Vatikan ordnet Sozialengagement neu

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Kurienkardinal Peter Turkson

Der Vatikan stellt nach den Worten von Kurienkardinal Peter Turkson sein humanitäres, menschenrechtliches und entwicklungspolitisches Engagement neu auf. Ziel sei, die kirchliche Sorge für die Sozialordnung neu zu formulieren und „eine gesellschaftliche Vision der Kirche“ zu entwerfen, sagte Turkson am Montag im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) in Rom.

Der 68-jährige Ghanaer, seit 2009 Präsident des Päpstlichen Rats für Gerechtigkeit und Frieden, übernimmt vom 1. Januar die neu geschaffene Behörde „für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen“. Diese vereint die Ressorts Menschenrechte, Migration, Gesundheitsfragen und humanitäre Hilfe. Das Profil der neuen Behörde war auch Thema bei der jüngsten Sitzung des Kardinalsrats, der den Papst bei der Kurienreform berät.

Es gehe nicht darum, „einfach ein Konglomerat“ aus den vier bisherigen Behörden zu bilden, sagte Turkson. Bereits unter Johannes Paul II. und Benedikt XVI. habe sich eine „ganzheitliche Ökologie“ herausgebildet, entsprechen müsse man nun „über eine ganzheitliche soziale Verantwortung nachdenken“, sagte der Kardinal.

Die Reform sei nicht „Ausdruck einer Unzufriedenheit mit den bisherigen Strukturen“, sondern ziele auf eine bessere Abstimmung. Das Profil der neuen Behörde, an dem alle Beteiligten mitarbeiteten, werde voraussichtlich erst um Ostern klarer. Entlassungen oder vorzeitige Pensionierungen werde es nicht geben, versicherte Turkson. „Franziskus will nicht, dass durch den Umbau irgendjemand seinen Job verliert“, so der Kardinal.

(kna 19.12.2016 pdy)

Vatikan-Reform: Neue Institution für Entwicklung und Migration

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Papst Franziskus und Kardinal Turkson (Archivbild) – AP

Papst Franziskus richtet am Heiligen Stuhl eine neue Behörde für Gerechtigkeit und Frieden ein. Das „Dikasterium für den Dienst zugunsten der ganzheitlichen Entwicklung des Menschen“ – so der offizielle Titel – ist für ein dichtes Bündel an Fragen zuständig: Migration, Umwelt, Armut, Kranke und Ausgeschlossene, Gefangene, Arbeitslose, Opfer von Kriegen und Naturkatastrophen, von Sklaverei, Menschenhandel und Folter. Die neue Behörde nimmt am 1. Januar 2017 ihre Tätigkeit auf. Zu ihrem Präfekten ernannte Franziskus den aus Ghana stammenden Kurienkardinal Peter Kodwo Appiah Turkson, der bisher als Präsident des päpstlichen Rates für Gerechtigkeit und Frieden wirkte.

Die neue Institution entsteht in Zug der Kurienreform als Zusammenlegung von vier Räten, die damit aufgelöst werden, heißt es in dem päpstlichen Schreiben „Humanam progressionem“ in Form eines Motu Proprio, mit dem der Papst die Behörde gründet; der Vatikan veröffentlichte den auf 17. August datierten Erlass an diesem Mittwoch. Die Räte, die zum Jahreswechsel in dem neuen Dikasterium aufgehen, sind jene für Gerechtigkeit und Frieden, für die Pastoral im Krankendienst, für die Seelsorge für die Migranten und Menschen unterwegs sowie der päpstliche Caritas-Rat „Cor Unum“.

Das Thema Migration untersteht direkt dem Papst

Ebenfalls am Mittwoch veröffentlichte der Vatikan die Statuten der neuen Behörde, die der Papst zunächst vorläufig – „ad experimentum“ – genehmigte. Aus ihnen geht hervor, dass die Abteilung für Flüchtlinge und Migranten des Dikasteriums vorübergehend unter der direkten Leitung des Papstes steht. „Tatsächlich kann es heute keinen Dienst zugunsten der ganzheitlichen Entwicklung des Menschen ohne besonders Aufmerksamkeit für das Phänomen der Migration geben“, heißt es in einer begleitenden Erklärung des vatikanischen Pressesaals.

Dass an der Kurie eine neue Behörde für Gerechtigkeit, Migration und Umwelt entstehen soll, war bereits länger bekannt. Der Rat der neun Kardinäle („K9“), der den Papst bei der Kurienreform unterstützt, hatte ein entsprechendes Votum abgegeben. Wie schon bei der neuen Vatikanbehörde für Laien, Familie und Leben benennen die vorläufigen Statuten nicht den genauen Status des Dikasteriums. Kongregationen und päpstliche Räte, neben den Gerichten die Hauptkategorien an der römischen Kurie und damit an der Verwaltung der Weltkirche, unterscheiden sich nicht nur historisch, sondern auch strukturell voneinander. Die Räte entstanden erst nach dem II. Vatikanischen Konzil und haben weniger weit reichende Kompetenzen.

Sekretär und Untersekretär können Laien sein

Offen bleibt vorerst auch die personelle Besetzung der neuen Behörde unterhalb der Ebene des Präfekten. Aus den Statuten geht hervor, dass Sekretär und Untersekretär „auch Laien sein können“. Einen Sekretär im Laienstand gibt es bisher nicht an der römischen Kurie, auch die Untersekretäre sind bis auf wenige Ausnahmen Priester. Das meist dreiköpfige Leitungsteam einer päpstlichen Behörde besteht aus Präfekt oder Präsident, Sekretär und Untersekretär, wobei das Dikasterium für die ganzheitlichen Entwicklung des Menschen „mindestens einen Untersekretär“ haben wird. Ausdrücklich schreiben die Statuten vor, dass die Mitarbeiter und die Berater aus verschiedenen Kontinenten kommen müssen, „damit sie den universalen Charakter der Kirche spiegeln“.

Die neue Behörde wird eng mit dem päpstlichen Staatssekretariat zusammenarbeiten, besonders wenn es um Dokumente oder Erklärungen geht, die die Beziehungen zu den Staaten betreffen. Wenn Delegationen des Heiligen Stuhles zu Meetings reisen, die in die Zuständigkeit des Dikasteriums für ganzheitliche Entwicklung fallen, werden Mitarbeiter desselben daran teilnehmen. Der neuen Behörde sind drei Kommissionen angegliedert: eine für Caritas, eine für Ökologie und eine für die Beschäftigten im Gesundheitswesen. Darüber hinaus ist das Dikasterium zuständig für die Einrichtung und die Überwachung internationaler katholischer Hilfswerke.

 

(rv 31.08.2016 gs)

KOMPENDIUM DER SOZIALLEHRE DER KIRCHE – Vorstellung

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STAATSSEKRETARIAT

Aus dem Vatikan, 29. Juni 2004

N. 559.332

Herr Kardinal,

im Lauf ihrer Geschichte und insbesondere in den vergangenen einhundert Jahren hat die Kirche es niemals versäumt, im Hinblick auf die Fragen des ge­sellschaftlichen Lebens das Wort zu ergreifen, das ihr „gebührt“, wie Papst Leo XIII. es formuliert hat. Papst Johannes Paul II. seinerseits hat die katho­lische Soziallehre weiter ausgearbeitet und aktualisiert und drei große Enzykli­ken veröffentlicht — Laborem exercens, Sollicitudo rei socialis und Centesimus an­nus —, die grundlegende Etappen des katholischen Denkens zu diesem Thema darstellen. Zahlreiche Bischöfe in allen Teilen der Welt wiederum haben in jüngerer Zeit dazu beigetragen, die Soziallehre der Kirche zu vertiefen. Dassel­be haben viele Wissenschaftler auf allen Kontinenten getan.

1. Deshalb lag es nahe, die Abfassung eines Kompendiums über die gesamte Ma­terie zu veranlassen, das einen systematischen Überblick über die Kernpunkte der katholischen Soziallehre bietet. Diese Aufgabe hat der Päpstliche Rat für Gerechtigkeit und Frieden in lobenswerter Weise übernommen und in den ver­gangenen Jahren eine intensive Arbeit auf diese Initiative verwandt.

Daher bin ich glücklich über das Erscheinen des Werkes Kompendium der Soziallehre der Kirche und freue mich gemeinsam mit Ihnen, es den Gläubigen und allen Menschen guten Willens zur Stärkung ihres menschlichen und geist­lichen, persönlichen und gemeinschaftlichen Wachstums übergeben zu kön­nen.

2. Dieses Werk zeigt, dass die katholische Soziallehre auch ein Instrument der Evangelisierung ist (vgl. Centesimus annus, 54), weil es die menschliche Person und die Gesellschaft mit dem Licht des Evangeliums in Beziehung setzt. Die Grundsätze der Soziallehre der Kirche, die auf dem Naturrecht beruhen, wer­den im Glauben der Kirche vom Evangelium Christi bestätigt und vertieft.

Vor diesem Hintergrund ist der Mensch vor allem dazu eingeladen, sich in jeder Dimension des Lebens — also auch in der, die an den sozialen, wirtschaft­lichen und politischen Kontext gebunden ist — als transzendentes Wesen zu entdecken. Der Glaube führt die Bedeutung der Familie zur Vollendung, die, auf der Ehe zwischen einem Mann und einer Frau begründet, die erste und lebenswichtige Zelle der Gesellschaft bildet; er erhellt überdies die Würde der Arbeit, die als Tätigkeit, in der der Mensch sich selbst verwirklicht, den Vorrang vor dem Kapital besitzt und zur Teilhabe an den durch sie hervorgebrachten Früchten berechtigt.

3. Der vorliegende Text lässt zudem die Bedeutung der moralischen Werte er­kennen. Diese gründen auf dem Naturrecht, das dem Gewissen eines jeden Menschen eingeschrieben ist und somit anerkannt und beachtet werden muss. Die Menschheit verlangt heute größere Gerechtigkeit im Umgang mit dem vielschichtigen Phänomen der Globalisierung; sie sorgt sich lebhaft um die Ökologie und die rechte Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten; sie spürt die Notwendigkeit, das nationale Bewusstsein zu pflegen, ohne dabei jedoch den Weg des Rechts und das Bewusstsein von der Einheit der Mensch­heitsfamilie aus den Augen zu verlieren. Die Welt der Arbeit, die durch die modernen technologischen Errungenschaften zutiefst verändert worden ist, hat in qualitativer Hinsicht Herausragendes vorzuweisen, muss andererseits je­doch auch unerhörte Formen von Instabilität, Ausbeutung und sogar Sklaverei innerhalb der so genannten Wohlstandsgesellschaften registrieren. In manchen Gegenden dieser Erde wächst das Wohlstandsniveau weiter, während sich die Zahl der neuen Armen in bedrohlichem Maß erhöht und in verschiedenen Regionen die Kluft zwischen den weniger entwickelten und den reichen Län­dern immer tiefer wird. Der freie Markt, ein wirtschaftlicher Prozess, der seine positiven Seiten hat, stößt dennoch auch an seine Grenzen. Dem gegenüber stellt die vorrangige Liebe zu den Armen eine Grundentscheidung der Kirche dar, die diese allen Menschen guten Willens ans Herz legt.

So scheint es, als ob die Kirche nicht aufhören dürfte, ihre Stimme zu er­heben und sich zu den res novae der modernen Zeit zu äußern, weil es ihre Aufgabe ist, alle zu einem wirksamen Engagement für eine authentische Zivili­sation einzuladen, die auf eine umfassende und solidarische Entwicklung des Menschen ausgerichtet ist.

4. Die gegenwärtigen kulturellen und sozialen Fragen betreffen vor allem die gläubigen Laien, die — darauf weist das Zweite Vatikanische Konzil hin — geru­fen sind, die zeitlichen Dinge dem Willen Gottes gemäß zu ordnen (vgl. Lumen gentium, 31). Es liegt auf der Hand, wie wichtig die Bildung der Laien ist, die durch die Heiligkeit ihres Lebens und die Kraft ihres Zeugnisses zum Fortschritt der Menschheit beitragen können. Das vorliegende Dokument will ihnen bei der Erfüllung ihres täglichen Sendungsauftrags helfen.

Dabei können wir feststellen, dass zahlreiche der hier zusammengestellten Elemente von anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften und ebenso von anderen Religionen geteilt werden. Der Text ist in einer Weise ausgearbei­tet worden, dass er nicht nur ad intra, also den Katholiken, sondern auch ad extra Nutzen bringen kann. Denn die mit uns in derselben Taufe vereinten Brüder, die Gläubigen anderer Religionen und alle Menschen guten Willens können daraus fruchtbare Denkanstöße und einen gemeinschaftlichen Impuls für die umfassende Entwicklung jedes Menschen und des ganzen Menschen ge­winnen.

5. Der Heilige Vater wünscht, dass das vorliegende Dokument der Menschheit bei ihrem Streben nach dem Gemeinwohl helfen möge. Er ruft den Segen Got­tes auf alle herab, die sich die Zeit nehmen, um über die Lehren dieser Veröffent­lichung nachzudenken. Auch ich möchte meine persönlichen Segenswünsche für den Erfolg dieses Werkes zum Ausdruck bringen und beglückwünsche Ihre Eminenz und die Mitarbeiter des Päpstlichen Rates für Gerechtigkeit und Frie­den für die wichtige Arbeit, die sie geleistet haben. Ich verbleibe mit vorzüg­licher Hochachtung

Ihr ergebener Diener im Herrn
ANGELO Kard. SODANO Staatssekretär

_______

An Seine Hochwürdigste Eminenz
Herrn Kard. RENATO RAFFAELE MARTINO
Präsident des Päpstlichen Rats für Gerechtigkeit und Frieden
VATIKANSTADT


 

 

VORSTELLUNG DES KOMPENDIUMS

Ich freue mich, das Dokument Kompendium der Soziallehre der Kirche vorstellen zu können, das im Auftrag des Heiligen Vaters Johannes Paul II. erarbeitet worden ist, um die Soziallehre der Kirche zusammenfassend, aber vollständig darzu­legen.

Die gesellschaftliche Wirklichkeit mit der Kraft des von Frauen und Män­nern in Treue zu Jesus Christus bezeugten Evangeliums umzugestalten, ist schon immer eine Herausforderung gewesen und ist es noch heute, zu Beginn des dritten Jahrtausends der christlichen Zeitrechnung. Die Botschaft Jesu Christi, die „gute Nachricht“ des Heils, der Liebe, der Gerechtigkeit und des Friedens findet nicht leicht Aufnahme in der Welt von heute, die noch immer von Kriegen, Elend und Ungerechtigkeit verwüstet wird; gerade deshalb braucht der Mensch unserer Zeit das Evangelium mehr denn je: Er braucht den Glauben, der rettet, die Hoffnung, die erleuchtet, und die Liebe, die sich hingibt.

Die Kirche, erfahren in der Humanität, blickt auch weiterhin in vertrauens­voller und gleichzeitig tätiger Erwartung dem „neuen Himmel“ und der „neuen Erde“ (2 Petr 3,13) entgegen und lenkt auch die Blicke jedes Menschen auf diese hin, weil sie ihm helfen will, sein Leben in einem authentischen Sinn zu leben. „Gloria Dei vivens homo„: Der Mensch, der in der Fülle seiner Würde lebt, verherr­licht Gott, der ihm diese Würde verliehen hat.

Die Lektüre der hier vorgelegten Seiten soll vor allem dem Zweck dienen, die Christen und insbesondere die gläubigen Laien in dem für sie charakteris­tischen sozialen Engagement zu unterstützen und zu ermutigen; ihr ganzes Leben soll ein fruchtbares Werk der Evangelisierung sein. Jeder Gläubige muss vor allem lernen, dem Herrn mit der Kraft des Glaubens zu gehorchen — nach dem Beispiel des heiligen Petrus: „Meister, wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen. Doch wenn du es sagst, werde ich die Netze auswerfen“ (Lk 5, 5). Jeder Leser „guten Willens“ kann die Beweggründe erkennen, die die Kirche dazu veranlassen, mit einer Soziallehre in den gesellschaftlichen Bereich einzugreifen, für den sie auf den ersten Blick nicht zuständig zu sein scheint, und er wird sehen, welche Argumente für die Begegnung, den Dialog und den gemeinsamen Dienst am Gemeinwohl sprechen.

Mein Vorgänger, der verehrte Kardinal François-Xavier Nguyên Van Thuân, hat die komplexe Phase der Vorbereitung dieses Dokuments mit Weis­heit, Beständigkeit und Weitblick geleitet; die Krankheit hinderte ihn daran, diese Arbeit mit der Veröffentlichung abzuschließen. Dieses mir anvertraute Werk, das nun dem Leser übergeben wird, trägt somit das Siegel eines großen Zeugen des Kreuzes, der in den dunklen und schrecklichen Jahren von Viet­nam seine Glaubensstärke unter Beweis gestellt hat. Er wird unsere Dankbarkeit für all seine wertvolle Arbeit entgegenzunehmen wissen, die er mit Liebe und Hingabe geleistet hat, und er wird alle segnen, die sich die Zeit nehmen, über diese Seiten nachzudenken.

Ich bitte den heiligen Josef, den Beschützer des Erlösers und Bräutigam der Seligen Jungfrau Maria, den Patron der Weltkirche und der Arbeit, um seine Fürsprache, damit dieser Text im gesellschaftlichen Leben reiche Frucht bringt als ein Werkzeug der Verkündigung des Evangeliums, der Gerechtigkeit und des Friedens.

Vatikanstadt, 2. April 2004, am Fest des heiligen Franz von Paola.

RENATO RAFFAELE Kard. MARTINO
Präsident

GIAMPAOLO CREPALDI
Sekretär


 

KOMPENDIUM
DER SOZIALLEHRE
DER KIRCHE

 

EINLEITUNG

EIN UMFASSENDER UND SOLIDARISCHER
HUMANISMUS

a) An der Schwelle des dritten Jahrtausends

1  Die Kirche, das pilgernde Volk, betritt, von Christus, dem „erhabenen Hirten“ (Hebr 13, 20) geführt, das dritte Jahrtausend der christlichen Ära: Er ist die Heilige Pforte (vgl. Joh 10, 9), die wir anlässlich des Großen Jubiläums im Jahr 2000 durchschritten haben.1 Jesus Christus ist der Weg, die Wahrheit und das Leben (vgl. Joh 14,16): wenn wir das Antlitz des Herrn betrachten, festigen wir unseren Glauben und unsere Hoffnung in Ihn, den einzigen Erlöser und das Ziel der Geschichte.

Die Kirche wendet sich auch weiterhin an alle Völker und alle Natio­nen, weil dem Menschen nur im Namen Christi das Heil geschenkt ist. Das Heil, das der Herr Jesus uns „um einen teuren Preis“ (I Kor 6, 2o; vgl. 1 Petr I, 18-19) erkauft hat, erfüllt sich in dem neuen Leben, das die Gerechten nach dem Tod erwartet, doch es erfasst auch diese Welt in den Realitäten der Wirtschaft und der Arbeit, der Technik und der Kommunikation, der Gesellschaft und der Politik, der internationalen Gemeinschaft und der Be­ziehungen zwischen den Kulturen und Völkern: „Wir unsererseits wissen, dass Jesus gekommen ist, um das umfassende Heil zu bringen, das den ganzen Menschen und alle Menschen erfassen soll, um die wunderbaren Horizonte der göttlichen Kindschaft zu erschließen“.2

2  An der Schwelle dieses dritten Jahrtausends wird die Kirche nicht müde, das Evangelium zu verkünden, das auch in den zeitlichen Dingen Heil und authentische Freiheit schenkt, und sie ist dabei der feierlichen Weisung eingedenk, die der heilige Paulus an seinen Schüler Timotheus richtete: „Verkünde das Wort, tritt dafür ein, ob man es hören will oder nicht; weise zurecht, tadle, er­mahne, in unermüdlicher und geduldiger Belehrung. Denn es wird eine Zeit kommen, in der man die gesunde Lehre nicht erträgt, sondern sich nach eigenen Wünschen immer neue Lehrer sucht, die den Ohren schmei­cheln; und man wird der Wahrheit nicht mehr Gehör schenken, sondern sich Fabeleien zuwenden. Du aber sei in allem nüchtern, ertrage das Leiden, verkünde das Evangelium, erfülle treu deinen Dienst!“ (2 Tim 4, 2-5).

3  Die Kirche stellt ihren Weggefährten, den Männern und Frauen unserer Zeit, auch ihre Soziallehre zur Verfügung. Wenn nämlich die Kirche „ihren Auftrag, das Evangelium zu verkünden, erfüllt, bescheinigt sie dem Menschen im Namen Christi seine Würde und seine Berufung zu personaler Gemein­schaft; sie lehrt ihn die Forderungen der Gerechtigkeit und der Liebe, die der göttlichen Weisheit entsprechen“.3 Diese Lehre ist von einer tiefen Einheit, die aus dem Glauben an ein umfassendes Heil, aus der Hoffnung auf die Fülle der Gerechtigkeit und aus der Liebe entspringt, die alle Menschen wirklich zu Brüdern und Schwestern in Christus macht: Sie ist Ausdruck der Liebe Gottes zur Welt, die Er so geliebt hat, „dass er seinen einzigen Sohn hingab“ (Joh 3,16). Das neue Gesetz der Liebe umfasst die gesamte Menschheit und kennt keine Grenzen, denn die Verkündigung des Heils in Christus breitet sich aus „bis an die Grenzen der Erde“ (Apg 1, 8).

4  Der Mensch, der entdeckt, dass er von Gott geliebt wird, begreift seine eigene, transzendente Würde; er lernt, sich nicht mit sich selbst zu begnügen und dem anderen in einem Netz zunehmend authentischer menschlicher Beziehungen zu begegnen. Menschen, die von der Liebe Gottes neu geschaffen wurden, sind in der Lage, die Regeln und die Qualität der Beziehungen und sogar die gesell­schaftlichen Strukturen zu verändern: es sind Personen, die Frieden brin­gen können, wo Konflikte bestehen, die brüderliche Bindungen schaffen und aufrechterhalten können, wo Hass herrscht, die die Gerechtigkeit su­chen, wo die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen überwiegt. Nur die Liebe vermag die Beziehungen, die die Menschen zueinander unter­halten, auf radikale Weise zu verwandeln. Jeder Mensch guten Willens, der sich diese Perspektive zu Eigen macht, kann die unermesslichen Horizonte der Gerechtigkeit und der menschlichen Entwicklung in der Wahrheit und im Guten erkennen.

5  Die Liebe hat eine gewaltige Aufgabe zu bewältigen, zu der die Kirche auch mit ihrer Soziallehre, die den ganzen Menschen betrifft und sich an alle Menschen wendet, einen Beitrag leisten will. So viele unserer Not leidenden Brüder und Schwes­tern warten auf Hilfe, so viele Unterdrückte warten auf Gerechtigkeit, so viele Arbeitslose warten auf Arbeit, so viele Völker warten auf Anerken­nung: „Kann es tatsächlich möglich sein, dass es in unserer Zeit noch Men­schen gibt, die an Hunger sterben? Die dazu verurteilt sind, Analphabeten zu bleiben? Denen es an der medizinischen Grundversorgung fehlt? Die kein Haus, keine schützende Bleibe haben? Der Schauplatz der Armut lässt sich unbegrenzt ausweiten, wenn wir zu den alten die neuen Formen der Armut hinzufügen, die häufig auch die Milieus und gesellschaftlichen Gruppen betreffen, die zwar in wirtschaftlicher Hinsicht nicht mittellos sind, sich aber der sinnlosen Verzweiflung, der Drogensucht, der Verlassen­heit im Alter oder bei Krankheit, der Ausgrenzung oder sozialen Diskrimi­nierung ausgesetzt sehen. (…) Wie könnten wir uns abseits halten ange­sichts eines voraussichtlichen ökologischen Zusammenbruchs, der weite Gebiete des Planeten unwirtlich und menschenfeindlich macht? Oder im Hinblick auf die Probleme des Friedens, der immer wieder durch den Alp­traum katastrophaler Kriege bedroht ist? Oder angesichts der Verachtung der menschlichen Grundrechte gegenüber so vielen Personen, besonders den Kindern?“.4

6  Die christliche Liebe drängt uns dazu, Missstände anzuprangern, Vorschläge zu unterbreiten und uns zu engagieren für eine kulturelle und soziale Entwicklung, sie drängt uns zu einer effektiven Tatkraft, die alle, denen das Schicksal des Menschen aufrichtig am Herzen liegt, dazu anspornt, einen eigenen Beitrag zu leisten. Die Menschen erkennen immer deutlicher, dass sie alle dasselbe Schicksal tei­len und daher aus einem umfassenden und solidarischen Humanismus heraus gemeinsam Verantwortung übernehmen müssen: sie sehen, dass dieses ge­meinsame Schicksal häufig durch Technik oder Wirtschaft bedingt und ihnen sogar aufgezwungen wird, und sie verspüren das Bedürfnis nach einem stärkeren moralischen Bewusstsein, das ihrem gemeinsamen Weg eine Richtung gibt. Die Menschen unserer Zeit stehen staunend vor den vielfältigen technologischen Neuerungen und hegen den dringenden Wunsch, dass der Fortschritt auf das wahre Wohl der Menschheit von heu­te und von morgen ausgerichtet sein soll.

b) Die Bedeutung des Dokuments

7  Der Christ weiß, dass er in der Soziallehre der Kirche die Grundsätze des Den­kens, die Urteilskriterien und die Richtlinien des Handelns findet, von denen aus er zu einem umfassenden und solidarischen Humanismus aufbrechen kann. Die Verbrei­tung dieser Lehre stellt daher in der Seelsorge eine echte Priorität dar, damit die Personen von ihr erleuchtet und fähig werden, die Wirklichkeit von heute zu deuten und geeignete Wege des Handelns zu suchen: „Ihre Soziallehre vorzutragen und zu verbreiten ist Teil des Verkündigungsauftrages der Kir­che“.5

In dieser Hinsicht ist es für äußerst hilfreich erachtet worden, ein Do­kument herauszubringen, das die grundlegenden Züge der kirchlichen So­ziallehre und ihre Beziehung zur Neuevangelisierung darstellen soll.6 Der Päpstliche Rat für Gerechtigkeit und Frieden, der es erarbeitet hat und die volle Verantwortung dafür übernimmt, hat für dieses Werk in großem Um­fang unter anderem seine eigenen Mitglieder und Berater, einige Kongrega­tionen der Römischen Kurie, Bischofskonferenzen verschiedener Länder, einzelne Bischöfe und Experten in den behandelten Fragen hinzugezogen.

8  Dieses Dokument versteht sich als eine zwar knappe, aber umfassende und syste­matische Darstellung der Soziallehre, die eine Frucht weiser lehramtlicher Überlegung und ein Ausdruck des ständigen Engagements der Kirche in Treue zur Erlösergnade Christi und in der liebevollen Sorge um das Schicksal der Menschheit ist. Die wich­tigsten theologischen, philosophischen, moralischen, kulturellen und seel­sorgerischen Aspekte dieser Lehre werden hier in ihrer organischen Bezie­hung zu den sozialen Fragen wieder aufgegriffen. Auf diese Weise wird die Fruchtbarkeit der Begegnung zwischen dem Evangelium und den Proble­men bezeugt, mit denen der Mensch sich auf seinem historischen Weg kon­frontiert sieht.

Bei der Lektüre des Kompendiums sollte beachtet werden, dass die Zi­tate der lehramtlichen Texte aus Dokumenten stammen, denen eine unter­schiedliche Autorität zukommt. Neben Konzilsdokumenten und Enzykli­ken finden sich Ansprachen von Päpsten oder Dokumente, die in den Kongregationen des Heiligen Stuhls erarbeitet worden sind. Es scheint da­her angebracht, noch einmal auf die bekannte Tatsache hinzuweisen, dass der Leser es mit unterschiedlichen Ebenen der Lehre zu tun hat. Das Doku­ment, das sich darauf beschränkt, die wichtigsten Züge der Soziallehre darzulegen, stellt ihre Anwendung, die sich nach den je unterschiedlichen Gegebenheiten vor Ort zu richten hat, in die Verantwortung der Bischofs­konferenzen.7

9  Das Dokument bietet einen umfassenden Überblick über die grundlegenden Züge des theoretischen „Corpus“ der kirchlichen Soziallehre. Dieser Überblick ermög­licht es, in angemessener Weise die sozialen Fragen unserer Zeit anzugehen, die in ihrer Gesamtheit betrachtet werden müssen, weil sie sich als immer stärker miteinander verflochten erweisen, einander gegenseitig bedingen und die Menschheitsfamilie mehr denn je betreffen. Die Darstellung der Grundsätze der kirchlichen Soziallehre möchte im Hinblick auf die Suche nach Problemlösungen eine organische Vorgehensweise vorschlagen, damit die Einschätzung, die Beurteilung und die Entscheidungen der Wahrheit entsprechen und damit Solidarität und Hoffnung auch in der Komplexität der heutigen Gegebenheiten wirksam werden können. Denn die Grundsät­ze bedingen und erhellen einander, weil sie die christliche Anthropologie zum Ausdruck bringen,8 die aus der Offenbarung der Liebe Gottes zur menschlichen Person erwächst. Dennoch ist gebührend darauf zu achten, dass der Lauf der Zeit und die Veränderung der sozialen Verhältnisse es erforderlich ma­chen, immer wieder neu über die verschiedenen hier vorgelegten Themen nachzuden­ken, um die neuen Zeichen der Zeit zu deuten.

10  Das Dokument will ein Instrument für die moralische und seelsorgerische Ein­schätzung der komplexen Ereignisse sein-, die unsere Zeit charakterisieren; ein Leitfaden, der auf individueller und kollektiver Ebene zu Verhaltensweisen und Entscheidun­gen inspiriert, die uns mit Zuversicht und Hoffnung in die Zukunft blicken lassen; und eine Hilfe für die Gläubigen hinsichtlich der Lehre von der sozialen Moral. Es kann zu einem neuen Engagement führen, das auf die Erforder­nisse unserer Zeit zu antworten vermag und auf die Bedürfnisse und Fähig­keiten des Menschen zugeschnitten ist; vor allem aber kann es den dringen­den Wunsch wecken, die eigene Berufung der verschiedenen kirchlichen Charismen im Hinblick auf die Evangelisierung des Sozialen in neuen For­men zur Geltung zu bringen, denn „alle Glieder der Kirche nehmen auf ver­schiedene Weise an ihrer säkularen Dimension teil“.9 Und schließlich wird der Text als eine Anregung zum Dialog zwischen all denjenigen vorgelegt, die aufrichtig das Wohl des Menschen im Sinn haben.

11  Die ersten Adressaten dieses Dokuments sind die Bischöfe, die für seine Verbrei­tung und richtige Deutung die am besten geeigneten Formen finden werden. Denn es ist Teil ihres „munus docendi“, zu lehren, dass „die irdischen Dinge und die menschlichen Einrichtungen nach dem Plan des Schöpfergottes auf das Heil der Menschen hingeordnet sind und somit zum Aufbau des Leibes Christi nicht wenig beitragen können“.10 Die Priester, die Ordensleute und, allgemein gesprochen, die Ausbilder werden darin einen Leitfaden für ihre Lehrtätigkeit und ein Instrument für den seelsorgerischen Dienst finden. Die gläubigen Laien, die das Himmelreich „in der Verwaltung und gottgemäßen Regelung der zeitlichen Dinge“ suchen» werden darin Erleuchtung für ihren je be­sonderen Aufgabenbereich finden. Die christlichen Gemeinden werden die­ses Dokument dazu verwenden können, die Gegebenheiten objektiv zu analysieren, sie im Licht der unveränderlichen Worte des Evangeliums zu erhellen und Grundsätze des Denkens, Urteilskriterien und Richtlinien des Handelns aus ihm zu gewinnen.12

12  Dieses Dokument richtet sich auch an die Brüder in den anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften, an die Angehörigen anderer Religionen und an alle Männer und Frauen guten Willens, die sich für das Gemeinwohl einsetzen: Mögen sie es annehmen als die Frucht einer universalen menschlichen Erfahrung, die von unzähligen Zeichen der Gegenwart des Gottesgeistes erfüllt ist. Es ist ein Schatz aus Neuem und Altem (vgl. Mt 13, 52), den die Kirche teilen will, um Gott zu danken, von dem „jede gute Gabe und jedes vollkommene Geschenk kommt“ (Jak 1,17). Es ist ein Zeichen der Hoffnung, dass die Re­ligionen und Kulturen in der heutigen Zeit Dialogbereitschaft an den Tag legen und sich gedrängt fühlen, ihre Anstrengungen zugunsten der Ge­rechtigkeit, der Brüderlichkeit, des Friedens und der Entwicklung der menschlichen Person zu vereinen.

Die Katholische Kirche vereint ihre eigenen Bemühungen insbesondere mit dem, was die anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften in theoretisch-reflexiver ebenso wie in praktischer Hinsicht im sozialen Be­reich leisten. Zusammen mit ihnen ist die Katholische Kirche überzeugt, dass aus dem gemeinsamen Erbe der in der lebendigen Tradition des Got­tesvolkes bewahrten Soziallehre Impulse und Richtlinien für eine immer engere Zusammenarbeit bei der Förderung von Gerechtigkeit und Frieden hervorgehen.“

c) Im Dienst der vollen Wahrheit des Menschen

13  Dieses Dokument ist ein Dienst der Kirche an den Männern und Frauen unserer Zeit, denen sie den Reichtum ihrer Soziallehre zum Geschenk macht, ent­sprechend jenem Stil des Dialogs, den Gott selbst mit der Menschwerdung seines eingeborenen Sohnes etabliert hat: „In dieser Offenbarung redet der unsichtbare Gott (vgl. Kol 1,15; 2 Tim I,17) aus überströmender Liebe die Menschen an wie Freunde (vgl. Ex 33, 2; Jo 15,1415) und verkehrt mit ihnen (vgl. Bar 3, 38)“.14 In Anlehnung an die Pastoralkonstitution Gaudium et spesist auch in diesem Dokument der Mensch, „der eine und ganze Mensch, mit Leib und Seele, Herz und Gewissen, Vernunft und Willen“ Angelpunkt der gesamten Darstellung.15 In der skizzierten Zielsetzung be­stimmt die Kirche „kein irdischer Machtwille, sondern nur dies eine: unter Führung des Geistes, des Trösters, das Werk Christi selbst weiterzuführen, der in die Welt kam, um der Wahrheit Zeugnis zu geben; zu retten, nicht zu richten; zu dienen, nicht sich bedienen zu lassen“.16

14  Mit dem vorliegenden Dokument will die Kirche einen Beitrag der Wahrheit zu der Frage nach dem Platz des Menschen in der Natur und in der Gesellschaft leisten, einer Frage, mit der sich diejenigen Zivilisationen und Kulturen auseinandersetzen, die Ausdruck der Weisheit der Menschheit sind. Ihre Wurzeln reichen oft in eine tausendjährige Vergangenheit zurück, und ihre Ausprägung finden sie in den Formen der Religion, der Philosophie und des dichterischen Genies jeder Epoche und jedes Volkes, in denen sie Deutungen des Universums und des menschlichen Zusammenlebens anbieten und versuchen, dem Da­sein und dem Mysterium, das es umhüllt, einen Sinn zu geben. Wer bin ich? Warum gibt es allem Fortschritt zum Trotz noch immer den Schmerz, das Böse, den Tod? Was sind solche Errungenschaften wert, wenn sie zu einem Preis erkauft werden, der nicht selten unerträglich ist? Was wird nach diesem Leben sein? Diese grundlegenden Fragen kennzeichnen den Lauf des menschlichen Lebens.17 In diesem Zusammenhang mag man sich an die Mahnung „Erkenne dich selbst“ erinnern, die auf dem Architrav des Tempels von Delphi eingemeißelt war und die elementare Wahrheit be­zeugt, dass der Mensch, der dazu berufen ist, sich vor allen anderen Ge­schöpfen auszuzeichnen, gerade dadurch Mensch wird, dass er wesentlich darauf ausgerichtet ist, sich selbst zu erkennen.

15  Welche Ausrichtung man dem Leben, dem gesellschaftlichen Miteinander und der Geschichte gibt, hängt zu einem großen Teil davon ab, wie man die Fragen nach dem Platz des Menschen in der Natur und in der Gesellschaft beantwortet, wozu das vorliegende Dokument seinen Beitrag leisten will. Die tiefe Bedeutung des menschlichen Daseins offenbart sich nämlich in der freien Suche nach jener Wahrheit, die geeignet ist, dem Leben Richtung und Fülle zu geben, einer Suche, zu der die Intelligenz und der Wille des Menschen durch sol­che Fragen unablässig angetrieben werden. Sie sind der höchste Ausdruck der menschlichen Natur, weil sie die Person in eine Antwort verwickeln, die die Ernsthaftigkeit ihres Engagements an der eigenen Existenz misst. Zu­dem handelt es sich um im Wesentlichen religiöse Fragen: „Wenn man bei der Suche nach der letzten und erschöpfendsten Antwort den Grund der Din­ge vollständig erforschen will, erreicht die menschliche Vernunft ihren Gip­fel und öffnet sich dem Religiösen. Denn die Religiosität stellt die erhabens­te Äußerung der menschlichen Person dar, weil sie der Höhepunkt ihrer Natur als Vernunftwesen ist. Sie entspringt der tiefen Sehnsucht des Men­schen nach der Wahrheit und liegt seinem freien und persönlichen Suchen nach dem Göttlichen zugrunde“.18

16  Die grundlegenden Fragen, die den Weg des Menschen von Anfang an beglei­ten, gewinnen in unserer Zeit durch die Vielzahl der Herausforderungen, die Neu­artigkeit der Szenarien und die folgenschweren Entscheidungen, die zu treffen die ge­genwärtigen Generationen berufen sind, noch größere Bedeutung.

Die erste der größten Herausforderungen, vor denen die Menschheit heute steht, ist die der Wahrheit des Menschseins. Die Fragen nach Grenzen und Beziehungen von Natur, Technik und Moral appellieren entschieden an die persönliche und kollektive Verantwortung im Umgang mit dem, was der Mensch ist, was er tun kann und was er sein soll. Eine zweite Heraus­forderung besteht im Verständnis und in der Handhabung des Pluralismus und der Unterschiede auf allen Ebenen: auf der Ebene des Denkens, der moralischen Wahlfreiheit, der Kultur, der Religionszugehörigkeit, der Philosophie der menschlichen und sozialen Entwicklung. Die dritte Herausforderung ist die Globalisierung, deren Bedeutung sich nicht auf die Wirtschaft be­schränkt, sondern sehr viel weiter und tiefer reicht, weil in der Geschichte der Menschheit eine neue und schicksalhafte Epoche angebrochen ist.

17  Die Jünger Jesu Christi fühlen sich von diesen Fragen betroffen, sie tragen sie in ihrem Herzen und wollen sich gemeinsam mit allen Menschen bei der Suche nach der Wahrheit und dem Sinn des persönlichen und gesellschaftlichen Daseins engagieren. Zu dieser Suche tragen sie bei, indem sie großherzig Zeugnis ablegen von dem Ge­schenk, das die Menschheit empfangen hat: Gott hat im Lauf der Geschichte sein Wort an sie gerichtet, ja, er ist selbst in einen Dialog mit ihr eingetreten, um ihr seinen Plan des Heils, der Gerechtigkeit und der Brüderlichkeit zu offen­baren. In seinem Mensch gewordenen Sohn Jesus Christus hat Gott uns von der Sünde befreit und uns den Weg gezeigt, den wir gehen, und das Ziel, das wir anstreben sollen.

d) Im Zeichen der Solidarität, der Achtung und der Liebe

18  Die Kirche geht gemeinsam mit der ganzen Menschheit auf den Straßen der Geschichte. Sie lebt in der Welt, und obwohl sie nicht von der Welt ist (vgl. Joh 17,14-16), ist sie dazu berufen, ihr zu dienen und damit ihrer innersten Bestimmung zu folgen. Eine solche Haltung — wie man sie auch im vorlie­genden Dokument finden wird — ist von der tiefen Überzeugung getragen, dass es für die Welt wichtig ist, die Kirche als Wirklichkeit und Ferment der Geschichte anzuerkennen, ebenso wie es für die Kirche wichtig ist, sich bewusst zu machen, was sie der Geschichte und der Entwicklung der Menschheit zu verdanken hat.19 Das Zweite Vatikanische Konzil hat die Solidarität, die Achtung und die Liebe gegenüber der Menschheitsfamilie beredt bekundet und ist mit dieser in einen Dialog über zahlreiche Proble­me eingetreten. Zu diesem Dialog trägt das Volk Gottes dadurch bei „dass es das Licht des Evangeliums bringt und dass es dem Menschengeschlecht jene Heilskräfte bietet, die die Kirche selbst, vom Heiligen Geist geleitet, von ihrem Gründer empfängt. Es geht um die Rettung der menschlichen Person, es geht um den rechten Aufbau der menschlichen Gesellschaft“.20

19  Die Kirche, die in der Geschichte das Zeichen der Liebe Gottes zu den Menschen und der Berufung des gesamten Menschengeschlechts zur Einheit der Kinder des ein­zigen Vaters ist,21 will auch mit diesem Dokument über die Soziallehre allen Menschen einen Humanismus vor Augen stellen, der dem entspricht, was die Liebe Gottes für die Geschichte plant, einen umfassenden und solidari­schen Humanismus, der geeignet ist, eine neue gesellschaftliche, wirtschaft­liche und politische Ordnung herbeizuführen, die sich auf die Würde und Freiheit jeder menschlichen Person gründet und in Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität realisiert werden muss. Ein solcher Humanismus kann Wirklichkeit werden, wenn die einzelnen Männer und Frauen und ihre Ge­meinschaften es verstehen, die moralischen und sozialen Tugenden in sich selbst zu pflegen und in der Gesellschaft zu verbreiten, denn „dann werden sie mit der notwendigen Hilfe der göttlichen Gnade wahrhaft neue Men­schen und Erbauer einer neuen Menschheit“.22

 

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1 Vgl. JOHANNES PAUL II. Ap. Schr. Novo millennio ineunte, 1: AAS 93 (2001) 266.

2 JOHANNES PAUL II., Enz. Redemptoris missio, II: AAS 83 (1991) 260.

3 Katechismus der Katholischen Kirche, 2419.

4 JOHANNES PAUL II., Ap. Schr. Novo millennio ineunte, 50-51: AAS 93 (2003) 303-304.

5 JOHANNES PAUL II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 41: AAS 8o ( RR) (1988), 571-572.

6 Vgl. JOHANNES PAUL II., Ap. Schr. Ecclesia in America, 54: AAS 91 (1999) 79o.

7 Vgl. JOHANNES PAUL II., Ap. Schr. Ecclesia in America, 54: AAS 91 (1999) 79o; Katechis­mus der Katholischen Kirche, 24.

8 Vgl. JOHANNES PAUL II., Enz. Centesimus annus, 55: AAS 83 (1991) 86o.

9 JOHANNES PAUL II., Ap. Schr. Christfideles laici, 15: AAS 81 (1989) 414.

10 II. VATIKANISCHES KONZIL, Dekr. Christus Dominus, 12: AAS 58 (1966) 678.

11 II. VATIKANISCHES KONZIL, Dogm. Konst. Lumen gentium, 31: AAS 57 (1965) 37.

12 Vgl. PAUL VI., Ap. Schr. Octogesima adveniens, 4: AAS 63 (1971) 403.

13 Vgl. II. VATIKANISCHES KONZIL, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 92: AAS 58 (1966) 1113-1114.

14 II. VATIKANISCHES KONZIL, Dogm. Konst. Dei Verbum, 2: AAS 58 (1966) 818.

15 II. VATIKANISCHES KONZIL, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 3: AAS 58 (1966) 1026.

16 II. VATIKANISCHES KONZIL, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 3: AAS 58 (1966) 1027.

17 Vgl. II. VATIKANISCHES KONZIL, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 10: AAS 58 (1966) 1032.

18 JOHANNES PAUL II., Ansprache bei der Generalaudienz (19. Oktober 1983), 2: Inseg­namenti di Giovanni Paolo II, VI, 2 (1983) 815.

19 Vgl. II. VATIKANISCHES KONZIL, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 44: AAS 58 (1966) 1064.

20 II. VATIKANISCHES KONZIL, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 3: AAS 58 (1966) 1026.

21 Vgl. II. VATIKANISCHES KONZIL, Dogm. Konst. Lumen gentium, 1: AAS 57 (1965) 5.

22 II. VATIKANISCHES KONZIL, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 30: AAS 58 (1966) 1050.

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Quelle: PÄPSTLICHER RAT FÜR GERECHTIGKEIT UND FRIEDEN – Kompendium der Soziallehre der Kirche – 3. Auflage 2014 – Für die deutsche Ausgabe: © Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2006, www.herder.de, ISBN 978-3-451-29078-7.

[Gewidmet] Seiner Heiligkeit Johannes Paul II. – Magister der Soziallehre – Zeuge für das Evangelium der Gerechtigkeit und des Friedens