Ein Text übt seinen Einfluß solange aus, als die realen Leser (z.B. wir, am Ende des 20. Jahrhunderts) sich mit dem impliziten Leser identifizieren können. Es ist eine der wichtigsten Aufgaben der Exegese, diese Identifikation zu erleichtern.

Aus der narrativen Analyse entsteht eine neue Art und Weise, die Tragweite der Texte zu ermessen. Während die historisch-kritische Methode den Text eher als „Fenster“ sieht, das Beobachtungen zu einer gegebenen Epoche erlaubt (nicht nur zu den erzählten Einzelheiten, sondern auch zur Situation der Gemeinschaft, für welche die Erzählung bestimmt war), so hebt man nun hervor, daß der Text auch die Funktion eines „Spiegels“ hat , in dem Sinne, daß er ein bestimmtes Bild der Welt widerspiegelt – der „Welt der Erzählung“ –, das seinen Einfluß auf den Leser ausübt und ihn veranlaßt, bestimmte Werte anzunehmen.

Die theologische Reflexion hat sich mit dieser spezifisch literarischen Forschungsgattung verbunden, um den Einfluß der Erzählungsart – also des Zeugnisses – der Heiligen Schrift auf die Annahme des Glaubens zu bestimmen und von da aus eine Hermeneutik für das konkrete Leben und für die Pastoral abzuleiten. Das ist eine Reaktion auf die Reduktion des inspirierten Textes auf eine Reihe theologischer Thesen, die nach Kategorien und in einer Sprache formuliert sind, die nicht biblisch sind. Man erwartet von der narrativen Exegese, daß sie in neuen historischen Kontexten die Bedeutungs- und Kommunikationsformen des biblischen Erzählens transponiert, um so seine Wirkkraft für das Heil besser erfahren zu lassen. Es wird auf die Notwendigkeit Gewicht gelegt, „das Heil zu erzählen“ („informativer“ Aspekt der Erzählung) und es „im Blick auf das Heil zu erzählen“ („performativer“ Aspekt). Explizit oder implizit enthält ja die biblische Erzählung tatsächlich einen existentiellen Anruf an den Leser.

Die narrative Analyse ist für die Exegese der Bibel offensichtlich von Nutzen, denn sie entspricht der narrativen Natur einer sehr großen Zahl biblischer Texte. Sie kann dazu beitragen, den oft mühsamen Übergang vom Sinn des Textes in seinem historischen Kontext – so wie die historisch-kritische Methode ihn zu definieren versucht – zur Bedeutsamkeit des Textes für den heutigen Leser zu erleichtern. Demgegenüber nimmt die Komplexität der Interpretationsprobleme mit der Unterscheidung von „realem Autor“ und „implizitem Autor“ zu.

Was die Bibel betrifft, kann sich die narrative Analyse nicht damit begnügen, dieser irgendwelche vorfabrizierte Modelle überzustülpen. Die Analyse muß sich bemühen, der Eigenart der Bibel Rechnung zu tragen. Der synchrone Zugang zu den Texten muß durch diachrone Forschungen ergänzt werden. Ferner muß sie sich vor der möglichen Tendenz hüten, jede systematisierende, lehrhaft formulierte Interpretation der in der Bibel enthaltenen Erzählungen auszuschließen. Sie würde dadurch in Widerspruch treten zur biblischen Tradition, die solche lehrhaften Texte enthält, und zur kirchlichen Tradition, die auf diesem Weg weitergegangen ist. Und schließlich darf man die existentielle subjektive Wirksamkeit des auf narrative Weise übermittelten Wortes Gottes nicht als ausreichendes Kriterium für allein wahre Interpretation betrachten.

3. Die semiotische Analyse

Unter den sogenannten synchronen Methoden, d.h. den Methoden, die sich auf die Erforschung des biblischen Textes konzentrieren, so wie er sich in seiner Endfassung darbietet, finden wir die semiotische Analyse, die sich in den letzten zwanzig Jahren in gewissen Kreisen sehr stark entwickelt hat. Diese Methode, die zuerst mit dem allgemeinen Begriff „ Strukturalismus“ bezeichnet wurde, hat zu ihrem Ahnen den schweizerischen Linguisten Ferdinand de Saussure. Dieser hat zu Beginn dieses Jahrhunderts eine Theorie ausgearbeitet, nach der jede Sprache ein System von Beziehungen ist, das bestimmten Regeln gehorcht. Linguisten und Literaturwissenschaftler nahmen entscheidend Einfluß auf die Entwicklung der Methode. Die Mehrheit der Bibliker, die die Semiotik für die Erforschung der Bibel benützen, beruft sich auf Algirdas J. Greimas und die Pariser Schule, deren Gründer er ist. Ähnliche Methoden oder Zugänge, die auf der modernen Linguistik gründen, entwickelten sich aber auch anderswo. Wir wollen hier als ein Beispiel kurz die Methode Greimas’ vorstellen und analysieren.

Die Semiotik ruht auf drei Hauptprinzipien oder Hauptvoraussetzungen:

Das Immanenzprinzip: jeder Text formt eine Bedeutungseinheit; die Analyse betrachtet den ganzen Text, doch nur den Text; sie stützt sich auf keine „äußeren“ Gegebenheiten wie z.B. Verfasser, Empfänger, erzählte Ereignisse oder Redaktionsgeschichte.

Das Prinzip der Sinnstruktur: einen Sinn gibt es nur durch und in der Beziehung, besonders in der Beziehung der Differenzen zueinander; die Analyse eines Textes besteht somit darin, das Netz der Beziehungen zwischen den Elementen zu ermitteln (Oppositionen, Identifikationen), woraus sich dann der Sinn des Textes ergibt.

Das Prinzip der Textgrammatik: jeder Text benützt eine Grammatik, d.h. eine gewisse Anzahl von Regeln oder Strukturen; in einer Einheit von Sätzen, die man Rede nennt, gibt es verschiedene Ebenen, von denen jede ihre eigene Grammatik hat.

Der Gesamtinhalt eines Textes kann auf drei Ebenen analysiert werden:

Narrative Ebene: In einem Text werden die Veränderungen erforscht, die zwischen der Anfangs- und der Schlußsituation stattgefunden haben. Innerhalb eines narrativen Bogens sucht die Analyse die verschiedenen Phasen herauszuarbeiten, die miteinander logisch verbunden sind und zur Transformation geführt haben. In jeder dieser Phasen präzisiert man die Beziehungen zwischen den „Rollen“, die von „Aktanten“ ausgeführt werden, die die Situationen definieren und die Transformation herbeiführen.

Diskursive Ebene: Die Analyse besteht in drei Arbeitsgängen: (a) die Figuren, d.h. die Bedeutungselemente eines Textes (handelnde Personen, Zeit und Ort) werden bestimmt und klassifiziert; (b) die Bahn, die jede Figur eines Textes durchläuft, wird bestimmt, um festzustellen, in welcher Weise dieser Text sie benützt; (c) die thematischen Werte der Figuren werden untersucht; diese Untersuchung besteht in der Beantwortung der Frage, „in wessen Namen“ (=Wert) die Personen in einem gegebenen Text gerade diese Entwicklung durchlaufen.

Logisch-semantische Ebene: Diese ist die tiefste Ebene. Sie ist auch die abstrakteste. Sie beruht auf dem Postulat, daß jeder Rede und ihrer narrativen und diskursiven Gestaltung logische Formen und Formen des Bedeutens zugrunde liegen. Auf dieser Ebene besteht die Analyse darin, die Logik zu präzisieren, die den grundlegenden Gliederungen des erzählerischen und figurativen Bogens eines Textes innewohnt. Zu diesem Zweck wird oft ein Instrument verwendet, das man „semiotisches Viereck“ ( „carré sémiotique“) nennt; es benützt die Beziehungen zwischen zwei „ gegensätzlichen“ und zwei „sich widersprechenden“ Ausdrücken (z.B. weiß und schwarz; weiß und nicht-weiß, schwarz und nicht-schwarz).

Die Theoretiker bauen die semiotische Methode immer weiter aus. Die gegenwärtigen Forschungen beziehen sich namentlich auf die „Ausdrucksweise“ („Enonciation“) und auf die „Intertextualität“. Zuerst wurde diese Methode auf die erzählenden Texte der Heiligen Schrift angewendet, da sich diese besser dazu eignen. Doch überträgt man sie immer mehr auch auf andere Gattungen biblischer Darstellung.

Diese sehr geraffte Beschreibung der Semiotik und vor allem die Darstellung ihrer Voraussetzungen lassen den Gewinn und die Grenzen dieser Methode bereits erahnen. Indem sie vermehrt darauf aufmerksam macht, daß jeder biblische Text ein kohärentes Ganzes ist, das bestimmten linguistischen Gesetzen gehorcht, trägt die Semiotik zu unserem Verständnis der Bibel, dem Wort Gottes in menschlicher Sprache bei.

Die Semiotik kann zur Erforschung der Bibel nur dann gebraucht werden, wenn man diese Methode der Analyse von gewissen in der strukturalistischen Philosophie entwickelten Voraussetzungen freimacht, d.h. wenn man sie von der Negierung des erzählenden Subjekts und des außertextlichen Bezugs löst. Die Bibel ist ein Wort über die Wirklichkeit. Gott hat es in einer Geschichte gesprochen. In ihr wendet er sich auch heute noch an uns durch die Vermittlung von menschlichen Verfassern. Der semiotische Zugang muß für die Geschichte offen sein: zuerst für die Geschichte der Akteure der Texte, dann für die der Textverfasser und für die ihrer Leser. Bei denjenigen, die die semiotische Analyse verwenden, ist das Risiko groß, sich mit einer formellen Erforschung des Inhaltes zu begnügen und so an der Botschaft der Texte vorbeizugehen.

Wenn die semiotische Analyse sich nicht in den Labyrinthen einer komplizierten Sprache verliert, wenn sie in einfacher Sprache in ihren Hauptelementen dargelegt wird, kann sie in uns Christen das berechtigte Bedürfnis wecken, den biblischen Text zu studieren und seine Sinndimensionen zu entdecken, auch wenn wir nicht im Besitz aller historischer Kenntnisse sind, die sich auf den Text und seine sozio-kulturelle Welt beziehen. So kann sich diese Methode selbst in der Seelsorge, besonders für eine Aneignung der Heiligen Schrift in nicht spezialisierten Kreisen (6), als nützlich erweisen.

C. Auf die Tradition gegründete Zugänge zur Heiligen Schrift

Obschon sich die oben dargestellten literarischen Methoden von der historisch-kritischen Methode durch größere Gewichtung der inneren Einheit der erforschten Texte unterscheiden, genügen sie allein für die Interpretation der Bibel nicht, da sie jeden Text isoliert für sich untersuchen. Die Bibel ist aber nicht einfach eine Sammlung von Texten ohne Beziehungen untereinander. Sie ist vielmehr eine Einheit von Zeugnissen einer einzigen großen Tradition. Um ihrem Forschungsgegenstand zu entsprechen, muß die biblische Exegese dieser Tatsache Rechnung tragen. Mehrere moderne Zugänge zur Heiligen Schrift werden in dieser Perspektive verständlich.

1. Kanonischer Zugang („Kanonkritik“)

Der „kanonische“ Zugang entstand vor ca. zwanzig Jahren in den USA. Nachdem festgestellt worden ist, daß es der historisch-kritischen Methode manchmal schwerfällt, theologisch relevante Ergebnisse zu erzielen, möchte der „kanonische“ Zugang eine theologische Interpretationsmethode anwenden, die sich explizit im Rahmen des Glaubens bewegt: sie stützt sich auf die Bibel als Ganzes.

Jeder biblische Text wird demgemäß im Lichte des Kanons der Heiligen Schrift interpretiert, d.h. im Licht der Bibel als Weisung für den Glauben einer Gemeinschaft von Gläubigen. Die Methode sucht jeden Text innerhalb des einzigen Planes Gottes zu situieren, um eine Aktualisierung der Heiligen Schrift für unsere Zeit anzustreben. Dadurch soll die historisch-kritische Methode nicht ersetzt, sondern ergänzt werden.

Es wurden zwei verschiedene Gesichtspunkte vorgeschlagen:

Brevard S. Childs konzentriert sein Interesse auf die kanonische Endform des Textes (Buch oder Sammlung von Büchern), die Form, die von der Gemeinschaft als die Autorität angenommen wird, die ihren Glauben ausdrückt und ihr Leben lenkt.

James A. Sanders seinerseits schenkt seine Aufmerksamkeit mehr dem „kanonischen Vorgang“ – der progressiven Entwicklung der von der Glaubensgemeinschaft als normativ anerkannten Schriften – als der stabilisierten Endform des Textes. Die kritische Erforschung dieses Vorganges versucht herauszufinden, auf welche Weise die alten Traditionen in einem anderen Kontext neu gebraucht wurden, bevor sie ein Ganzes bildeten, das dauerhaft und anpassungsfähig zugleich ist, kohärent und verschiedenartige Elemente umfassend, ein Ganzes, aus dem die Glaubensgemeinschaft ihre Identität schöpfen kann. Bei diesem Prozeß wurden, und werden auch heute noch nach der Fixierung des Kanons, hermeneutische Methoden angewendet; sie gleichen oft der Art des Midrasch und dienen der Aktualisierung des biblischen Textes. Indem sie sich auf eine Interpretation berufen, die es sich zur Aufgabe macht, die Tradition zu aktualisieren, begünstigen sie eine fortwährende Interaktion zwischen der Gemeinschaft und ihren heiligen Schriften.

Der kanonische Zugang reagiert zu Recht gegen eine Überbewertung dessen, was als originell und ursprünglich angesehen wird, als ob dies allein authentisch wäre. Die inspirierte Schrift ist jedoch in Wirklichkeit jene Heilige Schrift, die von der Kirche als ihre Glaubensregel anerkannt wurde. (7) In dieser Hinsicht kann man das Gewicht entweder auf die Endgestalt legen, in der sich heute jedes Buch der Bibel befindet, oder auf die Gesamtheit, die den Kanon bildet. Ein Buch wird nur im Lichte des ganzen Kanons zum „biblischen Buch“.

Die Glaubensgemeinschaft ist unzweifelhaft der angemessene Kontext für die Interpretation der kanonischen Texte. In ihr bereichern der Glaube und der Heilige Geist die Exegese. Die kirchliche Autorität, die im Dienste der Gemeinschaft steht, muß darüber wachen, daß die Interpretation der großen Tradition, aus der die Texte hervorgingen, treu bleibt (vgl. Dei Verbum, 10).

Der kanonische Zugang wirft verschiedene Probleme auf, besonders wenn er versucht, den „kanonischen Vorgang“ zu definieren. Von wann an kann man einen Text als „kanonisch“ betrachten? Es läßt sich die Position vertreten, dies sei von dem Zeitpunkt an der Fall, an dem eine Gemeinschaft dem Text normative Autorität zuerkennt; dies kann sogar vor der definitiven Festlegung dieses Textes geschehen. Von einer „kanonischen“ Hermeneutik spricht man, wenn die Wiederholung der Traditionen, trotz neuen religiösen, kulturellen, theologischen Bedingungen in sich verändernden Situationen, die Identität der Botschaft aufrechterhält. Doch stellt sich die Frage: Soll der Interpretationsprozeß, der zur Bildung des Kanons geführt hat, auch heute noch als Interpretationsregel für die Heilige Schrift gelten?

Andererseits verursachen die komplexen Beziehungen zwischen dem jüdischen und dem christlichen Kanon der heiligen Schriften zahlreiche Interpretationsprobleme. Die christliche Kirche hat als „Altes Testament“ die Schriften übernommen, die in der jüdisch-hellenistischen Gemeinschaft maßgebend waren; darunter finden sich solche, die nicht oder in anderer Form in der hebräischen Bibel enthalten sind. Das Corpus der Texte ist somit verschieden. Aus diesem Grund kann die kanonische Interpretation beider „Schriften“ nicht identisch sein, da ja jeder Text in seiner Beziehung zum ganzen Corpus gelesen werden muß. Vor allem aber liest die Kirche das Alte Testament im Lichte des österlichen Geschehens – Tod und Auferstehung Jesu Christi. Das führte zu etwas grundlegend Neuem und verleiht den heiligen Schriften mit souveräner Autorität einen entscheidenden und definitiven Sinn (vgl. Dei Verbum, 4). Diese neue Sinnbestimmung gehört voll und ganz zum christlichen Glaubensgut. Trotzdem darf sie deshalb der älteren, kanonischen Interpretation, die dem christlichen Osterglauben vorausging, nicht jede Bedeutung absprechen. Denn jede Phase der Heilsgeschichte muß auch in ihrem Eigenwert geachtet werden. Das Alte Testament seines Sinnes zu entleeren, hieße das Neue Testament von seinen geschichtlichen Wurzeln abschneiden.

2. Zugänge über die jüdische Interpretations-Tradition

Das Alte Testament erhielt seine Endgestalt im Judentum der letzten vier oder fünf Jahrhunderte, die der christlichen Zeitrechnung vorausgingen. Dieses Judentum war das Ursprungsmilieu des Neuen Testamentes und der entstehenden Kirche. Zahlreiche Studien der alten jüdischen Geschichte und namentlich die Forschungen, zu denen die Entdeckungen von Qumran Anlaß gaben, haben die Komplexität der jüdischen Welt dieser Zeit, sei es im Land Israel oder in der Diaspora, ins Licht gestellt.

Die Interpretation der Heiligen Schrift begann in diesem Milieu. Eines der ältesten Zeugnisse der jüdischen Interpretation der Bibel ist die antike griechische Übersetzung, die Septuaginta. Die aramäischen Targumim stellen ein anderes Zeugnis des gleichen Bemühens dar, das sich bis heute fortsetzt. Das Judentum hat eine außergewöhnliche Summe von gelehrten Mitteln im Dienst der Erhaltung des Textes des Alten Testaments und der Sinnerklärung der biblischen Texte hervorgebracht. Zu allen Zeiten haben die besten christlichen Exegeten, seit Origenes und Hieronymus versucht, die jüdische biblische Gelehrsamkeit für ein besseres Verständnis der Heiligen Schrift zu nutzen. Zahlreiche moderne Exegeten folgen diesem Beispiel.

Im besonderen erlauben uns die alten jüdischen Traditionen, die Septuaginta besser kennenzulernen, eine jüdische Bibel in griechischer Sprache, die den ersten Teil der christlichen Bibel zumindest während der ersten vier Jahrhunderten der Kirche bildete, was im Orient bis heute der Fall ist. Die reiche und mannigfaltige jüdische, außerkanonische Literatur, die man apokryph oder zwischentestamentlich nennt, ist eine wichtige Quelle für die Interpretation des Neuen Testaments. Die verschiedenen exegetischen Vorgehensweisen, die im Judentum der verschiedenen Richtungen praktiziert wurden, lassen sich im Alten Testament selber wiederfinden, z.B. in den Chronikbüchern in ihrem Verhältnis zu den Königsbüchern, und im Neuen Testament, z.B. in gewissen exegetischen Beweisführungen bei Paulus. Die Vielfalt der Formen (Parabeln, Allegorien, Anthologien und Centos, „relectures“, (8) pescher, Verbindung von weit auseinanderliegenden Texten, Psalmen und Hymnen, Visionen, Offenbarungen und Träume, weisheitliche Kompositionen usw.) ist dem Alten und Neuen Testament gemeinsam, so wie auch der Literatur aller jüdischen Kreise vor und nach der Zeit Jesu. Die Targumim und die Midraschim repräsentieren die Homiletik und die biblische Interpretation breiter Kreise des Judentums der ersten Jahrhunderte.

Zahlreiche Exegeten des Alten Testaments wenden sich außerdem an jüdische Kommentatoren, Grammatiker und Lexikographen des Mittelalters oder der neueren Zeit, um zum besseren Verständnis unklarer Abschnitte oder seltener oder nur einmal vorkommender Wörter zu gelangen. Weit mehr als früher bezieht man sich heute in der exegetischen Diskussion auf solche jüdische Werke.

Der Reichtum des jüdischen Wissens von der Antike bis heute im Dienst der Bibel ist eine Hilfe ersten Rangs für die Exegese der beiden Testamente, jedoch unter der Bedingung, daß dieses Wissen sachgerecht eingesetzt wird. Das alte Judentum war sehr mannigfaltig. Die pharisäische Form, die später im Rabbinismus weiterlebte, ist nicht die einzige Form . Die alten jüdischen Texte verteilen sich auf mehrere Jahrhunderte, und es ist wichtig, sie chronologisch einzuordnen, bevor man sie miteinander vergleicht. Vor allem ist der Gesamtrahmen der jüdischen und der christlichen Gemeinschaft grundlegend verschieden: auf jüdischer Seite geht es, wenn auch in mannigfaltigen Formen, um eine Religion, die ein Volk und eine Lebenspraxis auf der Basis einer geoffenbarten Schrift und einer mündlichen Tradition bestimmt, während auf christlicher Seite der Glaube an den gestorbenen, auferstandenen und nun lebendigen Herrn Jesus, den Messias und Sohn Gottes, Fundament der Gemeinschaft ist. Diese zwei Ausgangspunkte schaffen für die Interpretation der heiligen Schriften zwei Kontexte, die trotz vieler Kontakte und Ähnlichkeiten radikal verschieden sind.

3. Der Zugang über die Wirkungsgeschichte des Textes

Dieser Zugang beruht auf zwei Grundtatsachen: a) ein Text wird nur dann zum literarischen Werk, wenn er Leser findet, die ihn lebendig werden lassen, indem sie ihn sich zu eigen machen; b) diese Aneignung des Textes, die individuell oder gesellschaftlich und in verschiedenen Bereichen (Literatur, Kunst, Theologie, Aszetik und Mystik) stattfinden kann, trägt zum besseren Verständnis des Textes selbst bei.

Dieser Zugang zum Text entfaltete sich hauptsächlich zwischen 1960 und 1970 in den Literaturwissenschaften, obwohl man ihn auch schon in der Antike kannte. Damals begann sich die Literaturkritik intensiv für die Beziehung zwischen Text und Leserschaft zu interessieren. Die biblische Exegese profitierte von dieser Forschung, dies um so mehr, als die philosophische Hermeneutik ihrerseits die notwendige Distanz zwischen Werk und Autor, wie zwischen Werk und Lesern betonte. Deshalb begann man, in der Interpretationsarbeit die Geschichte der Wirkung eines Buches oder eines Abschnittes der Heiligen Schrift zu beachten (Wi rkungsgeschichte oder Rezeptionsgeschichte). Man bemüht sich, den Entwicklungsverlauf der Interpretation im Rahmen der Funktion der sich wandelnden Situation der Leser zu verfolgen und die Bedeutung der Tradition und ihrer Funktion für das Verständnis der biblischen Texte zu bestimmen.

In der Begegnung des Textes mit den Lesern entsteht eine Dynamik; denn der Text besitzt eine Ausstrahlung und löst Reaktionen aus. Er läßt einen Ruf erklingen, der von den Lesern, sei es einzeln oder gemeinsam, gehört wird. Leser und Leserin sind übrigens nie isolierte Individuen. Sie gehören zu einem sozialen Raum und befinden sich innerhalb einer Tradition. Sie gehen den Text mit ihren Fragen an, wählen aus, schlagen eine Auslegung vor und können schließlich ein neues Werk schaffen oder Initiativen ergreifen, die ihnen direkt von ihrer Lektüre der Heiligen Schrift eingegeben werden.

Beispiele für diesen Zugang sind bereits zahlreich. Die Geschichte der Auslegung des „Hohenliedes“ ist dafür ein besonders deutliches Zeugnis. Sie zeigt, wie dieses Buch in der Zeit der Kirchenväter, im lateinisch-monastischen Milieu des Mittelalters oder in der Mystik wie beim hl. Johannes vom Kreuz aufgenommen wurde. Sie erlaubt daher, alle Sinndimensionen dieser Dichtung besser zu erfassen. Auf gleiche Weise ist es im Neuen Testament möglich und nützlich, den Sinn einer Perikope (z.B. der reiche junge Mann in Mt19, 16-26 par.) im Lichte der im Lauf der Kirchengeschichte durch sie ausgelösten Impulse zu interpretieren.

Doch die Geschichte zeigt auch die Existenz von falschen und einseitigen Tendenzen der Interpretation, die unheilvolle Auswirkungen hatten, z.B. wenn sie zum Antisemitismus oder zu anderen Rassendiskriminierungen oder etwa zu millenaristischen Illusionen führten. Daraus wird ersichtlich, daß dieser Zugang allein für die Interpretation nicht genügen kann. Eine Differenzierung ist notwendig. Man muß sich davor hüten, den einen oder andern Zeitpunkt der Wirkungsgeschichte eines Textes zu privilegieren, um ihn zur einzigen Interpretations-Regel dieses Textes zu erheben.

D. Zugänge über Humanwissenschaften

Um sich mitzuteilen, hat das Wort Gottes im konkreten Leben eines Volkes Wurzeln gefaßt (vgl. Sir 24, 12). Es bahnte sich einen Weg durch die psychologischen Bedingungen der biblischen Verfasser hindurch. Deshalb können die Humanwissenschaften – besonders die Soziologie, Anthropologie und Psychologie – zu einem besseren Verständnis gewisser Aspekte der Texte vieles beitragen. Es muß jedoch beachtet werden, daß es verschiedene Schulen mit beträchtlichen Divergenzen bezüglich der Natur dieser Wissenschaften gibt. Trotzdem haben tatsächlich zahlreiche Exegeten aus den neuesten Forschungen auf diesen Gebieten Gewinn gezogen.

1. Soziologischer Zugang

Religiöse Texte stehen in einem wechselseitigen Verhältnis zu den Gesellschaften, in denen sie entstehen. Diese Feststellung gilt zweifellos auch für die biblischen Texte. Folglich benötigt die kritische Erforschung der Bibel eine möglichst genaue Kenntnis des für die verschiedenen Milieus charakteristischen sozialen Verhaltens, in denen die biblischen Traditionen entstanden sind. Diese sozio-historische Information muß durch eine korrekte soziologische Erklärung ergänzt werden, die im Einzelfall die Bedeutung der sozialen Existenzbedingungen wissenschaftlich auswertet.

Die soziologische Betrachtungsweise hat schon seit langem Einzug in die Geschichte der Exegese gehalten. Davon zeugt die Aufmerksamkeit, die die Formgeschichte dem Entstehungsmilieu („Sitz im Leben“) der Texte geschenkt hat: allgemein wird anerkannt, daß die biblischen Traditionen die Charakteristika ihrer sozialgeschichtlichen Überlieferungsmilieus widerspiegeln. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts erforschte die „Chicago-Schule“ die sozio-historische Situation der Urchristenheit und gab dadurch der historischen Kritik einen starken Impuls. Seit den letzten zwanzig Jahren (1970-1990) gehört der soziologische Zugang zu den biblischen Texten voll und ganz zur exegetischen Forschung.

Zahlreich sind die Fragen, die sich von daher für die Exegese des Alten Testaments stellen. So muß man sich zum Beispiel fragen, welche verschiedenen sozialen und religiösen Organisationsformen Israel im Verlaufe seiner Geschichte kannte. Reicht das ethnologische Modell einer akephalen segmentären Gesellschaft als Ausgangsbasis für die Beschreibung der vorstaatlichen Epoche Israels aus? Wie gelangte man von einem losen Sippenverband zu einem monarchisch organisierten Staat und von da zu einem Gemeinwesen, das seine Einheit allein aus Religion und Abstammung erhält? Welche wirtschaftlichen, militärischen und sonstigen Veränderungen wurden in der Struktur der Gesellschaft durch die Bewegung der politischen und religiösen Zentralisation bewirkt, die zur Monarchie führte? Trägt die Erforschung der Verhaltensnormen im Alten Orient und in Israel nicht wirksamer zum Verständnis des Dekalogs bei als die rein literarischen Rekonstruktionsversuche eines postulierten Urtextes? (9)

Für die Exegese des Neuen Testamentes stellen sich natürlich andere Fragen. Man muß sich zum Beispiel fragen: Welcher Wert ist der Theorie einer Charismatikergruppe, die ohne festen Wohnsitz, ohne Familie und ohne Habe umhergezogen ist, beizumessen, um die vorösterliche Lebensform Jesu und seiner Jünger zu erklären? Besteht eine Kontinuität zwischen der radikalen Loslösung (10), wie sie von Jesus geübt wurde und zu der er die Jünger in seiner Nachfolge aufrief, und der Haltung der christlichen, nachösterlichen Bewegung in den verschiedensten Milieus der Urkirche? Was wissen wir von der sozialen Struktur der paulinischen Gemeinden im Rahmen der von Fall zu Fall in Frage kommenden entsprechenden städtischen Kultur?

Im allgemeinen hat der soziologische Zugang für die exegetische Arbeit viele positive Aspekte; insbesondere wird sie dadurch offener. Für die historische Kritik ist es unerläßlich, die soziologischen Gegebenheiten zu kennen. Diese tragen dazu bei, die wirtschaftliche, kulturelle und religiöse Situation der biblischen Welt verständlich zu machen. Die dem Exegeten gestellte Aufgabe, das Glaubenszeugnis der apostolischen Kirche adäquat zu erfassen, kann ohne die exakte wissenschaftliche Erforschung der engen Zusammenhänge der neutestamentlichen Texte mit dem sozialen Kontext der Urkirche nicht erfüllt werden. Die Anwendung von soziologischen Modellen eröffnet dem Bibliker viele neue Möglichkeiten, die damaligen geschichtlichen Verhältnisse zu erforschen, doch müssen diese Modelle selbstverständlich der zu untersuchenden Realität angepaßt werden.

Wir müssen indes auch auf einige Risiken hinweisen, die der soziologische Zugang für die Exegese mit sich bringt. Die Arbeit der Soziologie besteht darin, lebende Gesellschaften zu erforschen. So wäre es in der Tat nicht erstaunlich, daß Schwierigkeiten auftauchen, wenn man diese Methoden auf längst vergangene soziale Verhältnisse anwenden will. Die biblischen und außerbiblischen Texte stellen nicht ohne weiteres eine genügend große Dokumentation dar, um eine Gesamtübersicht der damaligen Gesellschaft zu bieten. Die soziologische Methode hat außerdem gelegentlich die Tendenz, den wirtschaftlichen und institutionellen Aspekten der menschlichen Existenz ein größeres Gewicht zuzuerkennen als ihren persönlichen und religiösen Dimensionen.

2. Zugang über die Kulturanthropologie

Der Zugang zu den biblischen Texten, der sich auf die Forschungen der Kulturanthropologie stützt, steht in enger Beziehung mit dem soziologischen Zugang. Der Unterschied zwischen diesen beiden Zugängen liegt gleichzeitig auf der Ebene der Sensibilität, der Methode und der Realitätsaspekte, die hier die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Während der soziologische Zugang – wie wir eben sahen – vor allem die wirtschaftlichen und institutionellen Aspekte analysiert, interessiert sich der anthropologische Zugang an einer Vielzahl anderer Aspekte, die sich in Sprache, Kunst, Religion widerspiegeln, aber auch in Kleidung, Schmuck, Festen, Tänzen, Mythen, Legenden und allem, was zur Ethnologie gehört.

Im allgemeinen versucht die Kulturanthropologie die Charakteristika der verschiedenen Menschentypen in ihrem sozialen Umfeld zu definieren – z.B. des Menschen des Mittelmeerraums – mit allen Untersuchungen ihres ländlichen oder städtischen Milieus, der von der Gesellschaft anerkannten Werte (Ehre und Unehre, Verschwiegenheit, Treue, Tradition, Art der Erziehung, Schulen), der Art und Weise, wie die soziale Kontrolle ausgeübt wird, der Vorstellungen über Familie, Haus, Verwandtschaft, Stellung der Frau, der institutionellen Binome wie Patron – Klient, Eigentümer – Mieter, Wohltäter – Empfänger, freier Mensch – Sklave, ferner der Begriffe heilig und profan, der Tabus, der Initiationsrituale, der Magie, des Ursprungs der natürlichen Produktionsmittel, der Gewalt, der Information usw.

Auf der Basis dieser verschiedenen Elemente werden Typologien und „Modelle“ erstellt, die in mehreren Kulturen vorkommen.

Diese Forschungsrichtung kann natürlich für die Interpretation der biblischen Texte nützlich sein. Sie wird hauptsächlich für die Erforschung der Verwandtschaftsbegriffe im Alten Testament gebraucht, für die Stellung der Frau in der israelitischen Gesellschaft, für den Einfluß von Agrarriten usw. In Texten, die die Lehre Jesu wiedergeben, z.B. die Gleichnisse, können viele Einzelzüge durch diese Methode erhellt werden. Das Gleiche gilt für solche Grundbegriffe wie „Reich Gottes“ oder für die Art, die Zeit in der Heilsgeschichte zu verstehen, sowie für die Prozesse der Gemeindebildung in der Urkirche. Dieser Zugang erlaubt eine bessere Unterscheidung zwischen bleibenden Elementen der biblischen Botschaft, die in der menschlichen Natur begründet sind, und kontingenten Prägungen, die von besonderen Kulturen herrühren. Allerdings ist dieser Zugang ebenso wie andere besondere Zugänge allein nicht in der Lage, den spezifischen Beitrag der Offenbarung zu erfassen. Dies darf man bei der Beurteilung der Bedeutung seiner Ergebnisse nicht aus dem Auge verlieren.

3. Psychologische und psychoanalytische Zugänge

Psychologie und Theologie haben den gemeinsamen Dialog nie abgebrochen. Die moderne Ausweitung der psychologischen Forschung auf die dynamischen Strukturen des Unbewußten hat zu neuen Interpretationsversuchen alter Texte geführt, so auch der Bibel. Ganze Werke wurden der psychoanalytischen Deutung der biblischen Texte gewidmet. Lebhafte Diskussionen folgten darauf: wie weit und unter welchen Bedingungen können psychologische und psychoanalytische Forschungen zu einem tieferen Verständnis der Heiligen Schrift beitragen?

Die psychologischen und psychoanalytischen Forschungen tragen zur Bereicherung der biblischen Exegese bei, denn dank ihnen können Bibeltexte als Lebenserfahrungen und Verhaltensmuster verstanden werden. Man weiß, daß Religion immer in einem Dialog- und Spannungsverhältnis zum Unbewußten steht. Sie trägt in beachtlichem Maße zur richtigen Orientierung der menschlichen Triebe bei. Die Dimensionen, die die historische Kritik methodisch erforscht, sind durch die Analyse der verschiedenen Realitätsebenen, die in den Texten ausgesprochen werden, zu ergänzen. Die Psychologie und die Psychoanalyse bemühen sich, in diese Richtung zu gehen. Sie öffnen einem mulitidimensionalen Verständnis der Heiligen Schrift den Weg und helfen so, die menschliche Sprache der Offenbarung aufzuschlüsseln.

Die Psychologie und in ihrer Weise auch die Psychoanalyse haben im besonderen ein neues Symbolverständnis gebracht. Die symbolische Sprache erlaubt es, Sphären der religiösen Erfahrung auszudrücken, die dem rein begrifflichen Denken nicht zugänglich, für die Frage nach der Wahrheit aber wert voll sind. Interdisziplinäre Forschung, die von Exegeten und Psychologen oder Psychoanalytikern gemeinsam durchgeführt wird, bringt deshalb echte Vorteile mit sich, die objektiv begründet sind und sich in der Pastoral bewähren.

Zahlreiche Beispiele können aufgeführt werden, die die Notwendigkeit gemeinsamer Bemühung der Exegeten und Psychologen zeigen, so z.B. wenn es darum geht, den Sinn der kultischen Riten, der Opfer, der Tabus zu erhellen, die bildliche Sprache der Bibel zu entschlüsseln, die metaphorische Tragweite der Wundererzählungen, die Triebkräfte des in den apokalyptischen Visionen und Auditionen sich abspielenden Dramas zu bestimmen. Es geht nicht einfach darum, die symbolische Sprache der Bibel zu beschreiben, sondern auf ihren Offenbarungs- und Aufrufs-Charakter einzugehen: in ihr tritt die numinose Realität Gottes in Kontakt mit dem Menschen.

Selbstverständlich muß der Dialog zwischen Exegese und Psychologie oder Psychoanalyse im Hinblick auf ein besseres Verständnis der Bibelkritisch sein und die jeder Disziplin eigenen Grenzen beachten. Eine atheistische Psychologie oder Psychoanalyse wäre naturgemäß nicht in der Lage, Glaubenswirklichkeiten adäquat zu verstehen. Psychologie und Psychoanalyse sind sicher von Nutzen, wenn es darum geht, das Ausmaß menschlicher Verantwortung zu bestimmen; sie dürfen aber nicht die Wirklichkeit von Sünde und Heil in Frage stellen. Man muß sich außerdem davor hüten, spontane Religiosität mit der biblischen Offenbarung zu verwechseln oder den geschichtlichen Charakter der biblischen Botschaft anzutasten, der ihr den Wert eines einmaligen Ereignisses verleiht.

Außerdem muß man beachten, daß man nicht einfach von „psychoanalytischer Exegese“ sprechen kann, als ob es nur eine gäbe. In Wirklichkeit gibt es je nach den verschiedenen Schulen und Richtungen der Psychologie eine große Zahl von Erkenntnissen, die dazu dienen können, das menschliche und theologische Verständnis der Bibel zu vertiefen. Es ist keineswegs von Vorteil für die gemeinsame Aufgabe, wenn man gewisse Positionen der verschiedenen Schulen verabsolutiert, im Gegenteil, es schadet ihr eher.

Die Humanwissenschaften beschränken sich nicht auf die Soziologie, Kulturanthropologie und Psychologie. Auch andere Forschungsrichtungen können für die Bibelauslegung nützlich sein. In all diesen Bereichen muß man die gegenseitigen Kompetenzen respektieren und zur Kenntnis nehmen, daß nur selten die gleiche Person zugleich in der Exegese und einer Humanwissenschaft qualifiziert ist.

E. Kontextuelle Zugänge zur Heiligen Schrift

Die Auslegung eines Textes hängt immer von der Mentalität und der Situation seiner Leser ab. Diese wenden gewissen Aspekten besondere Aufmerksamkeit zu und vernachlässigen unbewußt andere. Es ist deshalb unvermeidlich, daß die Exegeten in ihrer Arbeit unter dem Einfluß aktueller Denkströmungen neue Gesichtspunkte entdecken, die vorher nicht genügend wahrgenommen wurden. Dies verlangt jedoch kritisches Unterscheidungsvermögen. Heute sind es besonders die Befreiungsbewegungen und der Feminismus, die auf die größte Beachtung stoßen.

1. Der Zugang zur Heiligen Schrift im Umfeld von Befreiung

Die Befreiungstheologie ist ein komplexes Phänomen, das man nicht ungehörig vereinfachen darf. Als theologische Bewegung konsolidierte sie sich in den siebziger Jahren. Zusammen mit den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Gegebenheiten der lateinamerikanischen Länder waren es zwei große kirchliche Ereignisse, die sie hervorbrachten: das 2. Vatikanische Konzil mit seinem ausgesprochenen Willen zum aggiornamento und zur Ausrichtung der kirchlichen Seelsorge auf die Bedürfnisse der heutigen Welt; die 2. Vollversammlung des CELAM 1968 in Medellin, die die Lehre des Konzils den Bedürfnissen Lateinamerikas anpaßte. Diese Bewegung hat sich dann in anderen Ländern und Erdteilen verbreitet (Afrika, Asien, farbige Bevölkerung der USA).

Es ist schwierig zu sagen, ob es „eine“ Befreiungstheologie gibt und welches ihre Methode ist. Es ist ebenso schwierig, adäquat zu beschreiben, wie sie die Bibel liest und so ihren Beitrag und ihre Grenzen herauszuarbeiten. Man kann sagen, daß es sich nicht um eine besondere Methode handelt. Sie liest die Heilige Schrift von eigenen sozio-kulturellen und politischen Standpunkten aus und bezieht sie auf die konkreten Bedürfnisse des Volkes, das ja in der Bibel Nahrung für seinen Glauben und sein Leben finden soll.

Man begnügt sich also nicht mit einer objektivierenden Auslegung des Textes, die sich auf seine Aussage in seinem ursprünglichen Kontext konzentriert. Man sucht vielmehr nach einem Verständnis, das aus der gelebten Situation des Volkes erwächst. Wenn dieses in Unterdrückung lebt, muß es auf die Bibel zurückgreifen, um die Nahrung finden zu können, die es in seinem Ringen und in seinen Hoffnungen unterstützt. Die konkrete Realität darf nicht ignoriert werden, im Gegenteil, sie muß direkt angegangen und durch das Licht des Wortes der Heiligen Schrift erhellt werden. Von diesem Licht her entsteht die authentische christliche Praxis, die durch Gerechtigkeit und Liebe auf eine Wandlung der Gesellschaft hinzielt. Der Glaube findet in der Heiligen Schrift den Ansporn, sich für die integrale Befreiung einzusetzen.

Dieser Zugang basiert auf folgenden Grundeinsichten:

Gott ist in der Geschichte seines Volkes gegenwärtig, um es zu erlösen. Er ist der Gott der Armen, der weder Unterdrückung noch Ungerechtigkeit duldet.

So kann auch die Exegese nicht neutral bleiben, sondern muß wie Gott für die Armen Partei ergreifen und sich im Kampf für die Befreiung der Unterdrückten engagieren.

Wer an diesem Kampf teilnimmt, findet in den biblischen Texten einen Sinngehalt, der nur offenbar wird, wenn sie im Kontext wirklicher Solidarität mit den Unterdrückten gelesen werden.

Die Gemeinschaft der Armen ist der beste Adressat der Bibel als Wort der Befreiung, denn die Befreiung der Unterdrückten ist ein gemeinschaftlicher Prozeß. Die biblischen Texte sind ja überdies für Gemeinschaften geschrieben worden, und es sind Gemeinschaften, denen die Bibellesung in erster Linie anvertraut ist. Dank der den „Gründungsereignissen“ (Auszug aus Ägypten, Leidensgeschichte und Auferstehung Jesu) innewohnenden Kraft, im Laufe der Geschichte neue Realisierungen hervorzubringen, ist und bleibt das Wort Gottes immer aktuell.

Die Befreiungstheologie enthält unbezweifelbar wertvolle Elemente: ein tiefer Sinn für die erlösende Gegenwart Gottes, Betonung der gemeinschaftlichen Dimension des Glaubens, Dringlichkeit einer befreienden Praxis, die in Gerechtigkeit und Liebe wurzelt, eine neue Aneignung der Bibel, die aus dem Wort Gottes Licht und Nahrung für das Volk Gottes inmitten seiner Kämpfe und seiner Hoffnungen schöpft. So ist die volle Aktualität des inspirierten Textes hervorgehoben.

Eine solche engagierte Art, die Bibel zu lesen, enthält indes Risiken. Doch da sie an eine Bewegung gebunden ist, die noch ganz im Werden begriffen ist, haben die folgenden Bemerkungen nur vorläufigen Charakter:

Diese Weise, die Bibel zu lesen, stützt sich vor allem auf narrative und prophetische Texte, die Unterdrückungssituationen erhellen und eine Praxis inspirieren und so auf eine soziale Veränderung hinorientiert sind. Hier und da kann sie wohl etwas voreingenommen sein und nicht allen Texten der Bibel ihre gleiche Aufmerksamkeit schenken. Die Exegese kann nie ganz neutral sein; sie muß sich jedoch vor Einseitigkeit hüten. Außerdem gehört das soziale und politische Engagement nicht direkt zu den Aufgaben des Exegeten.

Theologen und Exegeten mußten sich der Instrumente der Gesellschaftsanalyse bedienen, um die biblische Botschaft im sozio-politischen Kontext zum Tragen zu bringen. Gewisse Strömungen der Befreiungstheologie haben in dieser Perspektive eine Analyse vorgenommen, die von materialistischen Doktrinen inspiriert war. Die Bibel wurde dann in diesem Rahmen gelesen. Dies wirft Fragen auf, namentlich, was das marxistische Prinzip des Klassenkampfs anlangt.

Unter dem Druck ungeheurer sozialer Probleme wurde der Akzent eher auf eine irdische Eschatologie gelegt, manchmal auf Kosten der transzedenten endzeitlichen Dimension der Heiligen Schrift.

Die sozialen und politischen Veränderungen führen diesen befreiungstheologischen Zugang zur Heiligen Schrift dazu, sich neuen Fragen zu stellen und neue Orientierungen zu suchen. Für seine weitere Entwicklung und seine Fruchtbarkeit in der Kirche wird es entscheidend sein, seine hermeneutischen Voraussetzungen, seine Methoden sowie seine Kohärenz mit dem Glauben und der Tradition der gesamten Kirche zu klären.

2. Feministischer Zugang

Die feministische Bibelhermeneutik entstand am Ende des 19. Jahrhunderts in den USA, im sozio-kulturellen Kontext des Kampfes für die Frauenrechte, mit dem Komitee der Bibelrevision. Dieses brachte „The Woman’s Bible“ in zwei Bänden (New York 1885, 1898) heraus. Seit den siebziger Jahren unseres Jahrhunderts, im Gefolge der Frauen-Emanzipation trat diese Strömung mit neuer Kraft in Erscheinung und hatte eine enorme Entwicklung, hauptsächlich in Nordamerika. Genau genommen, muß man verschiedene feministische biblische Hermeneutiken unterscheiden, denn der Umgang mit der Heiligen Schrift ist in diesem Umkreis sehr verschieden. Ihre Einheit kommt vom gemeinsamen Thema, der Frau, und vom verfolgten Ziel, der Befreiung der Frau und der Erlangung gleicher Rechte wie die des Mannes.

Wir wollen hier drei Hauptformen der feministischen Bibelhermeneutik erwähnen: die radikale, die neu-orthodoxe und die kritische Form.

Die radikale Form weist die Autorität der Bibel total zurück, indem sie sagt, die Bibel sei ein Produkt von Männern mit dem Zweck, die Herrschaft des Mannes über die Frau zu sichern (Androzentrismus).

Die neu-orthodoxe Form nimmt die Bibel als prophetisches Buch und ist bereit, sich ihrer in dem Maß zu bedienen, als sie für die Schwachen, also auch für die Frauen Partei ergreift; diese Orientierung gilt als „Kanon im Kanon“, um all das ins Licht zu stellen, was der Befreiung der Frau und ihrer Rechte dient.

Die kritische Form benützt eine subtile Methodologie und versucht, Stellung und Rolle der christlichen Frau innerhalb der Jesus-Bewegung und in den paulinischen Gemeinden zu entdecken. Zu dieser Zeit hätte man sich zur Gleichberechtigung der Geschlechter bekannt. Doch diese Situation wäre dann zum großen Teil schon in den heiligen Schriften des Neuen Testamentes und erst recht später verwischt worden, da der Patriarchalismus und der Androzentrismus immer mehr die Oberhand gewannen.

Die feministische Hermeneutik hat keine eigene neue Methode ausgearbeitet. Sie bedient sich gängiger Methoden der Exegese, speziell der historisch-kritischen. Sie fügt aber zwei Forschungskriterien hinzu.

Das erste ist das feministische Kriterium, das der Frauen-Emanzipation entnommen ist und sich auf der Linie der allgemeineren Bewegung der Befreiungstheologie bewegt. Es benützt eine Hermeneutik des Verdachtes: da die Geschichte regelmässig durch die Sieger geschrieben wird, kann man nur zur Wahrheit gelangen, wenn man sich nicht einfachhin auf die Texte verläßt, sondern in ihnen nach Indizien sucht, die andere Sachverhalte durchblicken lassen.

Das zweite Kriterium ist soziologischer Art. Es stützt sich auf die Erforschung der Gesellschaft der biblischen Epoche, ihrer sozialen Schichten und der Stellung der Frau.

Was die neutestamentlichen Texte anlangt, so ist letzten Endes das Forschungsziel nicht die Auffassung von der Frau, wie sie im Neuen Testament erscheint, sondern die geschichtliche Rekonstruktion von zwei verschiedenen Situationen der Frau im 1. Jahrhundert: die gewöhnliche in der jüdischen und griechisch-römischen Welt und die schöpferisch neue, die in der Bewegung Jesu und in den paulinischen Gemeinden aufgekommen war, wo alle, Männer und Frauen, eine „Gemeinschaft von Jüngern und Jüngerinnen Jesu“ geformt hätten, die „alle gleich“ waren. Man beruft sich für diese Ansicht auf den Text von Gal 3, 28. Es geht darum, für die heutige Zeit die vergessene Geschichte der Rolle der Frau in der Urkirche wieder zu entdecken.

Die positiven Beiträge der feministischen Exegese sind zahlreich. Seit ihrem Aufkommen nehmen die Frauen aktiver an der exegetischen Forschung teil. Es ist ihnen oft besser als den Männern gelungen, die Präsenz, die Bedeutung und die Rolle der Frau in der Bibel, in der Geschichte der christlichen Ursprünge und in der Kirche wahrzunehmen. Der moderne kulturelle Horizont, der der Würde und der Rolle der Frau in Gesellschaft und Kirche mehr Beachtung schenkt, läßt uns dem biblischen Text neue Fragen stellen, aus denen sich Gelegenheiten für Neuentdeckungen ergeben. Die frauliche Sensibilität findet und korrigiert gewisse geläufige Interpretationen, die tendenziös waren und darauf hinausliefen, die Herrschaft des Mannes über die Frau zu rechtfertigen.

Was das Alte Testament betrifft, so haben sich verschiedene Studien um ein besseres Verständnis des Gottesbildes bemüht. Der Gott der Bibel ist nicht die Projektion einer patriarchalen Mentalität. Er ist Vater; er ist aber auch ein Gott der Zärtlichkeit und mütterlicher Liebe.

In dem Maß, in dem sich die feministische Exegese einem einseitigen Programm verschreibt, setzt sie sich der Versuchung aus, die biblischen Texte in tendenziöser und damit in anfechtbarer Weise zu interpretieren. Um ihre Thesen zu belegen, muß sie dann oft in Ermangelung besserer Argumente auf das Argumentum e silentio zurückgreifen. Dieses ist, wie man weiß, meist unzuverlässig; es genügt jedenfalls nicht, um solide Schlußfolgerungen zu ziehen. Andererseits ist der Versuch fragwürdig, mit Hilfe flüchtiger Indizien in den Texten eine geschichtliche Situation zu rekonstruieren, die diese Texte angeblich verschleiern wollen. Ein solcher Versuch führt nämlich in seiner letzten Konsequenz dazu, den Inhalt der inspirierten Texte selbst zurückzuweisen, um ihm dafür eine andere, hypothetische Konstruktion vorzuziehen.

Die feministische Exegese wirft häufig die Machtfrage in der Kirche auf, die bekanntlich Gegenstand von Diskussionen und Meinungsverschiedenheiten ist. In diesem Bereich kann die feministische Exegese der Kirche nur in dem Maße nützlich sein, als sie nicht dem Übel erliegt, das sie selbst anklagt, und ihrerseits die Lehre des Evangeliums über die Macht als Dienst nicht aus dem Auge verliert, eine Lehre, die Jesus an alle seine Jünger, Männer und Frauen, gerichtet hat. (11)

F. Der fundamentalistische Umgang mit der Heiligen Schrift

Die fundamentalistische Verwendung der Bibel geht davon aus, daß die Heilige Schrift – das inspirierte Wort Gottes und frei von jeglichem Irrtum – wortwörtlich gilt und bis in alle Einzelheiten wortwörtlich interpretiert werden muß. Mit solcher „wortwörtlicher Interpretation“ meint sie eine unmittelbare buchstäbliche Auslegung, d.h. eine Interpretation, die jede Bemühung, die Bibel in ihrem geschichtlichen Wachstum und in ihrer Entwicklung zu verstehen, von vorneherein ausschließt. Eine solche Art, die Bibel zu lesen, steht im Gegensatz zur historisch-kritischen Methode, aber auch zu jeder anderen wissenschaftlichen Interpretationsmethode der Heiligen Schrift.

Der fundamentalistische Umgang mit der Heiligen Schrift hat seine Wurzeln in der Zeit der Reformation, wo man dafür kämpfte, dem Literalsinn der Heiligen Schrift treu zu bleiben. Nach der Aufklärung erschien diese Art, die Bibel zu lesen, im Protestantismus als Reaktion auf die liberale Exegese. Der Begriff „fundamentalistisch“ wurde auf dem Amerikanischen Bibelkongreß geprägt, der 1895 in Niagara im Staate New York stattfand. Die konservativen protestantischen Exegeten legten damals „fünf Punkte des Fundamentalismus“ fest: die Lehre von der wörtlichen Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift, der Gottheit Christi, der jungfräulichen Geburt Jesu, der stellvertretenden Sühne Jesu und der körperlichen Auferstehung bei der Wiederkunft Christi. Als der fundamentalistische Umgang mit der Bibel sich in anderen Weltteilen ausbreitete, führte er in Europa, Asien, Afrika und Südamerika zu weiteren Spielarten, die alle auch die Bibel „buchstäblich“ lesen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fand der fundamentalistische Gebrauch der Bibel in religiösen Gruppen und Sekten wie auch unter den Katholiken immer mehr Anhänger.

Obschon der Fundamentalismus mit Recht auf der göttlichen Inspiration der Bibel, der Irrtumslosigkeit des Wortes Gottes und den anderen biblischen Wahrheiten insistiert, die in den fünf genannten Grundsätzen enthalten sind, so wurzelt seine Art, diese Wahrheiten darzulegen, doch in einer Ideologie, die nicht biblisch ist, mögen ihre Vertreter auch noch so sehr das Gegenteil behaupten. Denn diese verlangt ein totales Einverständnis mit starren doktrinären Haltungen und fordert als einzige Quelle der Lehre im Hinblick auf das christliche Leben und Heil eine Lektüre der Bibel, die jegliches kritisches Fragen und Forschen ablehnt.

Das Grundproblem dieses fundamentalistischen Umgangs mit der Heiligen Sch rift besteht darin, daß er den geschichtlichen Charakter der biblischen Offenbarung ablehnt und daher unfähig wird, die Wahrheit der Menschwerdung selbst voll anzunehmen. Für den Fundamentalismus ist die enge Verbindung zwischen Göttlichem und Menschlichem in der Beziehung zu Gott ein Ärgernis. Er weigert sich zuzugeben, daß das inspirierte Wort Gottes in menschlicher Sprache ausgedrückt und unter göttlicher Inspiration von menschlichen Autoren niedergeschrieben wurde, deren Fähigkeiten und Mittel beschränkt waren. Er hat deshalb die Tendenz, den biblischen Text so zu behandeln, als ob er vom Heiligen Geist wortwörtlich diktiert worden wäre. Er sieht nicht, daß das Wort Gottes in einer Sprache und in einem Stil formuliert worden ist, die durch die jeweilige Epoche der Texte bedingt sind. Er schenkt den literarischen Gattungen und der menschlichen Denkart, wie sie in den biblischen Texten vorliegen, keinerlei Beachtung, obschon sie Frucht einer sich über mehrere Zeitepochen erstreckenden Erarbeitung sind und Spuren ganz verschiedener historischer Situationen tragen.

Der Fundamentalismus betont über Gebühr die Irrtumslosigkeit in Einzelheiten der biblischen Texte, besonders was historische Fakten oder sogenannte wissenschaftliche Wahrheiten betrifft. Oft faßt er als geschichtlich auf, was gar nicht den Anspruch auf Historizität erhebt; denn für den Fundamentalismus ist alles geschichtlich, was in der Vergangenheitsform berichtet oder erzählt wird, ohne daß er auch nur der Möglichkeit eines symbolischen oder figurativen Sinnes die notwendige Beachtung schenkt.

Der Fundamentalismus hat oftmals die Tendenz, die Probleme des biblischen Textes in seiner hebräischen, aramäischen oder griechischen Sprachgestalt zu ignorieren. Nicht selten ist er eng an eine bestimmte, alte oder neue Übersetzung gebunden. Auch geht er nicht auf die Tatsache von „relectures“ in gewissen Abschnitten innerhalb der Bibel selbst ein.

Was die Evangelien anlangt, so trägt der Fundamentalismus dem Wachsen der Tradition der Evangelien keine Rechnung, sondern verwechselt naiv den Endtext dieser Tradition (das, was von den Evangelisten geschrieben wurde) mit ihrer Erstform (die Taten und Worte des geschichtlichen Jesus). Zugleich vernachlässigt er eine wichtige Dimension: die Art und Weise, wie die ersten christlichen Gemeinden selbst die Wirkung von Jesus und seiner Botschaft verstanden haben. Dabei bezeugt gerade dieses urchristliche Verständnis die apostolische Herkunft des christlichen Glaubens und ist ihr direkter Ausdruck. Der Fundamentalismus macht so den vom Evangelium selbst intendierten Anspruch unkenntlich.

Dem Fundamentalismus kann man auch eine Tendenz zu geistiger Enge nicht absprechen. Er erachtet z.B. eine alte vergangene Kosmologie, weil man sie in der Bibel findet, als übereinstimmend mit der Realität. Dies verhindert jeglichen Dialog mit einer offenen Auffassung der Beziehungen zwischen Kultur und Glauben. Er stützt sich auf eine unkritische Interpretation gewisser Bibeltexte, um politische Ideen und soziales Verhalten zu rechtfertigen, das von Vorurteilen gekennzeichnet ist, die ganz einfach im klaren Gegensatz zum Evangelium stehen, wie z.B. Rassendiskrimination und dgl. mehr.

Und schließlich trennt der Fundamentalismus die Interpretation der Bibel von der Tradition, weil er auf dem Prinzip der „sola Scriptura“ beruht. Die Tradition, die vom Geist Gottes geführt wird, entwickelt sich jedoch innerhalb der Glaubensgemeinschaft organisch aus der Heiligen Schrift heraus. Es fehlt dem Fundamentalismus die Erkenntnis, daß das Neue Testament in der christlichen Kirche entstanden ist und daß es Heilige Schrift dieser Kirche ist, deren Existenz der Abfassung ihrer Schriften schon vorausging. Aus diesem Grund ist der Fundamentalismus oft „antikirchlich“. Er erachtet die Glaubensbekenntnisse, die Dogmen und das liturgische Leben, die Teil der kirchlichen Tradition geworden sind, als nebensächlich. Das Gleiche gilt für die Lehrfunktion der Kirche selbst. Er stellt sich als eine Form privater Interpretation dar, die nicht erkennt, daß die Kirche auf der Bibel gründet und ihr Leben und ihre Inspiration aus den heiligen Schriften bezieht.

Der fundamentalistische Zugang ist gefährlich, denn er zieht Personen an, die auf ihre Lebensprobleme biblische Antworten suchen. Er kann sie täuschen, indem er ihnen fromme, aber illusorische Interpretationen anbietet, statt ihnen zu sagen, daß die Bibel nicht unbedingt sofortige, direkte Antworten auf jedes dieser Probleme bereithält. Ohne es zu sagen, lädt der Fundamentalismus doch zu einer Form der Selbstaufgabe des Denkens ein. Er gibt eine trügerische Sicherheit, indem er unbewußt die menschlichen Grenzen der biblischen Botschaft mit dem göttlichen Inhalt dieser Botschaft verwechselt.

II.
Probleme der Hermeneutik

A. Philosophische Hermeneutiken

Der Weg der Exegese muß in dem Sinn neu überdacht werden, als sie der zeitgenössischen philosophischen Hermeneutik Rechnung tragen muß. Diese hebt die Implikation der Subjektivität im Erkennen, besonders im geschichtlichen Erkennen, hervor. Die hermeneutische Reflexion hat mit den Arbeiten von Friedrich Schleiermacher, Wilhelm Dilthey und besonders mit Martin Heidegger einen neuen Aufschwung genommen. Im Gefolge dieser Philosophen, aber auch unabhängig von ihnen, haben verschiedene Autoren die zeitgenössische hermeneutische Theorie und ihre Anwendung auf die Heilige Schrift vertieft. Unter ihnen sind namentlich Rudolf Bultmann, Hans-Georg Gadamer und Paul Ricoeur zu erwähnen. Es ist hier nicht möglich, eine Zusammenfassung ihrer Arbeiten zu geben. Es muß genügen, einige zentrale Ideen ihrer Philosophie zu skizzieren, die die biblische Interpretation beeinflußt haben. (12)

1. Moderne Perspektiven

Da zwischen der Welt des 1. und 20. Jahrhunderts eine kulturelle Distanz liegt, hat Bultmann mit Nachdruck auf das ,Vorverständnis‘ hingewiesen, das für jedes Verstehen notwendig ist. Er hat in diesem Sinne eine existentiale Interpretationstheorie der neutestamentlichen Texte ausgearbeitet. Es geht ihm darum, daß die Realität, von der die Heilige Schrift handelt, den heutigen Menschen anspricht. Indem er sich auf Heidegger beruft, stellt er fest, daß die Exegese eines biblischen Textes ohne bestimmte, das Verstehen bedingende Voraussetzungen eben nicht möglich ist. Das ,Vorverständnis‘ beruht auf einem Lebensverhältnis des Interpreten zur Sache, von der der Text spricht. Das ,Vorverständnis‘ muß sich aber vertiefen und erweitern, ja sogar verändern und korrigieren lassen durch das, von dem der Text spricht, damit der Interpret dem Subjektivismus entgeht.

Die Frage, die sich stellt, ist die nach der richtigen Begrifflichkeit, mit der die Heilige Schrift angegangen werden muß, damit sie der heutige Mensch verstehen kann. Die Antwort glaubt Bultmann in Heideggers Existentialanalyse zu finden. Die Existentiale Heideggers hätten eine universale Bedeutung und würden die am besten geeigneten Strukturen und Begriffe anbieten, die menschliche Existenz zu verstehen, wie sie sich in der Botschaft des Neuen Testamentes offenbart.

Gadamer unterstreicht ebenfalls die geschichtliche Distanz zwischen dem Text und seinem Interpreten. Er nimmt die Theorie vom hermeneutischen Zirkel wieder auf und entwickelt sie weiter. Die Vorwegnahmen und die Vorverständnisse, die unser Verstehen kennzeichnen, kommen aus der Tradition, die uns trägt. Diese besteht aus einer Gesamtheit von historischen und kulturellen Gegebenheiten, die unsere Lebenswelt, unseren Verstehenshorizont darstellen. Der Interpret ist aufgefordert, mit der Realität, von der der Text spricht, in Dialog zu treten. Das Verstehen ereignet sich in der Verschmelzung der beiden Horizonte, dem des Textes und dem des Lesers („Horizontverschmelzung“). Sie ist nur möglich, wenn es eine Entsprechung („Zugehörigkeit“) gibt, d.h. eine grundlegende Verwandtschaft zwischen dem Interpreten und seinem Objekt. (13) Die Hermeneutik ist ein dialektischer Vorgang: das Verständnis eines Textes ist immer auch ein erweitertes Selbstverständnis.

Vom hermeneutischen Denken Ricoeurs ist zuerst die Betonung festzuhalten, die er auf den Vorgang der Distanzierung als eine unentbehrliche Voraussetzung für eine echte Aneignung des Textes legt. Eine erste Distanz liegt zwischen dem Text und seinem Autor; denn sobald er verfaßt ist, bekommt der Text eine gewisse Autonomie seinem Autor gegenüber; er beginnt eine ,Sinn-Karriere‘. Eine andere Distanz trennt den Text von seinen jeweiligen Lesern; diese müssen die Andersartigkeit der Welt des Textes respektieren. Die Methoden der literarischen und geschichtlichen Analyse sind somit für die Interpretation notwendig. Der Sinn eines Textes kann jedoch nur dann voll erfaßt werden, wenn er im Erleben der Leser aktualisiert wird, die ihn sich aneignen. Diese sind aufgerufen, aus ihrer Situation heraus neue Bedeutungen in der Perspektive des grundlegenden Sinnes, wie er vom Text ausgeht, freizusetzen. Die Kenntnis der Bibel darf nicht etwa an der Sprache hängenbleiben. Sie muß vielmehr bis zur Realität vordringen, von der der Text spricht. Die religiöse Sprache der Bibel ist eine symbolische Sprache, die „zu denken gibt“, eine Sprache, deren Sinnreichtum sich nie erschöpft. Es ist eine Sprache, die eine transzendente Realität meint und auf sie verweist und zugleich im Menschen den Sinn für die Tiefendimension seines Seins weckt.

2. Der Beitrag der Hermeneutik zur Exegese

Wie sind diese zeitgenössischen Theorien der Textinterpretation zu beurteilen? Die Bibel ist Wort Gottes für alle aufeinanderfolgenden Zeiten. Deshalb darf man sich keiner hermeneutischen Theorie verschließen, die es erlaubt, Methoden der literarischen und historischen Kritik in ein weiteres Interpretationsmodell einzubetten. Es geht darum, die Distanz zwischen der Epoche der Autoren und ersten Adressaten der biblischen Texte und unserer heutigen Zeit zu überbrücken, um so die Botschaft der Texte in richtiger Weise zu aktualisieren, damit sie das Glaubensleben der Christen nährt. Jede Textexegese muß durch eine „Hermeneutik“ im modernen Sinn des Wortes ergänzt werden.

Die Notwendigkeit einer Hermeneutik, d.h. einer Interpretation im Heute unserer Welt, findet ihre Berechtigung in der Bibel selbst sowie in der Geschichte ihrer Interpretation. Die gesamten heiligen Schriften des Alten und Neuen Testamentes sind Produkte eines langen Prozesses der Neu-Interpretation der Gründungsereignisse im Zusammenhang mit dem Leben der Gemeinschaften der Gläubigen. In der kirchlichen Tradition waren die Kirchenväter, die ersten Ausleger der Heiligen Schrift, der Ansicht, daß ihre Textexegese erst dann vollständig war, wenn sie den Sinn des Textes für die Christen ihrer Zeit, in ihrer Situation aufgezeigt hatten. Man ist der Absicht der biblischen Texte nur in dem Maß treu, in dem man versucht, durch ihre Formulierungen hindurch die Wirklichkeit des Glaubens zu erreichen, die in ihnen zur Sprache kommt, und diese mit der Glaubenserfahrung der heutigen Zeit verbindet.

Die moderne Hermeneutik ist eine gesunde Reaktion auf den historischen Positivismus und auf die Versuchung, bei der Erforschung der Bibel Kriterien der Objektivität anzuwenden, die für die Naturwissenschaften Geltung haben. Einerseits sind die Ereignisse, die in der Bibel erwähnt werden, interpretierte Ereignisse. Andererseits impliziert jede Exegese der Erzählungen von diesen Ereignissen notwendigerweise die Subjektivität des Exegeten. Das richtige Verständnis des biblischen Textes ist nur dem zugänglich, der eine lebendige Beziehung zu dem hat, wovon der Text spricht. Die Frage, die sich jedem Interpreten stellt, ist die: Welche hermeneutische Theorie ermöglicht es, die tiefe Wirklichkeit zu erfassen, von welcher die Heilige Schrift spricht, und diese für den heutigen Menschen klar und sinnvoll auszudrücken?

Man muß in der Praxis freilich anerkennen, daß gewisse hermeneutische Theorien zur Interpretation der Heiligen Schrift ungeeignet sind. So schließt Bultmanns existentiale Interpretation die biblische Botschaft in die Enge einer besonderen Philosophie ein. Zudem ist die religiöse Botschaft der Bibel – wegen der Voraussetzungen, die diese Hermeneutik leiten – ihrer objektiven Wirklichkeit größtenteils entleert, weil sie zu weitgehend „entmythologisiert“ wird. Auch tendiert sie dahin, die biblischen Texte einer anthropologischen Konzeption zu unterwerfen. Die Philosophie wird so zur Interpretationsnorm anstatt zum Instrument des Verstehens dessen, was das zentrale Objekt jeglicher Interpretation der Heiligen Schrift ist: die Person Jesu Christi und die Heilsereignisse, die in unserer Geschichte stattgefunden haben. Eine authentische Interpretation der Heiligen Schrift ist somit zuerst die Annahme eines in diesen Ereignissen gegebenen Sinnes, der in ausgezeichneter Weise in der Person Jesu Christi aufscheint.

Dieser Sinn kommt in den Texten zur Sprache. Um dem Subjektivismus zu entgehen, muß eine gute Aktualisierung auf der Untersuchung des Textes beruhen, und die Voraussetzungen der Textinterpretation müssen sich immer wieder am Text selbst überprüfen lassen.

Auch wenn die biblische Hermeneutik zur allgemeinen Hermeneutik literarischer und geschichtlicher Texte gehört, ist sie dennoch zugleich ein Sonderfall dieser Hermeneutik. Ihre besonderen Charakteristika kommen ihr von ihrem Objekt her zu. Die Heilsereignisse und ihre Erfüllung in der Person Jesu Christi geben der gesamten Geschichte der Menschheit Sinn. Die neuen geschichtlichen Interpretationen (14) können nichts anderes sein als die Entschleierung oder die Entfaltung der Fülle dieses Sinnes. Die biblische Erzählung dieser Ereignisse kann durch den Verstand allein nicht voll erfaßt werden. Ihre Interpretation bedarf besonderer Voraussetzungen, z.B. des in der kirchlichen Gemeinschaft gelebten Glaubens und der Führung durch den Heiligen Geist. (15) Mit dem Wachsen des Lebens im Geiste weitet sich bei der Leserschaft das Verständnis der Wirklichkeiten, von denen der biblische Text spricht.

B. Sinn der inspirierten Schrift

Der moderne Beitrag der philosophischen Hermeneutiken und die neueren Entwicklungen der Literaturwissenschaft ermöglichen der biblischen Exegese ein tieferes Verständnis ihrer Aufgabe, deren Komplexität deutlicher zutage tritt. Die ältere Exegese, die natürlich noch nicht modernen wissenschaftlichen Ansprüchen genügen konnte, wies jedem Text der Heiligen Schrift verschiedene Sinnebenen zu. Die geläufigste Unterscheidung war die zwischen Literal- und geistlichem Sinn. Die mittelalterliche Exegese unterschied im geistlichen Sinn drei verschiedene Aspekte: den Bezug auf die offenbarte Wahrheit, auf das konkrete Leben und auf die letzte Erfüllung. Von da kommt das berühmte Distichon des Dominikaners Augustinus von Dänemark (XIII. Jh.): „Littera gesta docet, quid credas allegoria, moralis quid agas, quid speres anagogia.“

Als Reaktion auf die Theorie des vielfachen Schriftsinnes hat die historisch-kritische Exegese mehr oder weniger offen die These eines einzigen Sinnes vertreten, derzufolge ein Text nicht gleichzeitig mehrere Bedeutungen haben kann. Das ganze Bemühen der historisch-kritischen Exegese geht dahin, den genauen Wort-Sinn dieses oder jenes biblischen Textes in der Situation seiner Entstehung zu bestimmen.

Doch läßt sich diese These heute angesichts der Erkenntnisse der Sprachwissenschaften und der philosophischen Hermeneutiken, die die Polysemie geschriebener Texte anerkennen, so nicht mehr halten.

Das Problem ist nicht einfach, und es stellt sich nicht in gleicher Weise für alle Textgattungen: geschichtliche Erzählungen, Gleichnisse, Prophetenworte, Gesetze, Sprichwörter, Gebete, Hymnen usw. Man kann jedoch einige allgemeine Grundsätze nennen, ohne dabei die verschiedenen Auffassungen zu übersehen, die vertreten werden.

1. Der wörtliche Sinn (sensus litteralis)

Es ist nicht nur legitim, sondern unerläßlich, den genauen Sinn der Texte, so wie sie von ihren Autoren verfaßt wurden, zu bestimmen. Er heißt wörtlicher Sinn, sensus litteralis. Schon Thomas von Aquin hat auf seine grundlegende Bedeutung hingewiesen (S.Th.I, q. 1, a.10, ad 1).

Der wörtliche Sinn darf nicht mit dem „buchstäblichen“ verwechselt werden, wie es die Fundamentalisten zu tun pflegen. Es genügt z.B. nicht, einen Text buchstäblich zu übersetzen, um seinen wörtlichen Sinn zu erhalten. Man muß ihn den literarischen Konventionen der Zeit entsprechend verstehen. Ist ein Text metaphorisch, so ist sein wörtlicher Sinn nicht derjenige, der sich aus einem wortwörtlichen Verständnis ergibt (z.B. „eure Lenden seien gegürtet“, Lk 12,35), sondern derjenige, der der metaphorischen Verwendung entspricht („seid immer bereit“). Handelt es sich um eine Erzählung, so erlaubt der wörtliche Sinn nicht unbedingt die Beteuerung, die erzählten Fakten hätten in der Tat stattgefunden; denn es kann sein, daß eine Erzählung nicht der Gattung geschichtlicher Erzählungen angehört, sondern ein Produkt der Phantasie ist.

Der wörtliche Sinn der Heiligen Schrift ist derjenige, der von den inspirierten menschlichen Autoren direkt ausgedrückt wurde. Da er Frucht der Inspiration ist, ist dieser Sinn auch der von Gott, dem eigentlichen Autor (auctor principalis), gewollte. Er läßt sich mit Hilfe einer genauen Analyse des Textes im Rahmen seines literarischen und geschichtlichen Kontextes ermitteln. Die Hauptaufgabe der Exegese ist es, diese Analyse sorgfältig durchzuführen, wobei alle Möglichkeiten der literarischen und geschichtlichen Forschungen auszuschöpfen sind, um den wörtlichen Sinn der biblischen Texte mit größtmöglicher Genauigkeit zu erfassen (vgl. Divino afflante Spiritu, EnchB 550). Zu diesem Zweck ist die Erforschung der antiken literarischen Gattungen von ganz besonderer Notwendigkeit (ebd. 560).

Gibt es nur einen wörtlichen Sinn eines Textes? Im allgemeinen ja; aus zwei Gründen handelt es sich dabei jedoch nicht um ein absolutes Prinzip.

Einerseits ist es möglich, daß ein menschlicher Autor sich gleichzeitig auf verschiedene Realitätsebenen beziehen will. Dies kommt in der Lyrik oft vor. Die biblische Inspiration schließt diese Möglichkeit der menschlichen Sprache und Psychologie nicht aus; das vierte Evangelium liefert dafür viele Beispiele. Andererseits ist es auch dann, wenn ein menschlicher Ausdruck scheinbar nur eine Bedeutung hat, durchaus möglich, daß die göttliche Inspiration ihn so steuert, daß Mehrdeutigkeit entsteht. Dies ist der Fall beim Wort von Kajaphas in Joh 11, 50. Es drückt gleichzeitig eine politische unmoralische Berechnung und eine göttliche Offenbarung aus. Diese zwei Aspekte gehören beide zum wörtlichen Sinn, denn sie sind beide durch den Kontext gegeben. Obschon es sich hier um einen Extremfall handelt, ist er doch bedeutungsvoll. Er warnt vor einer zu engen Auffassung des wörtlichen Sinnes der inspirierten Texte.

Bei vielen Texten ist es insbesondere angebracht, auf ihren dynamischen Charakter zu achten. Der Sinn der Königspsalmen zum Beispiel darf nicht ausschließlich auf die geschichtlichen Bedingungen ihrer Entstehung eingeschränkt werden. Wenn er vom König spricht, ruft der Psalmist zugleich den Gedanken an eine konkrete Institution und an eine Idealvision des Königtums, das dem Plan Gottes entspricht, hervor, so daß sein Text über die königliche Institution, wie sie in der Geschichte real erscheint, weit hinausgeht. Die historisch-kritische Exegese hatte zu oft die Tendenz, den Sinn der Texte ausschließlich mit genauen geschichtlichen E reignissen in Verbindung zu bringen und ihn darauf zu fixieren. Sie muß dem gegenüber vielmehr versuchen, die Richtung des im Text ausgedrückten Gedankens zu bestimmen, eine Richtung, die den Exegeten nicht dazu einlädt, den Sinn aufzuhalten, sondern ihm im Gegenteil nahelegt, die mehr oder weniger voraussehbaren Entfaltungen des Sinnes zu erfassen.

Eine Strömung der modernen Hermeneutik hat den unterschiedlichen Stellenwert hervorgehoben, der dem menschlichen Wort zukommt, sobald es geschrieben ist. Ein geschriebener Text kann in neuen Situationen eine andere Beleuchtung erhalten, so daß sich seinem Sinn neue Bedeutungen hinzufügen. Diese Fähigkeit des geschriebenen Textes ist besonders im Fall der biblischen Texte gegeben, die als Wort Gottes anerkannt werden. In der Tat, was die Glaubensgemeinschaft dazu bewegte, sie aufzubewahren, ist die Überzeugung, in ihnen Licht und Leben auch für die kommenden Generationen zu finden. Der wörtliche Sinn ist von Anfang an für spätere Entwicklungen offen, die durch „Wiederaufnahmen“ (relectures) in neuen Kontexten ausgelöst werden.

Daraus ergibt sich nicht, daß einem biblischen Text irgendein beliebiger Sinn beigelegt werden kann, indem man ihn auf subjektive Weise interpretiert. Im Gegenteil, man muß jede Interpretation als unauthentisch zurückweisen, die dem Sinn zuwiderläuft, den die menschlichen Autoren in dem von ihnen niedergeschriebenen Text ausgedrückt haben. Ließe man einen heterogenen Sinn zu, würde man die biblische Botschaft in ihren Wurzeln treffen und subjektiver Willkür überlassen; denn diese Botschaft ist ein Wort, das Gott in der Geschichte gesprochen hat.

2. Der geistliche Sinn (sensus spiritualis)

Man darf jedoch den Ausdruck „heterogen“ nicht in zu engem Sinne auffassen, der jegliche Möglich keit höherer Erfüllung von vornherein ausschlösse. Das österliche Geschehen, Tod und Auferstehung Jesu, haben einen völlig neuen geschichtlichen Kontext geschaffen, der auf neue Art die alten Texte erhellt und zu einer Veränderung des Sinnes führt. So müssen namentlich gewisse Texte, die in früheren Situationen als hyperbolisch betrachtet werden mußten (z.B. das Prophetenwort, in welchem Gott in bezug auf einen Davidssohn verhieß, dessen Thron „für immer“ zu festigen 2 Sam 7, 12-13; 1 Chr 17, 11-14), nunmehr wörtlich genommen werden, weil „Christus, von den Toten auferstanden, nicht mehr stirbt“ (Röm 6, 9). Exegeten, die einen engen, „historistischen“ Begriff vom wörtlichen Sinn haben, werden der Meinung sein, daß es sich hier um Heterogenität handelt. Diejenigen, die dem dynamischen Aspekt der Texte offen gegenüberstehen, werden hingegen darin eine tiefe Kontinuität erkennen und zugleich einen Übergang auf eine andere Stufe: Christus herrscht für immer, jedoch nicht auf dem irdischen Thron Davids (vgl. auch Ps 2, 7-8; 110, 1.4).

In Fällen dieser Art spricht man vom „geistlichen Sinn“. In der Regel läßt sich der geistliche Sinn in der Perspektive des christlichen Glaubens als der Sinn definieren, den die biblischen Texte ausdrücken, wenn sie unter dem Einfluß des Heiligen Geistes im Kontext des österlichen Mysteriums Christi und des daraus folgenden neuen Lebens gelesen werden. Diesen Kontext gibt es tatsächlich. Das Neue Testament erkennt darin die Erfüllung der Schriften. So ist es natürlich, die Schriften im Lichte dieses neuen Kontextes zu lesen, der das Leben im Heiligen Geiste ist.

Aus dieser Definition ergeben sich mehrere nützliche Klärungen der Beziehung zwischen geistlichem und wörtlichem Sinn:

Entgegen einer weit verbreiteten Meinung unterscheiden sich die beiden Sinne nicht notwendigerweise. Wenn ein biblischer Text sich direkt auf das Ostergeheimnis Christi oder auf das daraus folgende neue Leben bezieht, so ist sein wörtlicher Sinn ein geistlicher. Dies ist im allgemeinen im Neuen Testament der Fall. Deshalb spricht die christliche Exegese von geistlichem Sinn meistens in bezug auf das Alte Testament. Doch schon im Alten Testament gibt es manche Texte, die als wörtlichen Sinn einen religiösen und geistlichen Sinn haben. Der christliche Glaube erkennt in ihnen einen Sinn, der das neue, durch Christus gebrachte Leben vorwegnimmt.

Wenn eine Unterscheidung vorliegt, so darf der geistliche Sinn nie ohne Bezug zum wörtlichen Sinn bestimmt werden. Dieser bleibt die unerläßliche Basis. Sonst könnte man nicht von „Erfüllung“ der Heiligen Schrift sprechen. Damit von Erfüllung die Rede sein kann, ist eine kontinuierliche und homogene Beziehung wesentlich. Es muß aber auch ein Übergang auf eine höhere Stufe der Wirklichkeit stattfinden.

Der geistliche Sinn darf nicht mit subjektiven Interpretationen verwechselt werden, die aus Einbildungskraft oder intellektueller Spekulation stammen. Der geistliche Sinn ist das Ergebnis der Beziehung zwischen dem Text und Wirklichkeiten, die ihm nicht fremd sind, nämlich dem Osterereignis in seiner unerschöpflichen Fruchtbarkeit, das den Höhepunkt der göttlichen Geschichtsmächtigkeit im Leben Israels zugunsten der ganzen Menschheit darstellt.

Eine in Gemeinschaft oder individuell vollzogene geistliche Lesung entdeckt einen authentischen geistlichen Sinn nur dann, wenn sie sich in diese Perspektive versetzt. Denn dann werden die drei Realitätsebenen miteinander in Beziehung gebracht: biblischer Text, Ostergeheimnis und gegenwärtige Situation des Lebens im Heiligen Geiste.

Da die frühere Exegese davon überzeugt war, daß das Mysterium Christi der Schlüssel zur Auslegung aller Schriften ist, lag ihr daran, einen geistlichen Sinn bis in die winzigsten Einzelheiten der biblischen Texte zu finden, z.B. in jeder Vorschrift der Ritualgesetze, wobei sie sich entweder rabbinischer Methoden bediente oder sich von der hellenistischen Allegorese inspirieren ließ. Die moderne Exegese kann solchen Interpretationsversuchen keinen wirklichen Wert mehr für heute beimessen, welchen pastoralen Nutzen sie auch immer in der Vergangenheit gebracht haben mag (vgl. Divino afflante Spiritu, EnchB 553).

Einer der möglichen Aspekte des geistlichen Sinnes ist der typologische Sinn. Von diesem wird gewöhnlich gesagt, er gehöre nicht zur Heiligen Schrift selbst, sondern zu den in der Heiligen Schrift zur Sprache gebrachten Realitäten: Adam versinnbildlicht Christus (vgl.Röm 5, 14), die Sintflut versinnbildlicht die Taufe (1 Petr 3, 20-21), usw. Tatsächlich basiert der typologische Bezug normalerweise auf der Art und Weise, wie die Heilige Schrift die alte Wirklichkeit beschreibt (vgl. die Stimme Abels: Gen 4, 10; Hebr 11, 4; 12, 24), und nicht einfach auf dieser Wirklichkeit an und für sich. Es handelt sich also in Wirklichkeit um einen von der Heiligen Schrift geschaffenen Sinn.

3. Der sensus plenior

Der sensus plenior, eine relativ neue Kategorie, gibt zu Diskussionen Anlaß. Man kann ihn als tieferen Sinn eines Textes definieren, der von Gott gewollt ist, aber vom menschlichen Autor nicht klar ausgedrückt wurde. Man stößt auf ihn, wenn man einen biblischen Text im Lichte anderer biblischer Texte, die auf ihm fußen, oder in seiner Beziehung zur inneren Entwicklung der Offenbarung untersucht.

Es handelt sich somit entweder um den Sinn, den ein biblischer Autor einem ihm bekannten früheren biblischen Text zuerkennt, wenn er ihn in einem neuen Kontext wiederverwendet, der ihm einen neuen wörtlichen Sinn verleiht; oder es geht um die Bedeutung, die eine authentische Lehrtradition oder eine Konzilsdefinition einem Text der Bibel zuerkennt. Der Kontext von Mt 1, 23 zum Beispiel gibt dem Prophetenwort von Jes 7, 14 von der ‘almah, die empfangen wird, einen sensus plenior, indem Mt die Übersetzung der Septuaginta übernimmt: „Die Jungfrau (parthénos) wird ein Kind empfangen“. Die Lehre der Kirchenväter und der Konzilien über die Heiligste Dreifaltigkeit bringt den sensus plenior der Aussagen des Neuen Testamentes über Gott Vater, Sohn und Heiligen Geist zum Ausdruck. Die Definition der Erbsünde durch das Konzil von Trient kann ebenso als sensus plenior der Lehre von Paulus in Röm 5, 12-21 bezüglich der Auswirkungen der Sünde Adams auf die Menschheit verstanden werden. Wo aber eine solche Kontrolle durch einen expliziten biblischen Text oder durch eine authentische Lehrtradition fehlt, könnte das Zurückgreifen auf einen sogenannten sensus plenior zu subjektiven Auslegungen Anlaß geben, denen jede Berechtigung fehlen würde.

Alles in allem könnte man den Ausdruck sensus plenior als eine andere Bezeichnung des geistlichen Sinnes in dem Fall auffassen, wo sich der geistliche Sinn vom wörtlichen Sinn eines biblischen Textes unterscheidet. Er beruht darauf, daß der Heilige Geist, der Hauptverfasser der Bibel, den menschlichen Verfasser in der Auswahl seiner Ausdrücke so führen kann, daß diese eine Wahrheit ausdrücken, die dem Autor selbst nicht in ihrer ganzen Tiefe bewußt war. Diese wird erst mit der Zeit umfassender offenbart, einerseits dank späterer göttlicher Heilssetzungen in der Geschichte, die die Tragweite der Texte besser zeigen, andererseits auch dank der Aufnahme der Texte in den Kanon der Heiligen Schrift. So wird ein neuer Kontext geschaffen, der Sinnmöglichkeiten erscheinen läßt, die der ursprüngliche Kontext im dunkeln gelassen hatte.

III.
Charakteristische Dimensionen der katholischen Interpretation

Die katholische Exegese unterscheidet sich nicht durch eine besondere wissenschaftliche Methode. Sie stimmt der Erkenntnis zu, daß die biblischen Texte das Werk menschlicher Autoren sind, die sich ihrer eigenen Ausdrucksmöglichkeiten bedient haben und mit den Mitteln arbeiteten, die ihnen je nach Zeit und Milieu zur Verfügung standen. Daher benützt sie ohne Vorbehalte alle wissenschaftlichen Methoden und Zugänge, die den Sinn der Texte in ihrem sprachlichen, literarischen, soziokulturellen, religiösen und historischen Umfeld erschließen, indem sie diesen Sinn genauer erfaßt, wenn sie die Quellen erforscht und der Persönlichkeit des jeweiligen Autors Rechnung trägt (vgl. Divino afflante Spiritu, EnchB557). Sie leistet einen aktiven Beitrag zur Weiterentwicklung der Methoden und zum Fortschritt der biblischen Wissenschaft.

Ihre Charakteristik ist es, bewußt in der Linie der lebendigen Tradition der Kirche zu stehen, deren oberstes Anliegen es ist, die Offenbarung zu bewahren, wie sie von der Bibel bezeugt wird. Wie oben erwähnt wurde, haben die modernen Hermeneutiken die Unmöglichkeit gezeigt, einen Text zu interpretieren, ohne von irgendeinem Vorverständnis auszugehen. Die katholische Exegese geht die biblischen Schriften mit einem Vorverständnis an, das die moderne wissenschaftliche Kultur und die religiöse Tradition, die von Israel und der christlichen Urgemeinde herstammt, eng miteinander verbindet. Ihre Interpretation steht somit in Kontinuität mit der Interpretationsdynamik, die innerhalb der Bibel selbst zutage tritt und sich im Leben der Kirche fortsetzt. Sie entspricht der Notwendigkeit der unabdingbaren „Verwandtschaft“ zwischen dem Interpreten und dem Gegenstand, von dem der biblische Text handelt. Diese innere „Verwandtschaft“ ist eine Bedingung der Möglichkeit für alles exegetische Arbeiten.

Jedes Vorverständnis hat jedoch auch seine Gefahren. Im Fall der katholischen Exegese besteht das Risiko darin, den biblischen Texten einen Sinn zu geben, den sie nicht ausdrücken, sondern der Frucht einer späteren Entwicklung der Tradition ist. Der Exeget muß sich vor dieser Gefahr hüten.

A. Die Interpretation innerhalb der biblischen Tradition

Die Texte der Bibel sind Ausdruck religiöser Traditionen, die bereits vor ihnen bestanden. Sie machen sich diese Traditionen in ganz verschiedenen Weisen je nach der Kreativität der Autoren zu eigen. Im Laufe der Zeit sind mannigfaltige Traditionen zusammengeflossen, um schließlich eine gemeinsame große Tradition zu bilden. Die Bibel zeigt diesen Prozeß sehr klar auf: sie hat zu seiner Verwirklichung beigetragen, und sie reguliert ihn weiterhin.

„Die Interpretation innerhalb der biblischen Tradition“ hat vielfältige Aspekte. Man kann unter diesem Begriff die Art und Weise verstehen, wie die Bibel menschliche Grunderfahrungen oder besondere Ereignisse der Geschichte Israels interpretiert, oder aber die Art, wie die biblischen Texte schriftliche oder mündliche Quellen benützen – von denen manche aus andern Religionen oder Kulturen herstammen mögen –, indem sie diese neu interpretieren. Doch da das gestellte Thema die Interpretation der Bibel ist, sollen nicht diese komplexen Fragen erörtert werden, sondern nur einige Beobachtungen zur Interpretation der biblischen Texte innerhalb der Bibel selbst vorgelegt werden.

1. „Wiederaufnahmen“ (relectures)

Was der Bibel ihre innere und einzigartige Einheit verleiht, beruht unter anderem auf der Tatsache, daß die späteren biblischen Schriften sich oft auf die früheren stützen. Sie machen Anspielungen auf sie, indem sie diese wiederaufnehmen und aus ihnen – manchmal weit entfernt vom ursprünglichen Sinn – neue Sinn-Aspekte entwickeln, oder aber sie beziehen sich direkt auf ihn, sei es, um diesen Sinn zu vertiefen, sei es, um seine Erfüllung aufzuzeigen.

So wird „das Erbe“ eines Landes, wie Gott es Abraham für seine Nachkommen verheißen hatte (Gen 15, 7.18), zum Eintritt in das Heiligtum Gottes (Ex 15, 17), zur Teilnahme an der Ruhe Gottes (Ps 132, 7-8), die den wahrhaft Glaubenden vorbehalten ist (Ps 95, 8-11; Hebr3 , 7-4, 11) , und schließlich zum Eingehen in das himmlische Heiligtum (Hebr 6, 12.18-20), „das ewige Erbe“ (Hebr 9, 15).

Die Weissagung des Propheten Natan, der David ein „Haus“, d.h. eine dynastische Erbfolge, „beständig auf immer“ (2 Sam 7, 12-16) verspricht, wird an mehreren Stellen wiederholt (2Sam 23, 5; 1 Kön 2, 4; 3, 6; 1 Chr 17, 11-14), vor allem in Notzeiten (Ps 89, 20.38), nicht ohne bedeutsame Abwandlungen. Sie wird auch durch weitere Prophetenworte ergänzt (Ps 2, 7-8; 110, 1.4; Am 9, 11; Jes 7, 13-14; Jer 23, 5-6 usw.), von denen einige das Wiederkommen von Davids Reich selbst verkünden (Hos 3, 5; Jer 30, 9; Ez 34, 24; 37, 24-25; vgl. Mk 11, 10). Das verheißene Reich hat universale Dimensionen (Ps 2, 8; Dan 2, 35.44; 7, 14; vgl. Mt 28, 18). Es realisiert die Berufung des Menschen in ihrer Fülle (Gen 1, 28; Ps 8, 6-9; Weish 9, 2-3; 10,2).

Jeremias Weissagung über die 70 Jahre der verdienten Strafe Jerusalems und Judas (Jer 25, 11-12; 29, 10) ist in 2 Chr 25, 20-23 wieder aufgenommen, wo ihre Verwirklichung aufgezeigt wird. Viel später meditiert sie der Autor des Buches Daniel von neuem in der Überzeugung, daß dieses Wort Gottes noch einen verborgenen Sinn enthält, der die gegenwärtige Situation erhellen kann (Dan 9, 24-27).

Die grundlegende Überzeugung, daß die vergeltende Gerechtigkeit Gottes die Guten belohnt und die Bösen bestraft (Ps 1, 1-6; 112, 1-10; Lev 26, 3-33 u.a.), stößt sich oft an unmittelbarer gegenteiliger Erfahrung. So läßt die Heilige Schrift kräftigen Einwänden und Bestreitungen Raum (Ps 44; Ijob 10, 1-7; 13, 3-28; 23-24) und geht diesem Geheimnis immer tiefer nach (Ps 37; Ijob 38-42; Jes 53; Weish 3-5).

2. Beziehungen zwischen Altem und Neuem Testament

Die intertextuellen Bezüge sind in den Schriften des Neuen Testamentes von größter Dichte, die zahlreiche Anspielungen auf das Alte Testament und ausdrückliche alttestamentliche Zitate enthalten. Für die Verfasser des Neuen Testamentes hat das Alte Testament göttlichen Offenbarungswert. Sie verkünden, daß diese Offenbarung ihre Erfüllung im Leben, in der Lehre und vor allem im Tod und in der Auferstehung Jesu gefunden hat, in denen die Quelle der Versöhnung und des ewigen Lebens liegt. „Christus ist für unsere Sünden gestorben gemäß der Schrift, und er ist begraben worden. Er ist am dritten Tag auferweckt worden gemäß der Schrift, und erschien dem Kephas …“ (1 Kor 15, 3-5): dies ist der eigentliche Kern der apostolischen Verkündigung
(1 Kor 15, 11).

Zwischen den Ereignissen, die die Heilige Schrift erfüllen, und der Heiligen Schrift selbst bestehen nie nur einfache materielle Übereinstimmungen, sondern wechselseitige Erhellungen und dialektischer Fortschritt: man stellt zugleich fest, daß die Heilige Schrift den Sinn der Ereignisse offenbart und die Ereignisse den Sinn der Heiligen Schrift offenbaren. Mit anderen Worten, die Ereignisse zwingen dazu, gewisse Aspekte der herkömmlichen Interpretation beiseite zu lassen, eine neue Auslegung anzunehmen.

Von Anfang seines öffentlichen Wirkens an hat Jesus eine persönliche und originelle Haltung in bezug auf die Heilige Schrift eingenommen, die sich von der Interpretation seiner Epoche, derjenigen der „Schriftgelehrten und der Pharisäer“, unterschied (Mt 5, 20). Dafür gibt es zahlreiche Beweise, so z.B. die Antithesen der Bergpredigt (Mt 5, 21-48), die souveräne Freiheit Jesu in der Beobachtung des Sabbats (Mk 2, 27-28 par.), seine Art, die Vorschriften über rituelle Reinheit zu relativieren (Mk 7, 1-23 par.), andererseits seine radikalen Forderungen auf anderen Gebieten (Mt 10, 2-12 par.; 10, 17-27 par.) und vor allem seine offene Haltung gegenüber „den Zöllnern und den Sündern“ (Mk 2, 15-17 par.). Dies entsprang nicht dem Bedürfnis nach der Rolle des Außenseiters, sondern zutiefst der Treue zum Willen Gottes, wie er sich in der Heiligen Schrift ausdrückt (vgl. Mt 5, 17; 9.13; Mk 7, 8-13 par.; 10, 5-9 par.).

Tod und Auferstehung Jesu haben die begonnene Entwicklung zu ihrem Höhepunkt geführt, indem sie in gewissen Punkten einen totalen Bruch und zugleich eine unerwartete Öffnung zeitigten. Der Tod des Messias, des „Königs der Juden“ (Mk 15, 26 par.) hat eine Umwandlung der innerweltlichen Auslegung der Königspsalmen und der messianischen Weissagungen hervorgebracht. Jesu Auferstehung und seine himmlische Verherrlichung als Gottes Sohn haben diesen gleichen Texten eine Sinnfülle gegeben, die vorher unvorstellbar war. Ausdrücke, die zuvor hyperbolisch schienen, müssen von nun an wörtlich genommen werden. Sie erscheinen als von Gott vorbereitet, um die Herrlichkeit Jesu Christi auszudrücken, denn Jesus ist wahrhaft „Herr“ (Ps 110, 1) im stärksten Sinn des Wortes (Apg2, 36; Phil 2, 10-11; Hebr 1, 10-12); er ist Sohn Gottes (Ps 2, 7; Mk 14, 62; Röm 1, 3-4), Gott mit Gott (Ps 45, 7; Hebr 1, 8; Joh 1, 1; 20, 28); „seiner Herrschaft wird kein Ende sein“ (Lk 1, 32-33; vgl. 1 Chr 17, 11-14; Ps 45, 7; Hebr 1, 8), und er ist zugleich „Priester auf ewig“ (Ps 110, 4; Hebr 5, 6-10; 7, 23-24).

Die Verfasser des Neuen Testamentes haben das Alte im Lichte der österlichen Ereignisse neu gelesen. Der vom verherrlichten Christus gesandte Heilige Geist (vgl. Joh 15, 26; 16, 7) hat sie dessen „geistlichen“ Sinn entdecken lassen. Mehr denn je sind sie so dahin geführt worden, einerseits den prophetischen Wert des Alten Testamentes hervorzuheben, andererseits aber auch dessen Wert als Heilsinstitution stark zu relativieren. Dieser zweite Gesichtspunkt, der schon in den Evangelien sichtbar wird (vgl. Mt 11, 11-13 par.; 12, 41-42 par.; Joh 4, 12-14; 5, 37; 6, 32), tritt in manchen paulinischen Schriften sowie im Hebräerbrief überaus klar zu Tage. Paulus und der Verfasser des Hebräerbriefes zeigen auf, daß die Thora als Offenbarung selbst ihr eigenes Ende als System der Gesetzgebung ankündet (vgl. Gal 2, 15-6,1; Röm 3, 20-21; 6, 14; Hebr 7, 11-19; 10, 8-9). Daraus folgt, daß die Heiden, die zum Glauben an Christus kommen, nicht allen Vorschriften der biblischen Gesetzgebung unterworfen werden müssen, die von nun an gesamthaft auf den Rang von Institutionen eines bestimmten Volkes beschränkt sind. Die Gläubigen aus dem Heidentum sollen sich aber vom Alten Testament als dem Wort Gottes nähren, denn es erlaubt ihnen, alle Dimensionen des österlichen Geheimnisses zu entdecken, aus dem sie leben (vgl. Lk 24, 25-27. 44-45; Röm 1,1-2).

Innerhalb der christlichen Bibel sind die Beziehungen zwischen Neuem und Altem Testament zweifellos komplex. Wenn es um die Benützung bestimmter Texte geht, lesen sie die Verfasser des Neuen Testaments natürlich im Rahmen der Kenntnisse und Interpretationsweisen ihrer Epoche. Es wäre ein Anachronismus, wollte man von ihnen verlangen, sich der modernen wissenschaftlichen Methoden zu bedienen. Der Exeget muß vielmehr die früheren Interpretationsweisen kennenlernen, um ihren Gebrauch verstehen und würdigen zu können. Andererseits soll er selbstverständlich dem keinen absoluten Wert beimessen, was nur von der Begrenzung menschlicher Auslegungskunst Zeugnis ablegt.

Schließlich muß noch darauf hingewiesen werden, daß, wie schon im Alten Testament, innerhalb des Neuen Testamentes verschiedene Perspektiven nebeneinander stehen, die sich manchmal in Spannung zueinander befinden, so z.B., was die Situation Jesu anlangt (Joh 8, 29; 16, 32 und Mk 15, 34) oder die Geltung des Gesetzes des Mose (Mt 5, 17-19 und Röm 6, 14) oder die Notwendigkeit der Werke, um gerechtfertigt zu werden (Jak 2, 24 und Röm 3, 28; Eph 2, 8-9). Es ist gerade eine Eigenart der Bibel, kein strenges System zu bilden, sondern im Gegenteil in der Dynamik von Spannungen zu stehen. Die Bibel hat verschiedene Weisen, die gleichen Ereignisse zu interpretieren oder die gleichen Probleme zu bedenken. Sie lädt somit ein, Vereinfachungen und geistige Enge zurückzuweisen.

3. Einige Schlußfolgerungen

Aus dem Gesagten ergibt sich, daß die Bibel selbst zahlreiche Hinweise und Anregungen zur Kunst der Interpretation enthält. In der Tat, seit ihren Anfängen ist die Bibel selbst Interpretation. Ihre Texte wurden von den Gemeinschaften des Alten Bundes und der apostolischen Zeit als gültiger Ausdruck ihres Glaubens anerkannt. Gemäß der Auslegung dieser Gemeinschaften und in Abhängigkeit von ihr wurden diese Texte als Heilige Schrift anerkannt. So wurde z.B. das Hohelied im Zusammenhang mit seiner Deutung auf die Beziehung zwischen Gott und Israel als Heilige Schrift anerkannt. Während der ganzen Entstehungszeit der Bibel wurden die zu ihr gehörenden Schriften in vielen Fällen neu aufgenommen und neu interpretiert, um auf neue, unbekannte Situationen Antworten zu geben.

Die Art und Weise, wie die Heilige Schrift selbst Texte interpretiert, legt folgende Bemerkungen nahe:

Da die Heilige Schrift aufgrund der Übereinstimmung von gläubigen Gemeinschaften entstand, die in ihrem Text den Ausdruck des geoffenbarten Glaubens erkannten, muß gerade auch ihre Interpretation selber wieder für den lebendigen Glauben der kirchlichen Gemeinschaften zur Quelle einer Übereinstimmung in den wesentlichen Punkten werden.

Da der Ausdruck des Glaubens, wie man ihn in der von allen anerkannten Heiligen Schrift fand, sich immer wieder erneuern mußte, um neuen Situationen zu begegnen – was die wiederholten „Wiederaufnahmen“ („relectures“) vieler biblischer Texte erklärt –, bedarf die Auslegung der Bibel in gleicher Weise einer schöpferischen Dimension und der Stellung neuer Fragen, um von der Bibel her Antwort auf sie zu finden.

Da die Texte der Heiligen Schrift manchmal in Spannung zueinander stehen, ist die Interpretation notwendigerweise pluralistisch. Keine einzelne Interpretation kann den Sinn des Ganzen erschöpfen, der wie eine Symphonie mehrstimmig ist. Die Auslegung eines einzelnen Textes darf also nicht exklusivistisch geschehen.

Die Heilige Schrift steht in fortwährendem Dialog mit den Glaubensgemeinschaften: sie ist ja aus ihren Glaubenstraditionen hervorgegangen. Ihre Texte haben sich in der Beziehung zu diesen Traditionen entwickelt und andererseits zu ihrer Entwicklung beigetragen. Daraus folgt, daß die Auslegung der Heiligen Schrift innerhalb der Kirche stattfindet, in ihrer Pluralität und ihrer Einheit, und in ihrer Glaubenstradition.

Die Glaubenstraditionen bildeten das lebendige Umfeld, in das sich die literarische Tätigkeit der Verfasser der Heiligen Schrift einfügen konnte. Hierzu gehörten auch das liturgische Leben und die äußere Tätigkeit der Gemeinschaften, ihre geistige Welt, ihre Kultur und ihr geschichtliches Schicksal. Die biblischen Verfasser nahen an alledem teil. In ähnlicher Weise verlangt also die Auslegung der Heiligen Schrift die Teilnahme der Exegeten am ganzen Leben und Glauben der Glaubensgemeinschaft ihrer Zeit.

Der Dialog mit der Heiligen Schrift in ihrer Gesamtheit, also auch mit dem Verständnis des Glaubens, das früheren Epochen eigen war, geht notwendigerweise mit dem Dialog mit der zeitgenössischen Generation einher. Dies hat zur Folge, daß sich die Herstellung einer Beziehung von Kontinuität, aber auch die Feststellung von Verschiedenheiten ergibt. Daraus folgt, daß die Interpretation der Heiligen Schrift in Überprüfung und Auswahl besteht: sie bleibt in Kontinuität mit früheren exegetischen Traditionen, von denen sie viele Elemente beibehält und sich zu eigen macht; in gewissen Punkten aber befreit sie sich davon, um fortschreiten zu können.

B. Die Interpretation innerhalb der Tradition der Kirche

Die Kirche, das Volk Gottes, ist überzeugt, daß ihr der Heilige Geist beim Verständnis und bei der Interpretation der Heiligen Schrift beisteht. Die ersten Jünger Jesu waren sich bewußt, daß sie nicht in der Lage waren, sofort alle Aspekte der ganzen Fülle, die ihnen geschenkt wurde, zu verstehen. In ihrem Gemeinschaftsleben, das sie mit Ausdauer pflegten, erfuhren sie eine ständige Vertiefung und eine fortschreitende Erkenntnis der geschenkten Offenbarung. Darin erkannten sie den Einfluß und das Wirken des von Jesus versprochenen „Geistes der Wahrheit“, der sie zum ganzen Reichtum der Wahrheit führt (Joh 16, 12-13). So geht auch die Kirche, gestützt auf die Zusage Christi, ihren Weg: „Der Beistand aber, der Heilige Geist, den der Vater in meinem Namen senden wird, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe“
(Joh 14, 26).

1. Die Entstehung des Kanons

Vom Heiligen Geist geleitet und im Licht der erhaltenen, lebendigen Überlieferung hat die Kirche die Schriften festgestellt, die als Heilige Schrift zu betrachten sind, in dem Sinne, als „sie unter Einwirkung des Heiligen Geistes geschrieben, Gott zum Urheber haben und als solche der Kirche übergeben sind“ (Dei Verbum, 11) und „die Wahrheit, die Gott um unseres Heiles willen in heiligen Schriften aufgezeichnet haben wollte“, enthalten (ebd.).

Die Feststellung eines „Kanons“ der Heiligen Schrift war das Resultat eines langen Prozesses. Die Gemeinschaften des Alten Bundes (von besonderen Gruppen wie den prophetischen Kreisen oder dem priesterlichen Umfeld an bis zum gesamten Volk) haben in einer gewissen Anzahl von Texten das Wort Gottes erkannt, das ihren Glauben weckte und ihrem Leben eine Richtung gab; sie haben diese Texte wie ein Erbe zu treuen Händen erhalten, das es zu bewahren und weiterzugeben galt. So sind diese Texte nicht mehr nur Ausdruck der Inspiration einzelner Autoren; sie sind zum gemeinsamen Besitz des Gottesvolkes geworden. Das Neue Testament verehrt diese heiligen Texte, die es vom jüdischen Volk als wertvolles Erbe erhalten hat. Es erachtet sie als „heilige Schriften“ (Röm1, 2), „die vom Geist Gottes eingegeben wurden“ (2 Tim 3, 16; vgl. 2 Petr 1, 20-21) und „(die) nicht aufgegeben werden können“ (Joh 10, 35).

Mit diesen Texten, die das „Alte Testament“ bilden (vgl. 2 Kor 3, 14), hat die Kirche jene Schriften eng verbunden, in denen sie einerseits das authentische, vom Heiligen Geist garantierte Zeugnis der Apostel (vgl. Lk 1, 2; 1 Joh 1, 1-3 bzw. 1 Petr 1, 12) über „alles, was Jesus getan und gelehrt hat“ (Apg 1, 1), und andererseits die Lehren erkannte, die die Apostel selbst und andere Jünger verkündet hatten, um die Gemeinschaft der Glaubenden zu schaffen. Diese zweite Reihe von Schriften hat schließlich den Namen „Neues Testament“ erhalten.

In diesem Prozeß haben viele Faktoren eine Rolle gespielt: die Gewißheit, daß Jesus – und die Apostel mit ihm – das Alte Testament als inspirierte Schrift anerkannt haben und daß das österliche Mysterium Jesu dessen Erfüllung darstellt; die Überzeugung, daß die Schriften des Neuen Testaments letztlich aus der apostolischen Verkündigung stammen (was nicht heißen will, daß sie alle von den Aposteln selbst verfaßt wurden); die Feststellung, daß sie mit der Regel des Glaubens übereinstimmten und in der christlichen Liturgie verwendet wurden; die Erfahrung schließlich, daß sie mit dem kirchlichen Leben der Gemeinschaften im Einklang stehen und fähig sind, dieses Leben zur Entfaltung zu bringen.

Indem die Kirche den Kanon der Schriften feststellte, hat sie ihre eigene Identität deutlich erkannt und definiert, so daß die Heilige Schrift fortan wie ein Spiegel ist, in dem die Kirche ihre Identität immer wieder entdecken und durch die Jahrhunderte hindurch die Art und Weise verifzieren kann, wie sie selbst fortwährend auf den Ruf des Evangeliums antwortet und wie sie sich ihrem Auftrag als dessen Übermittlerin entsprechend verhält (vgl. Dei Verbum, 7). Dies verleiht den kanonischen Schriften einen Heilswert und eine theologische Stellung, wodurch sie sich radikal von anderen alten Texten unterscheiden. Wenn diese zwar auch Licht auf die Anfänge des Glaubens werfen können, so können sie doch niemals die Autorität der heiligen Schriften beanspruchen, die als kanonisch und damit als für das Verständnis des christlichen Glaubens grundlegend erachtet werden.

2. Die Exegese der Kirchenväter

Seit dem Beginn war man der Überzeugung, daß der gleiche Heilige Geist, der die Verfasser des Neuen Testaments zur Niederschrift der Heilsbotschaft drängte (Dei Verbum, 7; 18), auch der Kirche bei der Auslegung ihrer inspirierten Schriften ständig beisteht (vgl. Irenäus,Adv. Haer. 3.24.1; vgl. 3.1.1; 4.33.8; Origenes, De Princ., 2.7.2; Tertullian, De Praescr., 22).

Den Kirchenvätern, die beim Bildungsprozeß des Kanons eine besondere Rolle spielten, kommt gleicherweise eine grundlegende Rolle im Hinblick auf die lebendige Überlieferung zu, welche die Lesung und Interpretation der heiligen Schriften in der Kirche fortwährend begleitet und führt (vgl. Providentissimus, EnchB 110-111; Divino afflante Spiritu, 28-30,EnchB 554; Dei Verbum, 23; Päpstliche Bibelkommission, Instructio de historica evangeliorum veritate 16, 1). Der eigene Beitrag der Exegese der Kirchenväter innerhalb der großen Tradition besteht in folgendem: sie hat aus dem Ganzen der Heiligen Schrift die grundlegenden Orientierungen herausgearbeitet, die der Lehrtradition der Kirche ihre Form gaben, und sie hat eine reiche theologische Lehre hervorgebracht, die der Belehrung und geistlichen Nahrung der Gläubigen bis heute dient.

Bei den Kirchenvätern nehmen Lesung und Interpretation der Heiligen Schrift einen beträchtlichen Platz ein. Davon zeugen zuerst jene Werke, die direkt dem Verständnis der heiligen Schriften gewidmet sind, insbesondere die Homilien und Kommentare, aber auch Kontroversschriften und Werke der Theologie, in denen die Berufung auf die Heilige Schrift als Hauptargument dient.

Der gewöhnliche Ort der biblischen Lesung ist die Kirche, im Rahmen der Liturgie. Deshalb ist die vorgetragene Auslegung der Väter immer theologischer, pastoraler und gnadenbezogener Natur und steht im Dienste der Gemeinschaften und der einzelnen Gläubigen.

Für die Kirchenväter ist die Bibel vor allem „Buch Gottes“, einzigartiges Werk eines einzigen Autors. Sie reduzieren aber dadurch die menschlichen Autoren keineswegs zu passiven Instrumenten. Sie verstehen es durchaus, diesem oder jenem Buch, für sich genommen, ein eigenes Ziel zuzuweisen. Von ihrem Standpunkt aus widmen sie jedoch der geschichtlichen Entwicklung der Offenbarung nur geringe Aufmerksamkeit. Zahlreiche Kirchenväter erklären den Logos, das Wort Gottes, als Autor auch des Alten Testaments und versichern, daß die ganze Heilige Schrift eine christologische Relevanz hat.

Außer einigen Exegeten der antiochenischen Schule (besonders Theodor von Mopsuestia) fühlen sich die Väter berechtigt, einen Satz aus seinem Kontext herauszunehmen und in ihm so herausgelöst und kontextunabhängig eine von Gott geoffenbarte Wahrheit zu erkennen. In der Apologetik mit den Juden oder in dogmatischen Streitgesprächen mit anderen Theologen zögern sie nicht, sich auf Interpretationen solcher Art zu stützen.

Da den Vätern vor allem daran lag, aus der Botschaft der Bibel in Einheit mit ihren Brüdern zu leben, begnügten sie sich oftmals mit dem in ihrem Umfeld gängigen biblischen Text. Origenes, der sich methodisch für die hebräische Bibel interessierte, ging es vor allem darum, mit den Juden aufgrund von Texten zu argumentieren, die für sie annehmbar waren. Hieronymus, der Herold der hebraica veritas, erscheint als Außenseiter.

Die Väter benützten mehr oder weniger häufig die allegorische Methode, um den Anstoß aus dem Weg zu räumen, den gewisse Christen und die heidnischen Gegner des Christentums an manchem Abschnitt der Bibel nehmen konnten. Die wörtliche Bedeutung und der geschichtliche Bezug der Texte wurden jedoch nur sehr selten aufgegeben. Der Rückgri ff der Väter auf die Allegorie geht im allgemeinen über das Phänomen einer Adaptation der allegorischen Methode der heidnischen Autoren hinaus.

Der Rückgriff auf die Allegorie beruht auch auf der Überzeugung, daß die Bibel, das „Buch Gottes“, von ihm seinem Volk, der Kirche, gegeben worden ist. Grundsätzlich darf daher in ihr nichts als veraltet oder als definitiv überholt übergangen werden. Gott richtet eine stets aktuelle Botschaft an sein christliches Volk. In ihren Erläuterungen der Bibel bringen die Väter typologische und allegorische Interpretationen oft durcheinander und vermischen sie zu einem fast unentwirrbaren Geflecht. Dies geschieht immer aus pastoralen und pädagogischen Gründen. Denn alles, was geschrieben steht, wurde für unsere Belehrung geschrieben (vgl. 1 Kor 10, 11).

In der Überzeugung, daß es sich um das „Buch Gottes“, also um ein unauslotbares Buch handelt, glauben die Väter, manche Abschnitte einem bestimmten allegorischen Schema gemäß interpretieren zu können, doch stellen sie jedem einzelnen frei, etwas anderes vorzuschlagen, wenn dabei nur die Analogie des Glaubens gewahrt bleibt.

Die allegorische Interpretation der Schriften, die für die patristische Exegese charakteristisch ist, wirkt auf den heutigen Menschen befremdlich. Doch die Erfahrung der Kirche, die sich in solchen Interpretationen ausdrückt, stellt auch heute noch einen nützlichen Beitrag dar (vgl. Divino afflante Spiritu, 31-32; Dei Verbum, 23). Die Väter lehren, wie die Bibel innerhalb einer lebendigen Tradition in wahrem christlichem Geist theologisch zu lesen ist.

3 . Die Rolle der verschiedenen Glieder der Kirche bei der Interpretation

Da die heiligen Schriften der Kirche geschenkt wurden, sind sie ein gemeinsamer Schatz des ganzen Volkes der Gläubigen: „ Die Heilige Überlieferung und die Heilige Schrift bilden den einen der Kirche überlassenen heiligen Schatz des Wortes Gottes. Voller Anhänglichkeit an ihn verharrt das ganze heilige Volk, mit seinen Hirten vereint, ständig in der Lehre und Gemeinschaft der Apostel …“ (Dei Verbum, 10; vgl. auch 21). Die Vertrautheit der Gläubigen mit den Texten der Heiligen Schrift war freilich nicht in allen Epochen der Kirchengeschichte gleich. Jedoch in allen wichtigen Zeiten der Erneuerung im Leben der Kirche, von der monastischen Bewegung der ersten Jahrhunderte angefangen bis zur Zeit des 2. Vatikanischen Konzils, haben die heiligen Schriften immer eine Stellung ersten Ranges eingenommen.

Das gleiche Konzil lehrt, daß alle Getauften, wenn sie im Glauben an Christus an der Eucharistiefeier teilnehmen, die Gegenwart Christi auch in seinem Wort erkennen dürfen, „denn in seinem Wort ist er gegenwärtig, da er selbst spricht, wenn die heiligen Schriften in der Kirche gelesen werden“ (Sacrosanctum Concilium, 7). Diesem Hören des Wortes entspricht der „Glaubenssinn“ (sensus fidei), der das ganze Volk (Gottes) auszeichnet (vgl. Lumen Gentium, 12) . . . „Durch jenen Glaubenssinn nämlich, der vom Geist der Wahrheit geweckt und genährt wird“, empfängt das Gottesvolk „nicht mehr das Wort von Menschen, sondern wirklich das Wort Gottes (vgl. 1 Thess 2, 13)“ (ebd.). Dabei steht es „unter der Leitung des heiligen Lehramtes, in dessen treuer Gefolgschaft“ (ebd.) es „den einmal den Heiligen übergebenen Glauben (vgl. Jud 3) unverlierbar fest(hält). Durch ihn dringt es mit rechtem Urteil immer tiefer in den Glauben ein und wendet ihn im Leben voller an“ (ebd.). (17)

So haben alle Glieder der Kirche eine Rolle bei der Interpretation der heiligen Schriften zu übernehmen. In Ausübung ihres pastoralen Amtes sind die Bischöfe als Nachfolger der Apostel die ersten Zeugen und Garanten der lebendigen Tradition, in deren Licht die heiligen Schriften in jeder Zeit interpretiert werden. „Unter der erleuchtenden Führung des Geistes der Wahrheit“ müssen sie das Wort Gottes „in ihrer Verkündigung treu bewahren, erklären und ausbreiten.“ (18) (Dei Verbum, 9; vgl. Lumen Gentium, 25). Als Mitarbeiter der Bischöfe haben die Priester als erste Aufgabe die Verkündigung des Wortes (Presbyterorum Ordinis, 4). Sie sind mit einem besonderen Charisma für die Interpretation der Heiligen Schrift versehen, wenn sie nicht ihre eigenen Gedanken, sondern das Wort Gottes vortragen und die ewige Wahrheit des Evangeliums auf die konkreten Lebensverhältnisse anwenden (ebd.). Es kommt den Priestern und den Diakonen zu, besonders bei der Sakramentenspendung die Einheit aufzuweisen, die Wort und Sakrament im Dienst der Kirche hervorbringen.

Als Vorsteher der eucharistischen Gemeinschaft und Erzieher im Glauben obliegt es den „Dienern des Wortes“ als ihre Hauptaufgabe, nicht nur zu lehren, sondern den Gläubigen zu helfen, das zu vernehmen und zu verstehen, was das Wort Gottes ihnen im Innersten ihres Herzens sagt, wenn sie die heiligen Schriften hören und meditieren. So wird die gesamte Ortskirche, nach dem Modell Israels, des Volkes Gottes (Ex 19, 5-6), zu einer Gemeinschaft, die weiß, daß Gott zu ihr spricht (vgl. Joh 6, 45), und die es sich angelegen sein läßt, ihn in Glauben und Liebe zu hören und sich durch sein Wort führen zu lassen (Dtn 6, 4-6). Solche Gemeinschaften, die wirklich auf das Wort Gottes hören, werden, wenn sie im Glauben und in der Liebe mit der ganzen Kirche vereint bleiben, in ihrem Umfeld zu kraftvollen Brennpunkten der Evangelisierung und des Dialoges, wie auch zu Trägern sozialer Veränderungen (Evangelii Nuntiandi 19, 57- 58 ; Instruktion der Kongregation für die Glaubenslehre über die christliche Freiheit und die Befreiung 20, 69-70).

Der Heilige Geist ist natürlich auch den einzelnen Christen und Christinnen gegeben, so daß ihr Herz „in ihnen brennt“ (vgl. Lk 24,32), wenn sie im persönlichen konkreten Lebenszusammenhang beten und sich betend die heiligen Schriften aneignen. Deshalb verlangt das 2. Vatikanische Konzil dringend, daß der Zugang zu den heiligen Schriften auf alle möglich e Arten erleichtert werde (Dei Verbum, 22; 25). Man darf nie vergessen, daß eine solche Lesung der Heiligen Schrift nie rein individuell ist, denn der Gläubige liest und interpretiert die Heilige Schrift immer innerhalb des Glaubens der Kirche, und er vermittelt in der Folge der Gemeinschaft die Frucht seiner Lektüre und bereichert so den gemeinsamen Glauben.

Die ganze biblische Überlieferung und namentlich die Lehre Jesu in den Evangelien nennen als bevorzugte Hörer des Wortes Gottes diejenigen , die von der Welt als Leute einfacher Herkunft betrachtet werden. Jesus hat erkannt, daß die den Gelehrten und Weisen verborgenen Dinge den einfachen Leuten geoffenbart wurden (Mt 11, 25; Lk 10, 21) und daß das Reich Gottes denen gehört, die den Kindern gleichen (Mk 10, 14 par.).

In der gleichen Linie verkündete Jesus: „Selig ihr Armen, denn euer ist das Reich Gottes“ (Lk 6, 20; vgl. Mt 5, 3). Es ist eines der Zeichen der messianischen Zeit, daß die Frohbotschaft den Armen gebracht wird (Lk 4, 18; 7, 22; Mt 11, 5; vgl. Instruktion der Kongregation für die Glaubenslehre über die christliche Freiheit und die Befreiung, 47-48). Diejenigen, die sich in ihrer Ohnmacht und ohne alle menschliche Macht- und Hilfsmittel gezwungen sehen, ihre einzige Hoffnung auf Gott und seine Gerechtigkeit zu setzen, haben für das Wort Gottes eine Auffassungsgabe und ein Verständnis, was die gesamte Kirche ernst nehmen muß und auch eine Antwort auf sozialem Gebiet verlangt.

Indem die Kirche die Verschiedenheit der Gaben und Funktionen anerkennt, die der Heilige Geist in den Dienst der Gemeinschaft stellt, insbesondere die Gabe des Lehrens (1 Kor 12, 28-30; Röm 12, 6-7; Eph 4, 11-16), schenkt sie ihre Wertschätzung denen, die das besondere Charisma haben, durch ihre Kompetenz in der Schriftauslegung zum Aufbau des Leibes Christi beizutragen (Divino afflante Spiritu, 46-48, EnchB 564-565; Dei Verbum, 23; Päpstliche Bibelkommission, Instructio de historica evangeliorum veritate, Einführung). Obwohl ihre Arbeiten nicht immer auf Wertschätzung stießen, wie dies heute der Fall ist, so stehen die Exegeten, die ihr Wissen in den Dienst der Kirche stellen, doch in einer reichen Tradition, die von den ersten Jahrhunderten an, seit Origenes und Hieronymus bis in die jüngste Zeit zu Pater Lagrange und anderen führt, und die bis heute fortdauert. Besonders die Erforschung des Literalsinns der Heiligen Schrift, die heute vor allem betont wird, verlangt vereinte Anstrengungen aller, die sich auf dem Gebiet der alten Sprachen, der Geschichte und Kulturen, der Textgeschichte und der Analyse der literarischen Formen und in den Methoden der wissenschaftlichen Kritik auskennen. Von dieser Beachtung des Textes in seinem ursprünglichen historischen Kontext ab gesehen, erwartet die Kirche von den Exegeten, daß sie vom gleichen Heiligen Geist, der die Heilige Schrift inspiriert hat, angeleitet sind, um sicherzustellen, „daß die größtmögliche Zahl von Dienern des Wortes Gottes in der Lage sind, dem Volk Gottes wirklich die Nahrung der heiligen Schriften zu reichen“ (Divino afflante Spiritu, 24; 53-55, EnchB 551, 567; Dei Verbum, 23; Paul VI, Sedula Cura [1971]). Eine besondere Freude ist heute die wachsende Zahl von Frauen, die als Exegetinnen oft in die Interpretation der Heiligen Schrift neue Einsichten einbringen und Aspekte ins Licht rücken, die in Vergessenheit geraten waren.

Wenn die heiligen Schriften, wie oben erwähnt wurde, das Gut der ganzen Kirche sind und zum „Glaubenserbe“ gehören, das alle, Seelsorger und Gläubige, „festhalten, verkünden und in gemeinsamer Anstrengung verwirklichen“ sollen, so bleibt doch wahr, daß die „Aufgabe, das geschriebene oder überlieferte Wort Gottes verbindlich zu erklären (…) nur dem lebendigen Lehramt der Kirche anvert raut (ist), dessen Vollmacht im Namen Jesu Christi ausgeübt wird“ (Dei Verbum, 10). So ist es in letzter Instanz also Sache des Lehramtes, die Echtheit der Interpretation zu garantieren und gegebenenfalls zu sagen, daß diese oder jene besondere Interpretation mit dem authentischen Evangelium unvereinbar ist. Es erfüllt diese Aufgabe innerhalb der koinônia des Leibes Christi, indem es den Glauben der Kirche amtlich ausdrückt, um so der Kirche zu dienen. Zu diesem Zweck konsultiert es die Theologen, die Exegeten und andere Experten, deren legitime Forschungsfreiheit es anerkennt und mit denen es in wechselseitiger Beziehung steht, im Hinblick auf das gemeinsame Ziel, „das Volk Gottes in der Wahrheit, die frei macht, zu bewahren“ (Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion über die kirchliche Berufung des Theologen 21, 21).

C. Der Auftrag der Exegeten

Der Auftrag der katholischen Exegeten kann von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachtet werden. Es ist ein kirchlicher Auftrag, denn er besteht darin, die Heilige Schrift so zu erforschen und zu erklären, daß ihr ganzer Reichtum für die Seelsorger und die Gläubigen zugänglich wird. Aber es ist zugleich auch eine wissenschaftliche Aufgabe, die den katholischen Exegeten mit seinen nicht katholischen Kollegen und mit Fachleuten verschiedener Gebiete der wissenschaftlichen Forschung in Beziehung bringt. Überdies besteht dieser Auftrag in Forschung und Lehre zugleich, die normalerweise auch zu Veröffentlichungen führen.

1. Hauptsächliche Aspekte

Die katholischen Exegeten müssen den geschichtlichen Charakter der biblischen Offenbarung wahrnehmen, wenn sie ihren Auftrag erfüllen wollen. Beide Testamente drücken ja in menschlichen, zeitgebundenen Worten die geschichtliche Offenbarung aus, in der Gott sich selbst und seinen Heilsplan auf verschiedene Weisen mitgeteilt hat. Es ist deshalb unerläßlich, daß die Exegeten die historisch-kritische Methode anwenden, ohne ihr jedoch exklusiven Charakter zu geben. Alle Methoden der Textinterpretation sind geeignet, ihren Beitrag zur Bibelexegese zu leisten.

Die katholischen Exegeten dürfen bei ihrer Interpretationsarbeit nie vergessen, daß sie das Wort Gottes auslegen. Ihr gemeinsamer Auftrag ist noch nicht beendet, wenn die Quellen unterschieden, die Gattungen bestimmt und die literarischen Ausdrucksmittel erklärt sind. Das Ziel ihrer Arbeit ist erst erreicht, wenn sie den Sinn des biblischen Textes als gegenwartsbezogenes Wort Gottes erfaßt haben. Zu diesem Zweck müssen sie den verschiedenen hermeneutischen Perspektiven Rechnung tragen, die helfen, die Aktualität der biblischen Botschaft wahrzunehmen und es ihr erlauben, auf die Anliegen der heutigen Leser der Heiligen Schrift eine Antwort zu geben.

Die Exegeten haben auch die christologische, kanonische und kirchliche Tragweite der biblischen Schriften zu erklären.

Die christologische Tragweite der biblischen Texte ist nicht immer von vorneherein klar ersichtlich; sie muß jedoch, wenn immer möglich, ins Licht gerückt werden. Obwohl Christus in seinem Blut den Neuen Bund gestiftet hat, so haben doch die Bücher des Alten Bundes ihren Wert nicht verloren. In die Verkündigung des Evangeliums übernommen, erhalten und offenbaren sie ihre volle Bedeutung im „Geheimnis Christi“ (Eph 3, 4). Sie beleuchten viele Aspekte dieses Geheimnisses, wobei sie gleichzeitig selbst von ihm erhellt werden. Diese Bücher bereiteten faktisch das Volk Gottes auf seine Ankunft vor (vgl. Dei Verbum, 14-16).

Obschon jedes Buch der Bibel in einer bestimmten Absicht geschrieben wurde und so seine spezifische Bedeutung hat, offenbart es sich doch als Träger eines weiteren Sinnes, sobald es Teil des kanonischen Gesamtkorpus wird. Der Auftrag der Exegeten umfaßt somit die Entfaltung des vom hl. Augustinus aufgestellten Prinzips: „Novum Testamentum in Veter latet, et in Novo Vetus patet“ (Augustinus, Quaest. in Hept., 2, 73, CSEL 28,III, S. 141).

Die Exegeten haben auch die Aufgabe, die Beziehung zwischen Bibel und Kirche deutlich zu machen. Die Bibel entstand in Glaubensgemeinschaften. Sie drückt den Glauben Israels und dann den der ersten christlichen Gemeinden aus. Zusammen mit der lebendigen Überlieferung, die ihr vorausging, sie begleitet und sich von ihr nährt (vgl. Dei Verbum, 12), ist sie das bevorzugte Instrument, dessen Gott sich bedient, um auch heute noch den Aufbau und das Wachstum der Kirche als Volk Gottes zu steuern. Mit der kirchlichen Dimension ist auch die ökumenische Öffnung bei der Auslegung der Heiligen Schrift untrennbar verbunden.

Dadurch, daß die Bibel den Heilsplan Gottes für alle Menschen enthält, hat die Aufgabe des Exegeten eine universale Dimension. Diese verlangt, daß den anderen Religionen und den Erwartungen der heutigen Welt volle Aufmerksamkeit geschenkt wird.

2. Forschung

Die exegetische Aufgabe ist zu weitgefächert, als daß sie von einem einzelnen Menschen erfüllt werden könnte. Eine Arbeitsteilung unter Spezialisten verschiedener Gebiete ist namentlich für die Forschung unumgänglich. Die möglichen Nachteile der Spezialisierung werden durch interdisziplinäre Arbeit ausgeglichen.

Für das Wohl der ganzen Kirche und ihren Einfluß in der modernen Welt ist es sehr wichtig, daß sich eine genügend große Zahl gut ausgebildeter Personen der Forschung in den verschiedenen Gebieten der exegetischen Wissenschaft widmen. Die Bischöfe und Ordensobern sind aus Sorge für die unmittelbaren Bedürfnisse der Seelsorge oft versucht, ihre Verantwortung für diese fundamentale Notwendigkeit nicht sehr ernst zu nehmen. Eine Karenz auf diesem Gebiet bringt der Kirche jedoch große Nachteile, denn Seelsorger und Gläubige laufen dann Gefahr, die Lücke mit einer nichtkichlich interessierten Exegese ohne Bezug zum Leben des Glaubens zu füllen. Das 2. Vatikanische Konzil erklärt, daß „das Studium des heiligen Buches gleichsam die Seele der heiligen Theologie“ sein soll (Dei Verbum, 24). Damit hat es die Bedeutung der exegetischen Forschung nachdrücklich unterstrichen. Gleichzeitig hat es so auch die katholischen Exegeten indirekt daran erinnert, daß ihre Forschung mit der Theologie in einem lebensnotwendigen Zusammenhang steht, dessen sie sich bewußt sein müssen.

3. Lehre und Unterricht

Die Konzilserklärung hebt ebenfalls die entscheidende Bedeutung hervor, die der Lehre und dem Unterricht der Exegese in den Theologischen Fakultäten, Priesterseminaren und Studienhäusern zukommt. Selbstverständlich ist das Niveau des Studiums in den verschiedenen Institutionen unterschiedlich. Es ist übrigens wünschenswert, daß die Exegese durch Männer und Frauengelehrt wird. Dieser Unterricht, in den Fakultäten mehr methodisch und spezialisiert, soll in den Priesterseminaren eher pastoral ausgerichtet sein. Doch darf ihm auch da nie eine ernsthafte intellektuelle Dimension fehlen. Andernfalls wäre der Würde des Wortes Gottes nicht Genüge getan.

Die Lehrer und Lehrerinnen der Exegese sollen den Studierenden eine tiefe Achtung vor der Heiligen Schrift ve rmitteln, indem sie zeigen, wie sehr die Bibel eine sorgfältige und objektive Erforschung verdient, um ihren literarischen, historischen, sozialen und theologischen Wert immer besser zur Geltung zu bringen. Sie dürfen sich nicht damit begnügen, eine Reihe von Kenntnissen zu vermitteln, die passiv aufgenommen werden. Sie müssen vielmehr in die exegetischen Methoden einführen und die wichtigsten Schritte der exegetischen Arbeit erklären, damit die Studierenden zu einem eigenen Urteil fähig werden. Da nur eine begrenzte Zeit zur Verfügung steht, ist es gut, ab wechselnd zwei Unterrichtsmethoden zu verwenden: auf der einen Seite Vorlesungen, die in die biblischen Bücher als ganze einführen und die alle wichtigen Sektoren des Alten und Neuen Testaments behandeln; auf der andern Seite die paradigmatische gründliche Analyse gut ausgewählter Texte, die zugleich eine Einführung in die praktische Ausübung der Exegese darstellt. Im einen wie im andern Fall muß darauf geachtet werden, Einseitigkeiten zu vermeiden, d.h. sich weder auf einen geistlichen Kommentar ohne historisch-kritische Basis zu beschränken noch auf eine historisch-kritische Behandlung, die des theologischen und geistlichen Inhalts ermangelt (vgl. Divino afflante Spiritu, EnchB 551-552; Päpstliche Bibelkommission, De Scriptura Sacra recte docenda, Ench B 598). Der Unterricht muß zugleich die geschichtliche Verwurzelung der biblischen Schriften aufzeigen, ihre Eigenschaft als persönliches Wort des himmlischen Vaters, der sich in Liebe an seine Kinder wendet (vgl. Dei Verbum, 21), ins Licht stellen und die unerläßliche Rolle der Bibel für die seelsorglichen Aufgaben (vgl. 2Tim 3, 16) verständlich machen.

4. Veröffentlichungen

Als Ergebnis der Forschung und Ergänzung des Unterrichts spielen die Veröffentlichungen eine bedeutende Rolle für den Fortschritt und die Verbreitung der Exegese. In unseren Tagen geschieht die Veröffentlichung nicht mehr nur durch gedruckte Texte, sondern auch durch andere, schnellere und weiterreichende Mittel (Radio, TV, elektronische Techniken). Es ist unerläßlich, sich auch solcher Medien zu bedienen.

Die hochwissenschaftlichen Veröffentlichungen sind das Hauptinstrument des Dialogs, der Diskussion und der Zusammenarbeit zwischen den Forschern. Dank ihnen kann sich die katholische Exegese im Austausch mit anderen Sektoren der exegetischen Forschung sowie mit der wissenschaftlichen Welt im allgemeinen behaupten.

Kurzfristig gesehen sind es indessen die andern Veröffentlichungen, welche die größten Dienste leisten, indem sie sich den verschiedenen Kategorien von Lesern und Hörern anpassen, von der gebildeten Leserschaft bis zu den Kindern im Religionsunterricht, Bibelgruppen, apostolischen Bewegungen und religiösen Vereinigungen. Die Exegeten, die für leichtverständliche Veröffentlichungen begabt sind, leisten einen äußerst nützlichen und fruchtbaren Beitrag, der für die notwendige Verbreitung der exegetischen Studien unverzichtbar ist. In diesem Sektor ist die Notwendigkeit einer Aktualisierung der biblischen Botschaft besonders dringend. Die Exegeten müssen die legitimen Ansprüche kultivierter und gebildeter Personen unserer Zeit in Rechnung stellen und für sie klar unterscheiden, was als zweitrangiges, geschichtlich bedingtes Detail oder als mythische Sprache zu interpretieren und was als eigentlicher historischer und inspirierter Sinn zu betrachten ist. Die biblischen Schriften sind nicht in einer modernen Sprache und nicht im Stil des 20. Jahrhunderts verfaßt. Ihre Ausdrucksformen und die literarischen Gattungen, die sie in ihrem hebräischen, aramäischen oder griechischen Text benutzen, müssen den Menschen unserer Zeit verständlich gemacht werden; sonst könnten diese versucht sein, die Bibel als uninteressant beiseite zu legen oder sie auf grob vereinfachende, buchstäbliche oder phantastische Art zu interpretieren.

Trotz aller Vielfalt seiner Aufgaben hat der katholische Exeget als einziges Ziel den Dienst am Wort Gottes. Es darf nicht sein Ehrgeiz sein, das Resultat seiner Arbeit an die Stelle der biblischen Texte zu setzen, wenn es sich um die Rekonstruktion alter Texte, die von den inspirierten Autoren verwendet wurden, handelt, oder um seine Präsentation der neuesten Ergebnisse der wissenschaftlichen Exegese. Im Gegenteil, sein Ehrgeiz soll dahin gehen, die biblischen Texte selbst in größeres Licht zu stellen, zu ihrer Wertschätzung beizutragen und zu versuchen, sie mit größerer geschichtlicher Genauigkeit und geistlicher Innigkeit zu verstehen.

D. Beziehungen zu den anderen theologischen Disziplinen

Da die Exegese selbst ein theologisches Fach ist – auch für sie gilt „fides quaerens intellectum“ –, unterhält sie mit den anderen Disziplinen der Theologie enge und komplexe Beziehungen. In der Tat hat einerseits die systematische Theologie einen Einfluß auf das Vorverständnis, mit dem die Exegeten die biblischen Texte angehen, andererseits aber liefert die Exegese den anderen theologischen Disziplinen Vorgaben, die für diese bestimmend sind. Es entstehen somit wechselseitige Beziehungen zwischen Exegese und anderen theologischen Disziplinen, die zu einem Dialog in gegenseitiger Achtung der je eigenen Besonderheit führen.

1. Theologie und Vorverständnis der biblischen Texte

Die Exegeten haben unweigerlich ein Vorverständnis der biblischen Texte, die sie erforschen wollen. Im Fall der katholischen Exegese geht es auch um ein Vorverständnis, das auf Glaubensüberzeugungen beruht: Die Bibel ist ein von Gott inspirierter Text, welcher der Kirche anvertraut wurde, um Glauben zu wecken und das christliche Leben zu lenken. Diese Glaubensüberzeugungen kommen nicht in einem formlosen Zustand zu den Exegeten, sondern in der Form, die sie in der kirchlichen Gemeinschaft durch die theologische Reflexion bereits empfangen haben. So sind die Exegeten bei ihrer Forschung durch die dogmatische Reflexion über die Inspiration der Heiligen Schrift und über deren Rolle im kirchlichen Leben bestimmt.

Umgekehrt aber verleiht der Umgang mit den inspirierten Texten den Exegeten eine Erfahrung, der die Dogmatiker Rechnung tragen müssen, um die Theologie der Schriftinspiration und der kirchlichen Interpretation der Bibel sachgerecht zu entfalten. Die Exegese bringt insbesondere ein wacheres und genaueres Bewußtsein des geschichtlichen Charakters der biblischen Inspiration mit sich. Sie zeigt, daß der Prozeß der Inspiration geschichtlich ist, nicht nur weil er innerhalb der Geschichte Israels und der Urkirche stattfand, sondern auch, weil er sich unter Vermittlung von Menschen vollzog, die durch ihre Zeit geprägt waren und die unter der Führung des Heiligen Geistes eine aktive Rolle im Leben des Volkes Gottes gespielt haben.

Außerdem wurde die theologische Feststellung der engen Beziehung zwischen inspirierter Schrift und kirchlicher Tradition durch die Entwicklung der exegetischen Forschung bestätigt und präzisiert; denn gerade diese Entwicklung machte die Exegeten stärker auf den Einfluß der Lebensbedingungen aufmerksam, unter denen die Texte entstanden sind („Sitz im Leben“).

2. Exegese und dogmatische Theologie

Ist die Heilige Schrift auch nicht der einzige locus theologicus, so stellt sie doch die Hauptgrundlage der theologischen Forschungsarbeit dar. Um die Heilige Schrift wissenschaftlich und gründlich zu interpretieren, sind die Theologen auf die Arbeit der Exegeten angewiesen. Die Exegeten ihrerseits müssen ihre Forschung so orientieren, daß das „Studium des heiligen Buches“ wirklich „gleichsam die Seele der heiligen Theologie“ ist (Dei Verbum, 24). Deshalb müssen sie vornehmlich dem religiösen Inhalt der biblischen Schriften ihre Aufmerksamkeit widmen.

Die Exegeten können den Dogmatikern helfen, zwei Extreme zu vermeiden: einerseits einen Dualismus, der die Lehrwahrheit von ihrem sprachlichen Ausdruck total trennt, so als ob dieser gar keine Bedeutung hätte; andererseits einen Fundamentalismus, der Menschliches und Göttliches vermengt und sogar das geschichtlich Bedingte an den menschlichen Ausdrücken für geoffenbarte Wahrheit hält.

Um diese beiden Extreme zu vermeiden, muß man unterscheiden lernen, ohne zu trennen, und somit eine bleibende Spannung akzeptieren. Das Wort Gottes hat sich im Werk menschlicher Autoren ausgedrückt. Gedanken und Worte sind von Gott und vom Menschen zugleich, so daß alles in der Bibel gleich zeitig von Gott und vom inspirierten Autor stammt. Daraus darf man jedoch nicht schließen, Gott hätte der geschichtlichen Erscheinungsweise seiner Botschaft einen absoluten Wert gegeben. Seine Botschaft ist der Interpretation und Aktualisierung fähig, d.h. sie kann von ihrer geschichtlichen Bedingtheit wenigstens teilweise losgelöst werden, um auf die gegenwärtigen geschichtlichen Bedingungen sinnvoll bezogen zu werden. Die Exegese bereitet die Grundlagen zu diesem Unterfangen, das der Dogmatiker weiterführt, indem er die anderen loci theologici in Betracht zieht, die zur Entwicklung des Dogmas beitragen.

3. Exegese und Moraltheologie

Analoge Bemerkungen können zu den Beziehungen zwischen Exegese und Moraltheologie gemacht werden. Mit den heilsgeschichtlichen Erzählungen sind in der Bibel viele Weisungen zum richtigen menschlichen Verhalten verbunden: Gebote, Verbote, Rechtsvorschriften, Ermahnungen und prophetische Scheltreden sowie Belehrungen der Weisen. Eine der Aufgaben der Exegese ist es, Tragweite und Bedeutung dieses umfangreichen Materials zu präzisieren und so die Arbeit der Moraltheologen vorzubereiten.

Diese Aufgabe ist jedoch nicht einfach, denn oft kümmern sich die biblischen Texte kaum darum, allgemeingültige sittliche Gebote von rituellen Reinheitsvorschriften und besonderen Rechtsbestimmungen zu unterscheiden. Alles geht zusammen. Andererseits spiegelt die Bibel eine bedeutende Entwicklung des sittlich-moralischen Denkens, die ihre Vollendung im Neuen Testament findet. Es genügt also nicht, eine bestimmte Position hinsichtlich der Moral im Alten Testament bezeugt zu finden (z.B. die Praxis der Sklavenhaltung oder der Ehescheidung oder der Vernichtung der Feinde im Kriegsfall), um daraus die fortdauernde Berechtigung dieser Praxis zu folgern. Eine Differenzierung drängt sich auf, die dem unübersehbaren Fortschritt des sittlichen Bewußtseins Rechnung trägt. Die Schriften des Alten Testaments enthalten „Unvollkommenes und Zeitbedingtes“ (Dei Verbum, 15), das die göttliche Pädagogik nicht ohne weiteres eliminieren konnte. Das Neue Testament selbst ist im Bereich der Moraltheologie nicht leicht zu interpretieren, denn es äußert sich oft in bildlicher oder paradoxer oder sogar herausfordernder Art, und das Verhältnis der Christen zum jüdischen Gesetz gab zu heftigen Kontroversen Anlaß.

Die Moraltheologen haben somit allen Grund, den Exegeten viele wichtige Fragen zu stellen, die deren Forschung nur stimulieren können. In manchem Fall wird die Antwort sein, daß kein biblischer Text das anstehende moderne Problem explizit behandelt. Doch sogar dann kann das Zeugnis der Bibel, in seiner gesamten kraftvollen Dynamik genommen, eine fruchtbare Orientierungshilfe geben. Für die wichtigsten Punkte bleibt die Ethik des Dekalogs ausschlaggebend. Das Alte Testament enthält schon die Grundsätze und Werte für ein der Würde der menschlichen Person entsprechendes gebotenes Handeln, die als „Abbild Gottes“ erschaffen worden ist (Gen 1, 27). Vom Neuen Testament her fällt ein noch helleres Licht auf diese Grundsätze und Werte dank der Offenbarung der Liebe Gottes in Christus.

4 . Verschiedene Gesichtspunkte und notwendiges Zusammenwirken

Die Internationale Theologische Kommission hat in ihrem Dokument von 1988 über die Interpretation der Dogmen daran erinnert, daß in der Moderne ein Konflikt zwischen Exegese und dogmatischer Theologie entstanden ist; sie hebt anschließend die positiven Beiträge der modernen Exegese zur systematischen Theologie hervor (L’interprétation des dogmes, 1988, C.I, 122). Es ist nützlich, des nähern hinzuzufügen, daß dieser Konflikt von der liberalen Exegese verursacht wurde. Zwischen der katholischen Exegese und der dogmatischen Theologie gab es keinen allgemeinen Konflikt, sondern nur Momente starker Spannungen. Es ist jedoch wahr, daß Spannungen in Konflikte ausarten können, wenn von der einen wie von der andern Seite die legitimen Unterschiede der Gesichtspunkte forciert und schließlich zu unheilbaren Gegensätzen gemacht werden.

Die Gesichtspunkte sind in der Tat verschieden und müssen es auch sein. Die erste Aufgabe des Exegeten ist es, mit Genauigkeit den Sinn der biblischen Texte in ihrem eigenen Kontext festzustellen, d.h. zuerst in ihrem literarischen und besonderen geschichtlichen Kontext, und dann im Kontext des Kanons der heiligen Schriften. Indem er diese Aufgabe erfüllt, stellt der Exeget den theologischen Sinn der Texte ins Licht, sofern diese eine solche Bedeutungsdimension haben. Somit wird eine Kontinuität zwischen Exegese und späterer theologischer Reflexion möglich. Doch der Gesichtspunkt ist nicht der gleiche, denn die Aufgabe des Exegeten ist grundsätzlich historisch und beschreibend und beschränkt sich auf die Interpretation der Bibel.

Der Dogmatiker steht vor einem mehr spekulativen und systematischen Werk. Für seinen Zweck interessiert er sich besonders für bestimmte Texte und Aspekte der Bibel; außerdem bezieht er viele andere Gegebenheiten in seine Reflexion ein, die nicht biblisch sind – patristische Quellen, Konzilsdefinitionen und weitere Dokumente des Lehramtes, die Liturgie wie auch philosophische Systeme und kulturelle, soziale und politische Gegenwartsbedingungen. Seine Aufgabe ist nicht die Bibelinterpretation, sondern das umfassend durchdachte Verständnis des christlichen Glaubens in all seinen Dimensionen und namentlich in Hinsicht auf seinen entscheidenden Bezug zur menschlichen Existenz.

Aufgrund ihrer spekulativen und systematischen Ausrichtung ist die Theologie oft der Versuchung erlegen, die Bibel als ein Reservoir von dictaprobantia anzusehen, die Positionen der Lehre bestätigen sollten. Heute haben die Dogmatiker ein geschärftes Bewußtsein für den literarischen und geschichtlichen Kontext und seiner Bedeutung für eine richtige Interpretation der alten Texte, und sie nehmen infolgedessen häufig auf die Arbeiten der Exegeten Bezug.

Als geschriebenes Wort Gottes hat die Bibel einen Sinnreichtum, der nicht voll und ganz ausschöpfbar ist und in keiner systematischen Theologie adäquat eingeschlossen werden kann. Eine der hauptsächlichsten Funktionen der Bibel ist es, die theologischen Systeme herauszufordern und die Existenz wichtiger Aspekte der göttlichen Offenbarung und der menschlichen Realität beständig in Erinnerung zu rufen, die in der systematischen Reflexion manchmal vergessen oder vernachlässigt wurden. Die Erneuerung der exegetischen Methodologie kann zu dieser Bewußtwerdung beitragen.

Umgekehrt muß die Exegese für die theologische Forschung offen sein. Diese kann sie dazu stimulieren, an die Texte wichtige Fragen zu stellen und so deren Tragweite und Fruchtbarkeit besser zu entdecken. Das wissenschaftliche Studium der Bibel darf sich nicht von der theologischen Forschung absondern, und ebensowenig von der geistlichen Erfahrung und dem Urteil der Kirche. Die Exegese bringt ihr besten Früchte, wenn sie in ihrem Vollzug in den Zusammenhang mit dem lebendigen Glauben der christlichen Gemeinschaft eingebunden bleibt, der auf das Heil der ganzen Welt ausgerichtet ist.

IV.
DIE INTERPRETATION DER BIBEL IM LEBEN DER KIRCHE

Obwohl die Bibelinterpretation die besondere Aufgabe der Exegeten darstellt, ist diese jedoch keineswegs ihr Monopol; denn die Interpretation der Bibel in der Kirche geht über die wissenschaftliche Analyse der Texte hinaus. Für die Kirche ist die Bibel ja nicht einfach eine Sammlung von geschichtlichen Dokumenten ihrer Ursprünge. Sie empfängt die Bibel als Wort Gottes, das hier und heute an sie und an die ganze Welt ergeht. Diese Glaubensüberzeugung hat zur Folge, daß die biblische Botschaft aktualisiert und inkulturiert wird, wie auch die inspirierten Texte im Leben der Kirche vielfältig verwendet werden: in der Liturgie, bei der persönlichen „Lectio divina“, in der Seelsorge und in der ökumenischen Begegnung.

A. Aktualisierung

Schon innerhalb der Bibel selbst – wie wir es im vorhergehenden Kapitel gesehen haben – läßt sich die Praxis der Aktualisierung beobachten: Ältere Texte werden im Lichte neuer Zusammenhänge neu gelesen und auf die gegenwärtige Situation des Volkes Gottes bezogen. Aufgrund der gleichen Überzeugung von der dauernden Lebendigkeit der Heiligen Schrift ergibt sich mit Notwendigkeit die Aktualisierung der Texte in den Glaubensgemeinschaften.

1. Prinzipien

Die Praxis der Aktualisierung geht von folgenden Voraussetzungen aus: Aktualisierung ist möglich, denn die Sinnfülle des biblischen Textes verleiht ihm einen dauernden Wert für alle Epochen und alle Kulturen (vgl. Jes 40, 8; 66, 18-21; Mt 28, 19-20). Die biblische Botschaft kann die Wertsysteme und die Verhaltensnormen jeder Generation gleichzeitig relativieren und vertiefen.

Aktualisierung ist notwendig, denn obwohl die Botschaft der biblischen Texte von immerwährendem Wert ist, sind diese doch unter Einwirkung vergangener Situationen und in einer durch verschiedene Epochen bedingten Sprache verfaßt worden. Um ihre Bedeutung für die Menschen von heute zu zeigen, ist es unumgänglich, ihre Botschaft auf die gegenwärtige Situation zu beziehen und sie in einer an die heutige Zeit angepaßten Sprache auszudrücken. Dies setzt eine hermeneutische Bemühung voraus, die durch geschichtliche Bedingtheiten hindurch zu den wesentlichen Elementen der Botschaft vorstößt.

Die Aktualisierung muß überdies ständig den komplexen Beziehungen Rechnung tragen, die in der christlichen Bibel zwischen Neuem und Altem Testament bestehen. Das Neue Testament ist ja zugleich Erfüllung und Überbietung des Alten Testaments. Die Aktualisierung geschieht im Spannungsfeld dieser dynamischen Einheit der beiden Testamente.

Die Aktualisierung kommt dank dem dynamischen Charakter der lebendigen Überlieferung einer Glaubensgemeinschaft zustande. Diese steht ausdrücklich in der Nachfolge der Gemeinschaften, in denen die Heilige Schrift entstanden ist und wo sie bewahrt und überliefert wurde. In der Aktualisierung erfüllt die Tradition eine doppelte Aufgabe: einerseits schützt sie vor abweichenden Interpretationen; andrerseits sorgt sie dafür, daß die ursprüngliche Dynamik weitergeht.

Aktualisierung heißt also keineswegs Manipulation der Texte. Es geht nicht darum, auf die biblischen Texte neue Meinungen oder Ideologien zu projizieren, sondern aufrichtig der Botschaft nachzuspüren, die sie für die heutige Zeit bereit halten. Der Text der Bibel übt in jeder Zeit in der christlichen Kirche seine Autorität aus und bleibt, obwohl viele Jahrhunderte seit seiner Entstehung vergangen sind, der vornehmliche Wegweiser, den man nicht manipulieren kann. Das Lehramt der Kirche steht nicht „über dem Wort Gottes, sondern dient ihm, indem es nichts lehrt, als was überliefert ist, weil es das Wort Gottes aus göttlichem Auftrag und mit dem Beistand des Heiligen Geistes voll Ehrfurcht hört, heilig bewahrt und treu auslegt“ (Dei Verbum, 10).

2. Methoden

Auf diesen Voraussetzungen beruhen verschiedene Aktualisierungsmethoden.

Die Aktualisierung, die bereits innerhalb der Bibel zu beobachten ist, wurde in der späteren jüdischen Tradition weiter geübt, und zwar mit Hilfe von Methoden, wie sie in den Targumim und Midraschim bezeugt sind: es werden Parallelstellen herangezogen (gezerah schawah) , die Textlesart wird geändert und ersetzt (’al tiqrey), ein zweiter Sinn wird eingeführt (tartey mischma‘) usw.

Die Kirchenväter haben sich ihrerseits der Typologie und der Allegorien bedient, um die biblischen Texte so zu aktualisieren, daß sie in der Situation der Christen ihrer Zeit relevant wurden.

Heutzutage muß die Aktualisierung die Entwicklung der Mentalitäten und die Fortschritte der Interpretationsmethoden einbeziehen.

Jede Aktualisierung setzt eine korrekte Exegese des Textes voraus, die den wörtlichen Sinn feststellt. Wenn der Leser, der den Text aktualisiert, nicht selbst exegetisch gebildet ist, muß er zu guten Anleitungen Zuflucht nehmen, die ihm eine zutreffende Interpretation erlauben.

Eine der sichersten und fruchtbarsten Methoden der Aktualisierung ist die Auslegung der Heiligen Schrift durch die Heilige Schrift selbst; dies gilt besonders für die Texte des Alten Testaments, die entweder schon im Alten Testament selbst eine neue Deutung empfingen (z. B. das Manna von Ex 16 in Weish 16, 20-29) oder im Neuen Testament (Joh 6). Die Aktualisierung eines biblischen Textes in der christlichen Existenz darf den Bezug auf das Geheimnis Christi und die Kirche nie außer acht lassen. Es würde z.B. nicht angehen, als Modelle für den Befreiungskampf von Christen nur Episoden aus dem Alten Testament heranzuziehen (Exodus, 1-2 Makkabäer).

Die Formen philosophischer Hermeneutik legen für das hermeneutische Vorgehen drei Etappen nahe: 1) das Wort wird in einer gegebenen Situation gehört; 2) es werden Aspekte der gegenwärtigen Situation unterschieden, die vom biblischen Text beleuchtet oder in Frage gestellt werden; 3) aus der Sinnfülle des biblischen Textes werden diejenigen Elemente ausgewählt, die geeignet scheinen, die gegenwärtige Situation gemäß dem Heilswillen Gottes in Christus positiv umzuwandeln.

Dank der Aktualisierung kann die Bibel viele moderne Probleme erhellen, z.B. die Ämterfrage in der Kirche, die gemeinschaftliche Dimension der Kirche, die vorrangige Option für die Armen, die Befreiungstheologie, die Stellung der Frau usw. Die Aktualisierung kann auch besonders auf Werte achten, die mehr und mehr vom heutigen Bewußtsein anerkannt sind, wie die Rechte der Person, der Schutz des menschlichen Lebens, die Bewahrung der Natur, das Streben nach universalem Frieden.

3. Grenzen

Übereinstimmung mit der in der Bibel ausgedrückten Heilswahrheit verlangt von jeder Aktualisierung die Anerkennung bestimmter Grenzen, die sie nicht überschreiten darf.

Obwohl jede Lektüre der Bibel zwangsläufig partiell ist, müssen dennoch tendenziöse Arten, die Bibel zu lesen, ab gelehnt werden. Dies gilt von jenen, die, anstatt sich am biblischen Text zu orientieren, ihn für beschränkte Ziele dienstbar machen (wie dies bei den Aktualisierungen in Sekten, z.B. bei den Zeugen Jehovas, geschieht).

Die Aktualisierung verliert ihren Wert völlig, wenn sie sich auf theoretische Voraussetzungen stützt, die mit den fundamentalen Orientierungen des biblischen Textes unvereinbar sind, wie z.B. auf einen dem Glauben entgegengesetzten Rationalismus oder den atheistischen Materialismus.

Selbstverständlich muß man auch jede Aktualisierung ablehnen, die im Widerspruch zur evangeliumsgemäßen Gerechtigkeit oder Liebe steht, z.B. Aktualisierungen, die Apartheid, Antisemitismus, männlichen oder weiblichen Sexismus aus den biblischen Texten ableiten wollen. Mit besonderer Schärfe und ganz im Geist des 2. Vatikanischen Konzils (Nostra Aetate, 4) muß unbeding verhindert werden, daß bestimmte Texte des Neuen Testamentes so aktualisiert werden, daß sie feindselige Einstellungen gegenüber den Juden wecken oder bestärken können. Die tragischen E reignisse der Vergangenheit müssen uns im Gegenteil immer wieder eindringlich daran erinnern, daß nach den Aussagen des Neuen Testaments die Juden von Gott „geliebt“ bleiben, „denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt“ (Röm 11, 28-29).

Solche Abweichungen werden verhindert, wenn die Aktualisierung von einer korrekten Textinterpretation ausgeht und unter Führung des kirchlichen Lehramtes in der Perspektive der lebendigen Überlieferung geschieht.

Auf alle Fälle bildet die Gefahr von Entgleisungen keinen gültigen Einwand gegen die Verwirklichung einer unverzichtbaren Aufgabe, die Botschaft der Bibel an die Ohren und Herzen der Menschen unserer Generation dringen zu lassen.

B. Inkulturation

Den Bemühungen um Aktualisierung, die der Bibel zu allen Zeiten erlaubt, Früchte zu bringen, entsprechen die Bemühungen in den verschiedenen Ländern und Kulturkreisen der Welt um die Inkulturation, die dafür sorgt, daß die biblische Botschaft in den verschiedensten Gebieten in die Kultur eingewurzelt wird. Doch gibt es zwischen den Kulturen übrigens auch Gemeinsamkeiten. Jede echte Kultur ist in einem gewissen Sinne Trägerin universaler Werte, die ihre Begründung in Gott haben.

Die theologische Basis für die Inkulturation ist die Glaubensüberzeugung, daß das Wort Gottes die Kulturen transzendiert, in denen es sich ausdrückt, und daß es die Fähigkeit hat, sich in anderen Kulturen zu verbreiten, derart daß es alle Menschen in ihrer kulturellen Lebenswelt erreichen kann. Diese Überzeugung kommt von der Bibel selbst, die schon vom Buch der Genesis an eine universale Perspektive hat (Gen 1, 27-28), die in der Verheißung des Segens für alle Völker durch Abraham und seine Nachkommen weitergeht (Gen 12, 3; 18, 18) und sich definitiv erfüllt, als die christliche Verkündigung „an alle Nationen“ ergeht (Mt 28 , 18 – 20 ; Röm 4, 16-17; Eph 3, 6).

Die erste Stufe der Inkulturation besteht darin, die inspirierte Schrift in eine andere Sprache zu übersetzen. Diese Stufe wurde schon in der Zeit des Alten Testaments überschritten, als man den hebräischen Text der Bibel mündlich ins Aramäische (Neh 8, 8.12) und schriftlich ins Griechische übersetzte. Eine Übersetzung ist in der Tat immer mehr als eine bloße Übertragung des Originaltextes in eine andere Sprache. Der Übergang von einer Sprache zur andern bringt notwendigerweise eine Änderung des kulturellen Kontextes mit sich: die Begrifflichkeit ist nicht dieselbe, und die Bedeutung der Symbole ist verschieden, denn sie wachsen aus anderen Denktraditionen und anderen Lebensformen heraus.

Das griechisch geschriebene Neue Testament ist durch und durch von einer dynamischen Inkulturation geprägt, denn es überträgt die vom Land Palästina geprägte Botschaft Jesu in die jüdisch-hellenistische Kultur und offenbart dadurch den klaren Willen, die Grenzen eines bestimmten kulturellen Milieus zu überschreiten.

Obschon die Übersetzung eine entscheidende erste Stufe ist, kann sie allein für eine wahre Inkulturation der biblischen Botschaft nicht genügen. Diese muß sich in einer Interpretation fortsetzen, die die biblische Botschaft in eine tiefere Beziehung zu den Denk- und Ausdrucksarten, zur Gefühls- und Lebenswelt setzt, die jeder lokalen Kultur eigen sind. Von der Interpretation führt die Inkulturation auf andere Stufen weiter, die zur Herausbildung einer lokalen christlichen Kultur überleiten, die alle Dimensionen der menschlichen Existenz betrifft (Gebet, Arbeit, soziales Leben, Brauchtum, Recht und Gesetze, Wissenschaft und Kunst, philosophische und theologische Reflexion). Das Wort Gottes ist in der Tat ein Samenkorn, das seinem Erdreich all das entnimmt, was es für sein Wachstum und Gedeihen braucht (vgl. Ad Gentes, 22). Daher müssen die Christen und Christinnen zu erkennen suchen, „was für Reichtümer der freigebige Gott unter den Völkern verteilt hat; zugleich aber sollen sie sich bemühen, diese Reichtümer durch das Licht des Evangeliums zu erhellen, zu befreien und unter die Herrschaft Gottes, des Erlösers zu bringen“ (Ad Gentes, 11).

Wie man sieht, geht es hier nicht um einen einseitigen Prozeß, sondern um eine „gegenseitige Bereicherung“. Einerseits erlauben die in den verschiedenen Kulturen enthaltenen Reichtümer dem Wort Gottes, von neuem Früchte zu bringen, und andererseits erlaubt es das Licht des Wortes Gottes, in dem, was die Kulturen beitragen, eine Auswahl zu treffen, um schädliche Elemente abzuweisen und die Entwicklung gültiger Elemente zu fördern. Die wahre Treue zur Person Christi, zur Dynamik seines österlichen Geheimnisses und zu seiner Liebe zur Kirche wird zwei falsche Lösungen verhindern: diejenige einer oberflächlichen „Anpassung“ der Botschaft und die einer synkretistischen Konfusion (vgl. Ad Gentes, 22).

Im christlichen Orient und im Abendland fand die Inkulturation schon von den ersten Jahrhunderten an statt und war offensichtlich von großer Fruchtbarkeit. Man darf die Inkulturation aber nie als abgeschlossen betrachten. Sie ist immer von neuem zu leisten entsprechend der ständigen Weiterentwicklung der Kulturen. In Ländern, wo die Evangelisierung erst vor kurzem stattfand, stellt sich das Problem anders. Denn dort war es wohl unvermeidlich, daß die Missionare das Wort Gottes in der Form brachten, wie es sich am Anfang in ihrem Heimatland inkulturiert hatte. Die neuen Ortskirchen müssen sich nun sehr bemühen, diese ihnen fremde Inkulturation der Bibel zu überwinden und zu einer andern Form zu gelangen, die der Kultur ihres eigenen Landes entspricht.

C. Vom Gebrauch der Bibel

1. In der Liturgie

Seit Beginn der Kirche gehört die Lesung der heiligen Schriften ganz zur christlichen Liturgie, und diese ist ein Stück weit Erbin der synagogalen Liturgie. Auch heute noch kommen die Christen vor allem in der Liturgie und besonders bei der sonntäglichen Eucharistiefeier mit der Heiligen Schrift in Kontakt.

Die Liturgie, und besonders die Liturgie der Sakramente, deren Höhepunkt und Mitte die Eucharistiefeier ist, aktualisiert wohl am besten die biblischen Texte, denn sie stellt die Verkündigung in die Mitte der um Christus vereinigten Glaubensgemeinschaft, die sich Gott nahen will. Da ist Christus „gegenwärtig … in seinem Wort, da er selbst spricht, wenn die heiligen Schriften in der Kirche gelesen werden“ (Sacrosanctum Concilium, 7). So wird der geschriebene Text zum lebendigen Wort.

Die liturgische Reform, wie sie vom 2. Vatikanischen Konzil beschlossen wurde, hat sich bemüht, den Katholiken eine reichere biblische Nahrung anzubieten. Die drei Zyklen der Sonntagslesungen geben den Evangelien einen privilegierten Platz, um das Geheimnis Christi als Ursprung unseres Heils auszuzeichnen. Indem dieser Zyklus regelmäßig einen Text aus dem Alten Testament in Beziehung zum Evangeliumstext setzt, legt er für die Schriftinterpretation oft den Weg der Typologie nahe. Wie wir wissen, ist diese jedoch nicht die einzige mögliche Art, die Heilige Schrift zu lesen.

Die Homilie, die das Wort Gottes ausdrücklich aktualisiert, gehört voll und ganz zur Liturgie. Wir werden im Zusammenhang mit der Bibel in der Seelsorge auf sie zurückkommen.

Das Lektionar, das aus dem Konzil hervorgegangen ist (Sacrosanctum Concilium, 35), soll eine „reichere, mannigfaltigere und passendere“ Lesung der Heiligen Sch rift ermöglichen. In seiner gegenwärtigen Form entspricht es aber nur teilweise diesem Ziel. Immerhin hat es schon positive ökumenische Auswirkungen gezeitigt. In gewissen Ländern zeigte es auch auf, wie wenig die Katholiken in der Heiligen Schrift „zu Hause“ sind.

Der Wortgottesdienst ist ein entscheidendes Element bei der Feier eines jeglichen Sakramentes der Kirche. Er besteht nicht einfach aus einer Abfolge von Lesungen, denn er erfordert auch in gleicher Weise Momente der Stille und des Gebetes. Diese Liturgie, besonders das Stundengebet, schöpft aus dem Psalmenbuch, um die christliche Gemeinschaft zum Gebet anzuleiten. Hymnen und Gebete sind ganz von der biblischen Sprache und ihrer Symbolik durchdrungen. Es ist deshalb unerläßlich, daß die Liturgiefeier in eine regelmäßige Praxis der Lesung der Heiligen Schrift eingebettet ist.

In den Lesungen „richtet Gott sein Wort an sein Volk “ (Missale Romanum, n. 33); deshalb verlangt der Wortgottesdienst große Sorgfalt in der Verkündigung der Lesungen wie in deren Auslegung. Die Ausbildung der zukünftigen Vorsteher der liturgischen Versammlung und aller, die in ihr eine Rolle übernehmen, muß deshalb den Erfordernissen des vollständig erneuerten Wortgottesdienstes entsprechen. So kann die Kirche dank der Bemühungen aller Beteiligten die ihr aufgetragene Sendung erfüllen, „vom Tisch des Wortes Gottes wie des Leibes Christi ohne Unterlaß das Brot des Lebens zu nehmen und den Gläubigen zu reichen“ (Dei Verbum, 21).

2. Die Lectio divina oder geistliche Lesung

Die Lectio divina ist eine Lesung in individueller oder gemeinschaftlicher Form eines mehr oder weniger langen Abschnittes der Heiligen Schrift, die als Wort Gottes angenommen wird. Unter dem Einfluß des Heiligen Geistes führt sie zur Meditation, zum Gebet und zur Kontemplation.

Das Bemühen um eine regelmäßige, ja sogar tägliche Lesung der Heiligen Schrift entspricht einer schon frühen Übung in der Kirche. Als gemeinsame Praxis ist sie im 3. Jh., zur Zeit des Origenes bezeugt. Origenes pflegte in seinen Homilien von einem Text der Heiligen Schrift auszugehen, der fortlaufend die Woche hindurch gelesen wurde. Es gab damals tägliche Versammlungen, die der Lesung und der Auslegung der Heiligen Schrift dienten. Diese Praxis, die später wieder aufgegeben wurde, hat bei den Christen jedoch nicht immer großen Anklang gefunden (Origenes, Hom. Gen. X, 1).

Die Lectio divina ist als vorwiegend individuelle Praxis im Mönchtum schon früh belegt. In unserer Zeit hat eine von Papst Pius XII. genehmigte Instruktion der Bibelkommission sie allen Priestern, Diözesan- und Ordenspriestern anempfohlen (De Scriptura Sacra recte docenda, 1950; EnchB 592). Die Bedeutung der Lectio divina unter ihrem doppelten, individuellen und gemeinschaftlichen Aspekt ist somit wieder aktuell geworden. Es geht darum, eine „echte und beständige Liebe“ zur Heiligen Schrift, dem Ursprung inneren Lebens und apostolischer Fruchtbarkeit (EnchB 591 und 567) zu wecken und zu stärken, weiterhin darum, ein besseres Verständnis der Liturgie zu fördern und der Bibel einen wichtigeren Platz in den theologischen Studien und im Gebet zu sichern.

Die Konzilskonstitution Dei Verbum (Nr. 25) empfiehlt den Priestern und Ordensleuten ebenfalls eindringlich die eifrige Lesung der heiligen Schriften. Sie lädt aber auch „alle an Christus Glaubenden“ ein, „durch häufige Lesung der Heiligen Schrift sich die ‘alles übertreffende Erkenntnis Jesu Christi’ (Phil 3,8) anzueignen“. Dies ist eine Neuheit! Verschiedene Mittel werden dazu vorgeschlagen. Neben der individuellen Lesung werden Bibellesegruppen empfohlen. Der Text des Konzils unterstreicht, daß das Gebet die Lesung der Heiligen Schrift begleiten muß, denn es ist gleichsam die Antwort auf die Begegnung mit dem Wort Gottes, dem man in der Heiligen Schrift unter dem Beistand und der Führung des Heiligen Geistes begegnet. Zahlreiche Initiativen wurden im christlichen Volk für das gemeinsame Lesen ergriffen. Zu diesem Verlangen nach einer besseren Kenntnis Gottes und seines Heilsplanes in Christus, wie er in der Heiligen Schrift ausgedrückt ist, kann nur ermutigt werden.

3. In der Seelsorge

Die Empfehlung in Dei Verbum (Nr. 24), die Bibel in der Seelsorge möglichst oft zu lesen, kann in verschiedenen Formen realisiert werden, je nach der von den Priestern angewendeten Hermeneutik und den Verständnismöglichkeiten der Gläubigen. Es lassen sich drei Hauptsituationen unterscheiden: Katechese, Verkündigung und biblisches Apostolat. Zahlreiche Faktoren spielen dabei eine Rolle, entsprechend dem Niveau des christlichen Lebens.

Die Erklärung des Wortes Gottes in der Katechese (Sacrosanctum Concilium, 35; Directorium catechisticum generale 23, 1971, 16) hat als Hauptquelle die Heilige Schrift. Diese bildet, im Kontext der Tradition gelesen, den Ausgangspunkt, die Basis und die Norm der katechetischen Unterweisung. Eines der Ziele der Katechese ist eben gerade die Einführung in ein richtiges Verständnis der Bibel und in ihre fruchtbare Lesung, so daß die in ihr enthaltene göttliche Wahrheit gefunden und eine großherzige Antwort auf die Botschaft, die Gott durch sein Wort an die Menschheit richtet, gegeben werden kann.

Die Katechese muß vom geschichtlichen Kontext der göttlichen Offenbarung ausgehen, um Personen und Ereignisse des Alten und Neuen Testaments im Lichte des Planes Gottes darzustellen.

Um vom biblischen Text zu seiner Heilsbedeutung für unsere Zeit vorzudringen, lassen sich verschiedene bibelhermeneutische Unterrichtsmethoden denken, die Anlaß zu verschiedenartigen Kommentaren geben. Die Fruchtbarkeit der Katechese hängt selbstverständlich vom Wert der angewendeten bibelhermeneutischen Unterrichtsmethoden ab. Die Gefahr besteht, sich mit oberflächlichen Erklärungen zu begnügen, die an einer chronologischen Betrachtung der verschiedenen Ereignisse und Personen der Bibel hängen bleiben.

Die Katechese kann natürlich nur einen ganz kleinen Teil der biblischen Texte auswerten. Im allgemeinen benützt sie vor allem die Erzählungen des Neuen wie des Alten Testaments. Der Dekalog spielt eine hervorragende Rolle. Es muß aber darauf geachtet werden, daß auch die Worte der Propheten, die Weisheitslehre und die großen Reden des Evangeliums, z.B. die Bergpredigt, zu Worte kommen.

Die Darstellung des Evangeliums soll zu einer Begegnung mit Christus führen. Er ist ja gleichsam der Schlüssel zur ganzen biblischen Offenbarung und überbringt den Anruf Gottes, auf den jeder zu antworten hat. Die Botschaft der Propheten und der „Diener des Wortes“ (Lk 1,2) muß in ihrer Darlegung als Botschaft an die heutigen Christen erscheinen.

Analoge Bemerkungen betreffen den Dienst der Predigt, die aus den alten Texten eine geistliche Nahrung für die Bedürfnisse der heutigen christlichen Gemeinschaft schöpfen soll.

Heute wird der Dienst der Predigt hauptsächlich in der Homilie am Ende des ersten Teils der Eucharistiefeier, die auf die Verkündigung des Wortes Gottes folgt, ausgeübt.

Die Erklärung der biblischen Texte in der Homilie kann nicht auf alle Einzelheiten eingehen. Es ist jedoch angebracht, die Hauptelemente der Texte hervorzuheben, die am meisten den Glauben beleuchten und den Fortschritt des individuellen und gemeinschaftlichen christlichen Lebens fördern können. Bei der Erklärung dieser Elemente ist es entscheidend, sie zu aktualisieren und zu inkulturieren, wie es oben ausgeführt wurde. Dafür braucht es gültige hermeneutische Prinzipien. Wer in dieser Hinsicht nicht genügend vorbereitet ist, erliegt deswegen meistens der Versuchung, darauf zu verzichten, die biblischen Lesungen tiefer zu erfassen, um sich mit moralisierenden Nutzanwendungen zu begnügen oder nur über aktuelle Fragen zu sprechen, ohne diese mit dem Wort Gottes zu konfrontieren.

In manchen Ländern gibt es Veröffentlichungen, die unter Mithilfe von Exegeten verfaßt wurden, um den Verantwortlichen der Seelsorge zu helfen, die biblischen Lesungen der Liturgie korrekt zu interpretieren und auf gültige Weise zu aktualisieren. Es ist wünschenswert, daß solche Bemühungen das ihnen gebührende Echo finden.

Die Betonung darf selbstverständlich nicht einseitig auf den Verpflichtungen der Gläubigen liegen. Die biblische Botschaft muß ihren grundlegenden Charakter als die Gute Nachricht vom Heil, das Gott uns schenkt, unbedingt bewahren. Die Predigt erreicht weit mehr und wird auch der Bibel gerechter, wenn sie den Gläubigen hilft, „die Gabe Gottes zu erkennen“ (Joh 4,10), so wie sie in der Heiligen Schrift offenbart ist, und in positiver Art die Ansprüche zu erfassen, die sich aus dieser Gabe ergeben.

Das biblische Apostolat hat zum Ziel, die Bibel als Wort Gottes und Quelle des Lebens zu verbreiten. In erster Linie fördert es die Übersetzung der Bibel in die verschiedenen Sprachen sowie die Verbreitung dieser Übersetzungen. Es erweckt zahlreiche Initiativen und unterstützt sie: Bildung von Bibelgruppen, Vorträge über die Bibel, Biblische Wochen, Veröffentlichung von Zeitschriften und Büchern usw.

Ein wichtiger Beitrag kommt von den kirchlichen Vereinigungen und Bewegungen, die die Bibellesung in der Perspektive des Glaubens und mit christlichem Engagement in den Mittelpunkt ihrer Aktivitäten rücken. Zahlreiche „Basisgemeinden“ stellen ihre Zusammenkünfte unter die Bibel und setzen sich ein dreifaches Ziel: die Bibel kennenzulernen, die Gemeinschaft aufzubauen und dem Volk zu dienen. Auch hier ist die Hilfe der Exegeten nützlich, um schlecht begründete Aktualisierungen zu vermeiden. Aber man darf sich freuen, die Bibel in den Händen der Armen, der einfachen Leute zu sehen, die zu ihrer Auslegung und Aktualisierung in geistlicher und existentieller Hinsicht ein helleres Licht bereitstellen können, als was eine selbstgerechte Wissenschaft zu seiner Erklärung beizutragen vermag (vgl. Mt 11, 25).

Die wachsende Bedeutung der Kommunikationsmittel, Massenmedien, Presse, Radio, Fernsehen usw., erheischt eine tatkräftige Verkündigung des Wortes Gottes und die Verbreitung „biblischer“ Kenntnisse auch durch diese Medien. Ihre Eigenart und andererseits ihr gewaltiger Einfluß auf das breite Publikum verlangen jedoch für ihre Benutzung eine spezifische Ausbildung, die es erlaubt, kläglich improvisierte oder effekthascherische Behandlungen der Bibel zu verhindern.

Ob es sich um Katechese, Verkündigung oder biblisches Apostolat handelt, der Bibeltext muß immer mit der ihm gebührenden Achtung dargelegt werden.

4. In der Ökumene

Wenn auch die Ökumene als spezifische und organisierte Bewegung relativ neu ist, so ist doch der Gedanke der Einheit des Volkes Gottes, den diese Bewegung zu erneuern versucht, tief in der Heiligen Schrift verwurzelt. Diese Einheit war die ständige Sorge des Herrn (Joh10,16; 17,11. 20-23). Es ist eine Einheit der Christen im Glauben, in der Hoffnung und in der Liebe (Eph 4, 2-5), in der gegenseitigen Achtung (Phil 2,1-5) und in der Solidarität (1 Kor12, 14-27; Röm 12, 4-5), aber auch und vor allem die organische Einheit mit Christus, so wie die Reben und der Rebstock (Joh 15, 4-5), die Glieder und das Haupt (Eph 1, 22-23; 4, 12-16) eins sind. Diese Einheit muß so vollkommen sein wie die Einheit von Vater und Sohn (Joh 17, 11.22). Die Heilige Schrift liefert hierfür die theologische Basis (Eph 4, 4-6; Gal 3, 27-28). Die erste apostolische Gemeinschaft ist ein konkretes und lebendiges Modell dafür (Apg 2, 44; 4, 32).

Die meisten Probleme im ökumenischen Dialog haben einen Bezug zur Interpretation der biblischen Texte. Einige dieser Probleme sind theologischer Art: im Hinblick auf die Eschatologie, die Kirchenstruktur, den Primat und die Kollegialität, die Ehe und die Scheidung, das priesterliche Amt für die Frauen usw. Andere sind kirchenrechtlicher und jurisdiktioneller Art; sie betreffen die Verwaltung der Universalkirche und der Ortskirchen. Andere wieder sind ausschließlich biblisch: die Liste der kanonischen Bücher, bestimmte hermeneutische Fragen usw.

Die biblische Exegese kann zwar all diese Probleme gewiß nicht allein lösen; sie ist aber aufgerufen, einen wichtigen Beitrag zur Ökumene zu leisten. Bemerkenswerte Fortschritte wurden bereits realisiert. Dank der Annahme gleicher Methoden und analoger hermeneutischer Ziele sind die Exegeten der verschiedenen christlichen Konfessionen zu einer weitgehenden Übereinstimmung in der Interpretation der heiligen Schriften gekommen, wie es der Text und die Anmerkungen verschiedener ökumenischer Übersetzungen der Bibel und auch andere Veröffentlichungen zeigen.

Andererseits sind die Unterschiede in der Auslegung der heiligen Schriften in bestimmten Punkten offensichtlich oft auch stimulierend, ja sie können sich in manchen Fällen als komplementär und bereichernd erweisen. Dies ist der Fall, wenn sie besondere Werte der Eigentraditionen der verschiedenen christlichen Kirchen und Gemeinschaften ausdrücken und so die vielfältigen Aspekte des Geheimnisses Christi zum Ausdruck bringen.

Da die Bibel im übrigen die gemeinsame Basis der Glaubensregel darstellt, drängt der ökumenische Auftrag alle Christen gebieterisch dazu, die inspirierten Texte neu zu lesen, sich durch sie unter der Führung des Heiligen Geistes belehren zu lassen, sie in Liebe, Aufrichtigkeit und Demut zu meditieren und daraus zu leben, um zur Umkehr des Herzens und zur Heiligkeit des Lebens zu gelangen; diese stellen, zusammen mit dem Gebet um die Einheit der Christen die Seele jeder ökumenischen Bewegung dar (vgl. Unitatis Redintegratio, 8). Aus diesem Grunde ist es wichtig, einer möglichst großen Zahl von Gläubigen den Erwerb einer Bibel zu ermöglichen, zu ökumenischen Übersetzungen zu ermutigen – denn ein gemeinsamer Text hilft zu einer gemeinsamen Lektüre und zu einem gemeinsamen Verständnis –, ökumenische Gebetsgruppen zu fördern, um so durch ein echtes, lebendiges Zeugnis an der Wiedergewinnung der vollen Einheit in der Vielfalt mitzuwirken (vgl. Röm 12, 4-5).

Schlußfolgerungen

Aus all dem, was in diesen langen, und doch auch wieder zu knappen Ausführungen zur Sprache kam, geht als erste Folgerung hervor, daß die biblische Exegese in der Kirche und in der Welt eine unersetzliche Aufgabe erfüllt. Wollte man die Bibel ohne sie verstehen, würde man sich einer Illusion hingeben. Es wäre auch ein Mangel an Ehrfurcht vor der inspirierten Schrift.

Fundamentalisten möchten die Exegeten als reine Übersetzer betrachten, wobei sie übersehen, daß die Übersetzung der Bibel schon Exegese ist. Sie weigern sich, exegetischer Forschung zu folgen. Sie geben sich dabei keine Rechenschaft, daß sie sich trotz lobenswerten Bemühens um Treue dem ganzen Wort Gottes gegenüber in Wirklichkeit auf Wege einlassen, die sie vom genauen Sinn der biblischen Texte und damit auch von der vollen Annahme der Konsequenzen der Menschwerdung selbst entfernen. Die Menschwerdung des ewigen Wortes fand ja in einem bestimmten Zeitraum der Geschichte, in einem genau umschriebenen sozialen und kulturellen Umfeld statt. Wer Gottes Wort vernehmen möchte, muß es in Demut da suchen, wo es hörbar wurde, ohne die notwendige Hilfe des menschlichen Wissens zu verschmähen. Seit der Epoche des Alten Testaments hat sich Gott, um zu Männern oder Frauen zu sprechen, aller Möglichkeiten der menschlichen Sprache bedient, aber gleichzeitig mußte er auch sein Wort allen Bedingtheiten dieser Sprache unterwerfen. Wahre Ehrfurcht vor der inspirierten Schrift heißt, keine der notwendigen Anstrengungen zu unterlassen, die es ermöglichen, ihren Sinn richtig zu erfassen. Es ist bestimmt nicht möglich, daß jeder Christ selbst alle Gebiete der Forschung kennt, die für ein besseres Verständnis der biblischen Texte unerläßlich sind. Diese Aufgabe ist den Exegeten anvertraut. Sie sind auf diesem Gebiet zum Nutzen aller zuständig.

Als zweite Schlußfolgerung soll unterstrichen werden, daß die biblischen Texte zu ihrer Interpretation naturgemäß der Anwendung der historisch-kritischen Methode wenigstens in ihren hauptsächlichen Zügen bedürfen. Die Bibel gibt sich ja in der Tat nicht als unmittelbare Offenbarung zeitloser Wahrheiten zu erkennen, sondern vielmehr als das schriftliche Zeugnis von Gottes wiederholtem Eingreifen in der menschlichen Geschichte, durch das er sich offenbart. Im Unterschied zu den heiligen Lehren anderer Religionen ist die biblische Botschaft fest im Boden der Geschichte verwurzelt. Dies ist der Grund, daß die biblischen Schriften ohne Untersuchung ihrer geschichtlichen Entstehung nicht korrekt verstanden werden können. Die „diachrone“ Forschung wird für die Exegese immer unerläßlich sein. Die „synchronen“ Zugänge, so nützlich sie sind, können sie niemals ersetzen. Um auf eine fruchtbare Weise arbeiten zu können, müssen sie zunächst die Ergebnisse der historisch-kritischen Methode, wenigstens in den Hauptlinien, übernehmen.

Unter dieser Bedingung vermögen die synchronen Zugänge (rhetorische, narrative, semiotische und andere Methoden) zur Erneuerung der Exegese beizutragen und die exegetischen Einsichten und Erkenntnisse zu erweitern. In der Tat kann die historisch-kritische Methode ja kein Monopol beanspruchen. Sie muß sich ihrer Grenzen bewußt werden und auch der Gefahren, denen sie ausgesetzt ist. Die jüngsten Entwicklungen der philosophischen Hermeneutiken und was wir in bezug auf die Interpretation der Heiligen Schrift innerhalb der biblischen Tradition und der Tradition der Kirche feststellten, haben das Interpretationsproblem in einem neuen Licht erscheinen lassen, das die historisch-kritische Methode nicht immer wahrnehmen wollte. Die alles beherrschende Absicht dieser Methode, den Sinn der Texte zu bestimmen, indem sie diese in ihren ursprünglichen historischen Kontext einordnet, macht sie in der Tat manchmal weniger offen für den dynamischen Aspekt der Bedeutung und die Möglichkeiten einer weiteren Entwicklung des Sinnes. Namentlich wenn sie nicht bis zur Redaktionsgeschichte vordringt, sondern bei Quellenproblemen und literarischen Schichtungen der Texte stehen bleibt, erfüllt sie ihre exegetische Aufgabe nicht genügend.

Aus Treue zur großen Überlieferung, von der auch die Bibel selbst Zeugnis ablegt, muß die katholische Exegese so weit wie möglich solche Arten von „Betriebsblindheit“ vermeiden und ihre Identität als theologische Disziplin bewahren, deren Hauptziel die Vertiefung des Glaubens ist. Dies bedeutet keineswegs geringere Ernsthaftigkeit der kompetenten wissenschaftlichen Forschungsarbeit und auch keine Beugung der Methoden aus apologetischem Interesse. Jedes Gebiet der Forschung (Textkritik, Linguistik, literarische Analysen usw.) besitzt seine eigenen Regeln, denen die Forschung in voller Unabhängigkeit fol gen muß. Aber keines dieser Spezialgebiete der Exegese stellt ein Ziel für sich dar. In der Gesamtorganisation der exegetischen Arbeit muß die Ausrichtung auf das Hauptziel bestimmend bleiben; nur so lassen sich Abwege und Sackgassen vermeiden. Die katholische Exegese darf nicht einem Wasserlauf gleichen, der in einer hyperkritischen Analyse versandet. Sie hat in Kirche und Welt eine entscheidende Funktion zu erfüllen: zur möglichst authentischen Vermittlung der inspirierten Botschaft der Heiligen Schrift das Ihre beizutragen.

Ihre Bemühungen gehen ja bereits in dieser Richtung, indem sie an der Erneuerung der anderen theologischen Disziplinen und an der seelsorgerlichen Arbeit der Aktualisierung und Inkulturation des Wortes Gottes mitwirkt. Diese Darlegungen haben die gegenwärtige Problematik geprüft und einige Reflexionen dazu formuliert. Es ist zu hoffen, daß sie mithelfen werden, bei allen das Bewußtsein von der Rolle des katholischen Exegeten zu klären.

Rom, den 15. April 1993

 

Nachwort zur Übersetzung

Der hier gebotene deutsche Text des Dokuments ist eine von Lothar Ruppert, Freiburg i.Br., und Adrian Schenker OP, Freiburg/Schweiz, Mitgliedern der Bibelkommission, im ausdrücklichen Einverständnis des wissenschaftlichen Sekretärs der Bibelkommission, Albert Vanhoye SJ, Rom, erstellte Revision der von den beiden Erstgenannten autorisierten, 1993 bei der Libreria Editrice Vaticana erschienenen deutschen Übersetzung. Die Anmerkungen 1, 11 und 12 sind Anmerkungen der Bibelkommission selbst, die übrigen sind dem besseren Verständnis des Textes dienende Fußnoten von L. Ruppert und A. Schenker.

 

Fußnoten

1) Unter exegetischer „Methode“ verstehen wir die gesamten wissenschaftlichen Vorgehensweisen zur Auslegung der Texte. Wir sprechen von „Zugängen“, wenn es sich um Forschung nach einem bestimmten Gesichtspunkt handelt (Anm. der Bibelkommission).

2) Gemeint sind die Quellenschriften des Pentateuch.

3) Der Ausdruck „ihre Herkunft“ (frz.: son origine) ist mißverständlich. Gemeint ist die Herkunft der Gestaltung der neutestamentlichen Überlieferung.

4) „Historisch“ ist hier nicht im Sinne der modernen Geschichtswissenschaft gemeint, sondern im Hinblick auf biblische Geschichtsdarstellung.

5) Das bedeutet freilich nicht, daß Vorstufen des Textes theologisch ohne Bedeutung wären; vielmehr bereiten sie den Endtext als den verbindlichen Ausdruck von „Gottes Wort“ vor, zielen auf ihn hin und tragen zu seinem Verständnis bei.

6) Kreise ohne besondere Fachkenntnisse.

7) Diese Aussage darf freilich nicht im Sinne einer „inspiratio consequens“ mißverstanden werden.

8) Centos sind Zitatmosaiken aus antiken Dichtern. Unter „relecture“ versteht man eine umgestaltende und akzentuierende Wiederaufnahme.

9) „Urtext“ im Sinne von „Urform“.

10) Von Familie und Besitz.

11) Über den Text dieses letzten Abschnittes wurde abgestimmt. 11 von 19 Stimmen sprachen sich für ihn aus, 4 dagegen, und 4 enthielten sich der Stimme. [Gegenstand der Abstimmung war die Warnung an die Adresse der Frauen, die dieser Satz enthält.] Die Minorität der Kommissionsmitglieder [hielt eine solche Kritik von seiten von Männern für wenig angebracht. Sie] verlangte, daß das Resultat dieser Abstimmung im Text publiziert werde. Die Kommission hat sich dazu verpflichtet.

12) Die Hermeneutik des Wortes, wie sie von Gerhard Ebeling und Ernst Fuchs entwickelt wurde, geht von einem andern Zugang aus und gehört zu einem andern Bereich des Denkens. Es geht bei ihr eher um eine hermeneutische Theologie als um eine hermeneutische Philosophie. Ebeling geht immerhin mit Autoren wie Bultmann und Ricoeur in der Betonung der Bedingung einig, daß das Wort Gottes nur dann seinen vollen Sinn erhält, wenn es seine Adressaten erreicht.

13) Es handelt sich um eine grundlegende Verwandtschaft zwischen dem Denken des Interpreten und den Aussagen des Textes.

14) Das Heilsgeschehen erfuhr im Laufe der Geschichte immer wieder neue Interpretationen.

15) Der französische Text spricht von dem „Licht des heiligen Geistes“.

16) Lateinischer Text im Anhang von EnchB 4 (1965) 3*-11*; lateinischer Text und deutsche Übersetzung: Joseph A. Fitzmyer, Die Wahrheit der Evangelien (SBS 1) Stuttgart 1965.

17) Der im Dokument zitierte französische Konzilstext und die offizielle deutsche Übersetzung weichen in Lumen Gentium, 12, beträchtlich voneinander ab.

18) Auch hier differieren die französische und deutsche Version des Konzilstextes beträchtlich.

19) enthalten in: Arbeitshilfe 66.

20) Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 70.

21) Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 98.

22) Dt.: Die Interpretation der Dogmen. Dokument der Internationalen Theologenkommission: IKaZ 19 (1990) 246–266.

23) Private deutsche Übersetzung: Allgemeines Katechetisches Direktorium. Übersetzung mit Erlaubnis der Hl. Kongregation, besorgt von Raphael von Rhein, Fulda 2 1979.

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Quelle

 

JOHANNES PAUL II. „DIE MENSCHLICHE LIEBE IM GÖTTLICHEN HEILSPLAN“

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KATECHESEN BEI DEN MITTWOCHS-AUDIENZEN


I. DER MENSCH IM „ANFANG“ (Gen 1-4; Mt 19, 3 ff.)

Gott sah, daß alles gut war (1)

1. Seit einiger Zeit sind die Vorbereitungen für die nächste ordentliche Versammlung der Bischofssynode im Gang, die im Herbst kommenden Jahres in Rom zusammentreten wird. Das Thema der Synode – De muneribus familiae christianae, »Die Aufgaben der christlichen Familie« – lenkt unsere Aufmerksamkeit auf diese Gemeinschaft des menschlichen und christlichen Lebens, die von Anfang an grundlegend war. Diesen Ausdruck »von Anfang an« verwendet dann auch unser Herr Jesus in dem Gespräch über die Ehe, das uns im Evangelium der hll. Matthäus und Markus überliefert wird. Wir wollen uns fragen, was dieses Wort Anfang bedeutet. Sodann wollen wir klären, warum Christus sich gerade bei dieser Gelegenheit auf den Anfang beruft, und deshalb eine genauere Analyse des betreffenden Textes der Heiligen Schrift versuchen.

2. Während des Gesprächs mit den Pharisäern, die die Frage nach der Unauflöslichkeit der Ehe gestellt hatten, beruft sich Jesus Christus zweimal auf den Anfang. Das Gespräch entwickelte sich folgendermaßen: ». . . Da kamen Pharisäer zu ihm, die ihm eine Falle stellen wollten, und fragten: Darf man seine Frau aus jedem beliebigen Grund aus der Ehe entlassen? Er antwortete: Habt ihr nicht gelesen, daß der Schöpfer die Menschen am Anfang als Mann und Frau geschaffen hat und daß er gesagt hat: Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen und sich an seine Frau binden, und die zwei werden ein Fleisch sein. Sie sind also nicht mehr zwei, sondern eins. Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen. Da sagten sie zu ihm: Wozu hat dann Mose das Gebot erlassen, daß man der Frau eine Scheidungsurkunde geben muß, wenn man sich trennen will? Er antwortete: Nur weil ihr so starrsinnig seid, hat Mose euch erlaubt, eure Frauen aus der Ehe zu entlassen. Ursprünglich war das nicht so« (Mt 19, 3 ff.; vgl. auch Mk 10, 2 ff.).
Christus nimmt das Gespräch nicht auf der Ebene an, auf welcher es seine Gesprächspartner zu führen versuchen; in einem gewissen Sinn mißbilligt er die Dimension, die sie dem Problem zu geben versuchten. Er vermeidet es, sich in juristisch-kasuistische Streitfragen zu verstricken; stattdessen beruft er sich zweimal auf den Anfang. Damit nimmt er ganz klar auf die entsprechenden Worte im Buch Genesis Bezug, die auch seine Gesprächspartner auswendig kennen. Aus jenen Worten der Uroffenbarung zieht Christus die Schlußfolgerung, und das Gespräch ist beendet.

3. Anfang bedeutet also das, was das Buch Genesis sagt. Christus zitiert hier Genesis 1, 27 zusammenfassend: »Der Schöpfer hat am Anfang die Menschen als Mann und Frau geschaffen«, während der Text im vollen Wortlaut heißt: »Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Weib schuf er sie.« Danach beruft sich der Herr auf Genesis 2, 24: »Darum verläßt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau, und sie werden ein Fleisch.« Dadurch daß Christus diese Worte sozusagen vollständig zitiert, verleiht er ihnen eine noch bestimmtere normative Bedeutung, vorausgesetzt, daß in der Genesis diese Aussagen Sachbehauptungen sind: »Er verläßt … er bindet sich … sie werden ein Fleisch.« Die normative Bedeutung wird dadurch einleuchtend, daß Christus sich nicht auf das bloße Zitat beschränkt, sondern hinzufügt: »Sie sind also nicht mehr zwei, sondern eins. Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen.« Dieses »er darf nicht trennen« ist entscheidend. Im Lichte dieser Worte Christi verkündet Genesis 2, 24 die Einheit und Unauflöslichkeit der Ehe als eigentlichen Inhalt des Wortes Gottes, wie es in der Uroffenbarung zum Ausdruck kommt.

4. Man könnte an diesem Punkt behaupten, daß das Problem erschöpft sei, daß die Worte Jesu Christi das ewige Gesetz, das Gott »von Anfang an« bei der Schöpfung des Menschen formuliert und eingesetzt hat, bestätigen. Es könnte auch scheinen, daß der Herr, wenn er dieses Urgesetz des Schöpfers bestätigt, nichts anderes tue als ausschließlich seinen normativen Charakter festzusetzen, indem er sich auf die Autorität des ersten Gesetzgebers beruft. Doch jener bezeichnende Ausdruck »von Anfang an«, der zweimal wiederholt wird, veranlaßt die Gesprächspartner ausdrücklich zum Nachdenken über die Art und Weise, in der im Schöpfungsgeheimnis der Mensch gestaltet worden ist, nämlich als »Mann und Frau«, um den normativen Sinn der Worte der Genesis genau zu erfassen. Das aber gilt ebenso für die Gesprächspartner von heute wie für jene von damals. Wir müssen uns daher bei unserer Untersuchung, wenn wir all das bedenken, in die Lage der heutigen Gesprächspartner Christi versetzen.

5. In den kommenden Mittwochsaudienzen wollen wir versuchen, wie heutige Gesprächspartner Christi bei den Worten des hl. Matthäus (19, 3 ff.) zu verweilen. Um der Weisung zu entsprechen, die Christus in diese Worte eingeschlossen hat, wollen wir versuchen, zu jenem Anfang vorzudringen, auf den er in so bezeichnender Weise Bezug nimmt. So können wir von ferne der großen Arbeit folgen, die die Teilnehmer an der nächsten Bischofssynode jetzt zu diesem Thema in Angriff nehmen. Zusammen mit ihnen nehmen zahlreiche Gruppen von Seelsorgern und Laien daran teil, die sich in besonderer Weise für die Aufgaben verantwortlich wissen, die Christus der Ehe und der christlichen Familie zuweist: Aufgaben, die er ihr immer zugewiesen hat und die er ihr auch in unserer Zeit und in der heutigen Welt zuweist. Der Zyklus der Betrachtungen, den wir heute beginnen und den wir bei den kommenden Mittwochsaudienzen fortsetzen wollen, hat unter anderem auch das Ziel, den Vorbereitungsarbeiten für die Synode sozusagen von ferne zu folgen. Wir werden nicht direkt das Thema behandeln, sondern unsere Aufmerksamkeit auf die tiefen Wurzeln lenken, aus denen dieses Thema hervorgeht. 5.9. 1979, OR 79/37

 

Gott sah, daß alles gut war (2)

1. Am vergangenen Mittwoch haben wir eine Reihe von Betrachtungen begonnen über die Antwort, die Christus, der Herr, seinen Gesprächspartnern auf die Frage nach der Einheit und Unauflöslichkeit der Ehe erteilt hat. Die Pharisäer haben sich, wie erinnerlich, auf das Gesetz des Mose berufen; Christus hingegen berief sich auf das »am Anfang«, wobei er die Worte aus dem Buch Genesis zitierte. »Anfang« meint in diesem Fall das, wovon eine der ersten Seiten der Genesis handelt. Wenn wir diese Tatsache analysieren wollen, müssen wir uns natürlich vor allem an den Text halten. Denn die Worte Christi in seinem Gespräch mit den Pharisäern, die uns Matthäus und Markus im 19. bzw. 10. Kapitel ihrer Evangelien überliefert haben, stellen einen Passus dar, der sich seinerseits in einen klar umrissenen Zusammenhang einfügt, ohne den diese Worte weder verstanden noch richtig interpretiert werden können. Dieser Zusammenhang ist durch die Worte: »Habt ihr nicht gelesen, daß der Schöpfer die Menschen am Anfang als Mann und Frau geschaffen hat . . .?« (Mt 19, 4) gegeben und nimmt Bezug auf den sogenannten ersten Schöpfungsbericht, in dem die Erschaffung des Menschen in einen Sieben-Tage-Zyklus eingeordnet ist (Gen 1, 1-2, 4). Der Zusammenhang, in den die übrigen aus Gen 2, 24 entnommenen Worte Christi gehören, ist hingegen der sogenannte zweite Schöpfungsbericht (Gen 2, 5-25). Der zweite Bericht von der Erschaffung des Menschen bildet eine begriffliche und stilistische Einheit mit der Beschreibung der ursprünglichen Sündenlosigkeit, der Glückseligkeit des Menschen und auch seines ersten Falles im dritten Kapitel der Genesis. In Anbetracht dessen, was Christus mit seinen Worten aus Gen 2, 24 sagt, könnte man in den Zusammenhang zumindest auch den ersten Satz des vierten Kapitels der Genesis miteinschließen, der von der Empfängnis und der Geburt des Menschen von irdischen Eltern handelt. Das wollen wir in der folgenden Analyse auch tun.

2. Vom Gesichtspunkt der Bibelkritik her muß man sofort daran erinnern, daß der erste Schöpfungsbericht zeitlich später anzusetzen ist als der zweite. Der Ursprung des letzteren liegt viel weiter zurück. Diesen älteren Text bezeichnet man auch als »jahwistisch«, weil er sich zur Bezeichnung Gottes des Ausdrucks »Jahwe« bedient. Es fällt schwer, die Tatsache zu übersehen, daß das dort vorliegende Gottesbild beträchtliche anthropomorphe Züge aufweist – wir lesen dort u. a., daß », . . Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden formte und in seine Nase den Lebensatem blies« (Gen 2, 7). Gegenüber dieser Beschreibung ist der erste, also der zeitlich spätere Bericht viel reifer, sowohl was das Gottesbild betrifft als auch in der Formulierung der wesentlichen Wahrheiten über den Menschen. Dieser Bericht stammt aus der priesterlichen Überlieferung, in der Gott mit »Elohim« bezeichnet wird.

3. Weil in dieser Erzählung die Erschaffung des Menschen als Mann und Frau, auf die sich Jesus in seiner Antwort, Mt 19, bezieht, in den Sieben-Tage-Rhythmus der Schöpfung der Welt hineingenommen ist, könnte man ihr vor allem einen kosmologischen Charakter zuschreiben; der Mensch wird auf der Erde und zusammen mit der sichtbaren Welt erschaffen. Zur gleichen Zeit aber gebietet ihm der Schöpfer, sich die Erde Untertan zu machen und sie zu »unterjochen« (vgl. Gen 1, 28): er wird also über die Welt gestellt. Obwohl der Mensch so eng mit der sichtbaren Welt verbunden ist, spricht die biblische Erzählung dennoch nicht von seiner Ähnlichkeit mit den übrigen Geschöpfen, sondern einzig und allein von seiner Ähnlichkeit mit Gott: »Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn . . .« (Gen 1,27). Im Sieben-Tage-Zyklus der Schöpfung wird eine genaue Abstufung1 offenkundig; der Mensch jedoch wird nicht einer natürlichen Abfolge entsprechend erschaffen, sondern der Schöpfer scheint, ehe er ihn ins Leben ruft, innehalten zu wollen, um einen Entschluß zu fassen: »Laßt uns Menschen machen als unser Abbild nach unserer Gestalt« (Gen 1,26).

4. Dieser erste, wenn auch zeitlich spätere Bericht von der Erschaffung des Menschen hat vor allem theologischen Charakter. Darauf weist in erster Linie die Definition des Menschen in seinem Verhältnis zu Gott hin (»als Abbild Gottes schuf er ihn«), die zugleich die Bestätigung der absoluten Unmöglichkeit einschließt, den Menschen auf die »Welt« zu beschränken. Bereits im Licht der ersten Sätze der Bibel kann der Mensch mit den aus der »Welt«, das heißt aus dem sichtbaren Bereich des Körperlichen entnommenen Kategorien weder begriffen noch ausreichend erklärt werden. Trotzdem ist auch der Mensch Körper. Gen 1, 27 stellt fest, daß diese Grundwahrheit über den Menschen sich sowohl auf den Mann wie auf die Frau bezieht: »Gott schuf den Menschen als sein Abbild . . . Als Mann und Weib schuf er sie«2. Man muß erkennen, daß der erste Bericht dicht ist und frei von jeder Spur von Subjektivismus: er enthält lediglich das objektive Faktum und definiert die objektive Wirklichkeit, sowohl wenn er von der Erschaffung des Menschen als Mann und Frau nach dem Ebenbild Gottes spricht, als auch wenn er kurz darauf die Worte der ersten Segnung hinzufügt: »Gott segnete sie und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch . . .« (Gen 1, 28).

5. Der erste Schöpfungsbericht des Menschen, der, wie gesagt, theologischen Charakter hat, birgt eine gewaltige metaphysische Aussagekraft in sich. Man sollte nicht vergessen, daß gerade dieser Text aus der Genesis zur Quelle der tiefsten Inspirationen für die Denker geworden ist, die »Sein« und »Dasein« zu begreifen versuchten. (Vielleicht kann nur das dritte Kapitel des Buches Exodus dem Vergleich mit diesem Text3 standhalten.) Trotz einiger ausführlicher und plastisch-bildlicher Formulierungen in dem Abschnitt wird der Mensch hier vor allem in den Dimensionen des Seins und des Daseins bestimmt, also auf mehr metaphysische als physische Weise. Dem Mysterium seiner Erschaffung (»als Abbild Gottes schuf er ihn«) entspricht die Perspektive der Zeugung (»seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde«), jenes Werdens in Welt und Zeit, jenes »fieri« das notwendigerweise an die metaphysische Situation der Schöpfung gebunden ist: des zufälligen Seins »contingens«. Eben in diesem metaphysischen Zusammenhang der Beschreibung von Gen 1 muß man das Wesen des Guten, das heißt den Aspekt des Wertes begreifen. Denn dieser Aspekt kehrt im Rhythmus eigentlich aller Schöpfungstage wieder und erreicht seinen Höhepunkt nach der Erschaffung des Menschen: »Gott sah, daß alles, was er gemacht hatte, sehr gut war« (Gen 1, 31). Deshalb darf man mit Sicherheit sagen, daß das erste Kapitel der Genesis einen unwiderlegbaren Bezugspunkt und die solide Basis für eine Metaphysik und auch für eine Anthropologie und eine Ethik bildet, nach welcher das Sein und das Gute austauschbar sind (»ens et bonum convertuntur«). Das alles hat natürlich auch seine Bedeutung für die Theologie und vor allem für die Theologie des Leibes.

6. Hier wollen wir unsere Betrachtungen unterbrechen. In einer Woche werden wir uns mit dem zweiten Schöpfungsbericht befassen, also jenem, der den Bibelwissenschaftlern zufolge der ältere ist. Der Ausdruck »Theologie des Leibes«, den ich soeben gebraucht habe, bedarf einer genaueren Erklärung, doch das verschieben wir auf ein anderes Zusammentreffen. Zuerst müssen wir jenen Abschnitt aus dem Buch Genesis zu vertiefen versuchen, auf den Christus Bezug genommen hat. 12.9. 1979, OR 79/38

 

Der Mensch erkennt Gut und Böse

1. Im Anschluß an die Worte Christi zur Ehe, in denen er sich auf den »Anfang« beruft, haben wir uns vergangene Woche mit dem ersten Schöpfungsbericht der Genesis (Kap. 1) beschäftigt. Heute wollen wir auf den zweiten Bericht eingehen, den man oft als »jahwistisch« bezeichnet, weil Gott hier »Jahwe« genannt wird. Der zweite Schöpfungsbericht (der sich mit der Darstellung der ursprünglichen Unschuld und Glückseligkeit sowie dem Sündenfall befaßt) hat seiner Natur nach einen anderen Charakter. Auch wenn wir die Einzelheiten dieser Erzählung nicht vorwegnehmen wollen — auf die wir noch zurückkommen -, müssen wir feststellen, daß der ganze Text mit seiner Formulierung der Wahrheit über den Menschen uns durch seine ausgeprägte Tiefe, die sich merklich von jener des ersten Kapitels der Genesis unterscheidet, in Erstaunen setzt. Man kann von einer Tiefe vor allem subjektiver und daher in gewissem Sinne psychologischer Art sprechen. Das Kapitel 2 der Genesis stellt gewissermaßen die älteste Beschreibung und Aufzeichnung vom Selbstverständnis des Menschen dar und bildet zusammen mit Kapitel 3 das erste Zeugnis des menschlichen Bewußtseins. Bei einer vertieften Reflexion über diesen Text — mit der ganz archaischen Eigenart der Erzählung, in der sich der ursprünglich mythische Charakter kundtut4 — entdecken wir hier »im Kern« nahezu alle Elemente einer Analyse des Menschen, für welche die moderne und vor allem die zeitgenössische philosophische Anthropologie aufgeschlossen ist. Man könnte sagen, Genesis 2 stellt die Erschaffung des Menschen besonders unter dem Aspekt des Subjektiven dar. Vergleicht man beide Berichte miteinander, gelangt man zu der Überzeugung, daß diese Subjektivität der objektiven Wirklichkeit des »nach dem Abbild Gottes« geschaffenen Menschen entspricht. Und auch das ist – in anderer Weise – für die Theologie des Leibes von Bedeutung, wie wir bei der folgenden Analyse sehen werden.

2. Es ist bezeichnend, daß Christus in seiner Antwort an die Pharisäer, wo er sich auf den »Anfang« beruft, vor allem auf die Erschaffung des Menschen nach Gen 1, 27 verweist: »Der Schöpfer hat die Menschen am Anfang als Mann und Frau geschaffen«; erst spä- ter zitiert er Gen 2, 24. Die Worte, die unmittelbar die Einheit und Unauflöslichkeit der Ehe beschreiben, finden sich direkt im Kontext des zweiten Schöpfungsberichtes, dessen charakteristischer Zug die getrennte Erschaffung der Frau ist (vgl. Gen 2, 18-23), während der Bericht von der Erschaffung des ersten Menschen (des Mannes) in Gen 2, 5-7 steht. Dieses erste Menschenwesen nennt die Bibel »Mensch« (adam); vom Augenblick der Erschaffung der ersten Frau an spricht die Bibel jedoch von einem »männlichen« und einem »weiblichen« Wesen (Frau — ‚issah heißt sie, weil sie vom Mann – ‚is genommen ist)5 . Bezeichnend ist auch, daß Christus, wenn er auf Gen 2, 24 Bezug nimmt, nicht nur den »Anfang« mit dem Schöpfungsgeheimnis verbindet, sondern uns auch in den Grenzbereich von ursprünglicher Unschuld des Menschen und Erbsünde führt. Der zweite Schöpfungsbericht ist in der Genesis in diesen Zusammenhang hineingestellt. Wir lesen dort vor allem: »Gott, der Herr, baute aus der Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, eine Frau und führte sie dem Menschen zu. Und der Mensch sprach: Das endlich ist Gebein von meinem Gebein und Fleisch von meinem Fleisch. Frau soll sie heißen, vom Mann ist sie genommen« (Gen 2, 22-23). »Darum verläßt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau, und sie werden ein Fleisch« (Gen 2, 24). »Beide, der Mensch und seine Frau, waren nackt, aber sie schämten sich nicht voreinander« (Gen 2, 25).

3. Dann, unmittelbar nach diesen Versen, beginnt das 3. Kapitel mit der Erzählung des Sündenfalls des Mannes und der Frau, verbunden mit dem geheimnisvollen Baum, der schon vorher »Baum der Erkenntnis von Gut und Böse« genannt wurde (Gen 2, 17). Damit tut sich eine völlig neue Situation auf, die sich von der vorhergehenden wesentlich unterscheidet. Der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse ist eine Trennungslinie zwischen den beiden Ursituationen, von denen die Genesis spricht. Die erste Situation ist die der ursprünglichen Unschuld, wo sich der Mensch (Mann und Frau) gleichsam außerhalb der Erkenntnis von Gut und Böse befindet, solange er nicht das Verbot des Schöpfers übertritt und nicht die Frucht vom Baum der Erkenntnis ißt. Die zweite Situation dagegen ist jene, wo der Mensch, nachdem er auf Einflü- sterung des durch die Schlange symbolisierten bösen Geistes das Gebot des Schöpfers übertreten hat, gewissermaßen in der Erkenntnis von Gut und Böse steht. Diese zweite Situation bezeichnet den Zustand menschlicher Sündhaftigkeit im Gegensatz zum Zustand ursprünglicher Unschuld. Obwohl der jahwistische Text im ganzen sehr knapp ist, reicht das doch aus für eine Differenzierung und klare Gegenüberstellung der beiden ursprünglichen Situationen. Wir sprechen hier von Situationen, obwohl wir einen Bericht vor Augen haben, der eigentlich eine Beschreibung von Ereignissen ist. Trotzdem wird durch diese Beschreibung mit all ihren Einzelheiten der wesentliche Unterschied zwischen dem Zustand der Sündhaftigkeit des Menschen und jenem seiner ursprünglichen Unschuld sichtbar6. Die systematische Theologie wird in diesen beiden gegensätzlichen Situationen zwei verschiedene Zustände der menschlichen Natur erkennen: den Status naturae integrae (Zustand der unversehrten Natur) und den Status naturae lapsae (Zustand der gefallenen Natur). Das alles geht aus unserem jahwistischen Text in Gen 2 und 3 hervor, der das älteste Offenbarungswort enthält und offensichtlich für die Theologie des Menschen und die Theologie des Leibes fundamentale Bedeutung hat.

4. Wenn Christus sich auf den »Anfang« bezieht und seine Gesprächspartner auf die Worte von Gen 2, 24 verweist, gebietet er ihnen gewissermaßen, die Grenze zu überschreiten, die im jahwistischen Text der Genesis zwischen der ersten und zweiten Situation des Menschen verläuft. Er billigt nicht, was Mose ihnen »wegen ihrer Herzenshärte« zugestanden hat, und beruft sich auf die Worte der ersten göttlichen Weisung, die in diesem Text ausdrücklich mit dem Zustand der ursprünglichen Unschuld des Menschen verbunden ist. Das heißt, diese Weisung hat nichts von ihrer Gültigkeit verloren, auch wenn der Mensch seine ursprüngliche Unschuld verloren hat. Die Antwort Christi ist endgültig und unmißverständlich. Wir müssen also daraus die maßgebenden Normen ableiten, die nicht nur für die Ethik wesentliche Bedeutung haben, sondern vor allem für die Theologie des Menschen und die Theologie des Leibes, die sich, als besonderer Teil der theologischen Anthropologie, auf das Wort Gottes gründet, der sich offenbart. Bei unserem nächsten Zusammentreffen wollen wir versuchen, diese verpflichtenden Schlußfolgerungen zu ziehen. 19. 9. 1979, OR 79/39

 

Von der »Geschichte der Sünde« zur Heilsgeschichte

1. In seiner Antwort auf die Frage nach der Einheit und Unauflöslichkeit der Ehe hat sich Christus auf das Buch Genesis berufen. Bei den Betrachtungen in den beiden vorangegangenen Wochen sind wir auf den sogenannten elohistischen (Gen 1) und den jahwistischen Text (Gen 2) eingegangen. Heute möchten wir einige Schlußfolgerungen ziehen. Wenn sich Christus auf den »Anfang« beruft, verlangt er von seinen Gesprächspartnern, gewissermaßen die Grenzlinie zu überschreiten, die die Genesis zwischen dem Zustand ursprünglicher Unschuld und dem der Sündhaftigkeit zieht, die mit der Erbsünde beginnt. Symbolisch läßt sich diese Grenzlinie mit dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse verbinden, der im jahwistischen Text zwei diametral entgegengesetzte Situationen gegenüberstellt: die der ursprünglichen Unschuld und die der Erbsünde. Beide Situationen haben im Menschen in seinem Innern, in seiner Erkenntnis, seinem Bewußtsein, seiner Grundentscheidung eine eigene Dimension, und zwar in bezug auf den Schöpfergott, der im jahwistischen Text (Gen 2 und 3) zugleich der Gott des Bundes ist, des ältesten Bundes des Schöpfers mit seinem Geschöpf, also dem Menschen. Der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse als Ausdruck und Symbol des Bundes mit Gott, den der Mensch innerlich gebrochen hat, grenzt zwei diametral entgegengesetzte Zustände voneinander ab: den Zustand der ursprünglichen Unschuld und den der Erbsünde des Menschen. Doch die Worte Christi, die Bezug nehmen auf den »Anfang«, lassen uns im Menschen einen grundsätzlichen Zusammenhang zwischen diesen beiden verschiedenen Situationen oder Dimensionen menschlichen Seins entdecken. Der Zustand der Sünde gehört zum »geschichtlichen Menschen«, also zu dem damaligen Gesprächspartner Christi in Matthäus 19, wie auch jedem anderen möglichen oder tatsächlichen Gesprächspartner aller Zeiten der Geschichte und daher natürlich auch zum Menschen von heute. Jener Zustand – eben der »geschichtliche« Zustand – reicht jedoch in jedem Menschen, ohne Ausnahme, mit seinen Wurzeln theologisch in seine eigene »Vorgeschichte« zurück, d. h. in den Zustand der ursprünglichen Unschuld.

2. Hier handelt es sich nicht um formale Dialektik. Die Gesetze des Erkennens entsprechen den Gesetzen des Seins. Es ist unmöglich, den Zustand »geschichtliche« Sündhaftigkeit zu begreifen, ohne sich auf den Zustand der ursprünglichen (in gewissem Sinne »vorgeschichtlichen«) und fundamentalen Unschuld zu beziehen, wie Christus es tatsächlich getan hat. Der Einbruch der Sündhaftigkeit in die menschliche Existenz ist also von Anfang an verbunden mit der tatsächlichen Unschuld des Menschen als grundgelegtem Urzustand, als Dimension des »nach dem Abbild Gottes« geschaffenen Wesens. Das gilt nicht nur von den ersten Menschen, Mann und Frau als den handelnden Personen im jahwistischen Text des 2. und 3. Kapitels der Genesis, sondern auch für die ganze Geschichte menschlicher Existenz. Der geschichtliche Mensch ist theologisch also sozusagen in seiner offenbarten Vorgeschichte verwurzelt. Daher erklärt sich seine ganze geschichtliche Sündhaftigkeit in Leib und Seele im Vergleich zur ursprünglichen Unschuld. Man kann sagen, daß dieser Bezug »Miterbschaft« der Sünde, ja der Erbsünde ist. Wenn diese Sünde in jedem geschichtlichen Menschen einen Zustand der verlorenen Gnade bezeichnet, dann meint sie auch einen Bezug zur Gnade der ursprünglichen Unschuld.

3. Wenn sich Christus, im 19. Kapitel bei Matthäus auf den »Anfang« beruft, will er nicht nur auf die ursprüngliche Unschuld als den verlorenen Horizont der menschlichen Existenz in der Geschichte hinweisen. Wir dürfen den Worten seines Mundes mit Recht zugleich die ganze Kraft des Erlösungsgeheimnisses zuschreiben. Schon im Bereich des jahwistischen Textes von Gen 2 und 3 sind wir ja in der Tat Zeugen, daß die Menschen, Mann und Frau, nachdem sie den Urbund mit ihrem Schöpfer gebrochen haben, in den Worten des sogenannten Protoevangeliums in Gen 3, 157 die erste Verheißung der Erlösung empfangen und von da an in der Hoffnung auf Erlösung leben. Der »geschichtli- che« Mensch — sei es der damalige Gesprächspartner Jesu, von dem Mt 19 spricht, sei es der Mensch unserer Zeit – hat also teil an dieser Hoffnung. Er nimmt also nicht nur in seiner Eigenschaft als Erbe und zugleich als einmalige Person an der Geschichte der menschlichen Sündhaftigkeit teil, sondern auch an der Geschichte des Heils, und das ebenfalls als aktiver Mitschöpfer. Es ist ihm also wegen seiner Sündhaftigkeit nicht nur die ursprüngliche Unschuld verschlossen, sondern er ist gleichzeitig auch offen für das Mysterium der Erlösung, das sich in Christus und durch Christus erfüllt hat. Paulus, der Verfasser des Briefes an die Römer, verleiht dieser Hoffnung auf Erlösung, in welcher der »geschichtliche« Mensch lebt, folgendermaßen Ausdruck: ». . . obwohl wir die Erstlingsgabe des Geistes haben, seufzen auch wir in unserem Herzen und warten darauf, daß wir mit der Erlösung des Leibes als Söhne offenbar werden« (Röm 8,23). Wir dürfen diese Perspektive nicht aus dem Auge verlieren, wenn wir den Worten Christi folgen, der sich in seiner Auseinandersetzung über die Unauflöslichkeit der Ehe auf den »Anfang« beruft. Würde sich jener »Anfang« lediglich auf die Erschaffung des Menschen »als Mann und Frau« beziehen und würde er – was wir bereits erwähnt haben – die Gesprächspartner nur über die Grenze des Standes menschlicher Sündhaftigkeit hinaus zu der ursprünglichen Unschuld hinführen und nicht gleichzeitig die Aussicht auf eine »Erlösung des Leibes« eröffnen, dann wäre die Antwort Christi gar nicht richtig verstanden. Denn eben diese Aussicht auf eine Erlösung des Leibes gewährleistet die Kontinuität und Einheit zwischen dem ererbten Stand der menschlichen Sündhaftigkeit und seiner ursprünglichen Unschuld, auch wenn der Mensch in der Geschichte diese Unschuld unwiderruflich verloren hat. Es ist auch einleuchtend, daß Christus mit vollem Recht auf die Frage, die ihm die Gesetzeslehrer des Alten Bundes stellten (wie wir bei Mt 19 und Mk 10 lesen), im Hinblick auf die Erlösung antwortet, auf die sich der Bund selber stützt.

4. Wenn wir in dem so im wesentlichen umrissenen Rahmen der Theologie der leiblichen Dimension des Menschen an weitere Auslegungen der Offenbarung über den »Anfang« denken – wozu ganz wesentlich die Bezugnahme auf die ersten Kapitel der Genesis gehört -, müssen wir unsere Aufmerksamkeit sogleich einer Tatsache zuwenden, die für die theologische Auslegung von besonderer Bedeutung ist: von Bedeutung deshalb, weil sie sich auf das Verhältnis zwischen Offenbarung und Erfahrung bezieht. Bei der Auslegung der Offenbarung über den Menschen und vor allem über den Leib müssen wir uns aus verständlichen Gründen auf die Erfahrung berufen, weil der Mensch in seiner Leiblichkeit von uns vor allem auf dem Weg der Erfahrung wahrgenommen wird. Im Lichte der erwähnten Grundsatzüberlegungen haben wir das volle Recht, anzunehmen, daß diese unsere »geschichtliche« Erfahrung in einem gewissen Sinne an der Schwelle der ursprünglichen Unschuld des Menschen haltmachen muß, weil sie in ihren Vergleichen unzulänglich ist. Doch im Lichte dieser grundlegenden Erwägungen müssen wir zu der Überzeugung gelangen, daß unsere menschliche Erfahrung in diesem Fall ein irgendwie zulässiges Mittel für die theologische Auslegung und in gewissem Sinne einen unerläßlichen Bezugspunkt darstellt, auf den wir uns bei der Interpretation des »Anfangs« berufen müssen. Eine genauere Auslegung des Textes wird uns hier eine klarere Sicht gewähren.

5. Die soeben zitierten Worte aus Röm 8, 23 könnten sehr gute Richtlinien für unsere Untersuchungen über die Offenbarung jenes »Anfangs« liefern, auf den sich Christus in seiner Auseinandersetzung über die Unauflöslichkeit der Ehe (Mt 19 und Mk 10) berufen hat. Alle weiteren Auslegungen, die in diesem Zusammenhang auf der Grundlage der ersten Kapitel der Genesis vorgenommen werden sollen, spiegeln notwendigerweise die Wahrheit der Paulusworte wieder: »Obwohl wir die Erstlingsgabe des Geistes haben, seufzen auch wir in unserem Herzen und warten darauf, daß wir mit der Erlösung unseres Leibes als Söhne offenbar werden.« Wenn wir uns in diese Lage versetzen – die zutiefst mit der Erfahrung übereinstimmt8, dann muß der »Anfang« mit dem vollen Licht zu uns sprechen, das aus der Offenbarung hervorgeht, und auf die vor allem die Theologie eine Antwort zu geben versucht. Die Fortsetzung der Auslegungen wird uns Klarheit bringen, warum und in welchem Sinn diese Theologie eine Theologie des Leibes sein muß. 26. 9. 1979, OR 79/40

 

Die Bedeutung der ursprünglichen Einsamkeit des Menschen (1)

1. Bei der letzten Betrachtung innerhalb unseres Zyklus sind wir zu einer ersten Schlußfolgerung gelangt, die sich aus den Worten der Genesis über die Erschaffung des Menschen als Mann und Frau ergab. Auf diese Worte, das heißt auf den »Anfang«, hat sich der Herr in seinem Streitgespräch über die Unauflöslichkeit der Ehe berufen (vgl. Mt 19, 3-9; Mk 10, 1-12). Aber die Schlußfolgerung, zu der wir gelangt sind, beendigt unsere Analyse noch nicht. Wir müssen nämlich die Berichte des ersten und zweiten Kapitels der Genesis in einem umfassenderen Zusammenhang noch einmal lesen, der uns die Aufhellung einer Reihe von Bedeutungen des alten Textes, auf den sich Christus bezog, erlauben wird. Wir wollen daher heute über die Bedeutung der ursprünglichen Einsamkeit des Menschen nachdenken.

2. Der Anstoß zu dieser Überlegung ergibt sich für uns unmittelbar aus folgenden Worten der Genesis: »Es ist nicht gut, daß der Mensch allein bleibe. Ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht« (Gen 2, 18). Es ist Gott – Jahwe -, der diese Worte spricht. Sie gehören zum zweiten Bericht über die Erschaffung des Menschen und gehören somit zur jahwistischen Überlieferung. Wie wir schon früher erwähnt haben, ist es bezeichnend, daß im jahwistischen Text die Erzählung von der Erschaffung des Menschen (des Mannes) einen eigenen Abschnitt bildet (Gen 2, 7), welcher dem Bericht über die Erschaffung der ersten Frau vorausgeht (Gen 2, 21-22). Es ist ferner bezeichnend, daß der erste Mensch (adam), aus »Erde vom Ackerboden« geschaffen, erst nach der Erschaffung der ersten Frau als ein »männliches« Wesen (‚is) definiert wird. Wenn Gott-Jahwe daher die Worte von der Einsamkeit spricht, bezieht er sie auf die Einsamkeit des »Menschen« als solchen und nicht nur auf jene des Mannes9. Es ist jedoch schwierig, allein aufgrund dieses Faktums weitgehende Schlußfolgerungen zu ziehen. Dennoch vermag der Gesamtzusammenhang jener Einsamkeit, von welcher Gen 2, 18 spricht, uns zu überzeugen, daß es sich hier um die Einsamkeit des »Menschen« (des Mannes und der Frau) und nicht allein um die Einsamkeit des Mannes, hervorgerufen durch  das Fehlen der Frau, handelt. Aufgrund des Zusammenhanges scheint diese Einsamkeit also zwei Bedeutungen zu haben: eine, die sich aus dem Wesen des Menschen, das heißt aus seinem Menschsein herleitet (und das ist offenkundig im Bericht von Gen 2 der Fall), und eine zweite, die von der Beziehung zwischen Mann und Frau herrührt, was gewissermaßen aufgrund der ersten Bedeutung klar wird. Eine tiefergehende Analyse scheint das zu bestätigen.

3. Das Problem der Einsamkeit tritt nur im Zusammenhang des zweiten Schöpfungsberichtes auf. Der erste Bericht kennt dieses Problem nicht. Dort wird der Mensch in einem einzigen Akt »als Mann und Frau« erschaffen (»Gott schuf also den Menschen als sein Abbild . . . Als Mann und Frau schuf er sie«, Gen 1, 27). Der zweite Bericht, der, wie wir bereits erwähnt haben, zuerst von der Erschaffung des Mannes und erst dann von der Erschaffung der Frau aus der »Rippe« des Mannes spricht, konzentriert unsere Aufmerksamkeit darauf, daß »der Mensch allein ist«, und das erscheint als ein fundamentales anthropologisches Problem, das in gewissem Sinne noch vor der Tatsache kommt, daß der Mensch Mann und Frau ist. Dieses Problem ist weniger im chronologischen als vielmehr im existentiellen Sinn vorgängig: es ist »seiner Natur nach« früher. So stellt sich auch das Problem der Einsamkeit des Menschen vom Gesichtspunkt der Theologie des Leibes her, wenn uns eine vertiefte Analyse des zweiten Schöpfungsberichts (Gen 2) gelingt.

4. Die Feststellung des Gottes Jahwe, »es ist nicht gut, daß der Mensch allein bleibe«, erscheint nicht nur im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Entschluß, eine Frau zu erschaffen (»ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht«), sondern auch im weiteren Zusammenhang mit Motiven und Umständen, die den Sinn der ursprünglichen Einsamkeit des Menschen tiefer erklären. Der jahwistische Text verbindet vor allem die Erschaffung des Menschen mit dem Verlangen, »den Ackerboden zu bestellen« (Gen 2, 5), was im ersten Bericht dem Gebot entsprechen würde, die Erde zu bevölkern und zu unterwerfen (vgl. Gen 1, 28). Weiter spricht der zweite Schöpfungsbericht vom Menschen im »Garten Eden« und führt uns so in den Zustand seiner ursprünglichen Glückseligkeit ein. Bis zu diesem Augenblick ist der Mensch Objekt des Schöpfungsaktes des Gottes Jahwe, der gleichzeitig als Gesetzgeber die Bedingungen des ersten Bundes mit dem Menschen festsetzt. Bereits dadurch wird die Subjektivität des Menschen unterstrichen. Sie findet einen weiteren Ausdruck, als Gott der Herr »aus dem Ackerboden alle Tiere des Feldes und alle Vögel des Himmels formte und sie dem Menschen zuführte, um zu sehen, wie er sie benenne« (Gen 2, 19). So wird also die Urbedeutung der ursprünglichen Einsamkeit des Menschen aufgrund eines besonderen »Tests« bzw. einer Prüfung definiert, die der Mensch vor Gott (und gewissermaßen auch vor sich selbst) bestehen muß. Durch diesen »Test« wird der Mensch sich seiner eigenen Überlegenheit bewußt, das heißt der Tatsache, daß er mit keiner anderen Art von Lebewesen auf Erden auf die gleiche Stufe gestellt werden kann. Wie der Text sagt: »Wie der Mensch jedes lebendige Wesen benannte, so sollte es heißen« (Gen 2, 19). »Der Mensch gab Namen allem Vieh, den Vögeln des Himmels und allen Tieren des Feldes. Aber – so schließt der Verfasser – eine Hilfe, die dem Menschen entsprach, fand er nicht« (Gen 2, 20).

5. Dieser ganze Textabschnitt ist zweifellos als Vorbereitung auf den Bericht von der Erschaffung der Frau zu betrachten. Doch auch unabhängig davon besitzt er seine eigene tiefe Bedeutung. Der geschaffene Mensch befindet sich vom ersten Augenblick seiner Existenz an vor Gott gleichsam auf der Suche nach seinem Wesen; man könnte sagen: auf der Suche nach seiner Selbstbestimmung. Heute würde man sagen: auf der Suche nach seiner Identität. Die Feststellung, daß der Mensch in der sichtbaren Welt und besonders unter den Lebewesen »allein ist«, hat für diese Suche eine negative Bedeutung, da es ausdrückt, was der Mensch »nicht ist«. Nichtsdestoweniger hat die Feststellung, sich mit der sichtbaren Welt der übrigen Lebewesen (animalia) dem Wesen nach nicht identifizieren zu können, zugleich einen positiven Aspekt für diese vorrangige Suche: auch wenn diese Feststellung noch keine vollständige Definition darstellt, ist sie doch ein Element von ihr. Wenn wir die aristotelische Tradition in der Logik und in der Anthropologie übernehmen, wäre dieses Element als genus proximum, »Genus« zu definieren10.

6. Der jahwistische Text erlaubt uns, weitere Elemente in jenem großartigen Abschnitt zu entdecken, in dem sich der Mensch allein vor Gott befindet, um vor allem durch eine erste Selbstbestimmung die Selbsterkenntnis als ursprüngliche und grundlegende Äußerung des Menschseins auszudrücken. Das eigene Erkennen geht einher mit dem Erkennen der Welt, aller sichtbaren Geschöpfe, aller Lebewesen, denen der Mensch einen Namen gegeben hat, um ihnen gegen- über sein Anderssein zu behaupten. Das Erkennen offenbart den Menschen als den, der im Hinblick auf die sichtbare Welt die Fähigkeit der Erkenntnis besitzt. Mit diesem Erkennen, das ihn gewissermaßen über sein eigenes Sein hinausgehen läßt, entdeckt sich der Mensch zugleich selbst in der ganzen Besonderheit seines Seins. Er ist nicht nur seinem Wesen nach und subjektiv allein. Die Einsamkeit bezeichnet auch die Subjektivität des Menschen, die sich gerade durch die Selbsterkenntnis entwickelt. Der Mensch ist allein, weil er sich von der sichtbaren Welt, von der Welt der Lebewesen, »unterscheidet«. Wenn wir den Text des Buches Genesis analysieren, sind wir in gewissem Sinne Zeugen der Tatsache, daß sich der Mensch mit dem ersten Akt der Selbsterkenntnis vor Gott von der gesamten Welt der Lebewesen (animalia) »unterscheidet« und sich daher selbst entdeckt und zugleich damit sich in der sichtbaren Welt als »Person« behauptet. Dieser in Gen 2, 19-20 so eindrucksvoll beschriebene Prozeß, ein Prozeß der Suche nach einer Selbstbestimmung, führt – vorausgesetzt, daß wir uns der aristotelischen Tradition anschließen – nicht nur zur Bezeichnung des genus proximum, das im 2. Kapitel der Genesis mit den Worten »er benannte sie« ausgedrückt ist, dem die differentia specifica entspricht, die nach Aristoteles in noûs und zôón noêtikón besteht. Dieser Prozeß führt uns auch zu einer ersten Beschreibung des menschlichen Wesens als menschliche Person mit der Subjektivität, die sie kennzeichnet. Wir unterbrechen hier die Analyse der Bedeutung der Einsamkeit des Menschen. In einer Woche wollen wir sie wieder aufnehmen. 10. 10. 1979, OR 79/42

 

Die Bedeutung der ursprünglichen Einsamkeit des Menschen (2)

1. Bei unserer Betrachtung vor zwei Wochen haben wir damit begonnen, die Bedeutung der ursprünglichen Einsamkeit des Menschen zu analysieren. Den Anstoß dazu lieferte uns der jahwistische Text, im besonderen die folgenden Worte: »Es ist nicht gut, daß der Mensch allein bleibe. Ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht« (Gen 2, 18). Die Analyse der entsprechenden Abschnitte des Buches Genesis (Kap. 2) hat uns bereits zu überraschenden Schlußfolgerungen bezüglich der in diesem Buch enthaltenen 75 Anthropologie, also der Grundwissenschaft vom Menschen, geführt. In der Tat skizziert der alte Text in relativ knappen Sätzen den Menschen als Person mit der sie charakterisierenden Subjektivität. Als Gott-Jahwe diesem ersten so beschaffenen Menschen das Gebot erteilt, das alle Bäume, die im »Garten Eden« wachsen, betrifft, vor allem jenen der Erkenntnis von Gut und Böse, kommt zu den oben beschriebenen Grundzügen des Menschen das Moment der Entscheidung und der Selbstbestimmung, das heißt des freien Willens, hinzu. Auf diese Weise erscheint vor uns das Bild des Menschen als einer Person, die mit einer wesenseigenen Subjektivität ausgestattet ist, gleichsam in seinem ersten Entwurf vollendet. Im Begriff der ursprünglichen Einsamkeit ist sowohl das Selbstbewußtsein als auch die Selbstbestimmung eingeschlossen. Die Tatsache, daß der Mensch »allein« ist, birgt in sich diese Seinsstruktur und ist zugleich ein Hinweis für ein richtiges Verständnis. Ohne das letztere sind wir nicht in der Lage, die folgenden Worte richtig zu begreifen, die die Einleitung zur Schöpfung der ersten Frau bilden: »Ich will ihm eine Hilfe machen«. Vor allem aber kann ohne jene tiefe Bedeutung seiner ursprünglichen Einsamkeit die ganze Situation des »nach dem Bilde Gottes« geschaffenen Menschen nicht verstanden und richtig interpretiert werden, die die Situation des ersten, ja ursprünglichen Bundes mit Gott ist.

2. Dieser Mensch, von dem der Bericht des ersten Kapitels sagt, daß er »nach dem Bilde Gottes« geschaffen worden ist, erweist sich im zweiten Bericht als Subjekt des Bundes, das heißt Subjekt, das als Person, als »Partner des Absoluten« eingesetzt wurde, insofern es bewußt zwischen Gut und Böse, zwischen Leben und Tod unterscheiden und wählen muß. Die Worte des ersten Gebotes Gott-Jahwes (Gen 2, 16-17), die unmittelbar von der Unterwerfung des Menschengeschöpfes und seiner Abhängigkeit vom Schöpfer sprechen, enthüllen indirekt eben diese Stufe des Menschseins als Subjekt des Bundes und »Partner des Absoluten«. Der Mensch ist »allein«: das besagt, daß er durch sein Menschsein, durch das, was er ist, zugleich in eine einzigartige, ausschließliche und unwiederholbare Beziehung und Verbindung mit Gott selbst gebracht wird. Die in dem jahwistischen Text enthaltene anthropologische Definition kommt ihrerseits dem nahe, was die theologische Definition des Menschen zum Ausdruck bringt, die wir im ersten Schöpfungsbericht finden (»Laßt uns Menschen machen als unser Abbild nach unserer Gestalt«, Gen 1, 26).

3. Der so gestaltete Mensch gehört der sichtbaren Welt an, ist Körper unter Körpern. Indem wir die Bedeutung der ursprünglichen Einsamkeit wieder aufnehmen und gewissermaßen wieder aufbauen, wenden wir sie auf den Menschen in seiner Ganzheit an. Der Körper, durch den der Mensch an der sichtbaren geschaffenen Welt teilhat, bringt ihm zugleich zu Bewußtsein, daß er »allein« ist. Er wäre sonst nicht imstande gewesen, zu jener Überzeugung zu gelangen, zu der er, wie wir lesen, tatsächlich gelangt ist (vgl. Gen 2, 20), wenn ihm sein Körper nicht geholfen hätte, das zu erfassen, indem er es ihm deutlich machte. Bewußtsein der Einsamkeit hätte aufgrund desselben Körpers zerbrechen können. Der Mensch, ‚adam, hätte, auf die Erfahrung des eigenen Körpers gestützt, zu dem Schluß gelangen können, den übrigen Lebewesen wesenhaft ähnlich zu sein. Und doch ist er, wie wir lesen, nicht zu diesem Schluß gekommen, er ist vielmehr zu der Überzeugung gelangt, »allein« zu sein. Der jahwistische Text spricht nirgends direkt vom Körper; selbst dort, wo er sagt, daß »der Herr den Menschen aus Erde vom Ackerboden formte«, spricht er vom Menschen und nicht vom Körper. Trotzdem bietet uns der Bericht in seiner Gesamtheit ausreichende Grundlagen, um diesen in der sichtbaren Welt geschaffenen Menschen als Körper unter Körpern wahrzunehmen. Die Analyse des jahwistischen Textes erlaubt uns dar- über hinaus, die ursprüngliche Einsamkeit des Menschen mit dem Körperbewußtsein in Verbindung zu bringen, durch das sich der Mensch von allen Lebewesen unterscheidet und sich von ihnen »scheidet« und durch das er Person ist. Man darf mit Sicherheit behaupten, daß der so beschaffene Mensch gleichzeitig über das Bewußtsein und über das Wissen um den Sinn des eigenen Körpers verfügt, und das aufgrund der Erfahrung der ursprünglichen Einsamkeit.

4. All das kann als im zweiten Schöpfungsbericht enthalten angesehen werden, und die Analyse des Textes erlaubt uns ein weiteres Ausholen. Wenn wir am Anfang des jahwistischen Textes, noch ehe von der Erschaffung des Menschen »aus Erde vom Ackerboden« die Rede ist, lesen: »es gab noch keine Menschen, die den Ackerboden bestellten, aber Feuchtigkeit stieg aus der Erde auf und tränkte die ganze Fläche des Ackerbodens« (Gen 2, 5-6), bringen wir mit Recht diesen Abschnitt mit jenem des ersten Berichts in Verbindung, wo das göttliche Gebot formuliert wird: »Bevölkert die Erde, unterwerft sie euch und herrscht« (Gen 1,28). Der zweite Bericht spielt deutlich auf die Arbeit des Menschen an, die Erde zu bebauen. Das erste grundlegende Mittel, um die Erde zu beherrschen, findet sich im Menschen selbst. Der Mensch kann die Erde nur beherrschen, weil er – und keines der anderen Lebewesen – fähig ist, »sie zu kultivieren« und entsprechend seinen Bedürfnissen umzugestalten (»Feuchtigkeit stieg aus der Erde auf und tränkte die ganze Fläche des Ackerbodens«). So scheint denn diese erste Skizzierung einer spezifisch menschlichen Tätigkeit zur Definition des Menschen zu gehören, wie sie sich aus der Analyse des jahwistischen Textes ergibt. Man kann folglich behaupten, daß diese Skizzierung zur Bedeutung der ursprünglichen Einsamkeit und zu jener Dimension der Einsamkeit gehört, durch welche der Mensch von Anfang an in der sichtbaren Welt sich als Körper unter Körpern findet und den Sinn seiner eigenen Körperlichkeit entdeckt. Auf dieses Thema werden wir bei unserer nächsten Begegnung zurückkommen. 24. 10. 1979, OR 79/44

 

Wahl zwischen Tod und Unsterblichkeit

1. Wir müssen heute noch einmal auf die Bedeutung der Ureinsamkeit des Menschen zu sprechen kommen, welche sich vor allem aus der Analyse des sogenannten jahwistischen Textes im 2. Kapitel der Genesis ergibt. Wie wir bereits bei den vorangegangenen Betrachtungen festgestellt haben, erlaubt uns der biblische Text nicht nur die Betonung des menschlichen Körperbewußtseins (der Mensch ist in der sichtbaren Welt als »Körper unter Körpern« geschaffen), sondern auch des Wissens um die Bedeutung dieses Körpers. Trägt man der großen Genauigkeit des biblischen Textes Rechnung, darf man diese Verwobenheit freilich nicht übertreiben. Es ist jedoch sicher, daß wir hier das zentrale Problem der Anthropologie berühren. Das Körperbewußtsein scheint in diesem Fall identisch zu sein mit der Entdeckung der Vielschichtigkeit der eigenen Struktur, die nach der philosophischen Anthropologie letztlich in der Beziehung zwischen Seele und Leib besteht. Der jahwistische Schöpfungsbericht drückt das in seiner Sprache (d. h. in seiner Terminologie) folgendermaßen aus: »Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen« (Gen 2, 7). Und eben dieser Mensch, dieses Lebewesen, unterscheidet sich dauernd von allen anderen Lebewesen der sichtbaren Welt. Voraussetzung für diese Eigenart des Menschen ist die Tatsache, daß er allein imstande ist, »den Ackerboden zu bestellen« (vgl. Gen 2, 5) und sich »die Erde zu unterwerfen« (vgl. Gen 1, 28). Man kann sagen, daß das Wissen um die Überlegenheit des Menschen, das zur Bestimmung des Menschseins gehört, von Anfang an aufgrund eines typisch menschlichen Verhaltens entsteht. Dieses Bewußtsein bringt eine besondere Erkenntnis der Bedeutung des eigenen Körpers mit sich, die sich aus der Tatsache ergibt, daß es dem Menschen obliegt, »den Ackerboden zu bestellen und sich zu unterwerfen«. Das alles wäre unmöglich ohne ein typisch menschliches Wissen um den eigenen Körper.11

2. Es scheint daher angebracht, eher über diesen Aspekt zu sprechen als über das Problem der anthropologischen Komplexität im metaphysischen Sinn. Wenn die ursprüngliche Beschreibung des menschlichen Bewußtseins, wie sie vom jahwistischen Text wiedergegeben wird, in den Gesamtbericht auch den Körper miteinschließt, wenn er sozusagen das erste Zeugnis von der Entdeckung der eigenen Körperlichkeit enthält (und sogar, wie gesagt, das Wissen um die Bedeutung des eigenen Körpers), so enthüllt sich das alles nicht aufgrund irgendeiner vorgängigen metaphysischen Analyse, sondern aufgrund einer konkreten, ziemlich klaren Subjektivität des Menschen. Der Mensch ist nicht nur durch sein Selbstbewußtsein und seine Selbstbestimmung Subjekt, sondern auch aufgrund des ihm eigenen Körpers. Der Aufbau dieses Körpers ist solcher Art, daß sie ihm ein echt menschliches Handeln ermöglicht. In diesem Tun bringt der Leib die Person zum Ausdruck. Er ist also in seiner ganzen gleichsam durchlässigen und transparenten Stofflichkeit (»Gott formte den Menschen aus Erde vom Ackerboden«) in der Lage, zu verdeutlichen, wer der Mensch dank der Struktur seines Bewußtseins und seiner Selbstbestimmung ist (und wer er sein sollte). Darauf stützt sich die grundlegende Wahrnehmung der Bedeutung des eigenen Körpers, die man durch die Analyse der Ureinsamkeit des Menschen entdecken muß.

3. Und mit diesem grundlegenden Erfassen des Sinnes seines Körpers wird der Mensch als Subjekt des alten Bundes mit dem Schöpfer nun vor das Geheimnis des Baumes der Erkenntnis gestellt. »Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen, doch vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen; denn wenn du davon ißt, wirst du sterben« (Gen 81 2, 16-17). Die ursprüngliche Bedeutung der Einsamkeit des Menschen stützt sich auf die Erfahrung der vom Schöpfer empfangenen Existenz. Diese menschliche Existenz ist eben durch die Subjektivität gekennzeichnet, die auch die Bedeutung des Körpers einschließt. Aber hätte der Mensch, der in seinem ursprünglichen Bewußtsein einzig und allein die Erfahrung des Seins und somit des Lebens kennengelernt hat, überhaupt verstehen können, was das Wort »Du wirst sterben« bedeutet? Wäre er fähig, durch die komplexe Struktur des Lebens, das ihm geschenkt worden war, als »Gott der Herr . . . den Lebensatem in seine Nase blies«, den Sinn dieses Wortes zu verstehen? Man muß zugeben, daß dieses völlig neue Wort am Bewußtseinshorizont des Menschen aufgetaucht ist, ohne daß er dessen Realität je erfahren hätte, und daß dieses Wort ihm zugleich als radikaler Gegensatz zu all dem erschien, mit dem er ausgestattet war. Der Mensch hörte das Wort »Du wirst sterben« zum ersten Mal, ohne daß es ihm aus seiner bisherigen Erfahrung irgendwie vertraut gewesen wäre; anderseits konnte er den Sinn des Todes nicht mit jener Dimension des Lebens in Verbindung bringen, die er bis dahin erfahren hatte. Die Worte, die Gott-Jahwe an den Menschen richtete, waren die Bestätigung für eine Abhängigkeit im Sein, die ihn zu einem begrenzten, seiner Natur nach zur Nichtexistenz fähigen Wesen macht. Diese Worte drücken das Problem des Todes in Form einer Bedingung aus: »Wenn du davon ißt, wirst du sterben.« Der Mensch, der diese Worte gehört hatte, mußte ihre Wahrheit an der inneren Struktur seiner Einsamkeit ablesen. Schließlich hing es von ihm, von seiner Entscheidung und freien Wahl ab, ob er mit seiner Einsamkeit in den Kreis der ihm vom Schöpfer zugleich mit dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse geoffenbarten Antithese eintreten und so die Erfahrung des Sterbens und des Todes machen wollte. Als der Mensch die Worte Gott-Jahwes hörte, hätte er begreifen müssen, daß der Baum der Erkenntnis nicht bloß »im Garten Eden«, sondern auch in seinem Menschsein Wurzel gefaßt hatte. Außerdem hätte er begreifen müssen, daß jener geheimnisvolle Baum eine ihm bis dahin unbekannte Dimension der Einsamkeit in sich barg, mit der der Schöpfer ihn inmitten der Welt der Lebewesen ausgestattet hatte, denen er, der Mensch – vor demselben Schöpfer – »Namen gegeben« hatte, um zu erkennen, daß keines dieser Lebewesen ihm ähnlich war.

4. Nachdem also der grundlegende Sinn seines Körpers durch die Unterscheidung von allen übrigen Geschöpfen bereits festgelegt und es dadurch offenkundig geworden war, daß der Mensch mehr vom »Unsichtbaren« als vom »Sichtbaren« bestimmt wird, stellte sich ihm nun die Wahl, die von Gott-Jahwe in engste und unmittelbare Verbindung mit dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse gebracht wird. Die Wahl zwischen Sterben und Unsterblichkeit, die sich aus Gen 2, 17 ergibt, reicht über die wesentliche Bedeutung des menschlichen Körpers insofern hinaus, als sie die eschatologische Bedeutung nicht nur des Körpers, sondern des Menschseins selbst aufgreift, das sich von allen Lebewesen, von den »Körpern«, unterscheidet. In ganz besonderer Weise jedoch betrifft diese Wahl den »aus der Erde vom Ackerboden« geschaffenen Körper. Um diese Analyse nicht zu lang werden zu lassen, beschränken wir uns auf die Feststellung, daß die Wahl zwischen Sterben und Unsterblichkeit »von Anfang an« zur Definition des Menschen und zum Sinn seiner Einsamkeit vor Gott gehört. Dieser ursprüngliche Sinn der Einsamkeit, von der Entscheidung zwischen Sterben und Unsterblichkeit durchdrungen, ist auch für die gesamte Theologie des Leibes von fundamentaler Bedeutung. Mit dieser Feststellung beschließen wir für heute unsere Betrachtungen über den Sinn der Ureinsamkeit des Menschen. Eine solche Feststellung, die sich klar und deutlich aus den Texten des Buches Genesis ergibt, regt auch zum Nachdenken über die Texte und den Menschen an, der sich der Wahrheit, die ihn selbst betrifft und bereits in den ersten Kapiteln der Bibel aufscheint, vielleicht allzu wenig bewußt ist. 31. 10. 1979, OR 79/45

 

Von Anfang an »Mann und Frau«

1. Die Worte aus der Genesis, »Es ist nicht gut, daß der Mensch allein bleibe« (2, 18), sind gleichsam eine Einleitung zu dem Bericht über die Erschaffung der Frau. Zusammen mit diesem Bericht beginnt der Sinn der ursprünglichen Einsamkeit teilzuhaben an dem der ursprünglichen Einheit, als deren entscheidender Punkt eben die Worte aus Genesis 2, 24 erscheinen, auf die sich Christus in seinem Gespräch mit den Pharisäern beruft: »Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen und sich an seine Frau binden, und die zwei werden ein Fleisch sein« (Mt 19, 5). Wenn Christus unter Bezugnahme auf den »Anfang« diese Worte zitiert, ist es angemessen, den Sinn jener ursprünglichen Einheit, die ihre Wurzeln in der Tatsache der Erschaffung des Menschen als Mann und Frau hat, näher zu erläutern.

Der Bericht des ersten Kapitels der Genesis kennt das Problem der ursprünglichen Einsamkeit des Menschen nicht: der Mensch ist von Anfang an »Mann und Frau«. Der jahwistische Text des zweiten Kapitels hingegen gestattet uns in bestimmter Weise, zunächst nur an den Menschen zu denken, insofern er durch den Leib der sichtbaren Welt angehört, über die er freilich hinausragt; erst dann läßt er uns an denselben Menschen in seiner doppelten Geschlechtlichkeit denken. Leiblichkeit und Geschlechtlichkeit sind nicht völlig identisch. Auch wenn der menschliche Leib in seiner normalen Beschaffenheit die Geschlechtsmerkmale an sich trägt und seiner Natur nach männlich oder weiblich ist, so gehört doch die Tatsache, daß der Mensch »Leib« ist, tiefergehend zur Struktur des Subjekts als Person denn die Tatsache, daß er in seiner leiblichen Beschaffenheit auch männlich oder weiblich ist. Deshalb geht der Sinn der ursprünglichen Einsamkeit, die schlechthin auf den »Menschen« bezogen werden kann, seinem Wesen nach dem Sinn der ursprünglichen Einheit voraus, letztere gründet sich ja auf die Tatsache des Mannseins und des Frauseins, also gleichsam auf zwei verschiedene Verleiblichungen, das heißt auf zwei Weisen des »leiblichen Seins« ein und desselben »nach dem Abbild Gottes« geschaffenen menschlichen Wesens (Gen 1, 27).

2. Wenn wir dem jahwistischen Text folgen, in dem die Erschaffung der Frau eigens beschrieben wird (Gen 2, 21-22), müssen wir zugleich jenes »Abbild Gottes« aus dem ersten Schöpfungsbericht vor Augen haben. Der zweite Bericht bewahrt in Sprache und Stil alle Merkmale des jahwistischen Textes. Die Erzählweise stimmt mit der Denk- und Ausdrucksweise der Zeit überein, aus welcher der Text stammt. Der modernen Religions- und Sprachphilosophie zufolge kann man sagen, es handle sich um eine mythische Sprache. Der Begriff Mythos bezeichnet in diesem Fall jedoch nicht eine Sage, sondern ist lediglich die archaische Ausdrucksform eines tieferen Gehalts. So entdecken wir ohne jede Schwierigkeit unter der Schicht der antiken Erzählung jenen Inhalt, der, was die Qualität und die Dichte der darin enthaltenen Wahrheit anbelangt, wirklich bewunderungswürdig ist. Fügen wir hinzu, daß der zweite Schöpfungsbericht bis zu einem gewissen Grad eine Form des Dialogs zwischen dem Menschen und dem Schöpfergott bewahrt; dies wird vor allem in jenem Abschnitt offenkundig, in dem der Mensch (‚adam) endgültig als Mann und Frau (‚is – ‚issah) geschaffen wird12. Die Erschaffung vollzieht sich fast gleichzeitig in zwei Dimensionen; die Haltung Gott-Jahwes, der den Menschen erschafft, entfaltet sich in Wechselbeziehung zur Entwicklung des menschlichen Bewußtseins.

3. So sagt denn Gott-Jahwe: »Es ist nicht gut, daß der Mensch allein bleibe. Ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht« (Gen 2, 18). Und gleichzeitig bestätigt der Mensch seine eigene Einsamkeit (Gen 2, 20). Danach lesen wir: »Da ließ Gott, der Herr, eine Ohnmacht auf den Menschen fallen, so daß er einschlief, nahm eine seiner Rippen und verschloß ihre Stelle mit Fleisch. Gott, der Herr, baute aus der Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, eine Frau und führte sie dem Menschen zu« (Gen 2, 21-22). Zieht man die besondere Eigenart der Sprache in Betracht, so muß man vor allem anerkennen, daß uns jene »Ohnmacht« zu denken gibt, in die der Mensch durch Gott-Jahwe in Vorbereitung auf den neuen Schöpfungsakt versinkt. Auf dem Hintergrund des modernen Denkens, das – durch die Tiefenpsychologie – die Welt des Schlafs gewöhnlich mit sexuellen Inhalten in Verbindung bringt, mag jener Schlaf besondere Assoziationen hervorrufen13. Dennoch scheint der biblische Bericht über die Dimension des menschlichen Unterbewußten hinauszugehen. Wenn man sodann eine vielsagende sprachliche Mehrdeutigkeit gelten läßt, kann man zu dem Schluß kommen, daß der Mensch (‚adam) in jene »Ohnmacht« versinkt, um als »Mann« und »Frau« danach zu erwachen. Und in der Tat, in Gen 2, 23 stoßen wir zum ersten Mal auf die Unterscheidung ‚is – ‚issah. Deshalb  deutet das Bild vom Schlaf hier vielleicht nicht so sehr auf einen Übergang vom Bewußtsein ins Unbewußtsein als auf eine Art Rückkehr ins Nichtsein (in gewisser Weise löscht der Schlaf die bewußte Existenz des Menschen aus) bzw. in den Zustand vor der Erschaffung, aus dem durch die schöpferische Initiative Gottes der »einsame« Mensch in seiner Zweiheit als Mann und Frau hervorgehen soll14 . Im Licht des Zusammenhangs von Gen 2, 18-20 besteht jedenfalls kein Zweifel, daß der Mensch in jene  »Ohnmacht« mit dem Wunsch versinkt, ein ihm ähnliches Wesen zu finden. Wenn wir hier aufgrund der sachlichen Ähnlichkeit zum Schlaf auch von einem Traum sprechen können, müssen wir sagen, daß jener biblische Urtyp uns erlaubt, als Inhalt jenes Traumes ein »zweites Ich« anzunehmen; dieses hat ebenso personalen Charakter und ist in gleicher Weise auf die ursprüngliche Einsamkeit bezogen, das heißt auf den ganzen Prozeß des Werdens der menschlichen Identität gegenüber allen anderen Lebewesen; es ist dies ein Prozeß der »Differenzierung« des Menschen von seiner Umwelt. So bricht der Kreis der einsamen menschlichen Person auf, weil der erste Mensch aus seinem Schlaf als Mann und Frau erwacht.

4. Die Frau wird »aus der Rippe« geformt, die Gott-Jahwe aus dem Mann genommen hatte. Wenn wir die altertümliche und bildhafte Ausdrucksweise berücksichtigen, können wir feststellen, daß es sich hier um die volle Wesensgleichheit der beiden handelt; diese Gleichheit bezieht sich vor allem auf den Körper, auf die Struktur ihres Leibes, und wird auch von den ersten Worten des Mannes an die eben erschaffene Frau bestätigt: »Das endlich ist Gebein von meinem Gebein und Fleisch von meinem Fleisch« (Gen 2,23)15. Diese Worte gelten ebenso für die menschliche Natur des Mannes. Sie müssen auch im Rahmen der Aussagen gelesen werden, die vor der Erschaffung der Frau gemacht wurden und in denen sie, noch ehe die »Fleischwerdung« des Mannes abgeschlossen ist, als »Hilfe, die ihm entspricht«, bezeichnet wird (vgl. Gen 2, 18 und 2, 20)16. So wird also die Frau gewissermaßen mit der gleichen menschlichen Natur geschaffen. Die Gleichheit des Leibes ist trotz der durch den Geschlechtsunterschied bedingten Verschiedenartigkeit so offensichtlich, daß der Mann, der aus dem schöpferischen Schlaf erwacht, diese sogleich zum Ausdruck bringt, indem er sagt: »Das endlich ist Gebein von meinem Gebein und Fleisch von meinem Fleisch! Frau soll sie heißen, denn vom Mann ist sie genommen« (Gen 2, 23). So bekundet der Mann zum ersten Mal überschwengliche Freude, zu der er bisher keinen Grund hatte, weil ihm ein ihm gleiches Wesen fehlte. Die Freude über das andere menschliche Wesen, das zweite »Ich«, beherrscht die Worte, die der Mann beim Anblick der Frau ausspricht. Alles das hilft, die volle Bedeutung der grundlegenden Einheit zu verstehen. Es sind nur wenige Worte, aber jedes hat großes Gewicht. Wir müssen also die Tatsache berücksichtigen – und wir werden es auch später tun -, daß jene erste Frau, »geformt aus der Rippe, die vom Mann genommen wurde«, sogleich als eine ihm entsprechende Hilfe angesehen wird. Auf dieses Thema, nämlich den Sinn der grundlegenden Einheit von Mann und Frau in ihrer menschlichen Natur, werden wir nächste Woche wieder zurückkommen. 7. 11. 1979, OR 79/46

 

In der Einheit Ebenbild Gottes (1)

1. Der Erzählung im Buch Genesis folgend, haben wir festgestellt, daß die »Endschöpfung« des Menschen in der Erschaffung der Einheit zweier Wesen besteht. Ihre Einheit bezeichnet vor allem die Identität der menschlichen Natur; die Zweiheit hingegen bringt das zum Ausdruck, was auf der Basis dieser Identität die Männlichkeit bzw. Weiblichkeit des erschaffenen 91 Menschen ausmacht. Diese ontologische Dimension der Einheit und der Zweiheit hat zugleich eine axiologische Bedeutung. Aus Genesis 2, 23 und aus dem ganzen Zusammenhang geht klar hervor, daß der Mensch vor Gott einen besonderen Wert hat (»Gott sah, daß alles, was er gemacht hatte, sehr gut war«, Gen 1, 31), daß er aber auch vor sich selbst besonders wertvoll ist: erstens, weil er Mensch ist; zweitens, weil die Frau für den Mann und, umgekehrt, der Mann für die Frau da ist. Während das erste Kapitel der Genesis diesen Wert in rein theologischer und indirekter metaphysischer Form zum Ausdruck bringt, enthüllt das zweite Kapitel sozusagen den ersten Kreis menschlicher Werterfahrung. Diese Erfahrung ist bereits im Sinn der ursprünglichen Einsamkeit und dann im ganzen Bericht von der Erschaffung des Menschen als Mann und Frau enthalten. Der knappe Text von Gen 2, 23, der die Worte des ersten Menschen angesichts der erschaffenen »aus ihm genommenen« Frau umfaßt, kann als biblischer Prototyp des Hohenliedes angesehen werden. Und wenn es möglich ist, Eindrücke und Gefühlsregungen aus so weit zurückliegenden Worten herauszulesen, könnte man es auch wagen zu sagen, daß die Tiefe und Kraft dieser ersten, »ursprünglichen« Gemütsbewegung des Mannes als Mensch angesichts der Frau als Mensch und zugleich angesichts der Weiblichkeit dieses anderen menschlichen Wesens als etwas Einmaliges und Unwiederholbares erscheint.

2. So kommt die Bedeutung der ursprünglichen Einheit des Menschen gerade in der Männlichkeit und Weiblichkeit als Überwindung der Einsamkeit zum Ausdruck und äußert sich zugleich als Bestätigung all dessen, was in der Einsamkeit den Menschen ausmacht. In dem biblischen Bericht ist die Einsamkeit der Weg, der zu jener Einheit führt, die wir, dem Zweiten Vatikanum entsprechend, als Communio personarum, als »personale Gemeinschaft«, bezeichnen können17. Wie wir bereits bei einer früheren Betrachtung festgestellt haben, erwirbt der Mensch in seiner ursprünglichen Einsamkeit ein persönliches Bewußtsein, indem er lernt, sich von allen anderen Lebewesen zu unterscheiden und sich zugleich in dieser Einsamkeit einem ihm ähnlichen Wesen zu öffnen, das die Genesis (2, 18.20) als »Hilfe, die ihm entspricht«, bezeichnet. Dieses »Sich-Öffnen« bestimmt den Menschen als Person nicht weniger, ja wahrscheinlich noch mehr als das »Sich-Unterscheiden«. Die Einsamkeit der Menschen im jahwistischen Bericht stellt sich uns nicht nur als die erste Entdeckung der für die Person charakteristischen Transzendenz, sondern auch als Entdeckung einer entsprechenden Beziehung zur Person dar und somit als Öffnung und als Erwartung einer personalen Gemeinschaft. Man könnte hier auch den Ausdruck communitas verwenden, wenn er nicht zu allgemein wäre und nicht so unzählige Bedeutungen hätte. Communio besagt mit größerer Genauigkeit mehr, weil es genau auf jene »Hilfe« hinweist, die in gewissem Sinne eben aus der Tatsache der Existenz des Menschen als Person »neben« einer Person herstammt. In der biblischen Erzählung wird diese Tatsache eo ipso zur Existenz der Person »für« die Person, da sich der Mensch in seiner ursprünglichen Einsamkeit gewissermaßen bereits in dieser Beziehung befand. Das wird in negativem Sinn ja gerade von seiner Einsamkeit bestätigt. Zudem konnte sich die personale Gemeinschaft nur auf Grund einer »beiderseitigen Einsamkeit« des Mannes und der Frau herausbilden, das heißt als Begegnung in ihrer »Verschiedenheit« von der Welt aller übrigen Lebewesen (animalia), die beiden die Möglichkeit zu einem Dasein und zu einer Existenz in besonderer Gegenseitigkeit gab. Der Begriff der »Hilfe« bringt auch eine Gegenseitigkeit in der Existenz zum Ausdruck, wie sie kein anderes Lebewesen gewährleisten könnte. Unerläßlich für diese Gegenseitigkeit war alles, was wesentlich beider Einsamkeit begründete und daher auch die Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung, das heißt die Subjektivität und das Bewußtsein vom Sinn des eigenen Körpers.

3. Der Bericht von der Erschaffung des Menschen im ersten Kapitel behauptet von Anfang an und direkt, daß der Mensch als Abbild Gottes, als Mann und Frau, geschaffen wurde. Der Bericht des zweiten Kapitels hingegen spricht nicht vom »Abbild Gottes«; aber er offenbart in der ihm eigenen Weise, daß die vollständige und endgültige Erschaffung des Menschen (der zuerst der Erfahrung der Ureinsamkeit ausgesetzt war) darin zum Ausdruck kommt, daß jene personale Gemeinschaft ins Leben gerufen wird, die Mann und Frau bilden. So steht der jahwistische Bericht mit dem Inhalt des ersten Berichtes im Einklang. Wenn wir umgekehrt auch aus der Erzählung des jahwistischen Textes den Begriff des »Abbildes Gottes« entnehmen, können wir folgern, daß der Mensch nicht nur durch sein Menschsein als solches, sondern auch durch die personale Gemeinschaft, die Mann und Frau von Anfang an bilden, zum »Abbild und Ebenbild« Gottes geworden ist. Aufgabe des Abbildes ist es, das Vorbild widerzuspiegeln, das eigene Urbild wiederzugeben. Der Mensch wird nicht so sehr im Augenblick seiner Einsamkeit als vielmehr im Augenblick der Gemeinschaft zum Abbild Gottes. Denn er ist »von Anfang an« nicht nur Abbild, in dem sich die Einsamkeit einer Person, die die Welt beherrscht, widerspiegelt, sondern auch und ganz wesentlich Abbild einer unergründlichen göttlichen Gemeinschaft von Personen. Auf diese Weise könnte der zweite Bericht auch auf das Verständnis des trinitarischen Begriffes der »Gottebenbildlichkeit« vorbereiten, auch wenn diese nur im ersten Bericht aufscheint. Das ist natürlich auch für die Theologie des Leibes von Bedeutung und stellt vielleicht sogar den tiefsten theologischen Aspekt von allem dar, was sich über den Menschen sagen läßt. Im Geheimnis der Schöpfung – auf der Basis der wesenhaften »Ureinsamkeit« seines Daseins – wurde der Mensch mit einer tiefen Einheit begabt: der Einheit, als Mann Mensch und Körper und als Frau Mensch und Körper zu sein. Auf das alles fiel von Anfang an der Segen der Fruchtbarkeit, verbunden mit der menschlichen Zeugung (vgl. Gen 1, 28).

4. So befinden wir uns gleichsam im innersten Kern anthropologischer Wirklichkeit, die da »Körper« heißt. Die Worte aus Genesis 2, 23 sprechen es unmittelbar und zum ersten Mal so aus: »Gebein von meinem Gebein und Fleisch von meinem Fleisch«. Der Mann spricht diese Worte, als ob er sich nur angesichts einer Frau identifizieren könnte und er nur beim Namen nennen möchte, was sie in sichtbarer Weise einander ähnlich macht und was zugleich das ist, worin sich das Menschsein kundtut. Im Licht der vorangegangenen Analyse aller Lebewesen, mit denen der Mensch in Berührung gekommen ist und denen er Namen gegeben hat, gewinnt der Ausdruck »Fleisch von meinem Fleisch« folgende Bedeutung: der Körper offenbart den Menschen. Diese knappe Formel enthält bereits alles, was die menschliche Wissenschaft je über die Struktur des Körpers als Organismus, über seine Vitalität, über seine besondere Geschlechtsphysiologie usw. sagen kann. In dieser ersten Äußerung des Mannes, »Fleisch von meinem Fleisch«, ist auch ein Bezug auf das enthalten, wodurch jener Körper wahrhaft menschlich ist; auf das, was den Menschen als Person, als Wesen bestimmt, das auch in seiner gesamten Leiblichkeit Gott »ähnlich« ist18.

5. Wir befinden uns also gleichsam im Zentrum der anthropologischen Wirklichkeit, die »Körper«, menschlicher Körper, heißt. Doch ist leicht zu erkennen, daß dieser Kern nicht nur anthropologischen, sondern auch ganz wesentlich theologischen Charakter hat. Die Theologie des Leibes, die von Anfang an mit der Erschaffung des Menschen nach dem Ebenbild Gottes verbunden ist, wird damit gewissermaßen auch zur Theologie der Geschlechtlichkeit oder besser, zur Theologie der Männlichkeit und der Weiblichkeit, die hier im Buch Genesis ihren Ausgangspunkt hat. Die ursprüngliche Bedeutung der durch Genesis 2, 24 bezeugten Einheit sollte in der Offenbarung Gottes eine umfassende und weitreichende Auswirkung haben. Diese Einheit im Leib (»und die beiden werden ein Fleisch sein«) hat eine vielfältige Dimension: eine ethische Dimension, wie sie von der Antwort Christi an die Pharisäer in Mt 19 (Mk 10) bestätigt wird; und auch eine sakramentale, streng theologische Dimension, wie sie von den Worten des hl. Paulus an die Epheser19 dargelegt wird, die sich zugleich auf die prophetische Tradition beziehen (Hosea, Jesaja, Ezechiel). Und das deshalb, weil jene Einheit, die sich durch den Leib verwirklicht, von Anfang an nicht nur den Leib meint, sondern auch die »fleischgewordene« Gemeinschaft der Personen – Communio personarum – und diese Gemeinschaft von Anfang an verlangt. Männlichkeit und Weiblichkeit bringen den doppelten Aspekt der körperlichen Verfassung des Menschen zum Ausdruck (»Das endlich ist Gebein von meinem Gebein und Fleisch von meinem Fleisch«) und verweisen nach den gleichen Worten von Genesis 2, 23 außerdem auf das neue Bewußtsein vom Sinn des eigenen Leibes: einem Sinn, der, so könnte man sagen, in der gegenseitigen Bereicherung besteht. Dieses Bewußtsein, durch das die Menschheit sich aufs neue als Gemeinschaft von Personen erfährt, scheint jene Ebene zu bilden, die im Bericht von der Erschaffung des Menschen (und in der darin enthaltenen Offenbarung über den Leib) tiefer reicht als die körperliche Struktur des Menschen als Mann und Frau. Jedenfalls wird diese Struktur von Anfang an mit einem tiefen Bewußtsein für die menschliche Körperlichkeit und Geschlechtlichkeit dargestellt, und das ergibt eine unveränderliche Richtschnur für das Verständnis des Menschen in der Theologie. 14. 11. 1979, OR 79/47

 

In der Einheit Ebenbild Gottes (2)

1. Erinnern wir uns, daß Christus, als man ihn über die Einheit und Unauflöslichkeit der Ehe befragte, sich auf das berief, was »am Anfang« war. Er zitierte die in den ersten Kapiteln der Genesis geschriebenen Worte. Laßt uns daher versuchen, im Lauf dieser Betrachtungen den eigentlichen Sinn dieser Worte und dieser Kapitel zu ergründen. Die Bedeutung der ursprünglichen Einheit des Menschen, den Gott als »Mann und Frau« geschaffen hat, erhält man, wenn man (besonders im Licht von Gen 2. 23) den Menschen in seinem ganzen Wesen erkennt, also in dem ganzen Reichtum jenes Schöpfungsgeheimnisses, auf das die theologische Anthropologie sich stützt. Diese Erkenntnis, das heißt die Suche nach der menschlichen Identität dessen, der am Anfang »allein« ist, muß immer durch die Zweiheit, die »Vereinigung« hindurchgehen. Erinnern wir uns an den Abschnitt Gen 2, 23: »Und der Mensch sprach: Das endlich ist Gebein von meinem Gebein und Fleisch von meinem Fleisch. Frau soll sie heißen, vom Mann ist sie genommen.« Im Lichte dieses Textes begreifen wir, daß die Erkenntnis des Menschen von seiner Männlichkeit und seiner Weiblichkeit bestimmt wird. Sie sind wie zwei »Inkarnationen« derselben metaphysischen Einsamkeit gegenüber Gott und der Welt — zwei sich ergänzende Arten, Leib und Mensch zu sein, zwei sich ergänzende Dimensionen des Selbstbewußtseins und der Selbstbestimmung und gleichzeitig zwei sich ergänzende Formen des Körperbewußtseins. So wie bereits Gen 2, 23 beweist, entdeckt die Frau in gewissem Sinne sich selbst angesichts des Mannes, während der Mann durch die Frau seine Bestätigung erfährt. Gerade die Funktion des Geschlechts, das ja in gewisser Hinsicht ein »konstitutiver Bestandteil der Person« (nicht nur ein »Attribut«) ist, macht deutlich, wie tief der Mensch mit seiner ganzen geistigen Einsamkeit, mit der Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit seiner Person vom Körper als »er« bzw. »sie« geprägt wird. Das Vorhandensein des weiblichen Elementes neben und zusammen mit dem männlichen bedeutet eine Bereicherung für den Menschen in jeder Phase seiner Geschichte, einschließlich der Heilsgeschichte. Diese ganze Lehre über die Einheit hat bereits in Gen 2, 23 ihren ursprünglichen Ausdruck gefunden.

2. Die Einheit, von der Gen 2, 24 spricht (»sie werden ein Fleisch sein«), ist ohne Zweifel jene Einheit, die sich in der ehelichen Vereinigung vollzieht und in ihr Ausdruck findet. Die äußerst knappe und einfache biblische Formulierung weist das Geschlecht – weiblich und männlich — als jenes charakteristische Merkmal des Menschen – Mann und Frau – aus, das ihnen ermöglicht, wenn sie »ein Fleisch werden«, zugleich ihr ganzes Menschsein dem Segen der Fruchtbarkeit unterzuordnen. Doch der Gesamtzusammenhang der lapidaren Formulierung gestattet uns nicht, die menschliche Geschlechtlichkeit oberflächlich zu betrachten, Körper und Geschlecht außerhalb der Gesamtdimension des Menschen und der »Gemeinschaft der Personen« zu behandeln, sondern er verpflichtet uns, von »Anfang« an die Fülle und Tiefe dieser Einheit hervorzuheben, die Mann und Frau im Lichte der Offenbarung des Leibes bilden sollen. Es ist also vor allem die Voraussage: »Der Mann wird sich an seine Frau binden«, und zwar so eng, daß »die beiden ein Fleisch sein werden«, die uns immer veranlaßt, uns auf das zu beziehen, was der biblische Text unmittelbar vorher über die Einheit im Menschsein sagt, die Frau und Mann im Geheimnis der Schöpfung verbindet. Die Worte von Gen 2, 23, die wir bereits analysiert haben, erläutern diesen Begriff in besonderer Weise. Mann und Frau, die sich (im ehelichen Akt) so innig miteinander verbinden, daß sie »ein Fleisch werden«, entdecken sozusagen jedes Mal aufs neue und in besonderer Weise das Geheimnis der Schöpfung und kehren so zu jener Einheit im Menschsein (»Gebein von meinem Gebein und Fleisch von meinem Fleisch«) zurück, die ihnen ermöglicht, sich gegenseitig zu erkennen und wie beim ersten Mal beim Namen zu nennen. Das bedeutet in gewissem Sinne, den ursprünglichen personalen Wert des Menschen wieder zu beleben, der sich aus dem Geheimnis seiner Einsamkeit gegenüber Gott und inmitten der Welt ergibt. Die Tatsache, daß sie »ein Fleisch« werden, ist ein vom Schöpfer festgelegtes mächtiges Band, durch welches sie ihr eigenes Menschsein sowohl in seiner ursprünglichen Einheit wie auch in der Zweiheit einer geheimnisvollen wechselseitigen Anziehungskraft entdecken. Das Geschlecht ist jedoch mehr als die geheimnisvolle Kraft der menschlichen Leibhaftigkeit, die gleichsam instinktmäßig handelt. Auf der Ebene des Menschen und in der wechselseitigen Beziehung der Personen ist das Geschlecht Ausdruck einer immer neuen Überwindung der Grenze der Einsamkeit des Menschen, die seiner körperlichen Verfassung innewohnt und seine ursprüngliche Bedeutung ausmacht. Diese verlangt immer, die Einsamkeit des Leibes des anderen »Ich« sowie die des eigenen »Ich« anzunehmen.

3. Sie ist daher an eine Entscheidung gebunden. Die Formulierung von Gen 2, 24 selber weist nicht nur darauf hin, daß die als Mann und Frau geschaffenen Menschen für die Einheit geschaffen sind, sondern auch darauf, daß eben diese Einheit, durch welche sie »ein Fleisch« werden, von Anfang an den Charakter einer Verbindung hat, die auf einer Entscheidung gründet. So lesen wir: »Darum verläßt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau.« Wenn der Mensch »der Natur« nach, aufgrund der Zeugung, Vater und Mutter angehört, so »bindet er sich« durch seine Entscheidung an die Frau (bzw. die Frau an den Mann). Der Text von Gen 2, 24 definiert diesen Charakter des Ehebundes in bezug auf den ersten Mann und die erste Frau, zugleich aber auch im Hinblick auf die gesamte irdische Zukunft des Menschen. Deshalb wird Christus sich zu seiner Zeit auf jenen Text berufen, der für seine Zeit eben die gleiche Aktualität besaß. Nach dem Abbild Gottes geschaffen, sollen der erste Mann und die erste Frau, auch insofern sie eine echte Personengemeinschaft bilden, Anfang und Beispiel für alle Männer und Frauen darstellen, die sich — wann auch immer — so innig miteinander vereinen werden, daß sie »ein Fleisch« sind. Der Körper, der durch die Tatsache seiner Männlichkeit bzw. Weiblichkeit von Anfang an beiden hilft (»eine Hilfe, die ihm entspricht«), einander in personenhafter Gemeinschaft zu begegnen, wird in besonderer Weise zum konstitutiven Element ihrer Verbindung, wenn sie Mann und Frau werden. Das aber erfolgt nach gegenseitigem Einverständnis. Dieses Einverständnis begründet den Ehebund zwischen zwei Personen20, die nur aufgrund dieser Entscheidung »ein Fleisch« werden.

4. Dies entspricht der Struktur der Einsamkeit des Menschen, konkret der zweifachen Einsamkeit. Die Wahl, die Entscheidung als Ausdruck der Selbstbestimmung stützt sich auf jene Struktur, das heißt auf das Selbstbewußtsein. Nur aufgrund der ihm eigenen Struktur ist der Mensch »Körper« und durch den Körper auch Mann und Frau. Wenn beide sich so innig miteinander verbinden, daß sie »ein Fleisch« werden, setzt diese eheliche Verbindung ein reifes Körperbewußtsein voraus. Ja, sie bringt ein besonderes Bewußtsein der Bedeutung des je eigenen Körpers beim persönlichen Sich-Schenken mit sich. Auch in diesem Sinne ist Gen 2, 24 ein weit vorausblickender Text. Denn er zeigt auf, daß in jeder ehelichen Vereinigung von Mann und Frau aufs neue eben dieses ursprüngliche Bewußtsein der verbindenden Bedeutung des Körpers in seiner männlichen und weiblichen Ausprägung entdeckt wird. Damit zeigt der biblische Text gleichzeitig an, daß sich bei jeder solchen Vereinigung gewissermaßen das Schöpfungsgeheimnis in seiner ganzen ursprünglichen Tiefe und Lebenskraft erneuert. »Genommen vom Mann« als »Fleisch von seinem Fleisch«, wird die Frau dann als »Ehefrau« und durch ihre Mutterschaft zur »Mutter der Lebendigen« (Gen 3, 20), denn ihre Mutterschaft hat auch im Mann ihren eigentlichen Ursprung. Die Zeugung des Lebens wurzelt in der Erschaffung und erneuert in einem bestimmten Sinn jedes Mal das Schöpfungsgeheimnis.

5. Diesem Thema soll eine eigene Betrachtung gewidmet werden: »Erkenntnis und Zeugung«. Dabei werden wir noch auf andere Elemente des biblischen Textes eingehen müssen. Die bisher durchgeführte Analyse der Bedeutung der ursprünglichen Einheit macht deutlich, wie »von Anfang an« jene Einheit von Mann und Frau, die dem Geheimnis der Schöpfung innewohnt, auch als Verpflichtung für alle kommenden Zeiten gilt. 21. 11. 1979, OR 79/48

 

»Aber sie schämten sich nicht voreinander«

1. Man kann sagen, daß uns die Analyse der ersten Kapitel der Genesis in gewissem Sinne nötigt, die grundlegenden Elemente der ursprünglichen Erfahrung des Menschen herauszuarbeiten. In diesem Sinne stellt der jahwistische Text aufgrund seiner Besonderheit eine Quelle von eigener Art dar. Wenn wir von den ursprünglichen menschlichen Erfahrungen sprechen, denken wir nicht so sehr an die lange Zeit, die sie zurückliegen, als vielmehr an ihre grundlegende Bedeutung. Das Bedeutsame ist also nicht, daß diese Erfahrungen der Vorgeschichte des Menschen angehören (seiner »theologischen Vorgeschichte«), sondern daß sie an der Wurzel jeder menschlichen Erfahrung zu finden sind. Dies ist tatsächlich der Fall, auch wenn man solchen wesentlichen Erfahrungen bei der Entfaltung der gewöhnlichen menschlichen Existenz nicht viel Beachtung schenkt. Sie sind nämlich derart mit den gewöhnlichen Dingen des Lebens verflochten, daß wir das Besondere an ihnen im allgemeinen gar nicht wahrnehmen. Aufgrund der bisher vorgenommenen Analysen konnten wir uns bereits darüber klarwerden, daß das, was wir zu Beginn als »Offenbarung des Leibes« bezeichnet haben, uns irgendwie helfen kann, das Außerordentliche im Gewöhnlichen zu entdecken. Das ist deshalb möglich, weil die Offenbarung (jene ursprüngliche Offenbarung, die zunächst im jahwistischen Bericht, Gen 2-3, und dann in Gen 1 sich findet) gerade derartige Ursprungserfahrungen in Betracht zieht, in denen fast vollkommen die absolute Ursprünglichkeit dessen sichtbar wird, was das Wesen des Menschen als Mann und Frau ist: das heißt, weil er auch dem Körper gemäß Mensch ist. Die Erfahrung des Körpers, die der Mensch macht und die wir in den genannten Bibeltexten entdecken, liegt gewiß der gesamten folgenden »historischen« Erfahrung zugrunde. Sie scheint jedoch auch auf einer solchen ontologischen Tiefe zu beruhen, daß der Mensch sie in seinem täglichen Leben nicht wahrnimmt, auch wenn er sie gleichzeitig irgendwie voraussetzt und sie als Teil der Formung seines eigenen Bildes fordert.

2. Ohne eine solche einleitende Überlegung ließe sich die Bedeutung der ursprünglichen Nacktheit nicht genau bestimmen, und es wäre nicht möglich, eine gute Analyse von Gen 2, 25 vorzunehmen, wo es heißt: »Beide, der Mensch und seine Frau, waren nackt, aber sie schämten sich nicht voreinander.« Auf den ersten Blick mag die Einführung dieser scheinbar nebensächlichen Einzelheit im jahwistischen Schöpfungsbericht als etwas unpassend und verwirrend erscheinen. Man möchte glauben, der zitierte Abschnitt vermöge nicht den Vergleich mit dem auszuhalten, wovon die vorhergehenden Verse handeln und was in gewissem Sinne den Zusammenhang übersteigt. Doch ein solches Urteil hält einer vertieften Analyse nicht stand. Tatsächlich stellt nämlich Gen 2, 25 eines der Schlüsselelemente der ursprünglichen Offenbarung dar, das ebenso bedeutsam ist wie die anderen Texte der Genesis (2, 20 und 2, 23), die uns bereits eine genauere Bestimmung der Bedeutung der ursprünglichen Einsamkeit und der ursprünglichen Einheit des Menschen ermöglicht haben. Zu ihnen tritt als drittes Element die Bedeutung der ursprünglichen Nacktheit hinzu, die in dem Textzusammenhang klar hervortritt; das aber ist in dem ersten Entwurf einer Anthropologie in der Bibel durchaus nichts Zufälliges. Im Gegenteil, es ist der Schlüssel zu seinem vollen und ganzen Verständnis.

3. Es ist einleuchtend, daß gerade dieses Element des alten Bibeltextes zur Theologie des Leibes einen besonderen Beitrag bietet, auf den wir absolut nicht verzichten können. Das werden unsere weiteren Analysen bestätigen. Aber ehe ich sie vornehme, erlaube ich mir noch die Bemerkung, daß gerade der Text von Gen 2,25 ausdrücklich eine Verbindung zwischen den Überlegungen zur Theologie des Leibes und der Dimension der persönlichen Subjektivität des Menschen fordert; das Bewußtsein von der Bedeutung des Leibes entwickelt sich tatsächlich in diesem Zusammenhang. Gen 2, 25 spricht davon auf eine viel direktere Art als andere Abschnitte desselben jahwistischen Textes, die wir bereits als eine erste Schilderung des menschlichen Bewußtseins bezeichnet haben. Der Satz, nach dem die ersten menschlichen Wesen, Mann und Frau, »nackt waren«, sich jedoch »nicht voreinander schämten«, beschreibt zweifellos ihren Bewußtseinszustand, ja ihre gegenseitige Körpererfahrung, das heißt seitens des Mannes die Erfahrung der Weiblichkeit, die sich in der Nacktheit des Körpers enthüllt, und umgekehrt von Seiten der Frau die analoge Erfahrung der Männlichkeit. Mit der Feststellung, daß sie »sich voreinander nicht schämten«, versucht der Verfasser diese gegenseitige Erfahrung des Körpers mit der größten ihm möglichen Genauigkeit zu beschreiben. Man kann sagen, daß diese Art von Genauigkeit eine Grunderfahrung des Menschen im alltäglichen, vorwissenschaftlichen Sinn widerspiegelt, aber sie entspricht auch den Forderungen der Anthropologie und besonders der modernen Anthropologie, die gerne auf sogenannte Grunderfahrungen, wie die Erfahrung des Schamgefühls, zurückgreift21.

4. Wenn wir hier auf die Genauigkeit der Schilderung anspielen, die dem Verfasser des jahwistischen Textes möglich war, sehen wir uns veranlaßt, die Erfahrungsstufen des tatsächlichen, mit der Erbsünde belasteten Menschen zu betrachten, die jedoch methodisch eben vom Zustand der ursprünglichen Unschuld ausgehen. Wir haben bereits früher festgestellt, daß Christus mit seiner Bezugnahme auf den »Anfang« (den wir hier unseren wiederholten Textanalysen zugrundegelegt haben) indirekt den Gedanken der Kontinuität und der Verbindung zwischen jenen beiden Zuständen betont, womit er uns gestattet, von der Schwelle der tatsächlichen Sündhaftigkeit des Menschen bis zu seiner ursprünglichen Unschuld vorzustoßen. Gen 2, 25 fordert geradezu eine Überschreitung jener Schwelle. Es ist leicht erkennbar, daß sich dieser Vers mit seiner Sinngebung der ursprünglichen Nacktheit in den Gesamtzusammenhang der jahwistischen Erzählung einfügt. Schreibt doch einige Verse später derselbe Verfasser: »Da gingen beiden die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren. Sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich einen Schurz« (Gen 3, 7). Das Wort »da« weist auf eine neue Situation hin, die auf den Bruch des ersten Bundes folgte; es ist eine Situation, die sich daraus ergibt, daß die Prüfung vor dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse nicht bestanden wurde; sie war zugleich die erste Prüfung des Gehorsams, das heißt des vollen Hinhörens auf das Wort Gottes und des Eingehens auf seine Liebe als volle Erfüllung seines schöpferischen Willens. Diese neue Situation bringt auch eine neue Körpererfahrung mit sich, so daß man nun nicht mehr sagen kann: »Sie waren nackt, aber sie schämten sich nicht voreinander.« Die Scham ist also hier nicht nur eine Erfahrung des ursprünglichen Zustandes, sondern eine »Grenzerfahrung«.

5. Der Unterschied der Formulierungen in Gen 2, 25 und 3, 7 ist daher bedeutsam. Im ersten Fall »waren sie nackt, schämten sich aber nicht voreinander«; im zweiten Fall »erkannten sie, daß sie nackt waren«. Soll damit etwa gesagt werden, sie hätten zunächst »nicht erkannt, daß sie nackt waren«? Daß sie beiderseits die Nacktheit ihrer Körper nicht kannten und nicht sahen? Die bedeutsame Veränderung, die hier vom biblischen Text in bezug auf das Schamgefühl (von der die Genesis noch an anderer Stelle, besonders 3, 10-12, spricht) bezeugt wird, erfolgt auf einer Ebene, die tiefer liegt als die des bloßen Sehens. Der Vergleich zwischen Gen 2, 25 und Gen 3 zwingt zu dem Schluß, daß es hier nicht um den Übergang vom »Nicht-Erkennen« zum »Erkennen« geht, sondern um einen totalen Bedeutungswandel der ursprünglichen Nacktheit der Frau gegenüber dem Mann und des Mannes gegenüber der Frau. Dieser ergibt sich aus ihrem Wissen, das dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse entsprang: »Wer hat dir gesagt, daß du nackt bist? Hast du von dem Baum gegessen, von dem zu essen ich dir verboten habe?« (Gen 3, 11). Dieser Wandel zieht unmittelbar eine neue Erfahrung des eigenen Körpers gegenüber dem Schöpfer und den anderen Geschöpfen nach sich. Das wird im folgenden von den Worten des Mannes bestätigt: »Ich habe dich im Garten kommen hören; da bekam ich Angst, weil ich nackt bin, und ich habe mich versteckt« (Gen 3, 10). Vor allem aber betrifft dieser Wandel, den der jahwistische Text so eindringlich und dramatisch beschreibt, direkt, ja vielleicht so direkt wie möglich, die Beziehung zwischen Mann und Frau, zwischen dem Weiblichen und dem Männlichen.

6. Diesen Wandel werden wir in unseren weiteren Darlegungen noch eingehender erklären müssen. Nun, da wir an der Grenze angelangt sind, wo der Bereich des »Anfangs«, auf welchen sich Christus bezieht, überschritten wird, müßten wir uns fragen, ob es irgendwie möglich wäre, die ursprüngliche Bedeutung der Nacktheit wiederzufinden, die im Buch Genesis den unmittelbaren Rahmen der Lehre von der Einheit des menschlichen Wesens als Mann und Frau bildet. Das scheint möglich, wenn wir als Bezugspunkt die Erfahrung des Schamgefühls nehmen, die in dem alten biblischen Text klar als »Grenzerfahrung« dargestellt wird. Einen Versuch zu einer solchen Wiederfindung wollen wir in unseren nächsten Betrachtungen unternehmen. 12. 12. 1979, OR 79/51-52

 

Verlust der ursprünglichen Fülle

1. Was ist die Scham, und wie läßt sich ihr Fehlen im Zustand der ursprünglichen Schuldlosigkeit, in der ganzen Tiefe des Geheimnisses von der Erschaffung des Menschen als Mann und Frau erklären? Aus den heutigen Analysen der Scham – und im besonderen des sexuellen Schamgefühls – ergibt sich, wie komplex diese Grunderfahrung ist, in welcher sich der Mensch gemäß der ihm eigenen Wesensstruktur als Person ausdrückt. Im Erlebnis der Scham erfährt der Mensch die Scheu gegenüber dem anderen Ich (so zum Beispiel die Frau gegenüber dem Mann), und sie ist wesentlich Furcht für das eigene Ich. Mit der Scham bekundet der Mensch gleichsam instinktiv die Notwendigkeit der Bestätigung und Annahme dieses Ichs entsprechend seinem wahren Wert. Das erfährt er zugleich sowohl in sich selber als auch nach außen hin gegenüber dem anderen. Man kann also sagen, daß die Scham auch in dem Sinn eine komplexe Erfahrung ist, daß sie zwar einen Menschen gewissermaßen vom anderen (die Frau vom Mann) fernhält, zugleich aber ihre persönliche Annäherung sucht und dafür eine geeignete Grundlage schafft. Aus demselben Grund kommt ihr bei der Ausbildung des Ethos im menschlichen Zusammenleben, besonders im Verhältnis von Mann und Frau eine fundamentale Bedeutung zu. Die Analyse der Scham macht deutlich, wie tief sie gerade in den gegenseitigen Beziehungen verwurzelt ist, wie klar sie die für eine Gemeinschaft von Personen wesentlichen Normen zum Ausdruck bringt und wie tief sie zugleich mit der Dimension der ursprünglichen Einsamkeit des Menschen verbunden ist. Das Auftreten der Scham in der biblischen Erzählung von Gen 3 hat eine mehrfache 109 Bedeutung, und wir wollen gelegentlich darauf zurückkommen. Was bedeutet jedoch ihr ursprüngliches Fehlen in Gen 2, 25: »Sie waren nackt, aber sie schämten sich nicht voreinander«?

2. Vor allem ist festzustellen, daß die Scham wirklich nicht vorhanden war und nicht etwa fehlte oder sich noch nicht voll entwickelt hatte. Wir können hier in keiner Weise eine primitive Auffassung von Scham annehmen. Der Text von Gen 2, 25 schließt also nicht nur ganz entschieden die Möglichkeit aus, an einen Mangel an Scham bzw. an Schamlosigkeit zu denken, sondern mehr noch, daß man sie in Analogie zu anderen positiven menschlichen Erfahrungen erklärt, wie z. B. denen des Kindesalters oder im Leben der sogenannten primitiven Völker. Solche Analogien sind nicht nur unzureichend, sie können geradezu irreführend sein. Die Worte von Gen 2,25: »Sie schämten sich nicht«, drücken nicht einen Mangel aus, sie weisen vielmehr auf eine besondere Fülle an Bewußtsein und Erfahrung hin, vor allem auf das volle Verständnis für die Bedeutung des Körpers, das eng mit der Tatsache ihrer Nacktheit verbunden war. Daß der angeführte Text so zu verstehen und zu interpretieren ist, beweist die Fortsetzung des jahwistischen Berichts, in dem das Auftreten der Scham und besonders des sexuellen Schamgefühls mit dem Verlust jener ursprünglichen Fülle verbunden wird. Wenn wir also die Erfahrung der Scham als Grenzerfahrung voraussetzen, müssen wir uns fragen, welcher Bewußtseins- und Erfahrungsfülle und besonders welcher Fülle an Verständnis für die Bedeutung des Körpers die ursprüngliche Nacktheit entspricht, von der in Gen 2, 25 die Rede ist.

3. Zur Antwort auf diese Frage müssen wir die bisher vorgenommene Analyse bedenken, die sich auf den ganzen jahwistischen Text stützt. In diesem Zusammenhang stellt sich die ursprüngliche Einsamkeit des Menschen als Nicht-Identifizierung des Menschseins mit der Welt der übrigen Lebewesen (animalia), dar. Infolge der Erschaffung des Menschen als Mann und Frau weicht diese Nicht-Identifizierung der beglükkenden Entdeckung des eigenen Menschseins mit Hilfe des anderen menschlichen Wesens; so erkennt und findet der Mensch sein Menschsein mit Hilfe der Frau (Gen 2, 25). Dieser Vorgang führt zugleich zu einer Welterfahrung, die unmittelbar durch den Körper gewonnen wird (»Fleisch von meinem Fleisch«). Er ist die unmittelbare und sichtbare Quelle der Erfahrung ihrer Einheit im Menschsein. Man versteht also unschwer, daß die Nacktheit jener Bewußtseinsfülle von der Bedeutung des Körpers entspricht, die gerade aus der Sinneserfahrung herrührt. Man kann an diese Fülle in den Kategorien des Seins oder der Wirklichkeit denken, und man kann sagen: Mann und Frau waren ursprünglich einander geschenkt aufgrund der Tatsache, daß sie »nackt« waren. Bei der Analyse des Sinnes der ursprünglichen Nacktheit darf man diese Dimension keineswegs übersehen. Diese Beteiligung an der Wahrnehmung der Welt in ihrem äußeren Aspekt ist etwas Unmittelbares und gleichsam Spontanes, das noch vor jeder kritischen Komplizierung der menschlichen Erkenntnis und Erfahrung liegt; es ist aber eng verbunden mit der Erfahrung der Bedeutung des menschlichen Körpers. Schon so könnte man die ursprüngliche Unschuld der Erkenntnis erfassen.

4. Man kann jedoch die Bedeutung der ursprünglichen Nacktheit nicht bestimmen, wenn man lediglich die Beteiligung des Menschen an der äußeren Wahrnehmung der Welt ins Auge faßt; man kann sie nicht bestimmen, wenn man nicht ins Innere des Menschen vordringt. Gen 2, 25 führt uns gerade in diesen Bereich ein und will, daß wir hier die ursprüngliche Unschuld des Erkennens suchen. Wir müssen in der Tat aus der menschlichen Innerlichkeit heraus jene besondere Fülle der Kommunikation zwischen Personen erklären und bemessen, dank welcher Mann und Frau »nackt waren, aber sich nicht voreinander schämten«. Der Begriff »Kommunikation« hat in unserem herkömmlichen Sprachgebrauch seine tiefste, ursprünglichste Wortbedeutung fast verloren. Das Wort wird heute vor allem mit dem Bereich der Medien verbunden, das heißt größtenteils mit den Einrichtungen, die der Verständigung, dem Austausch und der Annäherung dienen. Man darf jedoch vermuten, daß Kommunikation in ihrer ursprünglichen und tiefsten Bedeutung unmittelbar mit Personen zu tun hatte und hat, die gerade aufgrund ihrer Verbundenheit sich einander mitteilen, um eine Wirklichkeit zu erfassen und auszudrücken, die nur in den besonderen Bereich der Personen gehört. Auf diese Weise erhält der menschliche Körper eine völlig neue Bedeutung, die nicht auf die Ebene der bleibenden äußeren Wahrnehmung der Welt verwiesen werden kann. Er ist Ausdruck der Person in ihrer seinsmäßigen und existentiellen Konkretheit, die mehr ist als das Individuum und daher Ausdruck des menschlich-personalen Ichs, das von innen her seine äußere Wahrnehmung der Welt begründet.

5. Die gesamte biblische Erzählung und vor allem der jahwistische Text zeigt, daß der Körper durch seine Sichtbarkeit den Menschen offenbart und so zum Vermittler dafür wird, daß Mann und Frau von Anfang an sich einander mitteilen aufgrund jener Gemeinschaft der Personen, die der Schöpfer gerade für sie gewollt hat. Nur diese Dimension erlaubt uns wohl, die Bedeutung der ursprünglichen Nacktheit richtig zu verstehen. Daher ist jede naturalistische Deutung zum Scheitern verurteilt, während die personalistische Deutung uns eine große Hilfe sein kann. Gen 2, 25 spricht ganz klar von etwas Außerordentlichem; es reicht weit über alles hinaus, was uns die menschliche Erfahrung über die Scham zu sagen weiß. Es entscheidet zugleich über die besondere Fülle der zwischenpersönlichen Kommunikation, die im Herzen jener Gemeinschaft gründet, welche sich so offenbart und entfaltet. Dann können die Worte »sie schämten sich nicht« auch eine ursprüngliche Tiefe beinhalten, wenn sie nämlich das aussagen, was der Person zugehört, was sichtbar weiblich und männlich ist, und die persönliche Intimität der gegenseitigen Mitteilung in ihrer ganzen tiefen Schlichtheit und Reinheit möglich macht. Dieser Fülle der äußeren Wahrnehmung, die durch die körperliche Nacktheit zum Ausdruck kommt, entspricht die innere Fülle des Menschen, wie Gott ihn sieht22, nämlich als »Bild Gottes« (vgl. Gen 1, 17). Nach diesem Bild ist der Mensch wirklich nackt (»sie waren nackt«, Gen 2, 25), noch ehe er sich dessen bewußt wurde (vgl. Gen 3,7-10). Wir werden die Analyse dieses so wichtigen Textes in den nächsten Betrachtungen noch weiterführen müssen. 19. 12. 1979, OR 80/1

 

Die »bräutliche« Gemeinschaft als Geschenk des Schöpfers

1. Kommen wir nochmals zurück auf die Auslegung des Buches Genesis (2, 25), mit der wir vor einigen Wochen begonnen haben. Nach diesem Abschnitt sehen sich Mann und Frau gleichsam im Geheimnis der Schöpfung. Sie sehen sich so, noch bevor sie erkennen, daß sie nackt sind. Dieses gegenseitige Sich-Sehen ist nicht nur eine Teilnahme am äußeren Erfassen der Welt, sondern auch eine innere Teilhabe an der Schau des Schöpfers selbst. An jener Schau, von der der Bericht des ersten Kapitels mehrmals spricht: »Gott sah, daß alles, was er gemacht hatte, sehr gut war« (Gen 1, 31). Die Nacktheit bezeichnet das ursprüngliche Gut der Anschauung Gottes. Sie bedeutet die ganze Einfachheit und Fülle jener Anschauung, durch die sich der reine Wert des Menschen als Mann und Frau kundtut, der reine Wert des Körpers und der Geschlechtlichkeit. Die in so deutlicher und zugleich einprägsamer Weise angedeutete Situation der ursprünglichen Offenbarung des Körpers, wie sie insbesondere aus Gen 2, 25 hervorgeht, weist keinen inneren Bruch und keine Gegensätzlichkeit zwischen Spirituellem und Sinnlichem auf. Ebensowenig kennt sie Bruch und Gegensätzlichkeit zwischen dem, was vom Menschen her die Person ausmacht, und dem, was im Menschen vom Geschlecht her bestimmt ist: nämlich Mann und Frau zu sein. Indem sie sich gegenseitig gleichsam im Geheimnis der Schöpfung sehen, erblicken sich Mann und Frau noch vollständiger und klarer als durch den bloßen Gesichtssinn, d. h. durch die Augen des Körpers. Tatsächlich sehen und erkennen sie sich im vollen Frieden des inneren Blickes, der gerade die Fülle der Innerlichkeit von Personen ausmacht. Wenn die Scham eine bestimmte Begrenzung des Sehens mit den leiblichen Augen mit sich bringt, so vor allem deshalb, weil die persönliche Innerlichkeit gleichsam gestört und fast »bedroht« ist. Nach Genesis 2, 25 schämten sich Mann und Frau nicht: indem sie sich selbst in voller Ruhe und Ausgeglichenheit des inneren Blickes sehen und erkennen, teilen Sie sich einander in der Fülle der Menschlichkeit mit, die sich in ihnen gerade deswegen als gegenseitige Ergänzung ausdrückt, weil sie Mann und Frau sind. Zugleich teilen sie sich gegenseitig aufgrund jener Personengemeinschaft mit, in der sie durch ihr Mann- und Frau-Sein zum Geschenk des einen an den anderen werden. Auf diese Weise erreichen sie in der Gegenseitigkeit ein besonderes Verständnis der Bedeutung des eigenen Leibes. Die ursprüngliche Bedeutung der Nacktheit entspricht jener Einfachheit und Fülle der Schau, in der das Verständnis für die Bedeutung des Körpers sozusagen aus dem Herzen ihrer Gemeinschaft und Mitteilung erwächst. Wir wollen sie »bräutlich« nennen. In Genesis 2, 23-25 erscheinen Mann und Frau gerade »am Anfang« in diesem Bewußtsein der Bedeutung des eigenen Leibes. Dies verdient eine eingehendere Untersuchung.

2. Wenn der Bericht über die Erschaffung des Menschen in den beiden Versionen — der des ersten Kapitels und der des Jahwisten im zweiten Kapitel – es uns erlaubt, die ursprüngliche Bedeutung der Einsamkeit, der Einheit und der Nacktheit zu bestimmen, so können wir eben deswegen auch eine angemessene Anthropologie vorfinden, die bemüht ist, den Menschen in dem zu verstehen und zu deuten, was wesentlich menschlich ist23. Die biblischen Texte enthalten die wesentlichen Elemente einer solchen Anthropologie, welche sich im theologischen Kontext des Abbildes Gottes kundtun. Dieser Begriff birgt die eigentliche Wurzel der Wahrheit unter den Menschen, die durch jenen Anfang sichtbar wurde, auf den sich Christus in seinem Gespräch mit den Pharisäern beruft (vgl. Mt 19, 3-9), wenn er von der Erschaffung des Menschen als Mann und Frau spricht. Erinnern wir uns daran, daß alle Erwägungen, die wir hier anstellen, sich zumindest indirekt auf diese Worte zurückführen lassen. Der Mensch, den Gott als Mann und Frau erschaffen hat, trägt von Anfang an das Bild Gottes in seinem Leib eingeprägt; Mann und Frau stellen gleichsam zwei verschiedene Arten des menschlichen Leibseins in der Einheit jenes Bildes dar.
Nun wollen wir uns von neuem den fundamentalen Worten zuwenden, deren Christus sich bedient hat: »Er schuf« und »Schöpfer«. Dabei gewinnen die bisher angestellten Überlegungen ein neues Kriterium für das Verständnis und die Auslegung, die wir eine »Hermeneutik des Schenkens« nennen wollen. Die Hermeneutik des Schenkens ist für die wesentliche Wahrheit und Bedeutungstiefe der ursprünglichen »Einsamkeit – Einheit – Nacktheit« entscheidend. Sie findet sich auch im eigentlichen Herzen des Schöpfungsgeheimnisses, das es uns ermöglicht, eine Theologie des Leibes »von Anfang an« aufzubauen; gleichzeitig fordert sie aber, daß wir sie auf diese Weise aufbauen.

3. Das Wort »Er schuf« enthält im Munde Christi die gleiche Wahrheit, die wir im Buch Genesis finden. Der erste Schöpfungsbericht enthält mehrmals dieses Wort, angefangen von Genesis 1, 1 (»Im Anfang hat Gott Himmel und Erde geschaffen«) bis zu Genesis 1, 27 (»Gott schuf den Menschen als sein Abbild«)24. Gott offenbart sich selber vor allem als Schöpfer. Christus beruft sich auf diese grundlegende Offenbarung, wie sie im Buch Genesis enthalten ist. Der Schöpfungsbegriff hat hier nicht nur seine ganze metaphysische, sondern auch seine volle theologische Tiefe. Schöpfer ist derjenige, der »aus dem Nichts ins Dasein ruft«, der die Welt und in ihr den Menschen erschafft, weil er die Liebe ist (1 Joh 4, 8). Offen gesagt finden wir dieses Wort Liebe (»Gott ist Liebe«) im Schöpfungsbericht nicht; dennoch wiederholt dieser Bericht oft: »Gott sah, daß alles, was er gemacht hatte, sehr gut war.« Durch diese Worte werden wir angeleitet, das Motiv Gottes für die Schöpfung in der Liebe zu erblicken, die gleichsam die Quelle ist, aus der die Schöpfung entspringt: »Nur die Liebe setzt Gutes ins Werk und erfreut sich daran« (vgl. 1 Kor 13). Deshalb bedeutet die Schöpfung als Werk Gottes nicht nur ein Herausrufen aus dem Nichts ins Dasein, die Erschaffung der Welt und des Menschen in der Welt, sondern nach dem ersten Bericht »beresit bara« auch Geschenk; ein fundamentales und radikales Geschenk, das heißt ein Schenken, bei dem das Geschenk aus dem Nichts hervorgeht.

4. Die Lektüre der ersten Kapitel des Buches Genesis führt uns in das Schöpfungsgeheimnis ein, d. h. in den Anfang der Welt aus dem Wollen Gottes, das Allmacht und Liebe ist. Infolgedessen trägt jedes Geschöpf in sich das Zeichen des ursprünglichen und fundamentalen Geschenks. Dennoch kann sich dabei der Begriff des Schenkens nicht auf ein Nichts beziehen. Er bezeichnet den, der schenkt, und den, der das Geschenk empfängt, sowie die Beziehung, die zwischen beiden entsteht. Diese Beziehung ergibt sich nun aus dem Schöpfungsbericht in dem Augenblick, da der Mensch erschaffen wird. Sie zeigt sich vor allem in der Formulierung: »Gott schuf den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn« (Gen 1,27). Im Bericht über die Erschaffung der sichtbaren Welt hat das Schenken nur im Hinblick auf den Menschen Sinn. Innerhalb des ganzen Schöpfungswerkes kann man nur von ihm sagen, daß er mit einem Geschenk ausgestattet ist: die sichtbare Welt ist für ihn geschaffen. Der biblische Schöpfungsbericht bietet uns genügend Gründe für ein solches Verständnis und eine solche Deutung: die Schöpfung ist ein Geschenk, weil in ihr der Mensch auftaucht, der als Bild Gottes fähig ist, den Sinn des Geschenkes zu begreifen, das im Ruf aus dem Nichts ins Da-Sein besteht. Er ist fähig, dieses Verstehen dem Schöpfer gegenüber auszudrücken. Wenn wir so den Schöpfungsbericht deuten, können wir daraus schließen, daß die Schöpfung das fundamentale und 118 ursprüngliche Geschenk darstellt: der Mensch erscheint in der Schöpfung als derjenige, der die Welt zum Geschenk erhalten hat; umgekehrt kann man auch sagen, daß die Welt den Menschen zum Geschenk erhalten hat. Hier müssen wir unsere Ausführungen unterbrechen. Was wir bisher gesagt haben, steht in engster Beziehung zur gesamten anthropologischen Problematik des »Anfangs«. Der Mensch erscheint hier als Geschöpf, d. h. als derjenige, der inmitten der Welt einen anderen Menschen zum Geschenk erhalten hat. Gerade diese Dimension des Geschenkes werden wir später eingehender erwägen müssen, um auch die Bedeutung des menschlichen Leibes in ihrem richtigen Ausmaß zu verstehen. Dies wird der Gegenstand unserer nächsten Betrachtungen sein. 2. 1. 1980, OR 80/2


 

FUSSNOTEN:
1 Wenn er von der unbelebten Materie spricht, verwendet der biblische Schriftsteller Ausdrücke wie »schied«, »nannte«, »machte«, »setzte«. Spricht er dagegen von lebenden Wesen, benutzt er die Begriffe »schuf« und »segnete«. Gott befiehlt ihnen: »Seid fruchtbar und vermehrt euch!« Dieser Befehl richtet sich an die Tiere wie an den Menschen und zeigt damit an, daß ihnen die Leiblichkeit gemeinsam ist (vgl. Gen 1, 22.28). Trotzdem unterscheidet sich die Schöpfung des Menschen in der biblischen Darstellung wesentlich von allen voraufgegangenen Werken Gottes. Ihr geht nicht nur eine feierliche Einleitung vorauf, als gehe Gott vor dieser wichtigen Schöpfungstat mit sich zu Rate; sondern vor allem wird die außergewöhnliche Würde des Menschen durch die »Ähnlichkeit« mit Gott, dessen Abbild der Mensch ist, hervorgehoben. – Bei der Schöpfung der leblosen Materie »schied« Gott; den Lebewesen befiehlt er, fruchtbar zu sein und sich zu vermehren, aber der Geschlechtsunterschied wird nur beim Menschen unterstrichen (»Als Mann und Weib schuf er sie«), wobei er zugleich ihre Fruchtbarkeit, also die Verbindung der Personen, segnet (Gen 1, 27-28).
2 Der Originaltext sagt: »Gott schuf den Menschen (hebr, haadam, kollektives Substantiv: die >Menschheitmännlich<) und Weib (hebr. >weiblich<) schuf er sie« (Gen 1, 27).
3 Diese hohe Wahrheit: »Ich bin der >Ich-bin-da<« (Ex 3, 14) war Gegenstand des Nachdenkens vieler Philosophen, angefangen vom hl. Augustinus, der meinte, Platon müsse diesen Text gekannt haben, weil er dessen Vorstellungen sehr nahe zu sein schien. Die augustinische Lehre von der göttlichen Wesenheit (»essentialitas«) hat über den hl. Anselm einen tiefen Einfluß auf die Theologie des Richard von St. Viktor, des Alexander von Haies und des hl. Bonaventura ausgeübt. – »Um von dieser philosophischen Deutung des Exodus-Textes zu der Deutung, die der hl. Thomas vortrug, überzugehen, mußte die Distanz überwunden werden, die das >Sein des Wesens< vom >Sein der Existenz< trennt. Die thomistischen Beweise der Existenz Gottes haben sie überschritten« (E. Gilson). – Anderer Meinung war Meister Eckhart, der auf der Grundlage dieses Textes Gott die »puritas essendi« (die Reinheit des Wesens) zuschrieb: »est aliquid altius ente . . .« (er ist etwas Höheres als das Seiende). (Vgl. E. Gilson, Le Thomisme, Paris, 1944, S. 122-127, und ds., History of Christian Philosophy in the Middle Ages, London 1955, S. 810.)
4 Wenn in der Sprache des Rationalismus des 19. Jahrhunderts der Begriff »mythisch« das meinte, was es real nicht gibt, also ein Produkt der Vorstellung (Wundt), oder das Irrationale (LévyBruhl), so hat das 20. Jahrhundert die Auffassung vom Mythos modifiziert. L. Walk sieht im Mythos eine primitive und areligiöse Naturphilosophie; für R. Otto ist er ein Instrument religiöser Erkenntnis; für C. G. Jung aber ist der Mythos Darstellung der »Archetypen« und Ausdruck des »kollektiven Unbewußten«, Symbol innerer Vorgänge. M. Eliade entdeckt im Mythos die Struktur der Wirklichkeit, die dem rationalen und empirischen Forschen unzugänglich bleibt: der Mythos verwandelt das Ereignis in eine Kategorie und ermöglicht die Erfassung der transzendenten Wirklichkeit; er ist nicht allein Symbol innerer Vorgänge (wie Jung behauptet), sondern ein autonomer und schöpferischer Akt des menschlichen Geistes, durch den sich die Offenbarung verwirklicht (vgl. Traité d’histoire des religions, Paris, 1949, S. 363; Images et symboles, Paris, 1952, S. 199-235). Nach P. Tillich ist der Mythos ein aus Elementen der Wirklichkeit gebildetes Symbol, um das Absolute und die Transzendenz des Seins, zu denen der religiöse Akt hinstrebt, dazustellen. H. Schlier hebt hervor, daß der Mythos keine historischen Fakten kennt und braucht, weil er beschreibt, was kosmische Bestimmung des Menschen ist, der immer so und nicht anders ist. Schließlich: der Mythos trachtet zu erkennen, was unerkennbar ist. P. Ricoeur schreibt: »Der Mythos ist keine Erklärung der Welt, der Geschichte und des Schicksals; mit dem Begriff Welt, ja Überwelt oder zweiter Welt gibt er das Verständnis wieder, das der Mensch selbst von der Grundlage und Begrenztheit seiner Existenz gewinnt … Er bringt in objektiver Sprache den Sinn zum Ausdruck, den der Mensch in seiner Abhängigkeit im Hinblick auf Grenze und Ursprung seiner Welt sieht« (Le conflit des interprétations, Paris, 1969, S. 383). »Der Mythos von Adam ist der anthropologische Mythos schlechthin; Adam heißt Mensch; aber dieser ganze Mythos vom >Urmenschen< ist kein >Adam-Mythos<. Nur dieser … ist wirklich anthropologisch, wofür drei Züge kennzeichnend sind: – der ätiologische Mythos schreibt den Ursprung des Bösen einem Vorfahren der heutigen Menschheit zu, dessen Situation der unsrigen gleicht … – der ätiologische Mythos ist der stärkste Versuch, den Ursprung des Bösen und des Guten zu trennen. Absicht dieses Mythos ist, der Verwurzelung des Bösen im Menschen im Unterschied zum ursprünglichen Gutsein der Dinge Gestalt zu geben … Diese Unterscheidung ist für die Anthropologie des Mythos von Adam wesentlich; sie macht den Menschen zum Ausgangspunkt des Bö- sen inmitten einer Schöpfung, die bereits ihren absoluten Anfang im Schöpfungsakt Gottes hat; – der Mythos von Adam ordnet der zentralen Gestalt des ersten Menschen andere Gestalten unter, die darauf abzielen, die Erzählung aufzugliedern, ohne jedoch den Primat der Gestalt Adams aufzuheben . . . Der Mythos macht, wenn er Adam, den Menschen, nennt, die konkrete Universalität des menschlichen Bösen deutlich; der Geist der Buße wird im Mythos von Adam zum Symbol dieser Universalität. Wir stoßen also wieder … auf die verallgemeinernde Funktion des Mythos. Aber gleichzeitig finden wir die beiden anderen Funktionen, die beide von der Bußerfahrung angeregt werden . . . Der urgeschichtliche Mythos dient also nicht nur dazu, die Erfahrung Israels für die Menschheit aller Zeiten und aller Orte zu verallgemeinern, sondern auf diese vor allem die große Spannung zwischen Verdammnis und Barmherzigkeit auszudehnen, wie sie nach der Lehre der Propheten eben im Schicksal Israels zu erkennen ist. Und schließlich die letzte Funktion des Mythos, die im Glauben Israels begründet liegt: der Mythos bereitet das spekulative Denken vor, indem er den Bruch zwischen Ontologie und Geschichte zu erklären versucht« (P. Ricoeur, Finitude et culpabilite: II. Symbolique du mal, Paris, 1960, S. 218-227).
5 Etymologisch ist nicht auszuschließen, daß das hebräische Wort ‚is auf eine Wurzel zurückgeht, die soviel bedeutet wie »Kraft« (‚is oder ‚ws); ‚issah dagegen muß mit einer Reihe semitischer Wörter in Verbindung gebracht werden, deren Bedeutung zwischen »Weib« und »Ehefrau« schwankt. Der biblische Text hat volksetymologischen Charakter und soll lediglich die Einheit der Herkunft von Mann und Frau unterstreichen; das scheint durch den Gleichklang der beiden Wörter bestätigt.
6 »Dieselbe religiöse Sprache verlangt Übersetzung von >Bildern< oder vielmehr symbolischen Ausdrucksformen< in >Begriffsbestimmungen<. Auf den ersten Blick kann diese Übersetzung als rein äußerliche Veränderung erscheinen . . . Die Symbolsprache scheint der westlichen Kultur ungeeignet, begrifflich verwendet zu werden. In dieser Kultur ist die religiöse Sprache stets von einer anderen, nämlich der philosophischen, bestimmt gewesen, die als Begriffssprache schlechthin bezeichnet werden muß . . . Wenn es stimmt, daß religiöse Sprache nur in einer Gemeinschaft verstanden wird, die sie deutet, und nach einer bestimmten Interpretationsüberlieferung, so stimmt es doch auch, daß es keine Interpretationsüberlieferung gibt, die nicht von irgendeiner philosophischen Auffassung >vermittelt< würde. So muß das Wort >Gott<, das in den biblischen Texten seine Bedeutung aus der Konvergenz verschiedener Darstellungsweisen (Erzählungen und Prophezeiungen, Gesetzestexte und Weisheitsliteratur, Sprüche und Hymnen) empfängt – ob diese Konvergenz nun als Schnittpunkt oder als Horizont, der sich jeder, gleichweicher Form entzieht, gesehen wird -, in den begrifflichen Raum aufgenommen und in den Begriffen des philosophischen Absoluten neu interpretiert werden: erster Beweger, erste Ursache, Seinsakt, vollkommenes Sein, usw. Unser Gottesbegriff gehört also zu einer Seinstheologie, in der sich die Gesamtkonstellation der Schlüsselwörter der theologischen Sprache herausbildet, allerdings in einem von der Metaphysik vorgeschriebenen Bedeutungsrahmen« (P. Ricoeur, Biblical Hermeneutics, Montana, 1975). Die Frage, ob die Reduktion auf die Metaphysik tatsächlich den Inhalt zum Ausdruck bringt, der sich hinter der Symbol- und Bildsprache verbirgt, ist eine andere Sache.
7 Bereits die griechische Übersetzung des Alten Testaments, die um das 2. Jh. v. Chr. entstandene sogenannte Septuaginta, interpretiert Gen 3, 15 im messianischen Sinn, indem sie das männliche Pronomen autos in bezug auf das im Griechischen neutrale Substantivum sperma, »Samen« (in der Vulgata semen), anwendet. Die jüdische Tradition setzt diese Interpretation fort. Die christliche Exegese, die mit dem hl. Irenäus (Adversus Haereticos, III, 23, 7) einsetzt, betrachtet diesen Text als »Ur-Evangelium«, das den von Jesus Christus errungenen Sieg über Satan ankündigt. Obwohl in den letzten Jahrhunderten die Bibelwissenschaftler diese Perikope sehr verschieden interpretiert haben und einige von ihnen die messianische Auslegung beanstanden, kehrt man in letzter Zeit, wenn auch unter einem etwas anderen Gesichtspunkt, doch wieder zu ihr zurück. Der Verfasser des jahwistischen Textes verbindet ja die Vorgeschichte mit der Geschichte Israels, die ihren Höhepunkt im Herrschergeschlecht Davids (aus welchem der Messias hervorgehen wird) erreicht, das zur Erfüllung der Verheißungen von Gen 3, 15 führen wird (vgl. 2 Sam 7, 12). Das Neue Testament hat die Erfüllung der Verheißung in derselben messianischen Sicht dargestellt: Jesus ist der Messias, der Nachkomme Davids (Röm 1, 3; 2 Tim 2, 8), geboren von einer Frau (Gal 4, 4), der neue Adam-David (1 Kor 15), der herrschen muß, »bis Gott ihm alle Feinde unter die Füße gelegt hat« (1 Kor 15, 25). Und Offb 12, 1-10 stellt schließlich die Enderfüllung der Prophezeiung von Gen 3, 15 dar, die zwar keine klare und unmittelbare Ankündigung Jesu als des Messias Israels ist,. doch über die Tradition vom Messias-König, die das Alte und Neue Testament verbindet, zu Ihm hinführt.
8 Wenn wir hier von der Beziehung zwischen »Erfahrung« und »Offenbarung«, ja von einer überraschenden Konvergenz beider sprechen, wollen wir nur feststellen, daß der Mensch in seinem jetzigen Zustand der leiblichen Existenz die Erfahrung vielfacher Schmerzen, Leidenschaften, Schwächen, ja schließlich des Todes selbst macht, die zugleich sein leibliches Dasein zu einer anderen Dimension in Beziehung setzen. Wenn Paulus von der »Erlösung des Leibes« schreibt, spricht er die Sprache der Offenbarung. Der Erfahrung fehlt die Möglichkeit, diesen Inhalt, besser diese Wirklichkeit, zu erfassen. Gleichzeitig mit diesem Inhalt greift der Verfasser in Röm 8, 23 all das wieder auf, was sowohl ihm wie gewissermaßen jedem Menschen (unabhängig von seinem Verhältnis zur Offenbarung) durch die Erfahrung des menschlichen Daseins, das eine leibliche Existenz hat, angeboten wird. Wir haben also das Recht, von der Beziehung zwischen Erfahrung und Offenbarung zu sprechen, ja wir haben das Recht, die Frage nach ihrer wechselseitigen Beziehung zu stellen, auch wenn für viele zwischen der einen und der anderen eine Demarkationslinie läuft, die eine Linie völligen Gegensatzes und radikaler Antinomie bezeichnet. Ihrer Meinung nach muß zwischen Glaube und Wissenschaft, zwischen Theologie und Philosophie eine solche Trennungslinie gezogen werden. Bei der Formulierung dieses Standpunktes werden meist abstrakte Begriffe in Betracht gezogen, die nichts mit dem lebendigen Menschen zu tun haben.
9 Der hebräische Text nennt den ersten Menschen ständig haadam. Der Begriff ‚is (männliches Wesen) taucht erst in der Gegenüberstellung mit ‚issah (weibliches Wesen) auf. Solange der Mensch einsam ist, findet sich also keine Bezugnahme auf sein Geschlecht. Bei der Übersetzung in einige europäische Sprachen ist es allerdings schwierig, die Ausdrucksweise der Genesis deutlich zu machen, weil hier »Mensch« und »Mann« mit dem gleichen Wort bezeichnet werden: Homo, uomo, homme, hombre, man.
10 »Eine Seins-Definition ist eine Angabe, die das Sein oder die Natur der Dinge erklärt. Das Sein der Dinge wird durch ihr genus proximum (Gattungsbegriff) und ihre differentia specifica (spezifischer Unterschied definiert. Der Gattungsbegriff schließt alle wesentlichen Elemente der ihm untergeordneten Gattungen ein und somit alle Dinge, die dem zu definierenden Ding dem Sein nach verwandt oder ähnlich sind. Der spezifische Unterschied hingegen bezeichnet jenes Element, das dieses Ding von allen anderen ähnlicher Natur unterscheidet, indem er zeigt, worin sich das Ding von anderen, mit denen es irrtümlich identifiziert werden könnte, unterscheidet. Der Mensch wird als animal rationale (vernünftiges Lebewesen) definiert. >Lebewesen< ist sein Gattungsbegriff, >vernünftig< sein spezifischer Unterschied. Der Gattungsbegriff >Lebewesen< schließt alle wesentlichen Elemente der untergeordneten Gattungen ein, weil ein >Lebewesen< eine empfindungsfähige, lebendige, stoffliche Substanz ist … Der spezifische Unterschied >vernünftig< ist das unterscheidende Seinselement, das den >Menschen< von jedem anderen >Lebewesen< unterscheidet. Es macht ihn zu einer eigenen Gattung und unterscheidet ihn von jedem anderen Lebewesen und jeder ihrer Gattungen, einschließlich der Pflanzen, unbelebten Körper und Substanzen. Da der spezifische Unterschied das unterscheidende Element im Sein des Menschen ist, schließt er außerdem alle charakteristischen >Eigenschaften< ein, die im Sein des Menschen als Mensch angelegt sind: Sprachfähigkeit, Sittlichkeit, Herrschaft, Religion, Unsterblichkeit usw., Wirklichkeiten, die allen anderen Wesen in der physischen Welt fehlen.« (C. N. Bittle, The Science of Correct Thinking. Logic, Milwaukee 194712, S. 73-74).
11 Die biblische Anthropologie unterscheidet im Menschen nicht so sehr »den Leib« und »die Seele« als vielmehr »Körper« und »Leben«. Der biblische Verfasser stellt hier das Schenken des Lebens durch den »Lebensatem« dar, der weiterhin Eigentum Gottes bleibt: wenn Gott ihn wegnimmt, kehrt der Mensch zurück zum Staub der Erde, aus dem er gemacht ist (vgl. Ijob 34, 14-15; PS 104, 29 f.).
12 Das hebräische Wort ‚adam drückt den Kollektivbegriff »Mensch« aus, also den Menschen als Vertreter der Menschheit; (den Einzelmenschen bezeichnet die Bibel durch Gebrauch des Ausdrucks: »Menschensohn«, ben-‚adam). Die Gegenüberstellung: ‚is — ‚issah unterstreicht den Geschlechtsunterschied (wie im Griechischen ‚aner — gyne). Nach der Erschaffung der Frau nennt der biblische Text den ersten Menschen weiterhin ‚adam (mit dem bestimmten Artikel), womit er seine korporative Persönlichkeit zum Ausdruck bringt, ist doch dieser erste Mensch zum »Vater der Menschheit«, zu ihrem Stammvater und Repräsentanten geworden, wie später Abraham als »Vater der Gläubigen« anerkannt und Jakob mit Israel, dem auserwählten Volk, gleichgesetzt wurde.
13 Der Schlaf, in den Adam versinkt (hebr.: tardemah), ist ein tiefer Schlaf (latein.: sopor; englisch: sleep), in den der Mensch ohne Bewußtsein oder Träume versinkt (für Traum verwendet die Bibel ein anderes Wort: halom); vgl. Gen 15, 12; 1 Sam 26, 12. Freud hingegen hat den Inhalt der Träume (latein.: somnium; engl.: dream) untersucht, die nach ihm – da es sich um ins »Unterbewußtsein« verdrängte psychische Elemente handelt – die Deutung ihres unbewußten Inhalts erlauben, der letzten Endes immer sexueller Natur sei. Dieser Gedanke ist dem biblischen Verfasser natürlich fremd. In der Theologie des jahwistischen Autors unterstreicht der Schlaf, in den Gott den ersten Menschen versinken läßt, die Ausschließlichkeit göttlichen Wirkens bei der Schöpfung der Frau; der Mensch nahm in keiner Weise bewußt daran teil. Gott bedient sich seiner »Rippe« nur deshalb, um die gemeinsame Natur von Mann und Frau hervorzuheben.
14 Das hier verwendete hebr. Wort taucht in der Heiligen Schrift dann auf, wenn im Schlaf oder unmittelbar darauf sich Außergewöhnliches ereignet (vgl. Gen 15, 12; 1 Sam 26, 12; Jes 29, 10; Ijob 4, 13; 33, 15). Die Septuaginta übersetzt tardemah mit ekstasis (Ekstase). Im Pentateuch erscheint tardemah noch einmal in einem geheimnisvollen Zusammenhang; Abraham hat auf Befehl Gottes ein Tieropfer vorbereitet, von dem er die Raubvögel verscheuchte. »Bei Sonnenuntergang fiel auf Abram eine Ohnmacht, große, unheimliche Angst überfiel ihn . . .« (Gen 15, 12). Da beginnt Gott zu sprechen und schließt mit ihm einen Bund, der den Höhepunkt der an Abram ergangenen Offenbarung darstellt. Diese Szene gleicht in gewisser Weise jener im Garten Getsemani: Jesus »ergriff Furcht und Angst. . .« (Mk 14, 33), und er fand die Jünger »schlafend, denn sie waren vor Kummer erschöpft« (Lk 22, 45). Der biblische Verfasser gibt dem ersten Menschen ein gewisses Gefühl der Entbehrung und Einsamkeit (»es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei«; »eine Hilfe, die dem Menschen entsprach, fand er nicht«), wenn nicht der Angst. Vielleicht ruft dieser Zustand »einen vom Kummer verursachten Schlaf« hervor oder, wie bei Abraham, einen Schlaf, verursacht »von einer unheimlichen Angst« vor dem Nicht-Sein; ähnlich wie an der Schwelle der Schöpfung: »Die Erde war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urflut« (Gen 1,2). In beiden Texten, wo der Pentateuch oder vielmehr das Buch Genesis vom Tiefschlaf (tardemah) spricht, findet jedenfalls eine besondere göttliche Handlung statt, nämlich ein »Bund«, der für die ganze Heilsgeschichte Folgen hat: mit Adam beginnt das Menschengeschlecht, mit Abraham das auserwählte Volk.
15 Interessant mag der Hinweis sein, daß bei den alten Sumerern das Schriftzeichen für das Wort »Rippe« mit jenem identisch war, das für »Leben« verwendet wurde. Was den jahwistischen Bericht angeht, so bedeckt Gott nach einer bestimmten Auslegung von Gen 2, 21 die Rippe wieder mit Fleisch (statt ihre Stelle wieder mit Fleisch zu verschließen) und »formt« auf diese Weise die Frau, die dem »Fleisch und Gebein« des ersten Menschen (des Mannes) entspringt. In der Sprache der Bibel ist das eine Definition der Blutsverwandtschaft bzw. der Zugehörigkeit zur selben Abstammung (vgl. z. B. Gen 29, 14): die Frau gehört zur selben Gattung Mensch, indem sie sich von den übrigen vorher geschaffenen Lebewesen unterscheidet. In der biblischen Anthropologie bringt »Gebein« eine wichtige Komponente des Körpers zum Ausdruck; da es bei den Juden keine genaue Unterscheidung zwischen »Körper« und »Seele« gab (der Körper wurde als äußeres Zeichen der Persönlichkeit angesehen), bezeichneten die »Gebeine« im Sprachgebrauch einfach das menschliche Wesen oder Sein (vgl. z.B. PS 139, 15: »Meine Glieder waren dir nicht verborgen«). Man kann daher »Gebein von meinem Gebein« in relationalem Sinn als »Sein von meinem Sein« verstehen; »Fleisch von meinem Fleisch« heißt, daß die Frau, auch wenn sie andere körperliche Merkmale hat, dieselbe Persönlichkeit besitzt wie der Mann. Im »Hochzeitsgesang« des ersten Menschen ist der Ausdruck »Gebein von meinem Gebein, Fleisch von meinem Fleisch« ein Superlativ, der zudem noch von der dreimaligen Wiederholung unterstrichen wird.
16 Eine genaue Übersetzung des hebräischen Ausdrucks ezer kenegd6 ist schwierig; in den europäischen Sprachen wird er sehr verschieden übersetzt, z. B. auf lateinisch: »adiutorium ei conveniens sicut oportebat iuxta eum«; deutsch: »eine Hilfe . . ., die ihm entspricht«; französisch: »egal vis-à-vis de lui«; italienisch: »un aiuto che gli sia simile«; spanisch: »como él que le ayude«; englisch: »a helper fit for him«; polnisch: »odopowicdnia alla niego pomoc.« Während das Wort »Hilfe« den Gedanken der »Komplementarität« oder besser der »genauen Entsprechung« nahezulegen scheint, verbinden sich die Wörter »simile«, »egal« eher mit dem Wort »Ähnlichkeit«, aber in anderem Sinn als dem der Ähnlichkeit des Menschen mit Gott.
17 »Aber Gott hat den Menschen nicht allein geschaffen: denn von Anfang an hat er ihn >als Mann und Frau geschaffen< (Gen 1, 27); ihre Verbindung schafft die erste Form personaler Gemeinschaft« (Gaudium et spes, Nr. 12).
18 In den ältesten biblischen Büchern gibt es die dualistische Gegenüberstellung »Seele – Leib« nicht. Wie bereits früher hervorgehoben (vgl. Anmerkung Nr. 1 zur Generalaudienz vom 31. Oktober), kann man vielmehr von einer ergänzenden Verbindung »Leib-Leben« sprechen. Der Leib ist Ausdruck der Persönlichkeit des Menschen, und wenn dieser Begriff nicht erschöpfend genug ist, muß man ihn in der Sprache der Bibel als pars pro toto (Teil für das Ganze) verstehen; vgl. z. B.: »denn nicht Fleisch und Blut haben dir das offenbart, sondern mein Vater im Himmel« (Mt 16, 17), das heißt: nicht der Mensch hat dir das offenbart.
19 »Keiner hat noch seinen eigenen Leib gehaßt, sondern er nährt und pflegt ihn, wie auch Christus die Kirche. Denn wir sind Glieder seines Leibes. Deshalb wird der Mann Vater und Mutter verlassen und sich mit seiner Frau verbinden, und die beiden werden ein Fleisch. Dies ist ein tiefes Geheimnis. Ich sage es im Hinblick auf Christus und die Kirche« (Eph 5, 29-32). Das wird Gegenstand unserer Betrachtungen im Kapitel über das Sakrament sein.
20 »Die innige Gemeinschaft des Lebens und der Liebe in der Ehe, vom Schöpfer begründet und mit eigenen Gesetzen geschützt, wird durch den Ehebund, d. h. durch ein unwiderrufliches personales Einverständnis, gestiftet« (Gaudium et spes, Nr. 48).
21 Vgl. z. B.: Max Scheler, Über Scham und Schamgefühl, Halle, 1914; Fr. Sawicki, Fenomenologia wstydliwosci (Phänomenologie der Scham), Krakau, 1949; und auch K. Wojtyla, Milosc i odpowiedzialnosc, Krakau, 1962, S. 165-185 (deutsche Ausgabe: Liebe und Verantwortung, München 1979, S. 150-167).
22 Nach den Worten der Heiligen Schrift durchdringt Gott das Geschöpf, das vor ihm völlig »nackt« ist: »Kein Geschöpf bleibt verborgen vor ihm, sondern alles liegt nackt und bloß vor den Augen dessen, dem wir Rechenschaft schulden« (Hebr 4, 13). Dieses Kennzeichen gehört im besonderen zur göttlichen Weisheit: »Denn die Weisheit . . . durchdringt und erfüllt in ihrer Reinheit alles« (Weish 7, 24).
23 Der Begriff der »angemessenen Anthropologie« ist im Text selbst als »Begreifen und Erklärung des Menschen in dem, was wesentlich menschlich ist«, erläutert worden. Dieser Begriff bestimmt den Grundsatz der Einschränkung selbst, der der Philosophie des Menschen zu eigen ist, deutet die Grenze dieses Grundsatzes an und schließt indirekt aus, daß man diese Grenze überschreitet. Die »angemessene Anthropologie« beruht auf der wesentlich »menschlichen« Erfahrung und widersetzt sich dem Reduktionismus der naturalistischen Art, der oft zugleich mit der evolutionistischen Lehre über die Ursprünge des Menschen einhergeht.
24 Das hebräische Wort »bara« – er hat erschaffen – erscheint in dem ausschließlichen Sinne der Bestimmung des Wirkens Gottes nur in Vers 1 (Erschaffung des Himmels und der Erde), in Vers 21 (Erschaffung der Tiere) sowie in Vers 27 (Erschaffung des Menschen); hier jedoch taucht er gleich dreimal auf. Dies bedeutet Fülle und Vollkommenheit des Aktes, der die Erschaffung des Menschen als Mann und Frau ist. Diese Wiederholung besagt, daß das Werk der Schöpfung hier seinen Höhepunkt erreicht hat.

DER FUNDAMENTALISTISCHE UMGANG MIT DER HEILIGEN SCHRIFT

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Die fundamentalistische Verwendung der Bibel geht davon aus, daß die Heilige Schrift – das inspirierte Wort Gottes und frei von jeglichem Irrtum – wortwörtlich gilt und bis in alle Einzelheiten wortwörtlich interpretiert werden muß. Mit solcher „wortwörtlicher Interpretation“ meint sie eine unmittelbare buchstäbliche Auslegung, d.h. eine Interpretation, die jede Bemühung, die Bibel in ihrem geschichtlichen Wachstum und in ihrer Entwicklung zu verstehen, von vorneherein ausschließt. Eine solche Art, die Bibel zu lesen, steht im Gegensatz zur historisch-kritischen Methode, aber auch zu jeder anderen wissenschaftlichen Interpretationsmethode der Heiligen Schrift.

Der fundamentalistische Umgang mit der Heiligen Schrift hat seine Wurzeln in der Zeit der Reformation, wo man dafür kämpfte, dem Literalsinn der Heiligen Schrift treu zu bleiben. Nach der Aufklärung erschien diese Art, die Bibel zu lesen, im Protestantismus als Reaktion auf die liberale Exegese. Der Begriff „fundamentalistisch“ wurde auf dem Amerikanischen Bibelkongreß geprägt, der 1895 in Niagara im Staate New York stattfand. Die konservativen protestantischen Exegeten legten damals „fünf Punkte des Fundamentalismus“ fest: die Lehre von der wörtlichen Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift, der Gottheit Christi, der jungfräulichen Geburt Jesu, der stellvertretenden Sühne Jesu und der körperlichen Auferstehung bei der Wiederkunft Christi. Als der fundamentalistische Umgang mit der Bibel sich in anderen Weltteilen ausbreitete, führte er in Europa, Asien, Afrika und Südamerika zu weiteren Spielarten, die alle auch die Bibel „buchstäblich“ lesen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fand der fundamentalistische Gebrauch der Bibel in religiösen Gruppen und Sekten wie auch unter den Katholiken immer mehr Anhänger.

Obschon der Fundamentalismus mit Recht auf der göttlichen Inspiration der Bibel, der Irrtumslosigkeit des Wortes Gottes und den anderen biblischen Wahrheiten insistiert, die in den fünf genannten Grundsätzen enthalten sind, so wurzelt seine Art, diese Wahrheiten darzulegen, doch in einer Ideologie, die nicht biblisch ist, mögen ihre Vertreter auch noch so sehr das Gegenteil behaupten. Denn diese verlangt ein totales Einverständnis mit starren doktrinären Haltungen und fordert als einzige Quelle der Lehre im Hinblick auf das christliche Leben und Heil eine Lektüre der Bibel, die jegliches kritisches Fragen und Forschen ablehnt.

Das Grundproblem dieses fundamentalistischen Umgangs mit der Heiligen Schrift besteht darin, daß er den geschichtlichen Charakter der biblischen Offenbarung ablehnt und daher unfähig wird, die Wahrheit der Menschwerdung selbst voll anzunehmen. Für den Fundamentalismus ist die enge Verbindung zwischen Göttlichem und Menschlichem in der Beziehung zu Gott ein Ärgernis. Er weigert sich zuzugeben, daß das inspirierte Wort Gottes in menschlicher Sprache ausgedrückt und unter göttlicher Inspiration von menschlichen Autoren niedergeschrieben wurde, deren Fähigkeiten und Mittel beschränkt waren. Er hat deshalb die Tendenz, den biblischen Text so zu behandeln, als ob er vom Heiligen Geist wortwörtlich diktiert worden wäre. Er sieht nicht, daß das Wort Gottes in einer Sprache und in einem Stil formuliert worden ist, die durch die jeweilige Epoche der Texte bedingt sind. Er schenkt den literarischen Gattungen und der menschlichen Denkart, wie sie in den biblischen Texten vorliegen, keinerlei Beachtung, obschon sie Frucht einer sich über mehrere Zeitepochen erstreckenden Erarbeitung sind und Spuren ganz verschiedener historischer Situationen tragen.

Der Fundamentalismus betont über Gebühr die Irrtumslosigkeit in Einzelheiten der biblischen Texte, besonders was historische Fakten oder sogenannte wissenschaftliche Wahrheiten betrifft. Oft faßt er als geschichtlich auf, was gar nicht den Anspruch auf Historizität erhebt; denn für den Fundamentalismus ist alles geschichtlich, was in der Vergangenheitsform berichtet oder erzählt wird, ohne daß er auch nur der Möglichkeit eines symbolischen oder figurativen Sinnes die notwendige Beachtung schenkt.

Der Fundamentalismus hat oftmals die Tendenz, die Probleme des biblischen Textes in seiner hebräischen, aramäischen oder griechischen Sprachgestalt zu ignorieren. Nicht selten ist er eng an eine bestimmte, alte oder neue Übersetzung gebunden. Auch geht er nicht auf die Tatsache von „relectures“ in gewissen Abschnitten innerhalb der Bibel selbst ein.

Was die Evangelien anlangt, so trägt der Fundamentalismus dem Wachsen der Tradition der Evangelien keine Rechnung, sondern verwechselt naiv den Endtext dieser Tradition (das, was von den Evangelisten geschrieben wurde) mit ihrer Erstform (die Taten und Worte des geschichtlichen Jesus). Zugleich vernachlässigt er eine wichtige Dimension: die Art und Weise, wie die ersten christlichen Gemeinden selbst die Wirkung von Jesus und seiner Botschaft verstanden haben. Dabei bezeugt gerade dieses urchristliche Verständnis die apostolische Herkunft des christlichen Glaubens und ist ihr direkter Ausdruck. Der Fundamentalismus macht so den vom Evangelium selbst intendierten Anspruch unkenntlich.

Dem Fundamentalismus kann man auch eine Tendenz zu geistiger Enge nicht absprechen. Er erachtet z.B. eine alte vergangene Kosmologie, weil man sie in der Bibel findet, als übereinstimmend mit der Realität. Dies verhindert jeglichen Dialog mit einer offenen Auffassung der Beziehungen zwischen Kultur und Glauben. Er stützt sich auf eine unkritische Interpretation gewisser Bibeltexte, um politische Ideen und soziales Verhalten zu rechtfertigen, das von Vorurteilen gekennzeichnet ist, die ganz einfach im klaren Gegensatz zum Evangelium stehen, wie z.B. Rassendiskrimination und dgl. mehr.

Und schließlich trennt der Fundamentalismus die Interpretation der Bibel von der Tradition, weil er auf dem Prinzip der „sola Scriptura“ beruht. Die Tradition, die vom Geist Gottes geführt wird, entwickelt sich jedoch innerhalb der Glaubensgemeinschaft organisch aus der Heiligen Schrift heraus. Es fehlt dem Fundamentalismus die Erkenntnis, daß das Neue Testament in der christlichen Kirche entstanden ist und daß es Heilige Schrift dieser Kirche ist, deren Existenz der Abfassung ihrer Schriften schon vorausging. Aus diesem Grund ist der Fundamentalismus oft „antikirchlich“. Er erachtet die Glaubensbekenntnisse, die Dogmen und das liturgische Leben, die Teil der kirchlichen Tradition geworden sind, als nebensächlich. Das Gleiche gilt für die Lehrfunktion der Kirche selbst. Er stellt sich als eine Form privater Interpretation dar, die nicht erkennt, daß die Kirche auf der Bibel gründet und ihr Leben und ihre Inspiration aus den heiligen Schriften bezieht.

Der fundamentalistische Zugang ist gefährlich, denn er zieht Personen an, die auf ihre Lebensprobleme biblische Antworten suchen. Er kann sie täuschen, indem er ihnen fromme, aber illusorische Interpretationen anbietet, statt ihnen zu sagen, daß die Bibel nicht unbedingt sofortige, direkte Antworten auf jedes dieser Probleme bereithält. Ohne es zu sagen, lädt der Fundamentalismus doch zu einer Form der Selbstaufgabe des Denkens ein. Er gibt eine trügerische Sicherheit, indem er unbewußt die menschlichen Grenzen der biblischen Botschaft mit dem göttlichen Inhalt dieser Botschaft verwechselt.

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Quelle: PÄPSTLICHE BIBELKOMMISSION, DOKUMENT „Die Interpretation der Bibel in der Kirche“ (Abschnitt F)

PAPST BENEDIKT XVI. ZUR EXEGESE DER HEILIGEN SCHRIFT

Papa-Benedetto-autografo

Liebe Brüder und Schwestern!

Die Arbeit für mein Buch über Jesus bietet viel Gelegenheit, sowohl alles Gute zu sehen, das aus der modernen Exegese kommt, aber auch deren einschlägige Probleme und Gefahren zu sehen. Dei Verbum 12 gibt zwei methodologische Hinweise für eine angemessene exegetische Arbeit. Erstens wird bestätigt, dass die Anwendung der historisch-kritischen Methode, deren wesentliche Elemente kurz beschrieben werden, notwendig ist. Diese Notwendigkeit ergibt sich aus dem christlichen Prinzip, das wir in Joh 1,14 finden: “Verbum caro factum est”. Das historische Faktum ist eine Grunddimension des christlichen Glaubens. Die Heilsgeschichte ist keine Mythologie, sondern wirkliche Geschichte und muss deshalb mit den Methoden ernsthafter Geschichtswissenschaft untersucht werden.

Diese Geschichte hat aber auch eine andere Dimension, nämlich das göttliche Wirken. Deshalb ist in Dei Verbum von einem notwendigen zweiten methodologischen Niveau die Rede, das zur richtigen Auslegung der gleichzeitig menschlichen und göttlichen Worte notwendig ist. Das Konzil folgt einer grundlegenden Regel für die Auslegung jedes literarischen Texts und sagt, dass die Heilige Schrift im gleichen Geist ausgelegt werden muss, in dem sie geschrieben wurde und weist dementsprechend auf drei grundlegende methodologische Elemente hin, um die göttliche pneumatische Dimension der Bibel zu berücksichtigen: 1) Auslegung des Textes, indem man die Einheit der ganzen Schrift berücksichtigt; heute spricht man in diesem Fall von kanonischer Exegese; zur Zeit des Konzils gab es diesen Ausdruck noch nicht, aber das Konzil sagt das gleiche, nämlich, dass man die Einheit der ganzen Schrift berücksichtigen muss; 2) Berücksichtigung der lebendigen Tradition der ganzen Kirche und schließlich 3) Berücksichtigung der Analogie des Glaubens. Nur dort, wo beide methodologische Niveaus, das historisch-kritische und das theologische Niveau, berücksichtigt werden, kann man von einer theologischen Exegese sprechen, die allein der Heiligen Schrift angemessen ist. Während in bezug auf die erste Ebene die akademische Exegese heute auf einem sehr hohen Niveau arbeitet und uns wirklich hilft, kann man leider von dem anderen Niveau nicht das Gleiche sagen. Oft scheint es dieses zweite Niveau, das aus den drei von Dei Verbum angegebenen theologischen Elementen besteht, fast nicht zu geben. Das hat sehr schwerwiegende Folgen.

Die erste Folge des Fehlens des zweiten methodologischen Niveaus ist, dass die Bibel so zu einem Buch der Vergangenheit wird, aus dem man wohl moralische Erkenntnisse ziehen und die Geschichte erfahren kann, aber das Buch als solches spricht nur von der Vergangenheit und es handelt sich um eine nicht wirklich theologische, sondern eine rein historiographische Exegese, Geschichte der Literatur. Das ist die erste Folge: die Bibel bleibt der Vergangenheit verhaftet und spricht nur von Vergangenem. Eine weitere, noch schwerwiegendere Folge finden wir dort, wo die Hermeneutik des von Dei Verbum angegebenen Glaubens verschwindet und durch eine andere, säkularisierte und positivistische Hermeneutik ersetzt wird, deren grundlegender Schlüssel die Überzeugung ist, dass das Göttliche in der Menschheitsgeschichte nicht erscheint. In dieser Hermeneutik muss – immer wenn ein göttliches Element aufzutauchen scheint – erklärt werden, warum dieser Eindruck entsteht, um dann alles auf das Menschliche zurück zu führen. Deshalb kommt es zu Auslegungen, die die Historizität der göttlichen Elemente leugnen. Das trifft auf den so genannten “mainstream” der Exegese in Deutschland zu. Man streitet z.B. ab, dass der Herr die Heilige Eucharistie eingesetzt hat und sagt, dass der Leichnam Jesu im Grab geblieben ist. Die Auferstehung wäre in diesem Fall kein geschichtliches Ereignis, sondern rein theologische Sichtweise. Man behauptet das, weil eine Hermeneutik des Glaubens fehlt: so wird eine profan-philosophische Hermeneutik bestätigt, die es nicht für möglich hält, dass das Göttliche Eingang in die Geschichte findet und dort wirklich präsent ist. Die Abwesenheit dieses zweiten methodologischen Niveaus hat einen tiefen Graben zwischen der wissenschaftlichen Exegese und der Lectio divina geschaffen. So kommt es auch gerade deshalb manchmal zu Ratlosigkeit bei der Vorbereitung der Homilien. Wo die Exegese nicht Theologie ist, kann die Heilige Schrift nicht die Seele der Theologie sein und umgekehrt, wo die Theologie nicht wesentlich Auslegung der Schrift in der Kirche ist, hat die Theologie kein Fundament mehr.

Deshalb ist es für das Leben und die Sendung der Kirche und für die Zukunft des Glaubens absolut notwendig, diesem Dualismus zwischen Exegese und Theologie ein Ende zu bereiten. Die biblische und die systematische Theologie sind zwei Dimensionen einer einzigen Wirklichkeit, die wir Theologie nennen. Deshalb erscheint es mir als wünschenswert, dass in einer der “Propositiones” auch von der Notwendigkeit gesprochen wird, in der Exegese auf die beiden methodologischen Niveaus zu achten, die von Dei Verbum, 12, angegeben werden, wo klar gesagt wird, dass eine nicht nur geschichtliche, sondern auch theologische Exegese entwickelt werden muss. Deshalb ist es notwendig, die Ausbildung der zukünftigen Exegeten in diesem Sinne auszuweiten und so wirklich die Tore zu den Schätzen der Schrift für die heutige Welt und für uns alle zu öffnen.


Quelle:
XII. ORDENTLICHE GENERALVERSAMMLUNG DER BISCHOFSSYNODE, 5.-26. Oktober 2008
Das Wort Gottes im Leben und in der Sendung der Kirche