Die Botschaft von Papst Franziskus zum 53. Weltfriedenstag

Papst Franziskus am Mittwoch, 18. November bei der Generalaudienz auf dem Petersplatz. Foto: CNA/Daniel Ibanez

VATIKANSTADT , 12 December, 2019 / 12:46 AM (CNA Deutsch).-

Am 1. Januar 2020 wird der 53. Weltfriedenstag begangen. CNA Deutsch dokumentiert den vollen Wortlaut der Botschaft des Pontifex in der offiziellen Übersetzung.

Der Frieden als Weg der Hoffnung:
Dialog, Versöhnung und ökologische Umkehr

1. Der Frieden als Weg der Hoffnung angesichts der Hindernisse und der Prüfungen

Der Frieden ist ein kostbares Gut, er ist Gegenstand unserer Hoffnung, nach dem die ganze Menschheit strebt. Auf den Frieden zu hoffen ist eine menschliche Haltung, die eine existentielle Spannung beinhaltet, weshalb auch eine zuweilen mühsame Gegenwart »gelebt und angenommen werden [kann], wenn sie auf ein Ziel zuführt und wenn wir dieses Ziels gewiss sein können; wenn dies Ziel so groß ist, dass es die Anstrengung des Weges rechtfertigt« . Auf diese Weise ist die Hoffnung die Tugend, die uns aufbrechen lässt, die uns die Flügel verleiht, um weiterzugehen, selbst dann, wenn die Hindernisse unüberwindlich scheinen.

Unsere menschliche Gemeinschaft trägt im Gedächtnis und am eigenen Fleisch die Zeichen der Kriege und Konflikte, die mit wachsender Zerstörungskraft aufeinander gefolgt sind und die nicht aufhören, vor allem die Ärmsten und die Schwächsten zu treffen. Selbst ganze Nationen haben Mühe, sich von den Fesseln der Ausbeutung und der Korruption zu befreien, welche Hass und Gewalt schüren. Auch heute noch bleiben vielen Männern und Frauen, Kindern und alten Menschen die Würde, die physische Unversehrtheit, die Freiheit einschließlich der Religionsfreiheit, die gemeinschaftliche Solidarität und die Hoffnung auf Zukunft versagt. Viele unschuldige Opfer müssen die Qual der Demütigung und des Ausgeschlossenseins, der Trauer und der Ungerechtigkeit ertragen, wenn nicht sogar Traumata, die von der systematischen Feindseligkeit gegen ihr Volk und ihre Angehörigen herrühren.

Die schrecklichen Prüfungen nationaler und internationaler Konflikte, die oftmals durch erbarmungslose Gewalt verschlimmert werden, zeichnen Leib und Seele der Menschheit auf lange Zeit. Denn jeder Krieg entpuppt sich in Wirklichkeit als Brudermord, der das Projekt der Brüderlichkeit selbst zerstört, das der Berufung der Menschheitsfamilie eingeschrieben ist.

Der Krieg beginnt, wie wir wissen, häufig mit einer Unduldsamkeit gegen die Verschiedenartigkeit des anderen, die das Verlangen nach Besitz und den Willen zur Vorherrschaft schürt. Sie entsteht im Herzen des Menschen aus Egoismus und Stolz sowie aus dem Hass, der dazu verleitet, zu zerstören, den anderen allein negativ zu sehen, ihn auszuschließen oder auszulöschen. Der Krieg speist sich aus einer Verkehrung der Beziehungen, aus hegemonialen Ambitionen, aus Machtmissbrauch, aus der Angst vor dem anderen und vor der Verschiedenartigkeit, die für ein Hindernis gehalten wird; und zugleich nährt der Krieg dies alles.

Während meiner jüngsten Reise nach Japan hatte ich Gelegenheit, auf den offenbaren Widerspruch hinzuweisen, dass »unsere Welt in der abartigen Dichotomie [lebt], Stabilität und Frieden auf der Basis einer falschen, von einer Logik der Angst und des Misstrauens gestützten Sicherheit verteidigen und sichern zu wollen. Am Ende vergiftet sie die Beziehungen zwischen den Völkern und verhindert jeden möglichen Dialog. Der Frieden und die internationale Stabilität sind unvereinbar mit jedwedem Versuch, sie auf der Angst gegenseitiger Zerstörung oder auf der Bedrohung einer gänzlichen Auslöschung aufzubauen; sie sind nur möglich im Anschluss an eine globale Ethik der Solidarität und Zusammenarbeit im Dienst an einer Zukunft, die von der Interdependenz und Mitverantwortlichkeit innerhalb der ganzen Menschheitsfamilie von heute und morgen gestaltet wird.«

Jede Bedrohung nährt das Misstrauen und fördert den Rückzug auf die eigene Position. Misstrauen und Angst erhöhen die Brüchigkeit der Beziehungen und das Risiko der Gewalt; es handelt sich um einen Teufelskreis, der niemals zu einem Verhältnis des Friedens wird führen können. In diesem Sinne kann auch die nukleare Abschreckung nur eine trügerische Sicherheit schaffen.

Daher dürfen wir uns nicht einbilden, dass wir die Stabilität in der Welt durch die Angst vor der Vernichtung aufrechterhalten können; ein solches höchst instabiles Gleichgewicht steht am Rande des nuklearen Abgrunds und ist in den Mauern der Gleichgültigkeit eingeschlossen, wo man sozioökonomische Entscheidungen trifft, die dazu führen, dass Mensch und Schöpfung dramatisch herabgewürdigt werden, anstatt dass man einander behütet. Wie also kann man einen Weg des Friedens und der gegenseitigen Anerkennung aufbauen? Wie die krankhafte Logik von Drohung und Angst durchbrechen? Wie die derzeit vorherrschende Dynamik des Misstrauens unterbinden?

Wir müssen eine echte Brüderlichkeit anstreben, die auf unserem gemeinsamen Ursprung in Gott gründet und im Dialog und im gegenseitigen Vertrauen gelebt wird. Der Wunsch nach Frieden ist tief in das Herz des Menschen eingeschrieben, und wir dürfen uns mit nichts Geringerem als diesem abfinden.

2. Der Frieden als Weg des Zuhörens auf der Grundlage der Erinnerung, der Solidarität und der Brüderlichkeit

Die Hibakusha, die Überlebenden der Atombombenangriffe von Hiroshima und Nagasaki, zählen zu denen, die das kollektive Bewusstsein lebendig erhalten. Sie bezeugen nämlich den nachfolgenden Generationen das schreckliche Geschehen vom August 1945 und die unsäglichen Leiden, die bis heute daraus erwachsen sind. Auf diese Weise ruft ihr Zeugnis das Gedächtnis an die Opfer wach und bewahrt es, damit das menschliche Gewissen immer stärker werde gegenüber jedem Willen zur Vorherrschaft und zur Zerstörung: »Deshalb dürfen wir nicht zulassen, dass die gegenwärtigen und künftigen Generationen die Erinnerung an das Geschehene verlieren; jene Erinnerung, die Garantie und Ansporn ist, um eine gerechtere und brüderlichere Welt zu erbauen.«

Wie sie erbringen viele Menschen in allen Teilen der Welt den künftigen Generationen den unabdingbaren Dienst des Gedächtnisses. Dieses muss nicht nur deswegen bewahrt werden, damit die gleichen Fehler nicht wieder begangen werden oder die trügerischen Denkweisen der Vergangenheit erneut salonfähig werden, sondern auch deshalb, damit es als Frucht der Erfahrung für die gegenwärtigen und zukünftigen Friedensentscheidungen den Grund bilden und die Richtung vorgeben möge.

Darüber hinaus ist das Gedächtnis der Horizont der Hoffnung: Oftmals kann im Dunkel der Kriege und der Konflikte die Erinnerung auch an eine kleine Geste der Solidarität, die man empfangen hat, zu mutigen und sogar heroischen Entscheidungen anregen, sie kann neue Energien in Bewegung setzen und neue Hoffnung in den Einzelnen und den Gemeinschaften entzünden.

Einen Weg des Friedens zu eröffnen und festzulegen ist eine Herausforderung, die umso komplexer ist, je zahlreicher und widersprüchlicher die Interessen sind, die bei Beziehungen zwischen Personen, Gemeinschaften und Nationen im Spiel sind. Es tut vor allem not, an das moralische Gewissen und an den persönlichen und politischen Willen zu appellieren. Den Frieden erlangt man nämlich in der Tiefe des menschlichen Herzens und der politische Wille muss immer wieder gestärkt werden, um neue Prozesse zu eröffnen, die Personen und Gemeinschaften versöhnen und vereinen.

Die Welt braucht keine leeren Worte, sondern glaubwürdige Zeugen, „Handwerker des Friedens“, die offen für den Dialog sind, ohne dabei jemanden auszuschließen oder zu manipulieren. In der Tat kann man nicht wirklich zum Frieden gelangen, wenn es keinen überzeugten Dialog von Männern und Frauen gibt, die über die verschiedenen Ideologien und Meinungen hinaus nach der Wahrheit suchen. Der Frieden ist eine »immer wieder neu zu erfüllende Aufgabe« , ein Weg, den wir gemeinsam gehen, indem wir auf das Gemeinwohl bedacht sind und uns dafür einsetzen, das gegebene Wort zu halten und das Recht zu achten. Im gegenseitigen Zuhören können auch die Kenntnis und die Wertschätzung des anderen so sehr wachsen, dass man im Feind das Antlitz eines Bruders erkennt.

Der Friedensprozess ist also eine Aufgabe, die Zeit braucht. Er ist eine geduldige Arbeit der Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit, die das Gedächtnis an die Opfer ehrt und schrittweise eine gemeinsame Hoffnung eröffnet, die stärker ist als die Rache. In einem Rechtsstaat kann die Demokratie ein bedeutendes Paradigma dieses Prozesses sein, wenn sie auf Gerechtigkeit und auf dem Einsatz für den Schutz der Rechte aller in der beständigen Suche nach Wahrheit gründet, insbesondere, wenn sie schwach oder ausgegrenzt sind. Es geht um den sozialen Aufbau und um eine wachsende Ausgestaltung, in der jeder verantwortlich seinen Beitrag auf allen Ebenen der lokalen, nationalen und weltweiten Gemeinschaft beisteuert.

So hob der heilige Paul VI. hervor: »Das zweifache Bestreben nach Erlangung der Gleichheit und Mitverantwortung hängt aber mit der Förderung eines demokratischen Gesellschaftsstils zusammen. […] Damit ist die Bedeutung jener Institution für das gesellschaftliche Leben genannt, durch die nicht nur die Kenntnis der persönlichen Rechte weitergegeben, sondern auch das ins Gedächtnis zurückgerufen wird, was mit ihnen notwendig zusammenhängt: die Anerkennung der Pflichten, zu denen der eine dem anderen gegenüber gehalten ist. Bewusstsein und Wahrnehmung der damit verbundenen Aufgabe aber hängen vor allem wieder von der persönlichen Einstellung, von der geistigen Selbstzucht, von der Übernahme von Verantwortung und von der Einwilligung in Reglements ab, durch die sowohl für den Einzelnen als auch für einzelne Gruppen bestimmte Freiheitsgrenzen festgelegt werden.«

Im Gegenteil, der Bruch zwischen den Mitgliedern einer Gesellschaft, die Zunahme sozialer Ungleichheit und die Ablehnung, die Mittel für eine ganzheitliche menschliche Entwicklung zu gebrauchen, gefährden die Verwirklichung des Gemeinwohls. Die geduldige Arbeit hingegen, die auf der Kraft des Wortes und der Wahrheit gründet, kann in den Personen die Fähigkeit zu Mitleid und kreativer Solidarität wiedererwecken.

In unserer christlichen Erfahrung haben wir stets Christus vor Augen, der sein Leben zu unserer Versöhnung hingegeben hat (vgl. Röm 5,6-11). Die Kirche nimmt an der Suche nach einer gerechten Ordnung auf umfassende Weise teil, indem sie dem Gemeinwohl dient und durch die Weitergabe der christlichen Werte, durch moralische Unterweisung und ihr soziales und erzieherisches Wirken die Hoffnung auf Frieden nährt.

3. Der Frieden als Weg der Versöhnung in geschwisterlicher Gemeinschaft

Die Bibel ruft – besonders durch das Wort der Propheten – die Gewissen und die Völker zum Bund Gottes mit den Menschen. Es geht darum, den Wunsch aufzugeben, über die anderen zu herrschen, und zu lernen, einander als Menschen, als Kinder Gottes, als Brüder und Schwestern anzusehen. Der andere darf niemals auf das reduziert werden, was er sagen oder machen konnte, sondern muss im Hinblick auf die Verheißung, die er in sich trägt, geachtet werden. Nur wenn der Weg der Achtung gewählt wird, kann man die Spirale der Rache aufbrechen und den Weg der Hoffnung beschreiten.

Hier leitet uns der Abschnitt aus dem Evangelium, der das folgende Gespräch zwischen Petrus und Jesus wiedergibt: » „Herr, wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er gegen mich sündigt? Bis zu siebenmal?“ Jesus sagte zu ihm: „Ich sage dir nicht: Bis zu siebenmal, sondern bis zu siebzigmal siebenmal“ « (Mt 18,21-22). Dieser Weg der Versöhnung ruft uns auf, tief in unserem Herzen die Kraft zur Vergebung zu finden sowie die Fähigkeit, uns als Brüder und Schwestern zu erkennen. Wenn wir in der Vergebung zu leben lernen, dann wächst unsere Fähigkeit, Frauen und Männer des Friedens zu werden.

Was für den Frieden im sozialen Bereich zutrifft, das stimmt auch im politischen und wirtschaftlichen Bereich, weil die Frage des Friedens alle Dimensionen des gemeinschaftlichen Lebens durchdringt: Es wird nie einen wahren Frieden geben, wenn wir nicht in der Lage sind, ein gerechteres Wirtschaftssystem aufzubauen. So schrieb vor zehn Jahren Benedikt XVI. in der Enzyklika Caritas in veritate: »Die Überwindung der Unterentwicklung erfordert ein Eingreifen nicht nur zur Verbesserung der auf Gütertausch beruhenden Transaktionen, nicht nur im Bereich der Leistungen der öffentlichen Hilfseinrichtungen, sondern vor allem eine fortschreitende Offenheit auf weltweiter Ebene für wirtschaftliche Tätigkeiten, die sich durch einen Anteil von Unentgeltlichkeit und Gemeinschaft auszeichnen« (Nr. 39).

4. Der Frieden als Weg der ökologischen Umkehr

»Wenn ein falsches Verständnis unserer eigenen Grundsätze uns auch manchmal dazu geführt hat, die schlechte Behandlung der Natur oder die despotische Herrschaft des Menschen über die Schöpfung oder die Kriege, die Ungerechtigkeit und die Gewalt zu rechtfertigen, können wir Glaubenden erkennen, dass wir auf diese Weise dem Schatz an Weisheit, den wir hätten hüten müssen, untreu gewesen sind.«

Angesichts der Folgen unserer Feindseligkeit den anderen gegenüber und der Auswirkungen der fehlenden Achtung für das gemeinsame Haus und der missbräuchlichen Ausbeutung der natürlichen Ressourcen – einzig als Mittel für schnellen Profit heute gesehen, ohne auf die Gemeinschaften vor Ort, das Gemeinwohl und die Natur zu achten – brauchen wir eine ökologische Umkehr.

Die kürzlich stattgefundene Amazonien-Synode drängt uns, wieder neu zu einer friedlichen Beziehung zwischen den Gemeinschaften und der Erde, zwischen der Gegenwart und dem Gedächtnis, zwischen Erfahrungen und Hoffnungen aufzurufen.

Dieser Weg der Versöhnung bedeutet auch, die Welt zu hören und zu betrachten, die uns von Gott geschenkt wurde, damit wir sie zu unserem gemeinsamen Haus machen. Die natürlichen Ressourcen, die vielen Formen des Lebens und die Erde selbst wurden uns nämlich anvertraut, damit sie unter verantwortlicher und tätiger Mitwirkung eines jeden auch für die künftigen Generationen „bearbeitet und gehütet“ würden (vgl. Gen 2,15). Ferner brauchen wir einen Wandel der Überzeugungen und des Blicks, der uns offener macht für die Begegnung mit dem anderen und für die Annahme des Geschenks der Schöpfung, die die Schönheit und Weisheit ihres Schöpfers widerspiegelt.

Daraus entspringen insbesondere solide Beweggründe und eine neue Art und Weise, wie wir das gemeinsame Haus bewohnen und in unserer Verschiedenheit füreinander da sein sollen, wie wir das empfangene und gemeinsame Leben führen und achten sollen, wie wir uns um die Voraussetzungen und Modelle einer Gesellschaft, welche die Blüte und den Verbleib des Lebens in der Zukunft sichern, kümmern sollen und wie wir das Gemeinwohl der ganzen Menschheitsfamilie fördern sollen.

Die ökologische Umkehr, zu der wir aufrufen, führt uns also zu einem neuen Blick auf das Leben. Dabei betrachten wir die Freigebigkeit des Schöpfers, der uns die Erde geschenkt hat und zur frohen Genügsamkeit des Teilens mahnt. Eine solche Umkehr ist ganzheitlich zu verstehen, als eine Veränderung unserer Beziehungen zu unseren Schwestern und Brüdern, zu den anderen Lebewesen, zur Schöpfung in ihrer so reichen Vielfalt und zum Schöpfer, dem Urgrund allen Lebens. Für Christen heißt dies, dass sie verlangt, »alles, was ihnen aus ihrer Begegnung mit Jesus Christus erwachsen ist, in ihren Beziehungen zu der Welt, die sie umgibt, zur Blüte zu bringen« .

5. Man erlangt so viel, wie man erhofft

Der Weg der Versöhnung erfordert Geduld und Vertrauen. Man erhält keinen Frieden, wenn man ihn nicht erhofft.

Es geht vor allem darum, an die Möglichkeit des Friedens zu glauben, zu glauben, dass der andere ebenso wie wir Frieden braucht. Darin kann uns die Liebe Gottes zu einem jeden von uns inspirieren, die eine befreiende, uneingeschränkte, unentgeltliche und unermüdliche Liebe ist.

Die Angst ist oft Quelle von Konflikten. Es ist daher wichtig, dass wir unsere menschliche Furcht überwinden und uns zugleich vor dem als bedürftige Kinder erkennen, der uns wie der Vater des verlorenen Sohns liebt und erwartet (vgl. Lk 15,11-24). Die Kultur der Begegnung zwischen Brüdern und Schwestern bricht mit der Kultur der Bedrohung. Sie macht aus jeder Begegnung eine Möglichkeit und eine Gabe der freigebigen Liebe Gottes. Sie leitet uns, die Grenzen unserer engen Horizonte zu überschreiten, um immer bestrebt zu sein, die Brüderlichkeit aller Menschen als Söhne und Töchter des einen himmlischen Vaters zu leben.

Für die Jünger Christi wird dieser Weg auch vom Sakrament der Versöhnung getragen, das der Herr zur Vergebung der Sünden der Getauften geschenkt hat. Dieses Sakrament der Kirche, das die Menschen und Gemeinschaften erneuert, ruft dazu auf, den Blick auf Jesus gerichtet zu halten, der »alles im Himmel und auf Erden« versöhnt hat und »der Frieden gestiftet hat am Kreuz durch sein Blut« (Kol 1,20). Dieses Sakrament verlangt zudem, jede Gewalt in Gedanken, Worten und Werken sowohl gegen den Nächsten als auch gegen die Schöpfung abzulegen.

Die Gnade Gottes des Vaters wird als bedingungslose Liebe geschenkt. Wenn wir in Christus seine Vergebung empfangen haben, können wir uns auf den Weg machen, um diese Vergebung den Männern und Frauen unserer Zeit anzubieten. Tag für Tag gibt uns der Heilige Geist Haltungen und Worte ein, damit wir zu „Handwerkern“ der Gerechtigkeit und des Friedens werden.

Möge der Gott des Friedens uns segnen und uns zu Hilfe kommen.

Möge Maria, die Mutter des Friedensfürsten und die Mutter aller Völker der Erde, uns Schritt für Schritt auf dem Weg der Versöhnung begleiten und unterstützen.

Möge jeder Mensch in dieser Welt ein friedliches Dasein finden und die Verheißung von Liebe und Leben, die er in sich trägt, vollkommen entfalten.

Aus dem Vatikan, am 8. Dezember 2019

Franziskus

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Quelle

Die Papstbotschaft zum Weltfriedenstag im Wortlaut

Papst Franziskus (ANSA)

Hier lesen Sie die Botschaft des Papstes zum Weltfriedenstag, der jeweils am 1. Januar begangen wird. Es handelt sich um eine offizielle deutsche Übersetzung.

Gute Politik steht im Dienste des Friedens

 

1.               „Friede diesem Haus!“

Als Jesus seine Jünger aussandte, sagte er zu ihnen: »Wenn ihr in ein Haus kommt, so sagt als Erstes: Friede diesem Haus! Und wenn dort ein Sohn des Friedens wohnt, wird euer Friede auf ihm ruhen; andernfalls wird er zu euch zurückkehren« (Lk 10,5-6).

Frieden zu bringen steht im Mittelpunkt der Sendung der Jünger Christi. Und dieses Angebot richtet sich an alle, Männer und Frauen, die inmitten der Dramen und Gewalttaten der Menschheitsgeschichte auf Frieden hoffen.[1] Das „Haus“, von dem Jesus spricht, ist jede Familie, jede Gemeinschaft, jedes Land, jeder Kontinent, mit der jeweiligen Einzigartigkeit und Geschichte; gemeint ist insbesondere jeder Mensch, ohne Unterschiede und Diskriminierungen. Es geht dabei auch um unser „gemeinsames Haus“, um den Planeten, den Gott uns als Lebensraum zugewiesen hat und für den wir achtsam Sorge tragen sollen.

So soll dies auch mein Wunsch zu Beginn des neuen Jahres sein: „Friede diesem Haus!“

 

2.               Die Herausforderung guter Politik

Der Friede ist der Hoffnung ähnlich, über die der Dichter Charles Péguy sagt,[2] sie sei wie eine zarte Blume, die versucht, mitten unter den Steinen der Gewalt aufzugehen. Wir wissen, dass ein Machtstreben um jeden Preis zu Missbrauch und Ungerechtigkeit führt. Die Politik ist ein grundlegendes Mittel, um ein Gemeinwesen aufzubauen und das Tun des Menschen zu fördern; aber wenn sie von den Verantwortlichen nicht als Dienst an der menschlichen Gemeinschaft verstanden wird, kann sie zu einem Instrument der Unterdrückung und Ausgrenzung, ja sogar der Zerstörung werden.

»Wer der Erste sein will«, sagt Jesus, »soll der Letzte von allen und der Diener aller sein« (Mk 9,35). So hob auch Papst Paul VI. hervor:»Nimmt man den Bereich des Politischen auf seinen verschiedenen Ebenen – örtlich, regional, national und auf Weltebene – wirklich ernst, dann muss man zugeben, dass jeder einzelne Mensch die Pflicht hat, die konkrete Wirklichkeit und die Bedeutung der ihm verliehenen Entscheidungsfreiheit anzuerkennen und darum bemüht zu sein, in gleicher Weise das Wohl der Stadt, der Nation und der Menschheit zu verwirklichen.«[3]

In der Tat stellen die politische Funktion und Verantwortung eine ständige Herausforderung für alle dar, die das Mandat erhalten, ihrem Land zu dienen, die dort lebenden Menschen zu schützen und Voraussetzungen für eine würdige und gerechte Zukunft zu schaffen. Wenn sie sich in grundlegender Achtung des Lebens, der Freiheit und der Würde des Menschen vollzieht, kann die Politik wirklich zu einer hervorragenden Form der Nächstenliebe werden.

 

3.               Nächstenliebe und menschliche Tugenden für eine Politik im Dienste der Menschenrechte und des riedens

Papst Benedikt XVI. erinnerte daran, dass »jeder Christ […] zu dieser Nächstenliebe aufgerufen [ist], in der Weise seiner Berufung und entsprechend seinen Einflussmöglichkeiten in der Polis. […] Wenn der Einsatz für das Gemeinwohl von der Liebe beseelt ist, hat er eine höhere Wertigkeit als der nur weltliche, politische. […] Wenn das Handeln des Menschen auf Erden von der Liebe inspiriert und unterstützt wird, trägt es zum Aufbau jener universellen Stadt Gottes bei, auf die sich die Geschichte der Menschheitsfamilie zubewegt.«[4] Dies ist ein Programm, in dem sich alle Politiker unabhängig von ihrer kulturellen oder religiösen Zugehörigkeit wiederfinden können, die gemeinsam für das Wohl der Menschheitsfamilie arbeiten wollen, indem sie die menschlichen Tugenden praktizieren, die einem guten politischen Handeln zugrunde liegen: Gerechtigkeit, Gleichheit, gegenseitiger Respekt, Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit und Treue.

In diesem Zusammenhang verdienen es die „Seligpreisungen des Politikers“, in Erinnerung gerufen zu werden, die vom 2002 verstorbenen vietnamesischen Kardinal François-Xavier Nguyễn Vãn Thuận stammen, der ein treuer Zeuge des Evangeliums war:

 

Selig der Politiker, der ein seiner Rolle entsprechendes Bewusstsein und Gewissen hat.

Selig der Politiker, der als Person glaubwürdig ist.

Selig der Politiker, der für das Gemeinwohl arbeitet und nicht für seine eigenen Interessen.

Selig der Politiker, der kohärent bleibt.

Selig der Politiker, der Einheit schafft.

Selig der Politiker, der sich für die Verwirklichung radikalen Wandels einsetzt.

Selig der Politiker, der zuhören kann.

Selig der Politiker, der keine Angst hat.[5]

 

Jede Wahl von Amtsträgern, jede Amtsperiode, jede Phase des öffentlichen Lebens ist eine Gelegenheit, zur Quelle und zu den Bezugspunkten zurückzukehren, die die Gerechtigkeit und das Recht inspirieren. Wir sind davon überzeugt: Gute Politik steht im Dienste des Friedens; sie achtet und fördert die grundlegenden Menschenrechte, die ebenso gegenseitige Pflichten sind, damit ein Band des Vertrauens und der Dankbarkeit zwischen gegenwärtigen und kommenden Generationen geknüpft werden kann.

 

4.         Die Laster der Politik

Neben den Tugenden gibt es leider auch in der Politik Laster, die sowohl auf mangelnde persönliche Eignung wie auch auf Missstände im Umfeld und in den Institutionen zurückzuführen sind. Es ist allen klar, dass die Laster der Politik die Glaubwürdigkeit der Systeme, in denen sie stattfindet, sowie die Autorität, die Entscheidungen und das Handeln der Menschen, die sich dort einsetzen, untergraben. Diese Laster schwächen das Ideal einer echten Demokratie, sie sind die Schande des öffentlichen Lebens und gefährden den sozialen Frieden: Korruption – in ihren vielen Formen der Veruntreuung von öffentlichem Eigentum oder der Instrumentalisierung von Menschen –, Rechtsverweigerung, Missachtung von Gemeinschaftsregeln, illegale Bereicherung, Rechtfertigung der Macht durch Gewalt oder unter dem willkürlichen Vorwand der „Staatsräson“, der Hang zum Machterhalt, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, die Weigerung, achtsam mit der Erde umzugehen, eine unbegrenzte Ausbeutung der natürlichen Ressourcen für den unmittelbaren Profit und die Verachtung für die, die zu einem Leben in der Fremde gezwungen sind.

 

5.         Gute Politik fördert die Beteiligung junger Menschen und das Vertrauen in andere

Wenn die Ausübung der politischen Macht einzig auf die Wahrung der Interessen bestimmter privilegierter Personen abzielt, wird die Zukunft beeinträchtigt; junge Menschen stehen in Gefahr, ihr Vertrauen zu verlieren, weil sie dazu verurteilt sind, am Rande der Gesellschaft zu bleiben, und keine Möglichkeit haben, die Zukunft mitzugestalten. Wenn die Politik hingegen in der Förderung junger Talente und Berufungen, die nach Verwirklichung streben, einen konkreten Ausdruck findet, wird der Frieden in den Gewissen wachsen und auch auf den Gesichtern sichtbar sein. Es kommt zu einem dynamischen Vertrauen im Sinne von: Ich vertraue dir und glaube mit dir an die Möglichkeit, gemeinsam für das Gemeinwohl zu arbeiten. Politik dient dem Frieden, wenn sie sich in der Anerkennung der Charismen und Fähigkeiten eines jeden Menschen ausdrückt. »Was gibt es schöneres als eine hingereichte Hand? Sie ist von Gott, um zu geben und zu empfangen. Gott hat nicht gewollt, dass sie tötet (vgl. Gen 4,1ff) oder dass sie leiden lässt, sondern dass sie sorgt und zu leben hilft. Neben dem Herzen und dem Verstand kann auch die Hand zu einem Werkzeug des Dialogs werden.«[6]

Jeder kann mit seinem eigenen Stein einen Beitrag zum Bau des gemeinsamen Hauses erbringen. Echte Politik, die sich auf Recht und ehrlichen Dialog zwischen den Personen gründet, entsteht immer neu aus der Überzeugung heraus, dass mit jeder Frau, jedem Mann und jeder Generation die Hoffnung auf neue relationale, intellektuelle, kulturelle und spirituelle Möglichkeiten verbunden ist. Ein solches Vertrauen ist nie einfach, denn menschliche Beziehungen sind komplex. So leben wir momentan in einem Klima des Misstrauens, das in der Angst vor dem anderen oder Fremden, in der Angst vor dem Verlust der eigenen Vorteile wurzelt und sich leider auch auf politischer Ebene durch eine Haltung der Abschottung oder des Nationalismus manifestiert, die jene Brüderlichkeit in Frage stellen, die unsere globalisierte Welt so dringend braucht. Unsere Gesellschaften brauchen heute mehr denn je „Gestalter des Friedens“, die authentische Botschafter und Zeugen Gottes des Vaters sein können, der das Wohl und das Glück der Menschheitsfamilie will.

 

6.         Nein zum Krieg und zur Strategie der Angst

Wenn wir hundert Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs an die jungen Menschen, die bei diesen Kämpfen starben, und an die gequälte Zivilbevölkerung denken, verstehen wir heute besser als gestern die schreckliche Lehre aus den Bruderkriegen, dass nämlich Frieden sich niemals auf das bloße Gleichgewicht der Kräfte und der Angst beschränken kann. Den anderen zu bedrohen bedeutet, ihn zum bloßen Objekt zu machen und ihm seine Würde abzusprechen. Aus diesem Grund bekräftigen wir, dass die Eskalation von Einschüchterung wie auch die unkontrollierte Verbreitung von Waffen gegen die Moral und das Bemühen um wirkliche Eintracht verstoßen. Der Terror gegen die Schwächsten trägt dazu bei, dass ganze Bevölkerungsgruppen auf der Suche nach Orten des Friedens ins Exil gehen. Nicht tragbar sind politische Diskurse, welche die Migranten aller Übel beschuldigen und den Armen die Hoffnung nehmen. Stattdessen muss betont werden, dass der Frieden auf der Achtung jedes Menschen unabhängig von seiner Geschichte, auf der Achtung des Gesetzes und des Gemeinwohls sowie der uns anvertrauten Schöpfung und des reichen sittlichen Erbes früherer Generationen beruht.

Wir denken insbesondere auch an die Kinder, die in den derzeitigen Konfliktgebieten leben, und an all diejenigen, die sich für den Schutz ihres Lebens und ihrer Rechte einsetzen. In der Welt ist jedes sechste Kind von der Gewalt des Krieges oder ihren Folgen betroffen, wenn es nicht sogar selbst Soldat oder Geisel bewaffneter Gruppen wird. Das Zeugnis derer, die sich für die Achtung der Kinder und die Verteidigung ihrer Würde einsetzen, ist äußerst wertvoll für die Zukunft der Menschheit.

 

7.         Ein großes Friedensprojekt

In diesen Tagen feiern wir den siebzigsten Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die nach dem Zweiten Weltkrieg verabschiedet wurde. Erinnern wir uns in diesem Zusammenhang an eine Feststellung von Papst Johannes XXIII.: »Wenn aber in einem Menschen das Bewusstsein seiner Rechte erwacht, so ist es notwendig, dass in ihm auch das Bewusstsein seiner Pflichten erwacht, sodass dem, der gewisse Rechte hat, in gleicher Weise die Pflicht innewohnt, seine Rechte als Zeichen seiner Würde einzufordern; den anderen aber wohnt die Pflicht inne, diese Rechte anzuerkennen und zu achten.«[7]

Der Frieden ist in der Tat das Ergebnis eines großen politischen Projekts, das auf der gegenseitigen Verantwortung und der wechselseitigen Abhängigkeit der Menschen beruht. Aber er ist auch eine Herausforderung, der man sich Tag für Tag stellen muss. Frieden ist eine Bekehrung von Herz und Seele, und es ist leicht, drei untrennbare Dimensionen dieses inneren und gemeinschaftlichen Friedens auszumachen:

 

–        Frieden mit sich selbst: Unnachgiebigkeit, Wut und Ungeduld zurückweisen und – wie der heilige Franz von Sales riet – „ein wenig Sanftmut an sich selbst“ üben, um „anderen ein wenig Sanftmut“ zu erweisen;

–        Frieden mit dem anderen: mit dem Familienangehörigen, dem Freund, dem Fremden, dem Armen, dem Leidenden …; den Mut haben, ihnen zu begegnen, und ihrer Botschaft zuhören;

–        Frieden mit der Schöpfung: die Größe des Geschenks Gottes und seinen Teil der Verantwortung wiederentdecken, der jedem von uns als Bewohner der Welt, als Bürger und Gestalter der Zukunft aufgegeben ist.

Eine Friedenspolitik, die um die menschlichen Schwächen weiß und sich ihrer annimmt, kann immer aus dem Geist des Magnifikats schöpfen, das Maria, die Mutter Christi, des Erlösers, und die Königin des Friedens, im Namen aller Menschen singt: »Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht über alle, die ihn fürchten. Er vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten: Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind; er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen […] und denkt an sein Erbarmen, das er unseren Vätern verheißen hat, Abraham und seinen Nachkommen auf ewig« (Lk 1,50-55).

 

Aus dem Vatikan, am 8. Dezember 2018

 

FRANZISKUS

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ERÖFFNUNG EINES KURSES FÜR DIPLOMATEN
AUS ISLAMISCHEN LÄNDERN AN DER
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ANSPRACHE VON KARDINAL TARCISIO BERTONE

Montag, 7. Mai 2007

Der interreligiöse Dialog als Weg zum Frieden

Hochwürdige Patres,
verehrte Autoritäten,
meine Damen und Herren!

Ich möchte die Organisatoren und die Teilnehmer an dem Kurs »Die katholische Kirche und die internationale Politik des Heiligen Stuhls« für Diplomaten aus den Ländern des Mittelmeerraumes und des Nahen Ostens ehrerbietig begrüßen. Besonders danke ich dem Hw. Pater Franco Imoda, Präsident der Stiftung »La Gregoriana«, in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Kurses, und Professor Roberto Papini, Generalsekretär des internationalen Instituts »Jacques Maritain«, als ausführendem Direktor des Kurses. Meine Anerkennung gilt auch dem Hw. P. Gianfranco Ghirlanda, Rector Magnificus der Päpstlichen Universität Gregoriana, die uns Gastfreundschaft gewährt. Schließlich richte ich an Sie alle einen herzlichen und freundschaftlichen Gruß. Diese Initiative, an der angesehene Institutionen mitwirken, erscheint in der aktuellen geschichtlichen Situation notwendiger denn je, um qualifizierte Vertreter der muslimischen Welt in angemessener Weise mit dem Denken und der Tätigkeit der katholischen Kirche bekannt zu machen. Das gegenseitige Kennenlernen ist in der Tat der erste und notwendige Schritt, um eine harmonische Entwicklung des Dialogs und eine dauerhafte und gewinnbringende Zusammenarbeit sicherzustellen.

Das mir vorgeschlagene Thema – »Der interreligiöse Dialog als Weg zum Frieden« – ist anregend und aktueller denn je bei der Suche nach dem Dialog zwischen den Religionen sowie für die Zukunftsperspektiven der Welt. Darum bewahrt der Heilige Stuhl ständiges und aufrichtiges Interesse am Dialog.

Das hat der Heilige Vater Benedikt XVI. bei der Begegnung mit den Vertretern einiger muslimischer Gemeinden am 20. August 2005 in Köln klar ausgesprochen: »Der interreligiöse und interkulturelle Dialog zwischen Christen und Muslimen darf nicht auf eine Saisonentscheidung reduziert werden. Tatsächlich ist er eine vitale Notwendigkeit, von der zum großen Teil unsere Zukunft abhängt.« Hier sehen wir den religiösen Dialog im Dienst des Friedens. Die Suche nach Frieden liegt bekanntlich dem Heiligen Stuhl sehr am Herzen. Ich werde mich darauf beschränken, einige ausdrückliche Bezugnahmen auf dieses Thema anzuführen, welche in den Botschaften enthalten sind, die der Papst seit über dreißig Jahren anläßlich des Weltfriedenstages an die Staatsoberhäupter, an die Katholiken und an die Menschen guten Willens sendet.

1. Der Dialog für den Frieden, eine Herausforderung für unsere Zeit

Das Thema der Botschaft zum Weltfriedenstag 1983 lautete: »Der Dialog für den Frieden: eine Herausforderung für unsere Zeit.« Darin sagte der verehrte Papst Johannes Paul II., er sei zutiefst davon überzeugt, daß der Dialog – ein echter Dialog – eine wesentliche Bedingung für den Frieden ist, und bemerkte: »Ja, dieser Dialog ist notwendig, nicht nur opportun; er ist schwierig, aber möglich, trotz der Hindernisse, die wir, realistisch gesehen, dabei beachten müssen. Er stellt deshalb eine echte Herausforderung dar, die ich euch bitte, anzunehmen« (Insegnamenti Giovanni Paolo II, 1982/III, S. 1542). Und er fügte hinzu: ein echter Dialog geht aus »von der Suche nach dem Wahren, dem Guten und dem Gerechten für jeden Menschen, für jede Gruppe und jede Gesellschaft« (ebd., S. 1545). Der Dialog verlangt daher eine wirkliche Öffnung und gegenseitige Annahme in Respekt und Verständnis für die Verschiedenheit und die Besonderheit des anderen. Zugleich ist der Dialog Suche nach dem, was den Menschen gemeinsam ist und ihnen, auch inmitten von Spannungen, Widerständen und Konflikten, gemeinsam bleibt. Alles in allem ist der wahre Dialog die Suche nach dem Guten mit friedlichen Mitteln; er ist eine Anerkennung der unveräußerlichen Würde der Menschen und stützt sich auf die Achtung vor dem menschlichen Leben.

2. Dialog zwischen den Kulturen für eine Zivilisation der Liebe und des Friedens

Im Jahr 2001 hatte die Botschaft zum Weltfriedenstag als Thema »Dialog zwischen den Kulturen für eine Zivilisation der Liebe und des Friedens.« In einer Analyse über den Dialog zwischen den verschiedenen Kulturen und Traditionen der Völker zeigte der Heilige Vater im Dialog den notwendigen Weg für den Aufbau einer versöhnten Welt auf, die fähig ist, mit Gelassenheit in ihre Zukunft zu blicken. Die Kultur – schrieb er – ist die qualifizierte Äußerung des Menschen und seiner Geschichte. Menschsein bedeutet notwendigerweise Leben in einer bestimmten Kultur. Wenn es daher einerseits darauf ankommt, daß man die Werte der eigenen Kultur zu schätzen weiß, so ist andererseits das Bewußtsein erforderlich, daß jede Kultur, da sie ein typisch menschliches und geschichtlich bedingtes Produkt ist, notwendigerweise auch Grenzen einschließt. Ein wirksames Mittel dagegen, daß das kulturelle Zugehörigkeitsgefühl zur Abschottung wird, ist das unparteiliche, nicht von negativen Vorurteilen bestimmte Kennenlernen der anderen Kulturen (vgl. Nr. 7) (Insegnamenti Giov. Paolo II, 2000/II, S. 1066–1067). Wir können somit sagen – wie kürzlich von Seiner Exzellenz Francesco Follo bei der 176. Sitzung des Exekutivrates der UNESCO betont wurde –, daß die verschiedenen Kulturen, auch wenn sie von unterschiedlichen Interpretationen der Wirklichkeit geprägt sind, in der Grunderfahrung der menschlichen Situation, wo es um Fragen über Geburt und Tod, über Arbeit, Krankheit, soziale Ungerechtigkeit, die Erhaltung unseres Planeten geht, tief miteinander verbunden sind.

Unter diesem Aspekt erweist sich der Dialog zwischen den Kulturen als ein inneres Erfordernis der Natur des Menschen und der Kultur; er trägt dazu bei, den Reichtum der Unterschiedlichkeit anzuerkennen, indem er die Herzen zur gegenseitigen Annahme bereit macht, im Ausblick auf eine echte Zusammenarbeit, wie sie der ursprünglichen Berufung der ganzen Menschheitsfamilie zur Einheit entspricht. Der Dialog als solcher ist ein hervorragendes Werkzeug, um die Zivilisation der Liebe und des Friedens zu verwirklichen, die Papst Paul VI. als das Ideal bezeichnete, von dem sich das kulturelle, soziale, politische und wirtschaftliche Leben unserer Zeit inspirieren lassen sollte.

Angesichts der wachsenden Ungleichheiten in der Welt ist der erste gemeinsame Wert, dessen Bewußtmachung stärker gefördert werden muß, sicher die Solidarität. Aber im Mittelpunkt einer authentischen Kultur der Solidarität steht die Förderung der Gerechtigkeit, die eng mit dem Wert des Friedens verbunden ist, dem Hauptziel jeder Gesellschaft und gemeinsamen Gut für ein wirkliches nationales und internationales Zusammenleben. Außerdem ist zu betonen, daß ein echter Dialog zwischen den Kulturen auch eine lebendige Sensibilität für den Wert des Lebens nähren muß, das niemals als willkürlich verfügbares Objekt betrachtet werden darf, sondern als die heiligste und unantastbare Wirklichkeit. Wenn der Schutz eines so grundlegenden Gutes vernachlässigt wird, kann es keinen Frieden geben; man kann nicht zum Frieden aufrufen und das Leben mißachten.

3. Die Gläubigen vereint im Aufbau des Friedens: Der interreligiöse Dialog als Weg zum Frieden

Was die Rolle der Religion und des interreligiösen Dialogs zugunsten des Friedens betrifft, scheint mir die Botschaft zum Weltfriedenstag 1992 von großem Interesse. In ihr hebt Johannes Paul II. mehrmals die Aufgabe der Gläubigen hervor, die »ja auf Grund ihres Glaubens – als einzelne und alle zusammen – dazu berufen sind, Boten und Baumeister des Friedens zu sein« (Insegnamenti G.P. II, 1991/II, S. 1332). Das ist nicht die Aufgabe einer Elite, einer »Nische«, wie man heute sagt, sondern »sie betrifft jeden Menschen guten Willens« (ebd.), auch wenn diese »Verpflichtung allen dringend auferlegt ist, die sich zum Glauben an Gott bekennen« (ebd.).

In den heiligen Büchern der verschiedenen Religionen nimmt der Bezug zum Frieden im Rahmen des Lebens des Menschen und seiner Beziehung zu Gott einen wichtigen Platz ein. In diesem Zusammenhang bemerkt Papst Wojtyla: »Religiöses Leben muß, wenn es authentisch gelebt wird, Früchte des Friedens und der Brüderlichkeit hervorbringen« (ebd., Nr. 2, S. 1333).

Man versteht also leicht die Bedeutung des Gebets für den Frieden als Faktor der Begegnung und Einheit, »wo Ungleichheiten, Unverständnis, Groll und Feindseligkeiten überwunden werden, nämlich vor Gott, dem Herrn und Vater aller« (ebd., Nr. 4, S. 1335). Zur Friedensförderung müssen zusammen mit dem Gebet die interreligiösen Kontakte und der ökumenische Dialog in Gang gebracht werden. »Dank diesen Formen der Gegenüberstellung und des Austausches« – schreibt Johannes Paul II. – »konnten sich die Religionen ihrer gewiß nicht leichten Verantwortung hinsichtlich des wahren Wohles der ganzen Menschheit klarer bewußt werden … Ein solches Vorgehen der Gläubigen kann entscheidend sein für die Befriedung der Völker und die Überwindung der immer noch bestehenden Spaltungen zwischen ›Zonen‹ und ›Welten‹« (ebd., Nr. 5, S. 1335–1336). Und er schließt: »Die interreligiösen Kontakte scheinen neben dem ökumenischen Dialog nunmehr die vorgeschriebenen Wege zu sein, damit so viele schmerzliche Verletzungen, die im Laufe der Jahrhunderte geschehen sind, nicht mehr vorkommen und die noch vorhandenen schnell geheilt werden« (ebd., Nr. 6, S. 1336).

4. Das interreligiöse Gebetstreffen von Assisi

Als historisches Ereignis, als Meilenstein im interreligiösen Dialog im Dienst des Friedens hat sich das Treffen vom 27. Oktober 1986 in Assisi erwiesen. Im Abstand von zwanzig Jahren hat Papst Benedikt XVI. am 2. September 2006 in einem Schreiben zur Erinnerung an jenes Ereignis ausgeführt, daß die Einladung an die Führer der Weltreligionen zu einem vielstimmigen Zeugnis für den Frieden damals dazu diente, unmißverständlich klarzustellen, daß die Religion nichts anderes sein könne als Verkünderin des Friedens. Das ist eine Auffassung, die in der Erklärung Nostra aetate des II. Vatikanischen Konzils über die Beziehungen der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen nachdrücklich unterstrichen wird, wo es in Nr. 5 heißt: »Wir können aber Gott, den Vater aller, nicht anrufen, wenn wir irgendwelchen Menschen, die ja nach dem Ebenbild Gottes geschaffen sind, die brüderliche Haltung verweigern«. Und der Papst fährt fort: »Trotz der Unterschiede, die die verschiedenen religiösen Wege kennzeichnen, muß die Erkenntnis der Existenz Gottes, zu der die Menschen auch dann gelangen können, wenn sie von der Erfahrung der Schöpfung ausgehen (vgl. Röm 1,20), die Gläubigen veranlassen, die anderen Menschen als Brüder zu betrachten. Niemand darf also religiöse Unterschiede als Voraussetzung oder Vorwand für eine feindselige Haltung anderen Menschen gegenüber nehmen«. Und die Religionskriege? »Derartige Gewaltakte« – signalisiert Benedikt XVI. – »sind nicht der Religion als solcher zuzuschreiben, sondern vielmehr der kulturellen Begrenzung, mit der sie gelebt wird und sich im Laufe der Zeit entwickelt.«

Aber kommen wir für einen Augenblick auf Assisi, auf jenen 27. Oktober 1986 zurück, als der Diener Gottes Johannes Paul II. den Wert des Gebets bei der Friedensstiftung betonte, weil »der Friede zuallererst in den Herzen entstehen muß. Das Herz des Menschen ist der Ort des Eingreifens Gottes«. In einem Klima großen Interesses bat er alle um ein glaubwürdiges Gebet, das begleitet sein soll von Fasten und Ausdruck findet in der Wallfahrt, dem Symbol des Weges zur Begegnung mit Gott, und er erklärte, daß »das Gebet unsererseits die Umkehr des Herzens einschließt« (Insegnamenti G.P. II, 1986/II, S. 1253).

Um kein Mißverständnis über den Sinn dessen aufkommen zu lassen, was man bei diesem Treffen realisieren wollte, um das richtig zu verstehen, was man den »Geist von Assisi« zu nennen pflegt, ist es wichtig, nicht zu vergessen, wie sehr man darauf bedacht war, daß jenes interreligiöse Gebetstreffen keinen Anlaß zu synkretistischen Interpretationen auf relativistischer Grundlage gäbe. Um diesem Risiko vorzubeugen, erklärte Johannes Paul II. gleich zu Beginn: »Die Tatsache, daß wir hierhergekommen sind, beinhaltet nicht die Absicht, unter uns selbst einen religiösen Konsens zu suchen oder über unsere religiösen Überzeugungen zu verhandeln. Es bedeutet weder, daß die Religionen auf der Ebene einer gemeinsamen Verpflichtung gegenüber einem irdischen Projekt, das sie alle übersteigen würde, miteinander versöhnt werden könnten. Noch ist es eine Konzession an einen Relativismus in religiösen Glaubensfragen« (ebd., S. 1252).

5. Die Absage an den Terrorismus

Der aufrichtige Dialog zwischen den Religionen muß eine klare Absage an die Gewalt und an jede Art von Terrorismus enthalten. Nach den Geschehnissen vom 11. September 2001 hat Johannes Paul II. am 24. Januar 2002 noch einmal die Religionsführer nach Assisi zum Gebet für den Frieden zusammengerufen. Bei jener Gelegenheit sagte er klar und deutlich: »Darum ist es Pflicht, daß die Personen und religiösen Gemeinschaften der Gewalt, jeder Form von Gewalt, eine ganz klare und radikale Absage erteilen, angefangen von der Gewalt, die den Anspruch erhebt, sich als Religiosität zu bemänteln, indem sie sogar den heiligen Namen Gottes anruft, um den Menschen zu beleidigen. Die Beleidigung des Menschen ist letztlich eine Beleidigung Gottes. Niemals kann eine religiöse Zielsetzung die Gewaltanwendung des Menschen gegen den Menschen rechtfertigen« (Insegnamenti G.P. II, 2002/I, S. 1011). Und in der Botschaft zum Weltfriedenstag jenes Jahres 2002 hatte er als Thema gewählt: »Kein Friede ohne Gerechtigkeit, keine Gerechtigkeit ohne Vergebung«. In der Botschaft zu diesem jährlichen Anlaß verkündete er mit Nachdruck: »Der Terrorismus basiert auf der Verachtung des Lebens des Menschen. Deshalb bildet er nicht allein den Grund für unerträgliche Verbrechen, sondern stellt selbst ein wirkliches Verbrechen gegen die Menschheit dar, insofern er auf den Terror als politische und wirtschaftliche Strategie zurückgreift« (Insegnamenti G.P. II, 2001/II, S. 1083). Und an die religiösen Führer gewandt, fügte er hinzu: »Kein Verantwortlicher der Religionen kann daher dem Terrorismus gegenüber Nachsicht üben und noch weniger kann er ihn predigen« (ebd., S. 1085).

Auf den Terrorismus bezog sich auch Benedikt XVI. in der Botschaft zum Weltfriedenstag des Jahres 2006: »Bis zum heutigen Tag« – so schrieb er – »ist die Wahrheit des Friedens immer noch auf dramatische Weise gefährdet und geleugnet durch den Terrorismus, der mit seinen Drohungen und seinen kriminellen Handlungen imstande ist, die Welt im Zustand der Angst und der Unsicherheit zu halten« (Insegnamenti Benedetto XVI, 2005/I, S. 958). Und er fügt hinzu: »Es ist zu wünschen, daß man sich bei der Analyse der Ursachen des zeitgenössischen Phänomens des Terrorismus außer den Gründen politischen und sozialen Charakters auch die kulturellen, religiösen und ideologischen Motive vor Augen hält« (ebd., S. 959).

6. Förderung und Achtung der Menschenrechte

Die letzten Überlegungen meines Vortrags möchte ich der Förderung und Achtung der Menschenrechte widmen, ein Bereich, in dem der interreligiöse Dialog für den Aufbau des Friedens nützlicher denn je ist. Tatsächlich entsteht und festigt sich der Friede dann, wenn die Menschenrechte vollständig beachtet und respektiert werden. Der Heilige Stuhl ist der Überzeugung, daß dann feste und dauerhafte Fundamente für den Aufbau des Friedens gelegt werden, wenn die Förderung der Würde der menschlichen Person das inspirierende Leitprinzip darstellt, wenn die Suche nach dem Gemeinwohl die vorherrschende Aufgabe bildet. Wenn hingegen die Menschenrechte ignoriert oder mißachtet werden, wenn die Verfolgung von Sonderinteressen ungerechterweise über das Gemeinwohl gestellt werden, dann verbreiten sich unvermeidlich die Keime der Instabilität, der Auflehnung und der Gewalt.

Die »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte« hat als grundlegende Präambel die Feststellung, nach welcher die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Menschheitsfamilie die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet.

Papst Benedikt XVI. hat in der Botschaft zum Weltfriedenstag dieses Jahres, deren Thema »Der Mensch – Herz des Friedens« ist, bekräftigt, daß für den Aufbau einer friedlichen Gesellschaft und für die Gesamtentwicklung von Menschen, Völkern und Nationen die Verteidigung der Universalität und Unteilbarkeit der Menschenrechte wesentlich ist. Unter diesen Rechten möchte ich zwei herausgreifen, die heute besonders mehr oder weniger offenkundigen Verletzungen ausgesetzt sind: nämlich das Recht auf Leben und das Recht auf Religionsfreiheit. Das menschliche Leben ist heilig und muß von seiner Empfängnis bis zu seinem natürlichen Ende als solches betrachtet werden. Das ist ein unantastbares Recht, das die klare Ablehnung jeder Form von Gewalt einschließt.

Neben dem Recht auf Leben liegt der Kirche in gleicher Weise das Recht auf Religionsfreiheit am Herzen. In der Botschaft zum Weltfriedenstag 1999 schreibt Johannes Paul II.: »Die Religionsfreiheit bildet den Kern der Menschenrechte. Sie ist so unantastbar, daß sie fordert, daß der Person auch die Freiheit des Religionswechsels zuerkannt wird, wenn das Gewissen es verlangt. Denn jeder ist gehalten, dem eigenen Gewissen in jeder Situation zu folgen, und darf nicht gezwungen werden, gegen sein Gewissen zu handeln. Gerade deshalb darf niemand gezwungen werden, unbedingt eine bestimmte Religion anzunehmen, welche Umstände oder Beweggründe es auch immer dafür geben mag« (Insegnamenti G.P. II, 1998/II, S. 1218).

7. Schluß

In meinem Beitrag zur Eröffnung Ihrer Arbeiten wollte ich auf einige Stichworte aus den Überlegungen und der Aktivität des Heiligen Stuhls hinweisen, die den Lehren der Päpste über ein Thema von großer Aktualität entnommen sind.

Als Priester und jetzt als Kardinalstaatssekretär komme ich immer mehr zur Überzeugung, daß jedem Dialog zwischen Menschen das Einander- Zuhören und das gegenseitige Kennenlernen zugrunde liegen muß; es muß die Achtung vorhanden sein, die aus der Anerkennung des guten Willens des anderen und aus der Klarheit und Aufrichtigkeit bei der Darlegung der eigenen Positionen entsteht. Der interreligiöse Dialog im Dienst des Friedens macht eine »Reinigung« des Glaubens erforderlich, die das Herz für die Liebe öffnet; er erfordert letzten Endes eine ständige »Umkehr« zu Gott. Denn Gott allein kann das Herz des Menschen berühren und den Funken jener Liebe überspringen lassen, die zu Annahme und Vergebung und damit zur günstigen Voraussetzung für die Verteidigung und den Aufbau des Friedens wird.

Möge auch diese Begegnung zu einem gegenseitigen Kennenlernen und zur Achtung zwischen allen Teilnehmern werden und dazu dienen, die Tätigkeit des Heiligen Stuhls und den Geist, der ihn beseelt, besser kennenzulernen. Möge sie uns vor allem helfen, unermüdliche Friedensstifter in einer Welt zu werden, wo Gott nicht als fremd oder, schlimmer, als Feind des Glücks des Menschen gesehen wird, sondern als echter Freund der Menschheit, die er unter seinen Schutz nimmt. In der väterlichen Umarmung Gottes kann die Menschheitsfamilie nur zu einer freieren, gedeihlicheren und glücklicheren Menschheit wachsen.

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Quelle

Franziskus: Demut ist die Tugend der Starken

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Papst Franziskus beim Hochfest der Gottesmutter Maria, 1. Januar

Demut und Zärtlichkeit sind nicht Tugenden der Schwachen, sondern der Starken. Darüber hat Papst Franziskus am ersten Tag des Neuen Jahres gesprochen. Bei der Predigt zum Hochfest der Gottesmutter Maria, zugleich Weltfriedenstag, legte der Papst eine große marianische Predigt vor. Maria bewahre  die Welt vor dem „Krebsgeschwür“ der „spirituellen Verwaisung“, sagte Franziskus. Er erinnerte an das Wirken der Mütter in der Welt als das „stärkste Gegenmittel gegen unsere egoistischen Neigungen“ und bekannte, wie viel er selbst in seinem Leben als Priester von Müttern gelernt habe. Die Gabenprozession zum Hochfest der Gottesmutter gestalteten auch in diesem Jahr Sternsingerkinder aus dem deutschen Sprachraum.

In der Heiligen Schrift tritt uns Maria als „eine eher wortkarge Frau“ entgegen, „ohne Geltungssucht, aber mit einem aufmerksamen Blick“, sagte Franziskus. Die wichtigste ihrer Eigenschaften: Wärme. „Maria zeigt uns mit ihrer Mütterlichkeit, dass die Demut und die Zärtlichkeit nicht Tugenden der Schwachen, sondern der Starken sind; sie lehrt uns, dass es nicht nötig ist, andere schlecht zu behandeln, um sich wichtig zu fühlen“, so der Papst.

Franziskus stellte die Mutter in seiner Predigt als geradezu heilsbringende Gestalt der Gesellschaft heute vor. „Die Mütter sind das stärkste Gegenmittel gegen unsere individualistischen und egoistischen Neigungen, gegen unsere Formen des Sich-Verschließens und der Gleichgültigkeit. Eine Gesellschaft ohne Mütter wäre eine erbarmungslose Gesellschaft, die nur noch dem Kalkül und der Spekulation Raum gelassen hat.“

Mütter verstünden es, selbst in den schlimmsten Momenten Präsenz zu zeigen und in dieser Anwesenheit Liebe und Hoffnung zu spenden. „Ich habe viel gelernt von jenen Müttern, deren Söhne im Gefängnis sind oder entkräftet im Bett eines Krankenhauses liegen oder der Sklaverei der Droge verfallen sind, und die bei Kälte oder Hitze, bei Regen oder Dürre nicht aufgeben und weiter kämpfen, um ihnen das Beste zukommen zu lassen. Oder jene Mütter, denen es in den Flüchtlingslagern oder sogar inmitten des Krieges gelingt, ohne zu wanken das Leiden ihrer Kinder auf sich zu nehmen und ihnen Stütze zu sein. Mütter, die buchstäblich ihr Leben hingeben, damit keines ihrer Kinder verloren geht. Wo die Mutter ist, da gibt es Einheit, gibt es Zugehörigkeit, das Zusammengehören der Kinder.“

Mütter: Das Mittel schlechthin gegen „spirituelle Verwaisung“

Deshalb ist es aus Sicht von Franziskus heilsam und recht, das Neue Jahr mit Blick auf Maria zu beginnen. Der Gedanke an die Gottesmutter bewahre uns vor der zersetzenden Krankheit der „spirituellen Verwaisung“. Mit diesem Begriff umreißt Franziskus eine profunde Heimatlosigkeit, die in seiner Darstellung dazu führt, nur noch auf sich selbst blicken zu können und sich im Egoismus zu verschließen; eine Verwaisung, sagte der Papst, „die wir erleben, wenn in uns das Empfinden der Zugehörigkeit zu einer Familie, zu einem Volk, zu einem Land, zu unserem Gott erlischt.“

Wer eine solche Verwaisung erlebe, vergesse, „dass das Leben ein Geschenk gewesen ist – dass wir es anderen verdanken – und dass wir aufgefordert sind, es in diesem gemeinsamen Haus miteinander zu teilen“. Heimtückisch ist diese Verwaisung nach Darstellung von Franziskus, weil sie auf leisen Sohlen kommt und „die Seele zerfrisst. Und so verkommen wir allmählich, da ja niemand zu uns gehört und wir zu niemandem gehören: Ich verderbe die Erde, weil sie mir nicht gehört, ich entwürdige die anderen, weil sie mich nichts angehen, ich „entwürdige“ Gott, weil ich ihm nicht gehöre, und am Ende verderben und entwürdigen wir uns selbst, weil wir vergessen, wer wir sind und welch göttlichen „Familiennamen“ wir haben“.

Dagegen erinnere uns das Fest der heiligen Gottesmutter daran, „dass wir keine austauschbare Ware oder Empfangsstationen für Informationen sind. Wir sind Söhne und Töchter, wir sind Familie, wir sind Volk Gottes.“ Marias mütterlicher Blick befreie uns von der Verwaisung und lehre, „dass wir lernen müssen, das Leben auf die gleiche Weise und mit derselben Zärtlichkeit zu umsorgen, mit der sie es umsorgt hat: indem wir Hoffnung säen, Zugehörigkeit säen, und Brüderlichkeit säen.“ Zum Ende der Predigt lud der Papst die Gläubigen im Petersdom dazu ein, sich zu erheben und dreimal mit dem Ruf der Christen in Ephesus Maria anzurufen: Heilige Mutter Gottes!

(rv 01.01.2017 gs)

Papst verurteilt Machtstreben und Militarisierung

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Nichtresidierende Botschafter mit dem Papst im Apostolischen Palast

Franziskus hat erneut hegemoniales Machtstreben und Militarisierung verurteilt. Beim Antrittsbesuch von sechs nicht in Rom residierenden Botschaftern an diesem Donnerstagmorgen im Vatikan mahnte der Papst dazu, der Sorge für das Gemeinwohl gegenüber politischen Machtinteressen stets den Vorzug zu geben. Die Diplomaten kamen aus Burundi, Fidschi, Mauritius, Moldawien, Schweden und Tunesien.

Trotz der Kriege und Völkermorde des 20. Jahrhunderts gebe es in dieser Zeitspanne auch Beispiele von Völkern und ganzen Nationen, die „dank des Engagements gewaltfreier Führer (…) Freiheit und Gerechtigkeit erlangt“ hätten, und zwar „auf friedliche Weise“, schärfte Franziskus seinen Zuhörern ein, ohne einzelne Länder zu nennen: „Das ist der Weg, den es in der Gegenwart und Zukunft zu verfolgen gilt. Das ist der Weg des Friedens“, so der Papst, der in seiner Ansprache Gedanken seiner Botschaft zum kommenden Weltfriedenstag aufgriff. Allzu oft werde der Weg des Friedens nur scheinbar eingeschlagen, kritisierte das Kirchenoberhaupt. Tatsächlich würden dann aber „Machtstrategien verfolgt, die durch skandalöse Ausgaben für Waffen unterstützt werden, während viele Personen ohne das Lebensnotwendige blieben.“

Gewaltfreie Politik bedeute hingegen, „unter allen Umständen Gewalt als Methode der Konfliktlösung abzulehnen und Konflikte hingegen immer mittels Dialog und Verhandeln anzugehen“, so der Papst weiter. Hierbei könnten die Länder Burundi, Fidschi, Mauritius, Moldawien, Schweden und Tunesien auf die Unterstützung des Heiligen Stuhles zählen, versicherte Franziskus: „Es ist mein Wunsch und der des Heiligen Stuhles, zusammen mit den Regierungen eurer Länder diesen Prozess der Friedensförderung voranzubringen, wie auch die anderen Werte, die zu einer ganzheitlichen Entwicklung des Menschen und der Gesellschaft gehören.“

Unter den Botschaftern, die dem Papst an diesem Donnerstag ihre Beglaubigungsschreiben überreichten, sind zwei Frauen: Die Schwedin Cecilia Björner, die auch Deutsch spricht, sowie Else Nizigama Ntamagiro aus Burundi, die bereits Botschafterin ihres Landes in Deutschland ist. Weiter stellten sich dem Papst Jitoko Tikolevu aus der Republik Fidschi, Girish Nunkoo aus Mauritius, Vitalie Rusu aus Moldawien und Mourad Bourehla aus Tunesien offiziell vor.

(rv 15.12.2016 pr)

Papst Franziskus: Gewaltfreiheit – Stil einer Politik für den Frieden

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Die Taube, die nach der Sintflut zur Arche Noah mit einem Olivenzweig im Schnabel zurückkehrt, ist Symbol des Friedens

Wir dokumentieren die Papstbotschaft zum 50. Weltfriedenstag am 1. Januar 2017 im vollen Wortlaut.

 

Gewaltfreiheit: Stil einer Politik für den Frieden

1.         Am Anfang dieses neuen Jahres übermittle ich allen Völkern und Nationen der Welt, den Staats- und Regierungschefs sowie den Verantwortungsträgern der Religionsgemeinschaften und der verschiedenen Gruppierungen der Zivilgesellschaft meine tief empfundenen Glückwünsche für den Frieden. Jedem Mann, jeder Frau und jedem Kind wünsche ich Frieden und bete, dass das Abbild und die Ähnlichkeit Gottes in jedem Menschen uns gestatten, einander als heilige Gaben zu erkennen, die mit einer unermesslichen Würde ausgestattet sind. Respektieren wir vor allem in Konfliktsituationen  diese » tiefgründigste Würde «  und machen wir die aktive Gewaltfreiheit zu unserem Lebensstil.

Dies ist die Botschaft zum fünfzigsten Weltfriedenstag. In der ersten dieser Botschaften wendete sich der selige Papst Paul VI. an alle Völker – nicht nur an die Katholiken – mit unmissverständlichen Worten: » Es hat sich endlich ganz klar herausgestellt, dass der Friede der einzig wahre Weg menschlichen Fortschritts ist (nicht die Spannungen ehrgeiziger Nationalismen, nicht die gewaltsamen Eroberungen, nicht die Unterdrückungen, die eine falsche zivile Ordnung herbeiführen) «. Er warnte vor der » Gefahr zu glauben, dass die internationalen Streitigkeiten nicht auf dem Weg der Vernunft, d.h. der auf Recht,  Gerechtigkeit und Gleichheit gegründeten Verhandlungen zu lösen seien, sondern nur auf dem der Abschreckung und der tödlichen Gewalt «. Mit einem Zitat aus der Enzyklika Pacem in terris seines Vorgängers Johannes XXIII. pries er dagegen » den Sinn und die Begeisterung für den auf Wahrheit, Gerechtigkeit, Freiheit und Liebe gegründeten Frieden «.  Die Aktualität dieser Worte, die heute nicht weniger wichtig und dringlich sind als vor fünfzig Jahren, ist beeindruckend.

Aus diesem Anlass möchte ich näher auf die Gewaltfreiheit als Stil einer Politik für den Frieden eingehen und bitte Gott, uns allen zu helfen, auf die Gewaltfreiheit in der Tiefe unserer Gefühle und persönlichen Werte zurückzugreifen. Mögen unsere Art, in zwischenmenschlichen, gesellschaftlichen und internationalen Beziehungen miteinander umzugehen, von Liebe und Gewaltfreiheit geleitet sein. Wenn die Opfer von Gewalt der Versuchung der Rache zu widerstehen wissen, können sie die glaubhaftesten Leitfiguren in gewaltfreien Aufbauprozessen des Friedens sein. Möge die Gewaltfreiheit von der Ebene des lokalen Alltags bis zur Ebene der Weltordnung der kennzeichnende Stil unserer Entscheidungen, unserer Beziehungen, unseres Handelns und der Politik in allen ihren Formen sein.

 

Eine zerbröckelte Welt

2.         Das vergangene Jahrhundert ist von zwei mörderischen Weltkriegen verwüstet worden und hat die Bedrohung eines Atomkriegs sowie eine große Anzahl weiterer Konflikte erlebt, während wir heute leider mit einem schrecklichen „stückweisen“ Weltkrieg zu tun haben. Es ist nicht leicht zu erkennen, ob die Welt heute mehr oder weniger gewaltsam ist als gestern und ob die modernen Kommunikationsmittel und die unsere Zeit kennzeichnende Mobilität uns die Gewalt bewusster machen oder ob sie uns mehr an sie gewöhnen.

In jedem Fall verursacht diese Gewalt, die „stückweise“ auf unterschiedliche Arten und verschiedenen Ebenen ausgeübt wird, unermessliche Leiden, um die wir sehr wohl wissen: Kriege in verschiedenen Ländern und Kontinenten; Terrorismus, Kriminalität und unvorhersehbare bewaffnete Übergriffe; Formen von Missbrauch, denen die Migranten und die Opfer des Menschenhandels ausgesetzt sind; Zerstörung der Umwelt. Und wozu das alles? Erlaubt die Gewalt, Ziele von dauerhaftem Wert zu erreichen? Löst nicht alles, was sie erlangt, letztlich nur Vergeltungsmaßnahmen und Spiralen tödlicher Konflikte aus, die allein für einige wenige „Herren des Krieges“ von Vorteil sind?

Die Gewalt ist nicht die heilende Behandlung für unsere zerbröckelte Welt. Auf Gewalt mit Gewalt zu reagieren führt bestenfalls zu Zwangsmigrationen und ungeheuren Leiden, denn große Mengen an Ressourcen werden für militärische Zwecke bestimmt und den täglichen Bedürfnissen der Jugendlichen, der Familien in Not, der alten Menschen, der Kranken, der großen Mehrheit der Erdenbewohner entzogen. Schlimmstenfalls kann sie zum physischen und psychischen Tod vieler, wenn nicht sogar aller führen.

 

Die Frohe Botschaft

3.         Auch Jesus lebte in Zeiten der Gewalt. Er lehrte, dass das eigentliche Schlachtfeld, auf dem Gewalt und Frieden einander begegnen, das menschliche Herz ist: » Von innen, aus dem Herzen der Menschen, kommen die bösen Gedanken « (Mk 7,21). Doch die Botschaft Christi bietet angesichts dieser Realität die von Grund auf positive Antwort: Er verkündete unermüdlich die bedingungslose Liebe Gottes, der aufnimmt und verzeiht, und lehrte seine Jünger, die Feinde zu lieben (vgl. Mt 5,44) und „die andere Wange“ hinzuhalten (vgl. Mt 5,39). Als er die Ankläger der Ehebrecherin daran hinderte, sie zu steinigen (vgl. Joh 8,1-11), und als er in der Nacht vor seinem Tod Petrus gebot, sein Schwert wieder in die Scheide zu stecken (vgl. Mt 26,52), zeichnete Jesus den Weg der Gewaltfreiheit vor, den er bis zum Schluss gegangen ist – bis zum Kreuz, durch das er den Frieden verwirklicht und die Feindschaft getötet hat (vgl. Eph 2,14-16). Wer die Frohe Botschaft Jesu annimmt, weiß daher die Gewalt, die er in sich trägt, zu erkennen und lässt sich von der Barmherzigkeit Gottes heilen. So wird er selbst ein Werkzeug der Versöhnung, entsprechend dem Aufruf des heiligen Franz von Assisi: » Wenn ihr mit dem Mund den Frieden verkündet, so versichert euch, ob ihr ihn auch, ja noch mehr, in eurem Herzen habt! «.

Wahre Jünger Jesu zu sein, bedeutet heute, auch seinem Vorschlag der Gewaltfreiheit nachzukommen. Er ist, wie mein Vorgänger Benedikt XVI. sagte, » realistisch, denn er trägt der Tatsache Rechnung, dass es in der Welt zu viel Gewalt, zu viel Ungerechtigkeit gibt; eine solche Situation kann man nur dann überwinden, wenn ihr ein Mehr an Liebe, ein Mehr an Güte entgegengesetzt wird. Dieses „Mehr“ kommt von Gott «.  Und mit großem Nachdruck fügte er hinzu, dass »  Gewaltlosigkeit für die Christen nicht ein rein taktisches Verhalten darstellt, sondern eine Wesensart der Person und die Haltung dessen, der so sehr von der Liebe Gottes und deren Macht überzeugt ist, dass er keine Angst davor hat, dem Bösen nur mit den Waffen der Liebe und der Wahrheit entgegenzutreten. Die Feindesliebe bildet den Kern der „christlichen Revolution“. «  Zu Recht wird das Evangelium von der Feindesliebe (vgl. Lk 6,27) » als die Magna Charta der christlichen Gewaltlosigkeit betrachtet; sie besteht nicht darin, sich dem Bösen zu ergeben […] sondern darin, auf das Böse mit dem Guten zu antworten (vgl. Röm 12,17-21), um so die Kette der Ungerechtigkeit zu sprengen. «

 

Mächtiger als die Gewalt

4.         Die Gewaltfreiheit wird manchmal im Sinn von Kapitulation, Disengagement und Passivität verstanden, aber in Wirklichkeit ist es nicht so. Als Mutter Teresa 1979 den Friedensnobelpreis empfing, erklärte sie ihre Botschaft einer aktiven Gewaltfreiheit ganz deutlich: » In unserer Familie haben wir keine Bomben und Waffen nötig und brauchen nicht zu zerstören, um Frieden zu bringen, sondern wir müssen nur zusammen sein und einander lieben […] Und so werden wir alles Böse, das es in der Welt gibt, überwinden können. «  Denn die Macht der Waffen ist trügerisch. » Während die Waffenhändler ihre Arbeit tun, gibt es die armen Friedenstifter, die ihr Leben hingeben, nur um einem Menschen und noch einem, noch einem, noch einem zu helfen. « Für diese Friedenstifter ist Mutter Teresa » ein Symbol, ein Bild aus unserer Zeit «.  Im vergangenen September hatte ich die große Freude, sie heiligzusprechen. Ich habe ihre Verfügbarkeit gelobt, denn » durch die Aufnahme und den Schutz des menschlichen Lebens – des ungeborenen wie des verlassenen und ausgesonderten – « war sie für alle da. » Sie beugte sich über die Erschöpften, die man am Straßenrand sterben ließ, weil sie die Würde erkannte, die Gott ihnen verliehen hatte. Sie erhob ihre Stimme vor den Mächtigen der Welt, damit sie angesichts der Verbrechen – angesichts der Verbrechen! – der Armut, die sie selbst geschaffen hatten, ihre Schuld erkennen sollten. «  Ihre Reaktion – und damit steht sie für Tausende, ja Millionen von Menschen – war der Einsatz gewesen, großherzig und hingebungsvoll auf die Opfer zuzugehen, jeden verletzten Leib zu berühren und zu verbinden und jedes zerbrochene Leben zu heilen.

Die entschieden und konsequent praktizierte Gewaltfreiheit hat eindrucksvolle Ergebnisse hervorgebracht. Unvergesslich bleiben die von Mahatma Gandhi und Khan Abdul Ghaffar Khan erreichten Erfolge bei der Befreiung Indiens sowie die Erfolge Martin Luther Kings jr. gegen die Rassendiskriminierung. Besonders die Frauen sind oft Vorreiterinnen der Gewaltfreiheit, wie zum Beispiel Leymah Gbowee und Tausende liberianische Frauen, die Gebetstreffen und gewaltlosen Protest (pray-ins)  organisiert und so Verhandlungen auf hoher Ebene erreicht haben im Hinblick auf die Beendigung des zweiten Bürgerkriegs in Liberia.

Wir dürfen auch das epochale Jahrzehnt nicht vergessen, das mit dem Sturz der kommunistischen Regime in Europa endete. Die christlichen Gemeinschaften leisteten dazu ihren Beitrag durch inständiges Beten und mutiges Handeln. Einen speziellen Einfluss übten der Dienst und das Lehramt des heiligen Johannes Paul II. aus. In seinen Gedanken über die Ereignisse von 1989 in der Enzyklika Centesimus annus (1991) hat mein Vorgänger hervorgehoben, dass ein epochaler Umbruch im Leben der Völker, der Nationen und der Staaten » durch einen gewaltlosen Kampf erreicht wurde, der nur von den Waffen der Wahrheit und der Gerechtigkeit Gebrauch machte «.  Dieser Weg eines politischen Übergangs zum Frieden wurde auch ermöglicht dank » dem gewaltlosen Engagement von Menschen […], die sich stets geweigert hatten, der Macht der Gewalt zu weichen, und Schritt für Schritt wirksame Mittel zu finden wussten, um von der Wahrheit Zeugnis abzulegen «. Und so kommt Johannes Paul II. zu dem Schluss: » Mögen die Menschen lernen, gewaltlos für die Gerechtigkeit zu kämpfen, in den internen Auseinandersetzungen auf den Klassenkampf zu verzichten und in internationalen Konflikten auf den Krieg. «

Die Kirche hat sich für die Verwirklichung gewaltfreier Strategien zur Förderung des Friedens in vielen Ländern eingesetzt und sogar die gewaltsamsten Akteure zu Anstrengungen für den Aufbau eines gerechten und dauerhaften Friedens gedrängt.

Dieses Engagement für die Opfer von Ungerechtigkeit und Gewalt ist nicht etwa ein ausschließliches Gut der katholischen Kirche, sondern es gehört zu vielen religiösen Traditionen, für die » Mitleid und Gewaltlosigkeit wesentlich sind und den Weg des Lebens weisen «.  Das betone ich mit Nachdruck: » Keine Religion ist terroristisch. «  Die Gewalt ist eine Schändung des Namens Gottes.  Werden wir nie müde zu wiederholen, » dass der Name Gottes die Gewalt nie rechtfertigen kann. Allein der Friede ist heilig. Nur der Friede ist heilig, nicht der Krieg! «

 

Die häusliche Atmosphäre als Wurzel für eine gewaltfreie Politik

5.         Wenn die Wurzel, aus der die Gewalt entspringt, das Herz der Menschen ist, dann ist es ganz wesentlich, den Weg der Gewaltfreiheit an erster Stelle innerhalb der Familie zu gehen. Es ist eine Komponente jener Freude der Liebe, die ich im vergangenen März zum Abschluss einer zweijährigen Reflexion der Kirche über Ehe und Familie in dem Apostolischen Schreiben Amoris laetitia dargelegt habe. Die Familie ist der unerlässliche Schmelztiegel, durch den Eheleute, Eltern und Kinder, Brüder und Schwestern lernen, sich zu verständigen und uneigennützig füreinander zu sorgen; hier müssen Spannungen oder sogar Konflikte kraftvoll, aber durch Dialog, Achtung, Suche nach dem Wohl des anderen, Barmherzigkeit und Vergebung überwunden werden.  Aus dem Innern der Familie springt die Freude der Liebe auf die Welt über und strahlt in die ganze Gesellschaft aus.  Im Übrigen kann sich eine Ethik der Brüderlichkeit und der friedlichen Koexistenz zwischen Menschen und Völkern nicht auf die Logik der Angst, der Gewalt und der Verschlossenheit gründen, sondern muss auf Verantwortung, Achtung und aufrichtigem Dialog beruhen. In diesem Sinn appelliere ich für die Abrüstung sowie für das Verbot und die Abschaffung der Atomwaffen: Die atomare Abschreckung und die Drohung der gesicherten gegenseitigen Zerstörung können kein Fundament für diese Art der Ethik sein.  Mit gleicher Dringlichkeit bitte ich, dass die häusliche Gewalt und der Missbrauch von Frauen und Kindern aufhören.

Das Jubiläum der Barmherzigkeit, das im vergangenen November abgeschlossen wurde, war eine Einladung, in die Tiefen unseres Herzens zu schauen und dort das Erbarmen Gottes eindringen zu lassen. Das Jubiläumsjahr hat uns zu Bewusstsein geführt, wie zahlreich und verschieden die Menschen und die gesellschaftlichen Gruppen sind, die mit Gleichgültigkeit behandelt werden, Opfer von Ungerechtigkeit sind und Gewalt erleiden. Sie gehören zu unserer „Familie“, sind unsere Brüder und Schwestern. Darum müssen die Formen einer Politik der Gewaltfreiheit innerhalb der häuslichen Wände ihren Anfang nehmen, um sich dann auf die ganze Menschheitsfamilie auszubreiten. » Das Beispiel der heiligen Therese von Lisieux lädt uns ein, den „kleinen Weg“ der Liebe zu beschreiten, keine Gelegenheit für ein freundliches Wort, für ein Lächeln, für irgendeine kleine Geste zu verpassen, die Frieden und Freundschaft verbreitet. Eine ganzheitliche Ökologie ist auch aus einfachen alltäglichen Gesten gemacht, die die Logik der Gewalt, der Ausnutzung, des Egoismus durchbrechen. «

 

Meine Einladung

6.         Der Aufbau des Friedens durch die aktive Gewaltfreiheit ist ein notwendiges Element und entspricht den ständigen Bemühungen der Kirche, die Anwendung von Gewalt zu begrenzen durch moralische Normen, durch ihre Teilnahme an den Arbeiten der internationalen Einrichtungen und durch den kompetenten Beitrag vieler Christen zur Ausarbeitung der Gesetzgebung auf allen Ebenen. Jesus selbst bietet uns ein „Handbuch“ dieser Strategie zum Aufbau des Friedens in der sogenannten Bergpredigt an. Die acht Seligpreisungen (vgl. Mt 5,3-10) skizzieren das Profil des Menschen, den wir als glücklich, gut und authentisch bezeichnen können. Selig, die keine Gewalt anwenden – sagt Jesus –, selig die Barmherzigen, die Friedenstifter, selig, die ein reines Herz haben, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit.

Das ist auch ein Programm und eine Herausforderung für die politischen und religiösen Leader, für die Verantwortungsträger der internationalen Einrichtungen und für die Leiter der Unternehmen und der Medien der ganzen Welt: die Seligpreisungen in der Art der Ausübung ihrer Verantwortung anzuwenden. Eine Herausforderung, die Gesellschaft, die Gemeinschaft oder das Unternehmen, für das sie verantwortlich sind, im Stil der Friedenstifter aufzubauen; Barmherzigkeit zu beweisen, indem sie es ablehnen, Menschen auszusondern, die Umwelt zu schädigen oder um jeden Preis gewinnen zu wollen. Das erfordert die Bereitschaft, » den Konflikt zu ertragen, ihn zu lösen und ihn zum Ausgangspunkt für einen neuen Prozess zu machen «.  In dieser Weise zu wirken, bedeutet, die Solidarität als den Stil zu wählen, Geschichte zu machen und soziale Freundschaft aufzubauen. Die aktive Gewaltfreiheit ist ein Weg, um zu zeigen, dass wirklich die Einheit mächtiger und fruchtbarer ist als der Konflikt. Alles in der Welt ist eng miteinander verbunden.  Gewiss, es kann geschehen, dass die Verschiedenheiten Reibereien erzeugen: Gehen wir sie konstruktiv und gewaltlos an, so dass » die Spannungen und die Gegensätze zu einer vielgestaltigen Einheit führen können, die neues Leben hervorbringt « und » die wertvollen Möglichkeiten der kollidierenden gegensätzlichen Standpunkte beibehält «.

Ich versichere, dass die katholische Kirche jeden Versuch, den Frieden auch durch die aktive und kreative Gewaltfreiheit aufzubauen, begleiten wird. Am 1. Januar 2017 tritt das neue „Dikasterium für den Dienst zugunsten der ganzheitlichen Entwicklung des Menschen“ in Funktion. Es wird der Kirche bei der Förderung » der unermesslichen Güter der Gerechtigkeit, des Friedens und der Bewahrung der Schöpfung « immer wirkungsvoller helfen und sie in ihrer Fürsorge für die Migranten, » die Bedürftigen, die Kranken und die Ausgeschlossenen, die Ausgegrenzten und die Opfer bewaffneter Konflikte und von Naturkatastrophen, die Gefangenen, die Arbeitslosen und die Opfer jeder Form von Sklaverei und Folter «  immer durchgreifender unterstützen. Jede Handlung in dieser Richtung, so bescheiden sie auch sei, trägt zum Aufbau einer gewaltfreien Welt bei, und das ist der erste Schritt zur Gerechtigkeit und zum Frieden.

 

Zum Schluss

7.         Wie es der Tradition entspricht, unterzeichne ich diese Botschaft am 8. Dezember, dem Fest der Unbefleckten Empfängnis der seligen Jungfrau Maria. Sie ist die Königin des Friedens. Bei der Geburt ihres Sohnes verherrlichten die Engel Gott und wünschten den Menschen guten Willens Frieden auf Erden (vgl. Lk 2,14). Bitten wir Maria, uns leitend voranzugehen.

» Alle ersehnen wir den Frieden; viele Menschen bauen ihn täglich mit kleinen Gesten auf; viele leiden und nehmen geduldig die Mühe auf sich, immer wieder zu versuchen, Frieden zu schaffen. «  Bemühen wir uns im Jahr 2017 mit Gebet und Tat darum, Menschen zu werden, die aus ihrem Herzen, aus ihren Worten und aus ihren Gesten die Gewalt verbannt haben, und gewaltfreie Gemeinschaften aufzubauen, die sich um das gemeinsame Haus kümmern. » Nichts ist unmöglich, wenn wir uns im Gebet an Gott wenden. Alle können „Handwerker“ des Friedens sein. «

 

Aus dem Vatikan, am 8. Dezember 2015

Franziskus

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Quelle

PAPST BENEDIKT XVI.: RELIGIONSFREIHEIT, EIN WEG FÜR DEN FRIEDEN

3566229846

BOTSCHAFT
SEINER HEILIGKEIT
PAPST BENEDIKT XVI.

ZUR FEIER DES
WELTFRIEDENSTAGES

1. JANUAR 2011

RELIGIONSFREIHEIT, EIN WEG FÜR DEN FRIEDEN

 

1. Zu Beginn eines neuen Jahres will mein Glückwunsch alle und jeden einzelnen erreichen; es ist ein Wunsch für ein frohes Wohlergehen, vor allem aber ist es ein Friedenswunsch. Auch das Jahr, das seine Türen schließt, war leider von Verfolgung, von Diskriminierung, von schrecklichen Gewalttaten und von religiöser Intoleranz gezeichnet.

Ich denke besonders an das geschätzte Land Irak, das auf seinem Weg in die ersehnte Stabilität und Versöhnung weiterhin ein Schauplatz von Gewalt und Anschlägen ist. Mir kommen die jüngsten Leiden der christlichen Gemeinde in den Sinn und insbesondere der niederträchtige Angriff auf die syro-katholische Kathedrale „Unserer Lieben Frau von der Immerwährenden Hilfe“ in Bagdad, wo am vergangenen 31. Oktober zwei Priester und über fünfzig Gläubige, die zur Feier der heiligen Messe versammelt waren, getötet wurden. Diesem Anschlag folgten in den Tagen danach weitere Angriffe, auch auf Privathäuser. Sie haben in der christlichen Gemeinde Angst ausgelöst sowie bei vielen ihrer Mitglieder den Wunsch geweckt, auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen zu emigrieren. Ihnen bekunde ich meine Nähe und die der ganzen Kirche, was auch in der kürzlich abgehaltenen Sonderversammlung der Bischofssynode für den Nahen Osten konkret zum Ausdruck gekommen ist. Diese Versammlung hat die katholischen Gemeinden im Irak und im gesamten Nahen Osten ermutigt, die Gemeinschaft zu leben und in jenen Ländern weiterhin ein mutiges Glaubenszeugnis zu geben.

Von Herzen danke ich den Regierungen, die sich bemühen, die Leiden dieser Brüder und Schwestern in ihrer menschlichen Existenz zu lindern, und fordere die Katholiken auf, für ihre Brüder und Schwestern im Glauben, die unter Gewalt und Intoleranz leiden, zu beten und sich mit ihnen solidarisch zu zeigen. In diesem Zusammenhang schien mir eine besonders gute Gelegenheit gegeben, euch allen einige Gedanken über die Religionsfreiheit als Weg für den Frieden mitzuteilen. Denn es ist schmerzlich festzustellen, daß es in einigen Regionen der Welt nicht möglich ist, den eigenen Glauben frei zu bekennen und zum Ausdruck zu bringen, ohne das Leben und die persönliche Freiheit aufs Spiel zu setzen. In anderen Gebieten existieren lautlosere und raffiniertere Formen von Vorurteil und Widerstand gegen die Gläubigen und gegen religiöse Symbole. Die Christen sind gegenwärtig die Religionsgruppe, welche die meisten Verfolgungen aufgrund ihres Glaubens erleidet. Viele erfahren tagtäglich Beleidigungen und leben oft in Angst wegen ihrer Suche nach der Wahrheit, wegen ihres Glaubens an Jesus Christus und wegen ihres offenen Aufrufs zur Anerkennung der Religionsfreiheit. Das kann man alles nicht dulden, weil es eine Beleidigung Gottes und der Menschenwürde ist; es stellt außerdem eine Bedrohung für die Sicherheit und den Frieden dar und verhindert eine echte ganzheitliche Entwicklung des Menschen.[1]

In der Religionsfreiheit nämlich findet die Besonderheit der menschlichen Person, durch die sie das eigene persönliche und gemeinschaftliche Leben auf Gott hinordnen kann, ihren Ausdruck: Im Licht Gottes versteht man die Identität, den Sinn und das Ziel der Person vollständig. Diese Freiheit willkürlich zu verweigern oder zu beschränken bedeutet, eine verkürzende Sicht des Menschen zu haben; die öffentliche Rolle der Religion zu verdunkeln bedeutet, eine ungerechte Gesellschaft aufzubauen, da sie nicht im rechten Verhältnis zur wahren Natur der menschlichen Person steht; dies bedeutet, die Durchsetzung eines echten und dauerhaften Friedens der ganzen Menschheitsfamilie unmöglich zu machen.

Ich fordere daher die Menschen guten Willens auf, den Einsatz für den Aufbau einer Welt zu erneuern, in der alle frei sind, ihre Religion oder ihren Glauben zu bekennen und ihre Liebe zu Gott mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit allen Gedanken zu leben (vgl. Mt 22,37). Das ist die Gesinnung, welche die Botschaft zur Feier des XLIV. Weltfriedenstags, die dem ThemaReligionsfreiheit, ein Weg für den Frieden gewidmet ist, inspiriert und leitet.

Das heilige Recht auf Leben und auf ein religiöses Leben

2. Das Recht auf Religionsfreiheit ist in der Würde des Menschen selbst verankert,[2] dessen transzendente Natur nicht ignoriert oder vernachlässigt werden darf. Gott hat Mann und Frau als sein Abbild erschaffen (vgl. Gen 1,27). Deshalb besitzt jeder Mensch das heilige Recht auf ein ganzheitliches Leben auch in spiritueller Hinsicht. Ohne die Anerkennung des eigenen geistigen Wesens, ohne die Öffnung auf das Transzendente hin zieht der Mensch sich auf sich selbst zurück, kann er keine Antworten auf die Fragen seines Herzens nach dem Sinn des Lebens finden und keine dauerhaften ethischen Werte und Grundsätze gewinnen, kann er nicht einmal echte Freiheit erfahren und eine gerechte Gesellschaft entwickeln.[3]

Die Heilige Schrift offenbart in Übereinstimmung mit unserer eigenen Erfahrung den tiefen Wert der Menschenwürde: „Seh ich den Himmel, das Werk deiner Finger, Mond und Sterne, die du befestigt: Was ist der Mensch, daß du an ihn denkst, des Menschen Kind, daß du dich seiner annimmst? Du hast ihn nur wenig geringer gemacht als Gott, hast ihn mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt. Du hast ihn als Herrscher eingesetzt über das Werk deiner Hände, hast ihm alles zu Füßen gelegt“ (Ps 8,4-7).

Angesichts der erhabenen Wirklichkeit der menschlichen Natur kann uns das gleiche Staunen überkommen, das der Psalmist zum Ausdruck bringt. Sie zeigt sich als ein Offensein für das Mysterium, als die Fähigkeit, den Fragen über sich selbst und über den Ursprung des Universums auf den Grund zu gehen, als innerer Widerhall der höchsten Liebe Gottes, der Ursprung und Ziel aller Dinge, eines jeden Menschen und aller Völker ist.[4] Die transzendente Würde der Person ist ein wesentlicher Wert der jüdisch-christlichen Weisheit, sie kann aber dank der Vernunft von allen erkannt werden. Diese Würde im Sinn einer Fähigkeit, die eigene Materialität zu überschreiten und die Wahrheit zu suchen, muß als ein allgemeines Gut anerkannt werden, das für den Aufbau einer auf die volle Verwirklichung des Menschen ausgerichteten Gesellschaft unverzichtbar ist. Die Achtung wesentlicher Elemente der Menschenwürde wie das Recht auf Leben und das Recht auf die Religionsfreiheit ist eine Bedingung für die moralische Legitimität jeder gesellschaftlichen und rechtlichen Vorschrift.

Religionsfreiheit und gegenseitige Achtung

3. Die Religionsfreiheit ist der Ausgangspunkt der moralischen Freiheit. Tatsächlich verleiht das in der menschlichen Natur verwurzelte Offensein für die Wahrheit und das Gute jedem Menschen volle Würde und gewährleistet den gegenseitigen Respekt zwischen Personen. Darum ist die Religionsfreiheit nicht nur als Schutz gegenüber Nötigungen zu verstehen, sondern in erster Linie als Fähigkeit, die eigenen Entscheidungen gemäß der Wahrheit zu ordnen.

Es besteht eine untrennbare Verbindung zwischen Freiheit und Achtung des anderen: „Die einzelnen Menschen und die sozialen Gruppen sind bei der Ausübung ihrer Rechte durch das Sittengesetz verpflichtet, sowohl die Rechte der andern wie auch die eigenen Pflichten den anderen und dem Gemeinwohl gegenüber zu beachten.“[5]

Eine Gott gegenüber feindliche oder gleichgültige Freiheit endet in der Verneinung ihrer selbst und gewährleistet nicht die vollkommene Achtung gegenüber dem anderen. Ein Wille, der sich für gänzlich unfähig hält, die Wahrheit und das Gute zu suchen, hat keine objektiven Gründe noch Motive für sein Handeln außer denen, die seine augenblicklichen und zufälligen Interessen ihm diktieren; er hat keine „Identität“, die durch wirklich freie und bewußte Entscheidungen zu schützen und aufzubauen ist. Er kann daher nicht die Achtung seitens anderer „Willen“ fordern, die sich ebenfalls von ihrem tiefsten Sein losgelöst haben, die also andere „Gründe“ oder sogar gar keinen „Grund“ geltend machen können. Die Illusion, im ethischen Relativismus den Schlüssel für ein friedliches Zusammenleben zu finden, ist in Wirklichkeit der Ursprung von Spaltungen und von Verneinung der Würde der Menschen. So ist es verständlicherweise notwendig, eine zweifache Dimension in der Einheit der menschlichen Person anzuerkennen: die religiöse und die soziale. In diesem Zusammenhang ist es unvorstellbar, daß die Gläubigen „einen Teil von sich – ihren Glauben – unterdrücken müssen, um aktive Bürger zu sein. Es sollte niemals erforderlich sein, Gott zu verleugnen, um in den Genuß der eigenen Rechte zu kommen“.[6]

Die Familie, eine Schule der Freiheit und des Friedens

4. Wenn die Religionsfreiheit ein Weg für den Frieden ist, dann ist die religiöse Erziehung der bevorzugte Weg, die neuen Generationen zu befähigen, im anderen den eigenen Bruder bzw. die eigene Schwester zu erkennen, mit denen man gemeinsam vorangehen und zusammenarbeiten muß, damit alle sich als lebendige Glieder ein und derselben Menschheitsfamilie empfinden, aus der niemand ausgeschlossen werden darf.

Die auf die Ehe gegründete Familie, Ausdruck inniger Gemeinschaft und gegenseitiger Ergänzung zwischen einem Mann und einer Frau, fügt sich in diesen Zusammenhang als die erste Schule von Bildung und von sozialem, kulturellem, moralischem und geistlichem Wachstum der Kinder ein, die im Vater und in der Mutter stets die ersten Zeugen eines Lebens finden sollten, das auf die Suche nach der Wahrheit und die Liebe zu Gott ausgerichtet ist. Die Eltern selbst müßten immer frei sein, ihr Erbe des Glaubens, der Werte und der Kultur ohne Zwänge und in Verantwortung an ihre Kinder weiterzugeben. Die Familie, die erste Zelle der menschlichen Gesellschaft, ist der vorrangige Bereich der Erziehung zu harmonischen Beziehungen auf allen nationalen und internationalen Ebenen menschlichen Zusammenlebens. Das ist der Weg, der weise eingeschlagen werden muß, um ein solides und solidarisches gesellschaftliches Gefüge zu schaffen, um die jungen Menschen darauf vorzubereiten, im Leben ihre Verantwortung zu übernehmen, in einer freien Gesellschaft, in einem Geist der Verständnisses und des Friedens.

Ein gemeinsames Erbe

5. Man könnte sagen, daß unter den Grundrechten und Grundfreiheiten, die in der Menschenwürde wurzeln, die Religionsfreiheit einen speziellen Stand besitzt. Wenn die Religionsfreiheit anerkannt wird, ist die Würde der Person in ihrer Wurzel geachtet und das Ethos sowie die Institutionen der Völker werden gestärkt. Wenn umgekehrt die Religionsfreiheit verweigert wird, wenn versucht wird zu verbieten, daß man die eigene Religion oder den eigenen Glauben bekennt und ihnen gemäß lebt, wird die Würde des Menschen beleidigt, und mit ihr werden die Gerechtigkeit und der Frieden bedroht, die auf jener rechten, im Licht des höchsten Wahren und Guten aufgebauten gesellschaftlichen Ordnung basieren.

In diesem Sinne ist die Religionsfreiheit auch eine Errungenschaft politischer und rechtlicher Kultur. Sie ist ein wesentliches Gut: Jeder Mensch muß frei das Recht wahrnehmen können, seine Religion oder seinen Glauben als einzelner oder gemeinschaftlich zu bekennen und auszudrücken, sowohl öffentlich als auch privat, im Unterricht, in Bräuchen, in Veröffentlichungen, im Kult und in der Befolgung der Riten. Er dürfte nicht auf Hindernisse stoßen, falls er sich eventuell einer anderen Religion anschließen oder gar keine Religion bekennen wollte. In diesem Bereich erweist sich die internationale Ordnung als bedeutungsvoll und ist ein wesentlicher Bezugspunkt für die Staaten, da sie keinerlei Ausnahme von der Religionsfreiheit gestattet, außer dem legitimen Bedürfnis der öffentlichen Ordnung, die auf der Gerechtigkeit beruht.[7] Auf diese Weise erkennt die internationale Ordnung den Rechten religiöser Natur den gleichen Status zu wie dem Recht auf Leben und auf persönliche Freiheit, womit sie deren Zugehörigkeit zum wesentlichen Kern der Menschenrechte beweist, zu jenen universalen und natürlichen Rechten, die das menschliche Gesetz niemals verweigern darf.

Die Religionsfreiheit ist nicht ausschließliches Erbe der Gläubigen, sondern der gesamten Familie der Völker der Erde. Sie ist ein unabdingbares Element eines Rechtsstaates; man kann sie nicht verweigern, ohne zugleich alle Grundrechte und -freiheiten zu verletzen, da sie deren Zusammenfassung und Gipfel ist. Sie ist „eine Art ‚Lackmustest‘ für die Achtung aller weiteren Menschenrechte“.[8] Während sie die Ausübung der spezifisch menschlichen Fähigkeiten fördert, schafft sie die nötigen Voraussetzungen für die Verwirklichung einer ganzheitlichen Entwicklung, die einheitlich die Ganzheit der Person in allen ihren Dimensionen betrifft.[9]

Die öffentliche Dimension der Religion

6. Obschon die Religionsfreiheit wie jede Freiheit von der persönlichen Sphäre ausgeht, verwirklicht sie sich in der Beziehung zu den anderen. Eine Freiheit ohne Beziehung ist keine vollendete Freiheit. Auch die Religionsfreiheit erschöpft sich nicht in der rein individuellen Dimension, sondern sie verwirklicht sich in der eigenen Gemeinschaft und in der Gesellschaft, in Übereinstimmung mit dem relationalen Wesen der Person und mit der öffentlichen Natur der Religion.

Der relationale Charakter ist eine entscheidende Komponente der Religionsfreiheit, die die Gemeinschaften der Gläubigen zur Solidarität für das Gemeinwohl drängt. In dieser gemeinschaftlichen Dimension bleibt jeder Mensch einzig und unwiederholbar, und zugleich vollendet und verwirklicht er sich ganz.

Der Beitrag, den die religiösen Gemeinschaften für die Gesellschaft leisten, ist unbestreitbar. Zahlreiche karitative und kulturelle Einrichtungen bestätigen die konstruktive Rolle der Gläubigen für das gesellschaftliche Leben. Noch bedeutender ist der ethische Beitrag der Religion im politischen Bereich. Er sollte nicht marginalisiert oder verboten, sondern als wertvolle Unterstützung zur Förderung des Gemeinwohls verstanden werden. Unter diesem Gesichtspunkt ist auch die religiöse Dimension der Kultur zu erwähnen, die über die Jahrhunderte hin durch die sozialen und vor allem ethischen Beiträge der Religion entwickelt wurde. Diese Dimension stellt keinesfalls eine Diskriminierung derer dar, die ihre Glaubensinhalte nicht teilen, sondern sie stärkt vielmehr den gesellschaftlichen Zusammenhalt, die Integration und die Solidarität.

Religionsfreiheit, eine Kraft der Freiheit und der Zivilisation:
die Gefahren ihrer Instrumentalisierung

7. Die Instrumentalisierung der Religionsfreiheit zur Verschleierung geheimer Interessen – wie zum Beispiel der Umsturz der konstituierten Ordnung, das Horten von Ressourcen oder die Erhaltung der Macht durch eine Gruppe – kann der Gesellschaft ungeheuren Schaden zufügen. Fanatismus, Fundamentalismus und Handlungen, die gegen die Menschenrechte verstoßen, können niemals gerechtfertigt werden, am wenigsten, wenn sie im Namen der Religion geschehen. Das Bekenntnis einer Religion darf nicht instrumentalisiert, noch mit Gewalt aufgezwungen werden. Die Staaten und die verschiedenen menschlichen Gemeinschaften dürfen also niemals vergessen, daß die Religionsfreiheit die Voraussetzung für die Suche nach der Wahrheit ist und daß sich die Wahrheit nicht mit Gewalt durchsetzt, sondern „kraft der Wahrheit selbst“.[10] In diesem Sinne ist die Religion eine positive und treibende Kraft für den Aufbau der zivilen und der politischen Gesellschaft.

Wie könnte man den Beitrag der großen Weltreligionen zur Entwicklung der Zivilisation leugnen? Die aufrichtige Suche nach Gott hat zu einer vermehrten Achtung der Menschenwürde geführt. Die christlichen Gemeinschaften haben mit ihrem Erbe an Werten und Grundsätzen erheblich dazu beigetragen, daß Menschen und Völker sich ihrer eigenen Identität und ihrer Würde bewußt wurden, und ebenso sind sie an der Errungenschaft demokratischer Einrichtungen sowie an der Festschreibung der Menschenrechte und der entsprechenden Pflichten beteiligt.

Auch heute, in einer zunehmend globalisierten Gesellschaft, sind die Christen berufen, nicht allein mit einem verantwortlichen zivilen, wirtschaftlichen und politischen Engagement, sondern auch mit dem Zeugnis der eigenen Nächstenliebe und des persönlichen Glaubens einen wertvollen Beitrag zu leisten zum mühsamen und erhebenden Einsatz für die Gerechtigkeit, für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen und für die rechte Ordnung der menschlichen Angelegenheiten. Die Ausschließung der Religion aus dem öffentlichen Leben entzieht diesem einen lebenswichtigen Bereich, der offen ist für die Transzendenz. Ohne diese Grunderfahrung ist es schwierig, die Gesellschaften auf allgemeine ethische Grundsätze hin zu orientieren, und kaum möglich, nationale und internationale Richtlinien aufzustellen, in denen die Grundrechte und -freiheiten vollständig anerkannt und verwirklicht werden können, entsprechend den – leider immer noch unbeachteten oder bestrittenen – Zielsetzungen derAllgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948.

Eine Frage der Gerechtigkeit und der Zivilisation:
Der Fundamentalismus und die Feindseligkeit gegenüber Gläubigen beeinträchtigen die positive Laizität der Staaten

8. Mit der gleichen Entschiedenheit, mit der alle Formen von Fanatismus und religiösem Fundamentalismus verurteilt werden, muß auch allen Formen von Religionsfeindlichkeit, die die öffentliche Rolle der Gläubigen im zivilen und politischen Leben begrenzen, entgegengetreten werden.

Man darf nicht vergessen, daß der religiöse Fundamentalismus und der Laizismus spiegelbildlich einander gegenüberstehende extreme Formen der Ablehnung des legitimen Pluralismus und des Prinzips der Laizität sind. Beide setzen nämlich eine einengende und partielle Sicht des Menschen absolut, indem sie im ersten Fall Formen von religiösem Integralismus und im zweiten von Rationalismus unterstützen. Die Gesellschaft, die die Religion gewaltsam aufzwingen oder – im Gegenteil – verbieten will, ist ungerecht gegenüber dem Menschen und Gott, aber auch gegenüber sich selbst. Gott ruft die Menschheit zu sich mit einem Plan der Liebe, der den ganzen Menschen in seiner natürlichen und geistlichen Dimension einbezieht und zugleich eine Antwort in Freiheit und Verantwortung erwartet, die aus ganzem Herzen und mit der ganzen individuellen und gemeinschaftlichen Existenz gegeben wird. So muß also auch die Gesellschaft, insofern sie Ausdruck der Person und der Gesamtheit der sie grundlegenden Dimensionen ist, so leben und sich organisieren, daß sie das Sich-öffnen auf die Transzendenz hin begünstigt. Genau aus diesem Grund dürfen die Gesetze und die Institutionen einer Gesellschaft nicht so gestaltet sein, daß sie die religiöse Dimension der Bürger nicht beachten oder gänzlich von ihr absehen. Durch das demokratische Wirken von Bürgern, die sich ihrer hohen Berufung bewußt sind, müssen die Gesetze und Institutionen dem Wesen des Menschen angepaßt werden, damit sie ihn in seiner religiösen Dimension unterstützen können. Da diese kein Werk des Staates ist, kann sie nicht manipuliert werden, sondern muß vielmehr anerkannt und respektiert werden.

Wenn die Rechtsordnung – sei es auf nationaler oder internationaler Ebene – den religiösen oder antireligiösen Fanatismus zuläßt oder toleriert, kommt sie ihrer Aufgabe nicht nach, die Gerechtigkeit und das Recht eines jeden zu schützen und zu fördern. Diese Wirklichkeiten können nicht der Willkür des Gesetzgebers oder der Mehrheit ausgesetzt werden, denn – wie schon Cicero lehrte – die Rechtsprechung besteht aus mehr als einer bloßen Schaffung des Gesetzes und seiner Anwendung. Sie schließt ein, jedem seine Würde zuzuerkennen.[11] Und diese ist ohne garantierte und in ihrem Wesen gelebte Religionsfreiheit verstümmelt und verletzt, der Gefahr ausgesetzt, unter die Vorherrschaft von Götzen, von relativen Gütern zu geraten, die absolut gesetzt werden. All das bringt die Gesellschaft in die Gefahr von politischen und ideologischen Totalitarismen, welche die öffentliche Macht nachdrücklich betonen, während die Gewissensfreiheit, die Freiheit des Denkens und die Religionsfreiheit, als wären sie Konkurrenten, Beeinträchtigungen oder Zwang erleiden.

Der Dialog zwischen zivilen und religiösen Institutionen

9. Das Erbe an Grundsätzen und an Werten, die durch eine authentische Religiosität zum Ausdruck kommen, ist ein Reichtum für die Völker und ihr Ethos

Unter Berücksichtigung der positiven Laizität der staatlichen Institutionen muß die öffentliche Dimension der Religion immer anerkannt werden. Zu diesem Zweck ist ein gesunder Dialog zwischen den zivilen und den religiösen Institutionen für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen und der Eintracht der Gesellschaft von grundlegender Bedeutung.

In der Liebe und der Wahrheit leben

10. In der globalisierten Welt, die von zunehmend multiethnischen und multireligiösen Gesellschaften gekennzeichnet ist, können die großen Religionen einen wichtigen Faktor der Einheit und des Friedens für die Menschheitsfamilie darstellen. Auf der Basis der eigenen religiösen Überzeugungen und der rationalen Suche nach dem Gemeinwohl sollen ihre Anhänger verantwortungsvoll ihren eigenen Einsatz in einem Umfeld der Religionsfreiheit ausüben. Es ist notwendig, in den verschiedenen religiösen Kulturen das zu beherzigen, was sich für das zivile Miteinander als positiv erweist, während alles der Würde des Menschen Entgegenstehende verworfen werden muß.

Der öffentliche Raum, den die internationale Gemeinschaft den Religionen und ihrem Angebot eines „guten Lebens“ zur Verfügung stellt, fördert das Hervortreten eines gemeinsam geteilten Maßstabs der Wahrheit und des Guten wie auch einen moralischen Konsens – beides Dinge, die für ein gerechtes und friedvolles Miteinander grundlegend sind. Die Leader der großen Religionen sind wegen ihrer Rolle, ihres Einflusses und ihrer Autorität in ihren eigenen Gemeinschaften als erste zum gegenseitigen Respekt und zum Dialog angehalten.

Die Christen ihrerseits werden vom Glauben an Gott selbst, dem Vater des Herrn Jesus Christus, dazu aufgefordert, als Brüder und Schwestern zu leben, die in der Kirche zusammenkommen und am Aufbau einer neuen Welt mitarbeiten, der prophetischen Vorwegnahme der Reiches Gottes, wo die Menschen und Völker „nichts Böses mehr tun und kein Verbrechen begehen […]; denn das Land ist erfüllt von der Erkenntnis des Herrn, so wie das Meer mit Wasser gefüllt ist“ (vgl. Jes 11,9).

Dialog als gemeinsame Suche

11. Für die Kirche stellt der Dialog zwischen den Anhängern verschiedener Religionen ein wichtiges Werkzeug dar, um mit allen Religionsgemeinschaften zum Gemeinwohl zusammenzuarbeiten. Die Kirche selbst lehnt nichts von alledem ab, was in den verschiedenen Religionen wahr und heilig ist. „Mit aufrichtigem Ernst betrachtet sie jene Handlungs- und Lebensweisen, jene Vorschriften und Lehren, die zwar in manchem von dem abweichen, was sie selber für wahr hält und lehrt, doch nicht selten einen Strahl jener Wahrheit erkennen lassen, die alle Menschen erleuchtet.“[13]

Der aufgezeigte Weg ist nicht der des Relativismus oder des religiösen Synkretismus. Denn die Kirche „verkündet und sie muß verkündigen Christus, der ‚der Weg, die Wahrheit und das Leben‘ ist (Joh 14,6), in dem die Menschen die Fülle des religiösen Lebens finden, in dem Gott alles mit sich versöhnt hat“[14]. Dies schließt jedoch den Dialog und die gemeinsame Suche nach der Wahrheit in verschiedenen Lebensumfeldern nicht aus, da nämlich, wie ein vom heiligen Thomas von Aquin oft gebrauchtes Wort sagt, „jede Wahrheit, von wem auch immer sie vorgebracht wird, vom Heiligen Geist kommt“[15].

Im Jahr 2011 begehen wir den 25. Jahrestag des Weltgebetstages für den Frieden, zu dem Papst Johannes Paul II. 1986 nach Assisi eingeladen hatte. Damals haben die Leader der großen Weltreligionen Zeugnis davon gegeben, daß die Religion ein Faktor der Einheit und des Friedens und nicht der Trennung und des Konflikts ist. Die Erinnerung an diese Erfahrung ist Grund zur Hoffnung auf eine Zukunft, in der alle Gläubigen sich als Arbeiter für die Gerechtigkeit und Friedensstifter sehen und wirklich zu solchen machen.

Moralische Wahrheit in Politik und Diplomatie

12. Die Politik und die Diplomatie sollten auf das von den großen Weltreligionen angebotene moralische und geistige Erbe schauen, um die Wahrheit sowie die allgemeinen Prinzipien und Werte zu erkennen und zu vertreten, die nicht geleugnet werden können, ohne damit auch die Würde des Menschen zu leugnen. Was heißt aber, praktisch gesprochen, die moralische Wahrheit in der Welt der Politik und der Diplomatie zu fördern? Es bedeutet, auf der Basis der objektiven und vollständigen Kenntnis der Fakten verantwortungsvoll zu handeln; es bedeutet, politische Ideologien aufzubrechen, die die Wahrheit und die Würde des Menschen letztlich verdrängen und unter dem Vorwand des Friedens, der Entwicklung und der Menschenrechte Pseudo-Werte fördern wollen; es bedeutet, ein ständiges Bemühen zu fördern, das positive Recht auf die Prinzipien des Naturrechts zu gründen[16]. Das alles ist notwendig und hängt mit der Achtung der Würde und des Wertes der menschlichen Person zusammen, wie sie die Völker der Erde in der Charta der Organisation der Vereinten Nationen von 1945 festgelegt haben, welche die Werte und allgemeinen moralischen Prinzipien als Maßstab für die Normen, Einrichtungen und Systeme des Miteinanders auf nationaler und internationaler Ebene darlegt.

Jenseits von Haß und Vorurteil

13. Trotz der Lehren der Geschichte und der Anstrengungen der Staaten, der internationalen Organisationen auf Welt- und Ortsebene, der Nichtregierungsorganisationen und aller Menschen guten Willens, die sich jeden Tag für den Schutz der Grundrechte und -freiheiten einsetzen, sind heute noch in der Welt Verfolgungen, Diskriminierungen, Akte der Gewalt und Intoleranz aus religiösen Gründen zu verzeichnen. Insbesondere in Asien und Afrika sind die Opfer hauptsächlich Angehörige der religiösen Minderheiten, die daran gehindert werden, die eigene Religion frei zu bekennen oder sie zu wechseln, und zwar durch Einschüchterung und Verletzung der Grundrechte, der Grundfreiheiten und der notwendigen Güter bis hin zur Beraubung der persönlichen Freiheit oder zum Verlust des Lebens selbst.

Es gibt dann – wie ich bereits festgestellt habe – raffiniertere Formen der Feindseligkeit gegenüber der Religion, die in den westlichen Ländern mitunter in der Verleugnung der Geschichte und der religiösen Symbole, die die Identität und die Kultur der Mehrheit der Bürger widerspiegeln, zum Ausdruck gebracht werden. Oft fachen sie Haß und Vorurteile an und stehen nicht im Einklang mit einer sachlichen und ausgewogenen Sicht des Pluralismus und der Laizität der Institutionen, ohne zu beachten, daß die jungen Generationen Gefahr laufen, mit dem wertvollen geistigen Erbe ihrer Länder nicht in Berührung zu kommen.

Die Verteidigung der Religion verläuft über die Verteidigung der Rechte und Freiheiten der Religionsgemeinschaften. Die Leader der großen Weltreligionen und die Verantwortlichen der Nationen mögen daher ihr Bemühen um die Förderung und den Schutz der Religionsfreiheit erneuern, insbesondere um die Verteidigung der religiösen Minderheiten, die keine Gefahr für die Identität der Mehrheit darstellen, sondern, im Gegenteil, eine Gelegenheit zum Dialog und zur gegenseitigen kulturellen Bereicherung. Ihre Verteidigung ist die ideale Art und Weise, den Geist des Wohlwollens, der Offenheit und der Gegenseitigkeit zu stärken, mit dem die Grundrechte und -freiheiten in allen Gebieten und Regionen der Welt geschützt werden können.

Die Religionsfreiheit in der Welt

14. Ich wende mich schließlich den christlichen Gemeinschaften zu, die unter Verfolgung, Diskriminierung, Akten der Gewalt und der Intoleranz leiden, insbesondere in Asien, in Afrika, im Nahen Osten und besonders im Heiligen Land, dem von Gott auserlesenen und gesegneten Ort. Während ich ihnen meine väterliche Zuneigung erneuere und sie meines Gebetes versichere, bitte ich alle Verantwortlichen um schnelles Handeln, um jeden Übergriff auf Christen zu beenden, die in jenen Gebieten leben. Die Jünger Christi mögen angesichts der gegenwärtigen Widrigkeiten nicht den Mut verlieren, denn das Zeugnis des Evangeliums ist und wird immer ein Zeichen des Widerspruchs sein.

Betrachten wir in unserem Herzen die Worte Jesu: „Selig die Trauernden; denn sie werden getröstet werden. […] Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie werden satt werden. […] Selig seid ihr, wenn ihr um meinetwillen beschimpft und verfolgt und auf alle mögliche Weise verleumdet werdet. Freut euch und jubelt: Euer Lohn im Himmel wird groß sein“ (Mt 5,4-12). Erneuern wir nun „die übernommene Verpflichtung zur Nachsicht und zum Verzeihen, die wir im Vater unser von Gott erbitten, wo wir selbst die Bedingung und das Maß des ersehnten Erbarmens festlegen, wenn wir nämlich beten: ‚Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern‘ (Mt 6,12)“.[17] Gewalt wird nicht mit Gewalt überwunden. Unser Schmerzensschrei soll immer vom Glauben, von der Hoffnung und vom Zeugnis der Liebe Gottes begleitet werden. Ich drücke auch meine Hoffnung aus, daß im Westen, besonders in Europa, die Feindschaft und die Vorurteile gegen Christen aufhören, die darauf beruhen, daß sie ihr eigenes Leben in einer konsequenten Weise nach den Werten und den Grundsätzen ausrichten wollen, wie sie im Evangelium zum Ausdruck gebracht sind. Europa möge sich vielmehr mit seinen eigenen christlichen Wurzeln wiederversöhnen, die grundlegend sind, um die Rolle zu begreifen, die es gehabt hat, die es hat und die es in der Geschichte haben will. So wird es auf Gerechtigkeit, Eintracht und Frieden hoffen können, wenn es einen ernsthaften Dialog mit allen Völkern pflegt.

Religionsfreiheit, ein Weg für den Frieden

15. Die Welt braucht Gott. Sie braucht ethische und geistliche Werte, die allgemein geteilt werden. Und die Religion kann bei dieser Suche einen wertvollen Beitrag für den Aufbau einer gerechten und friedlichen sozialen Ordnung auf nationaler und internationaler Ebene leisten.

Der Friede ist ein Geschenk Gottes und zugleich ein Plan, der realisiert werden muß und nie ganz vollendet ist. Eine mit Gott versöhnte Gesellschaft ist näher am Frieden, der nicht einfach das Fehlen von Krieg, nicht bloß Frucht militärischer oder wirtschaftlicher Vorherrschaft und noch weniger täuschender Irreführung oder geschickter Manipulationen ist. Der Friede ist hingegen das Ergebnis eines Prozesses der Reinigung und des kulturellen, moralischen und geistlichen Fortschritts einer jeden Person und eines jeden Volkes, in dem die menschliche Würde vollkommen geachtet wird. Alle, die Mitarbeiter des Friedens werden wollen, und besonders die Jugendlichen lade ich ein, auf ihre innere Stimme zu hören, um in Gott den festen Bezugspunkt für den Gewinn echter Freiheit und die unerschöpfliche Kraft zu finden, um die Welt mit einem neuen Geist auszurichten, der befähigt, die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen. Papst Paul VI., dessen Weisheit und Weitblick die Einrichtung des Weltfriedenstags zu verdanken ist, lehrt: „Man muß dem Frieden vor allem andere Waffen geben als jene, die zum Töten und Vernichten der Menschheit bestimmt sind. Man braucht vor allem moralische Waffen, die dem internationalen Recht Kraft und Geltung verschaffen; zuallererst jene zur Einhaltung der Verträge.“[18] Die Religionsfreiheit ist eine echte Waffe des Friedens mit einer geschichtlichen und prophetischen Mission. Sie bringt in der Tat die tiefsten Eigenschaften und Möglichkeiten des Menschen, die die Welt verändern und verbessern können, zur Geltung und macht sie fruchtbar. Sie erlaubt, die Hoffnung auf eine Zukunft der Gerechtigkeit und des Friedens zu nähren, auch gegenüber den schweren Ungerechtigkeiten sowie den materiellen und moralischen Nöten. Auf daß alle Menschen und die Gesellschaften auf allen Ebenen und in jedem Teil der Erde bald die Religionsfreiheit als Weg für den Frieden erfahren können!

Aus dem Vatikan, am 8. Dezember 2010

 

BENEDICTUS PP XVI

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Quelle

Papst Benedikt XVI.: Die jungen Menschen zur Gerechtigkeit und zum Frieden erziehen

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BOTSCHAFT
SEINER HEILIGKEIT
PAPST BENEDIKT XVI.

ZUR FEIER DES
WELTFRIEDENSTAGES

1. JANUAR 2012

DIE JUNGEN MENSCHEN ZUR GERECHTIGKEIT UND
ZUM FRIEDEN ERZIEHEN

 

1. Der Anfang eines neuen Jahres, das ein Geschenk Gottes an die Menschheit ist, regt mich an, von Herzen und mit großer Zuversicht an alle einen besonderen Glückwunsch zu richten für diese Zeit, die vor uns liegt, daß sie konkret von Gerechtigkeit und Frieden geprägt sei.

Mit welcher Einstellung soll man auf das neue Jahr schauen? In Psalm 130 finden wir ein sehr schönes Bild. Der Psalmist sagt, daß der gläubige Mensch auf den Herrn wartet, „mehr als die Wächter auf den Morgen“ (V. 6); er erwartet ihn mit fester Hoffnung, denn er weiß, daß er Licht, Barmherzigkeit, Heil bringen wird. Diese Erwartung geht aus der Erfahrung des auserwählten Volkes hervor, das erkennt, von Gott dazu erzogen zu sein, die Welt in ihrer Wahrheit zu sehen und sich von den Nöten nicht niederschlagen zu lassen. Ich lade euch ein, mit dieser zuversichtlichen Einstellung auf das Jahr 2012 zu schauen. Es stimmt, daß im zu Ende gehenden Jahr das Gefühl der Frustration zugenommen hat durch die Krise, welche die Gesellschaft, die Arbeitswelt und die Wirtschaft bedrängt – eine Krise, deren Wurzeln vor allem kultureller und anthropologischer Art sind. Es scheint beinahe, als habe ein dichter Schleier unsere Zeit in Dunkelheit gehüllt und erlaube nicht, das Tageslicht deutlich zu erkennen.

In dieser Dunkelheit hört jedoch das Herz des Menschen nicht auf, das Morgenrot zu erwarten,  von dem der Psalmist spricht. Diese Erwartung ist bei den jungen Menschen besonders lebendig und augenscheinlich, und deshalb wenden sich meine Gedanken an sie, in Anbetracht des Beitrags, den sie für die Gesellschaft leisten können und müssen. So möchte ich die Botschaft zum 45. Weltfriedenstag unter dem Aspekt der Erziehung vorstellen: „Die jungen Menschen zur Gerechtigkeit und zum Frieden erziehen“, in der Überzeugung, daß sie mit ihrer Begeisterung und ihrem idealistischen Ansporn der Welt eine neue Hoffnung geben können.

Meine Botschaft richtet sich auch an die Eltern, die Familien, an alle, die mit der Erziehung und der Ausbildung betraut sind, sowie an die Verantwortlichen in den verschiedenen Bereichen des religiösen, gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen, kulturellen Lebens und in dem Bereich der Kommunikation. Aufmerksam auf die Welt der Jugend sein und es verstehen, sie anzuhören und zur Geltung zu bringen, ist nicht nur zweckmäßig, sondern es ist eine Hauptaufgabe der ganzen Gesellschaft für den Aufbau einer Zukunft in Gerechtigkeit und Frieden. Es geht darum, den jungen Menschen die Wertschätzung für die positive Bedeutung des Lebens zu vermitteln, indem man in ihnen den Wunsch weckt, es für den Dienst am Guten einzusetzen. Das ist eine Aufgabe, in der wir alle persönlich gefordert sind.

Die in letzter Zeit von vielen Jugendlichen in verschiedenen Regionen der Welt geäußerten Sorgen drücken den Wunsch aus, mit begründeter Hoffnung in die Zukunft schauen zu können. Im gegenwärtigen Augenblick gibt es viele Aspekte, die sie mit Besorgnis erfüllen: der Wunsch, eine Ausbildung zu erhalten, die sie gründlicher darauf vorbereitet, sich der Wirklichkeit zu stellen; die Schwierigkeit, eine Familie zu bilden und einen sicheren Arbeitsplatz zu finden; die effektive Fähigkeit, einen Beitrag zur Welt der Politik, der Kultur und der Wirtschaft zu leisten für die Bildung einer Gesellschaft, deren Gesicht menschlicher und solidarischer ist. Es ist wichtig, daß diese Fermente und der idealistische Antrieb, den sie enthalten, in allen Teilen der Gesellschaft die gebührende Aufmerksamkeit finden. Die Kirche sieht voller Hoffnung auf die Jugendlichen, sie vertraut ihnen und ermutigt sie, nach der Wahrheit zu suchen, das Gemeinwohl zu verteidigen, weltoffene Perspektiven zu haben und Augen, die fähig sind, „Neues“ zu sehen (Jes 42,9; 48,6)!

Die für die Erziehung Verantwortlichen

2. Die Erziehung ist das faszinierendste und schwierigste Abenteuer des Lebens. Erziehen – lateinisch educere – bedeutet, einen Menschen über sich selbst hinauszuführen, um ihn in die Wirklichkeit einzuführen, in eine Fülle, die ihn wachsen läßt. Dieser Prozeß wird gespeist durch die Begegnung zweier Freiheiten, der des Erwachsenen und der des Jugendlichen. Er verlangt die Verantwortung des Schülers, der offen sein muß, sich zur Erkenntnis der Wirklichkeit führen zu lassen, und die des Erziehers, der bereit sein muß, sich selbst zu verschenken. Daher sind vor allem authentische Zeugen notwendig und nicht bloße Austeiler von Regeln und Informationen; Zeugen, die weiter zu blicken vermögen als die anderen, weil ihr Leben weitere Räume umfaßt. Zeuge ist derjenige, der den Weg, den er vorschlägt, zuerst einmal vorlebt.

Welches sind die Orte, an denen eine wirkliche Erziehung zum Frieden und zur Gerechtigkeit reift? Vor allem die Familie, denn die Eltern sind die ersten Erzieher. Die Familie ist die Keimzelle der Gesellschaft. „In der Familie erlernen die Kinder die menschlichen und christlichen Werte, die ein konstruktives und friedliches Zusammenleben gestatten. In der Familie lernt man die Solidarität zwischen den Generationen, die Achtung der Regeln, die Vergebung und die Annahme des anderen“.[1] Sie ist die erste Schule, in der man zur Gerechtigkeit und zum Frieden erzogen wird.

Wir leben in einer Welt, in der die Familie und auch das Leben selbst ständig bedroht und nicht selten zerbrochen bzw. aufgesplittert ist. Arbeitsbedingungen, die oft kaum mit der familiären Verantwortung in Übereinstimmung gebracht werden können, Sorgen um die Zukunft, frenetische Lebensrhythmen, Migrationen auf der Suche nach einem angemessenen Unterhalt, wenn nicht nach dem bloßen Überleben erschweren schließlich die Möglichkeit, den Kindern eines der kostbarsten Güter zu sichern: die Anwesenheit der Eltern – eine Anwesenheit, die ein immer tieferes Miteinander auf dem Weg erlaubt, um jene Erfahrung und jene  im Laufe der Jahre gewonnenen Sicherheiten weitergeben zu können, die man nur mit der gemeinsam verbrachten Zeit vermitteln kann. Den Eltern möchte ich nahelegen, nicht den Mut zu verlieren! Mit dem Beispiel ihres Lebens sollen sie ihre Kinder ermuntern, die Hoffnung vor allem auf Gott zu setzen, von dem allein echte Gerechtigkeit und echter Friede ausgehen.

Ich möchte mich auch an die Verantwortlichen der Einrichtungen wenden, die Erziehungsaufgaben haben: Sie mögen mit großem Verantwortungsgefühl darüber wachen, daß die Würde jeder Person unter allen Umständen geachtet und zur Geltung gebracht wird. Durch eine Begleitung, welche die Gaben fruchtbar werden läßt, die der Herr einem jeden gewährt hat, mögen sie dafür Sorge tragen, daß jeder junge Mensch seine persönliche Berufung entdecken kann. Sie sollen den Familien die Sicherheit geben, daß ihren Kindern ein Bildungsweg geboten wird, der nicht im Gegensatz zu ihrem Gewissen und ihren religiösen Prinzipien steht.

Möge jeder Bereich pädagogischer Arbeit ein Ort der Offenheit gegenüber dem Transzendenten und gegenüber den anderen sein; ein Ort des Dialogs, des Zusammenhalts und des Hörens, in dem der Jugendliche spürt, daß seine persönlichen Möglichkeiten und inneren Werte zur Geltung gebracht werden, und lernt, seine Mitmenschen zu schätzen. Mögen sie dazu anleiten, die Freude zu empfinden, die daraus entspringt, daß man Tag für Tag Liebe und Mitgefühl gegenüber dem Nächsten praktiziert und sich aktiv am Aufbau einer menschlicheren und brüderlicheren Gesellschaft beteiligt.

Sodann wende ich mich an die Verantwortlichen in der Politik und fordere sie auf, den Familien und den Erziehungseinrichtungen konkret zu helfen, ihr Recht der Erziehung, das zugleich eine Pflicht ist, wahrzunehmen. Niemals darf es an einer angemessenen Unterstützung der Mutter- und Vaterschaft fehlen. Die Politiker mögen dafür sorgen, daß niemandem der Zugang zur Ausbildung verweigert wird und daß die Familien frei die Erziehungseinrichtungen wählen können, die sie für das Wohl ihrer Kinder als am besten geeignet ansehen. Sie mögen sich dafür einsetzen, die Zusammenführung jener Familien zu fördern, die aufgrund der Notwendigkeit, ihren Unterhalt zu bestreiten, getrennt sind. Den jungen Menschen sollen sie ein lauteres Bild der Politik als eines wahren Dienstes für das Wohl aller bieten. Außerdem kann ich nicht umhin, an die Welt der Medien zu appellieren, ihren erzieherischen Beitrag zu leisten. In der heutigen Gesellschaft kommt den Massenkommunikationsmitteln eine besondere Rolle zu: Sie informieren nicht nur den Geist ihrer Adressaten, sondern sie formen ihn auch und können folglich beträchtlich zur Erziehung der Jugendlichen beitragen. Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, daß die Verbindung zwischen Erziehung und Kommunikation äußerst eng ist: Die Erziehung ereignet sich ja durch Kommunikation, welche die Bildung des Menschen positiv oder negativ beeinflußt. Auch die Jugendlichen müssen den Mut haben, zuallererst selber das zu leben, was sie von ihrer Umgebung fordern. Es ist eine große Verantwortung, die sie betrifft: Sie sollen die Kraft haben, ihre Freiheit in guter und verantwortungsvoller Weise zu gebrauchen. Auch sie sind verantwortlich für ihre Erziehung und Bildung zur Gerechtigkeit und zum Frieden!

Zur Wahrheit und zur Freiheit erziehen

3. Der heilige Augustinus hat sich gefragt: „Quid enim fortius desiderat anima quam veritatem? – Was ersehnt der Mensch stärker als die Wahrheit?“[2] Das menschliche Gesicht einer Gesellschaft hängt sehr vom Beitrag der Erziehung ab, diese nicht zu unterdrückende Frage lebendig zu erhalten. Denn die Erziehung betrifft die ganzheitliche Bildung des Menschen, einschließlich der moralischen und spirituellen Dimension des Seins, im Hinblick auf sein letztes Ziel und auf das Wohl der Gesellschaft, deren Glied er ist. Darum muß man, um zur Wahrheit zu erziehen, zunächst einmal wissen, was der Mensch ist, muß man seine Natur kennen. Bei der Betrachtung dessen, was ihn umgibt, überlegt der Psalmist: „Seh ich den Himmel, das Werk deiner Finger, Mond und Sterne, die du befestigt: Was ist der Mensch, daß du an ihn denkst, des Menschen Kind, daß du dich seiner annimmst?“ (Ps 8,4-5). Das ist die grundlegende Frage, die man sich stellen muß: Was ist der Mensch? Der Mensch ist ein Wesen, das einen Durst nach Unendlichkeit im Herzen trägt, einen Durst nach Wahrheit – nicht nach einer Teilwahrheit, sondern nach der Wahrheit, die den Sinn des Lebens zu erklären vermag –, denn er ist als Gottes Abbild und ihm ähnlich erschaffen worden. Dankbar das Leben als unschätzbares Geschenk zu erkennen führt also zur Entdeckung der eigenen inneren Würde und der Unantastbarkeit jedes Menschen. Darum besteht die erste Erziehung darin zu lernen, im Menschen das Bild des Schöpfers zu erkennen, folglich eine hohe Achtung für jedes menschliche Wesen zu hegen und den anderen zu helfen, ein dieser höchsten Würde entsprechendes Leben zu verwirklichen. Man darf niemals vergessen, daß „die echte Entwicklung des Menschen einheitlich die Gesamtheit der Person in all ihren Dimensionen betrifft“, einschließlich der transzendenten [3], und daß man nicht den Menschen opfern darf, um ein spezielles Gut – sei es wirtschaftlicher oder sozialer, individueller oder gemeinschaftlicher Art – zu erlangen.

Allein in der Beziehung zu Gott begreift der Mensch auch die Bedeutung der eigenen Freiheit. Und es ist Aufgabe der Erziehung, zu echter Freiheit heranzubilden. Diese besteht nicht im Fehlen von Bindungen oder in der Herrschaft der Willkür, sie ist nicht der Absolutismus des Ich. Der Mensch,  der sich selbst absolut setzt, der meint, von nichts und niemandem abhängig zu sein und alles tun zu können, was er will, widerspricht letztlich der Wahrheit seines eigenen Seins und verliert seine Freiheit. Der Mensch ist vielmehr ein relationales Wesen, das in Beziehung zu den anderen und vor allem zu Gott lebt. Die echte Freiheit kann niemals erreicht werden, indem man sich von Gott entfernt.

Die Freiheit ist ein kostbarer, aber heikler Wert; sie kann mißverstanden und mißbraucht werden. „Ein besonders tückisches Hindernis für die Erziehungsarbeit stellt heute in unserer Gesellschaft und Kultur das massive Auftreten jenes Relativismus dar, der nichts als definitiv anerkennt und als letzten Maßstab nur das eigene Ich mit seinen Gelüsten gelten läßt und unter dem Anschein der Freiheit für jeden zu einem Gefängnis wird, weil er den einen vom anderen trennt und jeden dazu erniedrigt, sich ins eigene »Ich« zu verschließen. Innerhalb eines solchen relativistischen Horizonts ist daher wahre Erziehung gar nicht möglich: Denn ohne das Licht der Wahrheit sieht sich früher oder später jeder Mensch dazu verurteilt, an der Qualität seines eigenen Lebens und der Beziehungen, aus denen es sich zusammensetzt, ebenso zu zweifeln wie an der Wirksamkeit seines Einsatzes dafür, gemeinsam mit anderen etwas aufzubauen“ [4].

Um seine Freiheit auszuüben, muß der Mensch also den relativistischen Horizont überwinden und die Wahrheit über sich selbst und die Wahrheit über Gut und Böse erkennen. Im Innern seines Gewissens entdeckt der Mensch ein Gesetz, das er sich nicht selbst gibt, sondern dem er gehorchen muß und dessen Stimme ihn zur Liebe und zum Tun des Guten und zur Unterlassung des Bösen aufruft und dazu, die Verantwortung für das vollbrachte Gute und das getane Böse zu übernehmen.[5] Deswegen ist die Ausübung der Freiheit zuinnerst an das natürliche Sittengesetz gebunden, das universaler Art ist, die Würde eines jeden Menschen ausdrückt, die Basis seiner fundamentalen Rechte und Pflichten und also letztlich des gerechten und friedlichen Zusammenlebens der Menschen bildet. Der rechte Gebrauch der Freiheit steht also im Mittelpunkt der Förderung von Gerechtigkeit und Frieden, welche die Achtung vor sich selbst und gegenüber dem anderen verlangen, auch wenn dieser weit von der eigenen Seins- und Lebensweise abweicht. Aus dieser Haltung entspringen die Elemente, ohne die Frieden und Gerechtigkeit Worte ohne Inhalt bleiben: das gegenseitige Vertrauen, die Fähigkeit, einen konstruktiven Dialog zu führen, die Möglichkeit der Vergebung, die man so viele Male erhalten möchte, sich jedoch schwer tut, sie zu gewähren, die wechselseitige Liebe, das Mitgefühl gegenüber den Schwächsten wie auch die Opferbereitschaft.

Zur Gerechtigkeit erziehen

4. In unserer Welt, in der die Bedeutung der Person, ihrer Würde und ihrer Rechte jenseits der Absichtserklärungen ernstlich bedroht ist durch die verbreitete Tendenz, ausschließlich auf Kriterien der Nützlichkeit, des Profits und des Besitzes zurückzugreifen, ist es wichtig, den Begriff der Gerechtigkeit nicht von seinen transzendenten Wurzeln zu trennen. Die Gerechtigkeit ist ja nicht eine bloße menschliche Vereinbarung, denn was gerecht ist, wird nicht ursprünglich vom positiven Gesetz bestimmt, sondern von der tiefen Identität des Menschen. Es ist die ganzheitliche Anschauung des Menschen, die es erlaubt, nicht in eine vom Vertragsdenken beeinflußte Auffassung der Gerechtigkeit zu verfallen, sondern auch ihr den Horizont der Solidarität und der Liebe zu öffnen.[6]

Wir können nicht übersehen, daß manche Strömungen der modernen Kultur, gestützt auf rationalistische und individualistische Wirtschaftsprinzipien, den Begriff der Gerechtigkeit durch dessen Trennung von der Liebe und der Solidarität seiner transzendenten Wurzeln beraubt haben: „Die »Stadt des Menschen« wird nicht nur durch Beziehungen auf der Grundlage von Rechten und Pflichten gefördert, sondern noch mehr und zuerst durch Verbindungen, die durch Unentgeltlichkeit, Barmherzigkeit und Gemeinsamkeit gekennzeichnet sind. Die Nächstenliebe offenbart auch in den menschlichen Beziehungen immer die Liebe Gottes; diese verleiht jedem Einsatz für Gerechtigkeit in der Welt einen theologalen und heilbringenden Wert“.[7]

„Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie werden satt werden“ (Mt 5,6). Sie werden satt werden, weil sie hungern und dürsten nach rechten Beziehungen zu Gott, zu sich selbst, zu ihren Mitmenschen und zur gesamten Schöpfung.

Zum Frieden erziehen

5. „Friede besteht nicht einfach darin, daß kein Krieg ist; er läßt sich nicht bloß durch das Gleichgewicht der feindlichen Kräfte sichern. Friede auf Erden herrscht nur dann, wenn die persönlichen Güter gesichert sind, die Menschen frei miteinander verkehren können, die Würde der Personen und der Völker geachtet und die Brüderlichkeit unter den Menschen gepflegt wird“ [8].

Der Friede ist die Frucht der Gerechtigkeit und die Wirkung der Liebe. Er ist vor allem ein Geschenk Gottes. Wir Christen glauben, daß Christus unser wahrer Friede ist: In ihm, in seinem Kreuz, hat Gott die Welt mit sich versöhnt und die Schranken zerstört, die uns voneinander trennten (vgl. Eph 2,14-18); in ihm gibt es eine einzige, in der Liebe versöhnte Familie. Doch der Friede ist nicht nur ein Geschenk, das man empfängt, sondern auch ein Werk, das man aufbauen muß. Um wirklich Friedensstifter zu sein, müssen wir uns zum Mitgefühl, zur Solidarität, zur Zusammenarbeit und zur Brüderlichkeit erziehen, in der Gemeinschaft aktiv sein und wachsam, die Gewissen aufzurütteln für die nationalen und internationalen Fragen und für die Wichtigkeit, geeignete Bestimmungen zur Umverteilung der Güter, zur Förderung des Wachstums, zur Zusammenarbeit an der Entwicklung und zur Lösung von Konflikten zu suchen. „Selig, die Frieden stiften; denn sie werden Söhne Gottes genannt werden“, sagt Jesus in der Bergpredigt (Mt 5,9).

Der Friede für alle entspringt aus der Gerechtigkeit eines jeden, und niemand kann sich dieser wesentlichen Verpflichtung entziehen, die Gerechtigkeit gemäß den eigenen Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten zu fördern. Besonders die jungen Menschen, in denen das Streben nach den Idealen immer lebendig ist, bitte ich, die Geduld und die Hartnäckigkeit zu haben, die Gerechtigkeit und den Frieden zu suchen, den Geschmack am Gerechten und Wahren zu pflegen, auch wenn das möglicherweise mit Opfern verbunden ist und verlangt, gegen den Strom zu schwimmen.

Die Augen zu Gott erheben

6. Angesichts der schwierigen Herausforderung, die Wege der Gerechtigkeit und des Friedens zu gehen, können wir versucht sein, uns wie der Psalmist zu fragen: „Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen: Woher kommt mir Hilfe?“ (Ps 121,1).

Zu allen, besonders zu den jungen Menschen möchte ich mit Nachdruck sagen: „Nicht die Ideologien retten die Welt, sondern allein die Hinwendung zum lebendigen Gott, der unser Schöpfer, der Garant unserer Freiheit, der Garant des wirklich Guten und Wahren ist … die radikale Hinwendung zu Gott, der das Maß des Gerechten und zugleich die ewige Liebe ist. Und was könnte uns denn retten wenn nicht die Liebe?“[9] Die Liebe freut sich an der Wahrheit, sie ist die Kraft, die befähigt, sich für die Wahrheit, die Gerechtigkeit, und den Frieden einzusetzen, denn sie erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand (vgl. 1 Kor 13,1-13).

Liebe junge Freunde, ihr seid ein kostbares Geschenk für die Gesellschaft. Laßt euch angesichts  der Schwierigkeiten nicht von der Entmutigung überwältigen, und gebt euch nicht falschen Lösungen hin, die sich oft als der einfachste Weg zur Überwindung der Probleme präsentieren. Scheut euch nicht, euch einzusetzen, Mühen und Opfer auf euch zu nehmen, die Wege zu wählen, die Treue und Beständigkeit, Demut und Hingabe verlangen. Lebt eure Jugend und die tiefe Sehnsucht nach Glück, Wahrheit, Schönheit und echter Liebe, die ihr verspürt, mit Zuversicht! Lebt dieses Lebensalter, das so reich und voller Begeisterung ist, ganz intensiv.

Seid euch bewußt, daß ihr selbst den Erwachsenen Vorbild und Ansporn seid, und das um so mehr, je mehr ihr euch anstrengt, Ungerechtigkeiten und Korruption zu überwinden, je mehr ihr eine bessere Zukunft ersehnt und euch einsetzt, um sie aufzubauen. Seid euch eurer Möglichkeiten bewußt und verschließt euch nie in euch selbst, sondern versteht, für eine Zukunft zu arbeiten, die für alle heller ist. Ihr seid nie allein. Die Kirche vertraut euch, sie begleitet euch, ermutigt euch und möchte euch das wertvollste anbieten, was sie hat: die Möglichkeit, die Augen zu Gott zu erheben, Jesus Christus zu begegnen, dem, der die Gerechtigkeit und der Friede selber ist.

An euch alle, Männer und Frauen, denen die Sache des Friedens am Herzen liegt: Der Friede ist nicht ein schon erreichtes Gut, sondern ein Ziel, das wir alle und jeder einzelne anstreben müssen. Blicken wir mit größerer Hoffnung auf die Zukunft, ermutigen wir uns gegenseitig auf unserem Weg, arbeiten wir, um unserer Welt ein menschlicheres und brüderlicheres Gesicht zu geben, und fühlen wir uns vereint in der Verantwortung für die gegenwärtigen und die kommenden jungen Generationen, besonders indem wir sie dazu erziehen, friedliebend und Friedensstifter zu sein. In diesem Bewußtsein sende ich euch diese Überlegungen und richte meinen Appell an euch: Vereinen wir unsere geistigen, moralischen und materiellen Kräfte, um „die jungen Menschen zur Gerechtigkeit und zum Frieden zu erziehen“.

Aus dem Vatikan, am 8. Dezember 2011

BENEDICTUS PP XVI

 

[1] BENEDIKT XVI., Ansprache an die Verwaltungsmitarbeiter der Region Latium, der Stadt und der Provinz Rom (14. Januar 2011):L’Osservatore Romano (dt.), Jg. 41, Nr. 4 (28. Januar 2011), S. 7.

[2] Kommentar zum Johannesevangelium, 26,5.

[3] BENEDIKT XVI., Enzyklika Caritas in veritate (29. Juni 2009), 11: AAS 101 (2009), 648; vgl. PAUL VI., Enzyklika Populorum progressio (26. März 1967), 14: AAS 59 (1967), 264.

[4] BENEDIKT XVI., Ansprache bei der Eröffnung der Pastoraltagung der Diözese Rom zum Thema Familie (Lateranbasilika, 6. Juni 2005):AAS 97 (2005) 816; L’Osservatore Romano (dt.) Jg. 35, Nr. 24, S. 8.

[5] Vgl. ZWEITES VATIKANISCHES KONZIL, Past. Konst. Gaudium et spes, 16.

[6] Vgl. BENEDIKT XVI., Ansprache an den Bundestag (Berlin, 22. September 2011): L’Osservatore Romano (dt.) Jg. 41 (2011), Nr. 39 (30. September 2011), S. 4-5.

[7] DERS., Enzyklika Caritas in veritate (29. Juni 2009), 6: AAS 1101 (2009), 644-645.

[8] Katechismus der Katholischen Kirche, 2304.

[9] Vgl. BENEDIKT XVI., Vigil mit den Jugendlichen (Köln, 20.August 2005): AAS 97 (2005) 885-886; L’Osservatore Romano (dt.) Jg. 35, Nr. 34, S. 14.

Papst Franziskus: Überwinde die Gleichgültigkeit und erringe den Frieden

S07

Botschaft des Heiligen Vaters Papst Franziskus
zur Feier des Weltfriedenstages 1. Januar 2016

1. Gott ist nicht gleichgültig! Für Gott ist die Menschheit wichtig, Gott verlässt sie nicht! Mit dieser meiner tiefen Überzeugung möchte ich zu Beginn des neuen Jahres meine Glückwünsche verbinden: Im Zeichen der Hoffnung wünsche ich reichen Segen und Frieden für die Zukunft eines jeden Menschen, jeder Familie, jedes Volkes und jeder Nation der Erde sowie für die Zukunft der Staatsoberhäupter, der Regierungen und der Verantwortungsträger der Religionen. Wir verlieren nämlich nicht die Hoffnung, dass sich im Jahr 2016 alle entschieden und zuversichtlich dafür engagieren, auf verschiedenen Ebenen die Gerechtigkeit zu verwirklichen und für den Frieden zu arbeiten. Ja, dieser Friede ist Gabe Gottes und Werk der Menschen – Gabe Gottes, die aber allen Männern und Frauen anvertraut ist: Sie sind berufen, ihn zu verwirklichen.

Die Gründe zur Hoffnung bewahren

2. Kriege und terroristische Aktionen mit ihren tragischen Folgen, Entführungen, ethnisch und religiös motivierte Verfolgungen und Machtmissbrauch haben das vergangene Jahr von Anfang an bis zu seinem Ende charakterisiert und sich in zahlreichen Regionen der Welt so vervielfältigt, dass sie die Züge dessen angenommen haben, was man einen »dritten Weltkrieg in Abschnitten« nennen könnte. Doch einige Ereignisse der vergangenen Jahre und des gerade verbrachten Jahres regen mich an, im Hinblick auf das neue Jahr wieder dazu aufzufordern, die Hoffnung auf die Fähigkeit des Menschen, mit Gottes Gnade das Böse zu überwinden, nicht zu verlieren und sich nicht der Resignation und der Gleichgültigkeit hinzugeben. Die Ereignisse, auf die ich mich beziehe, zeigen die Fähigkeit der Menschheit zu solidarischem Handeln, jenseits von individualistischen Interessen, von Apathie und Gleichgültigkeit gegenüber schwierigen Situationen.

Unter diesen möchte ich die Anstrengungen erwähnen, die unternommen wurden, um das Treffen der weltweiten Leader im Rahmen der COP21 zu erleichtern, mit dem Ziel, neue Wege zur Bewältigung des Klimawandels und zur Sicherung des Wohls der Erde, unseres gemeinsamen Hauses, zu suchen. Und das verweist auf zwei vorangegangene Ereignisse auf globaler Ebene: auf das Gipfeltreffen von Addis Abeba, um Mittel für die nachhaltige Entwicklung der Welt zu sammeln, und auf die Annahme der Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung durch die Vereinten Nationen, die den Zweck verfolgt, bis zu jenem Jahr allen – und vor allem den armen Bevölkerungen des Planeten – ein würdigeres Dasein zu sichern.

Für die Kirche war 2015 ein besonderes Jahr, auch weil es den fünfzigsten Jahrestag der Veröffentlichung zweier Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils markierte, die besonders aussagekräftig den Sinn der Kirche für die Solidarität mit der Welt wiedergeben. Papst Johannes XXIII. wollte zu Beginn des Konzils die Fenster der Kirche aufreißen, damit die Kommunikation zwischen ihr und der Welt offener sei. Die beiden Dokumente – Nostra aetate und Gaudium et spes – sind ein beispielhafter Ausdruck der neuen Beziehung des Dialogs, der Solidarität und der Begleitung, welche die Kirche innerhalb der Menschheit einführen wollte. In der Erklärung Nostra aetate wird die Kirche aufgefordert, sich dem Dialog mit den nicht christlichen Religionen zu öffnen. In der Pastoralen Konstitution Gaudium et spes wollte die Kirche, da »Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, […] auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi«1 sind, einen Dialog mit der Menschheitsfamilie über die Probleme der Welt aufnehmen, als ein Zeichen der Solidarität und der respektvollen Zuneigung.2

Aus derselben Perspektive möchte ich mit dem Jubiläum der Barmherzigkeit die Kirche einladen zu beten und zu arbeiten, damit alle Chris­ten in sich ein demütiges und mitfühlendes Herz heranreifen lassen, das fähig ist, die Barmherzigkeit zu verkünden und zu bezeugen; das fähig ist, »zu vergeben und [sich] selbst hinzugeben«; das fähig ist, sich zu öffnen »für alle, die an den unterschiedlichsten existenziellen Peripherien leben, die die moderne Welt in oft dramatischer Weise hervorbringt«, und nicht absinkt »in die Gleichgültigkeit, die erniedrigt, in die Gewohnheit, die das Gemüt betäubt und die verhindert, etwas Neues zu entdecken, in den Zynismus, der zerstört«.3

Es gibt vielerlei Gründe, an die Fähigkeit der Menschheit zu glauben, gemeinsam zu handeln, in Solidarität und unter Anerkennung der gegenseitigen Bindung und Abhängigkeit, und dabei die schwächsten Glieder sowie die Wahrung des Gemeinwohls besonders im Auge zu haben. Diese Haltung einer solidarischen Mitverantwortung ist die Basis für die grundlegende Berufung zu Geschwisterlichkeit und Gemeinschaftsleben. Die Würde und die zwischenmenschlichen Beziehungen gehören wesentlich zum Menschen, den Gott ja als sein Abbild und ihm ähnlich erschaffen wollte. Als Geschöpfe, die mit einer unveräußerlichen Würde begabt sind, existieren wir in Beziehung zu unseren Brüdern und Schwestern, denen gegenüber wir eine Verantwortung tragen und uns solidarisch verhalten. Ohne diese Beziehung würde man weniger menschlich sein. Gerade deshalb stellt die Gleichgültigkeit eine Bedrohung für die Menschheits­familie dar. Während wir uns auf den Weg in ein neues Jahr begeben, möchte ich alle einladen, diesen Sachverhalt zu erkennen, um die Gleichgültigkeit zu überwinden und den Frieden zu erringen.

Einige Formen der Gleichgültigkeit

3. Gewiss, die Haltung des Gleichgültigen – dessen, der sein Herz verschließt, um die anderen nicht in Betracht zu ziehen, der die Augen schließt, um nicht zu sehen, was ihn umgibt, oder ausweicht, um nicht von den Problemen anderer berührt zu werden – kennzeichnet einen Menschentyp, der ziemlich verbreitet und in jeder geschichtlichen Epoche anzutreffen ist. Doch in unseren Tagen hat sie entschieden den individuellen Bereich überschritten, um eine globale Dimension anzunehmen und das Phänomen der »Globalisierung der Gleichgültigkeit« zu erzeugen.

Die erste Form der Gleichgültigkeit in der menschlichen Gesellschaft ist die gegenüber Gott, aus der auch die Gleichgültigkeit gegenüber dem Nächsten und gegenüber der Schöpfung entspringt. Es ist dies eine der schwerwiegenden Nachwirkungen eines falschen Humanismus und des praktischen Materialismus in Kombination mit einem relativistischen und nihilistischen Denken. Der Mensch meint, der Urheber seiner selbst, seines Lebens und der Gesellschaft zu sein. Er fühlt sich unabhängig und trachtet nicht nur danach, den Platz Gottes einzunehmen, sondern völlig ohne Gott auszukommen. Folglich meint er, niemandem etwas schuldig zu sein außer sich selbst, und beansprucht, nur Rechte zu besitzen.4 Gegen dieses irrige Selbstverständnis des Menschen erinnerte Benedikt XVI. daran, dass weder der Mensch, noch seine Entwicklung in der Lage sind, sich selbst ihren letzten Sinn zu geben.5 Und vor ihm hatte Paul VI. bekräftigt: »Nur jener Humanismus also ist der wahre, der sich zum Absoluten hin öffnet, in Dank für eine Berufung, die die richtige Auffassung vom menschlichen Leben schenkt.«6

Die Gleichgültigkeit gegenüber dem Nächs­ten nimmt verschiedene Gesichter an. Es gibt Menschen, die gut informiert sind, Radio hören, Zeitungen lesen oder Fernsehprogramme verfolgen, das aber mit innerer Lauheit tun, gleichsam in einem Zustand der Gewöhnung. Diese Leute haben eine vage Vorstellung von den Tragödien, welche die Menschheit quälen, fühlen sich aber nicht betroffen, spüren kein Mitleid. Das ist die Haltung dessen, der Bescheid weiß, aber den Blick, das Denken und das Handeln auf sich selbst gerichtet hält. Leider müssen wir feststellen, dass die Zunahme der Informationen gerade in unserer Zeit von sich aus keine Zunahme an Aufmerksamkeit für die Probleme bedeutet, wenn sie nicht mit einer Öffnung des Bewusstseins im Sinn der Solidarität einhergeht.7 Ja, sie kann eine gewisse Sättigung nach sich ziehen, die betäubt und den Ernst der Probleme einigermaßen relativiert. »Einige finden schlicht Gefallen daran, die Armen und die armen Länder mit ungebührlichen Verallgemeinerungen der eigenen Übel zu beschuldigen und sich einzubilden, die Lösung in einer ›Erziehung‹ zu finden, die sie beruhigt und in gezähmte, harmlose Wesen verwandelt. Das wird noch anstößiger, wenn die Ausgeschlossenen jenen gesellschaftlichen Krebs wachsen sehen, der die in vielen Ländern – in den Regierungen, im Unternehmertum und in den Institutionen – tief verwurzelte Korruption ist, unabhängig von der politischen Ideologie der Regierenden.«8

In anderen Fällen zeigt sich die Gleichgültigkeit in Form eines Mangels an Aufmerksamkeit gegenüber der umliegenden Wirklichkeit, besonders der weiter entfernten. Einige Menschen ziehen es vor, nicht zu suchen, sich nicht zu informieren, und leben ihren Wohlstand und ihre Bequemlichkeit in Taubheit gegenüber dem schmerzvollen Aufschrei der leidenden Menschheit. Fast ohne es zu bemerken, sind wir unfähig geworden, Mitleid mit den anderen, mit ihrem Unglück zu empfinden. Wir haben kein Interesse daran, uns um sie zu kümmern, als sei das, was ihnen geschieht, eine uns fern liegende Verantwortung, die uns nichts angeht.9 So kommt es, dass wir, »wenn es uns gut geht und wir uns wohl fühlen, die anderen gewiss vergessen (was Gott Vater niemals tut); dass wir uns nicht für ihre Probleme, für ihre Leiden und für die Ungerechtigkeiten interessieren, die sie erdulden… Dann verfällt unser Herz der Gleichgültigkeit: Während es mir relativ gut geht und ich mich wohl fühle, vergesse ich jene, denen es nicht gut geht«.10

Da wir in einem gemeinsamen Haus leben, dürfen wir nicht unterlassen, uns zu fragen, wie es um seine Gesundheit steht – in der Enzyklika Laudato si’ habe ich das zu tun versucht. Die Verschmutzung von Wasser und Luft, die wahllose Ausbeutung der Wälder, die Zerstörung der Umwelt sind oft Frucht der Gleichgültigkeit des Menschen gegenüber den anderen, denn alles steht miteinander in Beziehung. Wie auch das Verhalten des Menschen gegenüber den Tieren seine Beziehungen zu den anderen beeinflusst11 – ganz zu schweigen von denen, die sich erlauben, woanders das zu tun, was sie im eigenen Hause nicht zu tun wagen.12

In diesen und anderen Fällen verursacht die Gleichgültigkeit vor allem Verschlossenheit und Teilnahmslosigkeit und trägt so schließlich zum Fehlen von Frieden mit Gott, mit dem Nächsten und mit der Schöpfung bei.

Die Bedrohung des Friedens durch die globalisierte Gleichgültigkeit

4. Die Gleichgültigkeit gegenüber Gott überschreitet den persönlichen und geistigen Bereich des Einzelnen und greift auf den öffentlichen und gesellschaftlichen Bereich über. So bemerkte Benedikt XVI.: Es gibt »eine enge Verbindung zwischen der Verherrlichung Gottes und dem Frieden der Menschen auf Erden«.13 Denn »ohne eine Offenheit auf das Transzendente hin wird der Mensch tatsächlich leicht zur Beute des Relativismus, und dann fällt es ihm schwer, gerecht zu handeln und sich für den Frieden einzusetzen«.14 Das Vergessen und die Leugnung Gottes, die den Menschen dazu verleiten, keinen Maßstab mehr über sich anzuerkennen und nur sich selbst zum Maßstab zu nehmen, haben maßlose Grausamkeit und Gewalt hervorgebracht.15

Auf individueller und gemeinschaftlicher Ebene nimmt die Gleichgültigkeit gegenüber dem Nächsten – eine Tochter der Gleichgültigkeit gegenüber Gott – die Züge der Trägheit und der Teilnahmslosigkeit an. Diese bilden einen Nährboden, auf dem Situationen von Ungerechtigkeit und schwerwiegendem sozialen Ungleichgewicht fortdauern, die dann ihrerseits zu Konflikten führen können oder in jedem Fall ein Klima der Unzufriedenheit erzeugen, das Gefahr läuft, früher oder später in Gewalt und Unsicherheit zu eskalieren.

In diesem Sinn stellen die Gleichgültigkeit und die daraus folgende Teilnahmslosigkeit eine schwere Verfehlung in Bezug auf die Pflicht eines jeden Menschen dar, entsprechend seinen Fähigkeiten und der Rolle, die er in der Gesellschaft spielt, zum Gemeinwohl beizutragen, im Besonderen zum Frieden, der eines der wertvollsten Güter der Menschheit ist.16

Wenn die Gleichgültigkeit dann die institutionelle Ebene betrifft – Gleichgültigkeit gegenüber dem anderen, gegenüber seiner Würde, seinen Grundrechten und seiner Freiheit – und mit einer von Profitdenken und Genusssucht geprägten Kultur gepaart ist, begünstigt und rechtfertigt sie manchmal auch Handlungen und politische Programme, die schließlich den Frieden bedrohen. Eine solche Haltung der Gleichgültigkeit kann auch so weit gehen, im Hinblick auf die Verfolgung des eigenen Wohlstands oder jenes der

Nation einige tadelnswerte Formen der Wirtschaftspolitik zu rechtfertigen, die zu Ungerechtigkeiten, Spaltungen und Gewalt führen. Nicht selten zielen nämlich die wirtschaftlichen und politischen Pläne der Menschen auf die Erlangung oder die Erhaltung von Macht und Reichtum ab, sogar um den Preis, die Rechte und die fundamentalen Bedürfnisse der anderen mit Füßen zu treten. Wenn die Bevölkerungen sehen, dass ihnen ihre Grundrechte wie Nahrung, Wasser, medizinische Versorgung oder Arbeit verweigert werden, sind sie versucht, sich diese mit Gewalt zu verschaffen.17

Darüber hinaus schafft die Gleichgültigkeit gegenüber der natürlichen Umwelt durch die Begünstigung von Entwaldung, Luftverschmutzung und Naturkatastrophen, die ganze Gemeinschaften aus ihrem Lebensbereich entwurzeln und ihnen Unstabilität und Unsicherheit aufzwingen, neue Formen der Armut und neue Situationen der Ungerechtigkeit mit häufig unheilvollen Konsequenzen hinsichtlich der Sicherheit und des sozialen Friedens. Wie viele Kriege sind geführt worden und werden noch geführt werden aufgrund des Mangels an Ressourcen oder um der unersättlichen Nachfrage nach natürlichen Ressourcen zu entsprechen?18

Von der Gleichgültigkeit zur Barmherzigkeit: die Umkehr des Herzens

5. Als ich vor einem Jahr in der Botschaft zum Weltfriedenstag »Nicht mehr Knechte, sondern Brüder« an das erste biblische Bild der menschlichen Geschwisterbeziehung – das von Kain und Abel (vgl. Gen 4,1-16) – erinnerte, sollte das die Aufmerksamkeit darauf lenken, wie diese erste Geschwisterbeziehung verraten worden ist. Kain und Abel sind Brüder. Beide entstammen sie demselben Schoß, besitzen die gleiche Würde und sind als Abbild Gottes und ihm ähnlich erschaffen; aber ihre kreatürliche Brüderlichkeit zerbricht. »Kain erträgt nicht nur nicht seinen Bruder Abel, sondern aus Neid tötet er ihn.«19 So wird der Brudermord die Form des Verrats, und die Ablehnung der Brüderlichkeit Abels durch Kain ist der erste Bruch in den familiären Beziehungen der Geschwisterlichkeit, der Solidarität und der gegenseitigen Achtung.

Gott greift dann ein, um den Menschen für seinen Mitmenschen zur Verantwortung zu ziehen, und er tut es genauso, wie er es tat, als Adam und Eva, die ersten Eltern, die Gemeinschaft mit dem Schöpfer gebrochen hatten. »Da sprach der Herr zu Kain: ›Wo ist dein Bruder Abel?‹ Er entgegnete: ,Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders?‘ Der Herr sprach: ›Was hast du getan? Das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden!‹« (Gen 4,9-10).

Kain gibt vor, nicht zu wissen, was mit seinem Bruder geschehen ist, und sagt, er sei nicht dessen Hüter. Er fühlt sich nicht verantwortlich für sein Leben, für sein Geschick. Er fühlt sich nicht betroffen. Er ist seinem Bruder gegenüber gleichgültig, obwohl sie durch ihre gemeinsame Herkunft miteinander verbunden sind. Wie traurig! Was für ein geschwisterliches, familiäres und menschliches Drama! Dies ist die erste Erscheinung der Gleichgültigkeit unter Brüdern. Gott hingegen ist nicht gleichgültig: Das Blut Abels ist in seinen Augen sehr wertvoll, er verlangt von Kain, Rechenschaft darüber abzulegen. Gott offenbart sich also vom Anbeginn der Menschheit an als derjenige, der sich für das Geschick der Menschen interessiert. Als sich später die Söhne Israels in Ägypten in der Sklaverei befinden, greift Gott von neuem ein. Er sagt zu Mose: »Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen, und ihre laute Klage über ihre Antreiber habe ich gehört. Ich kenne ihr Leid. Ich bin herabgestiegen, um sie der Hand der Ägypter zu entreißen und aus jenem Land hinaufzuführen in ein schönes, weites Land, in ein Land, in dem Milch und Honig fließen« (Ex 3,7-8). Es ist wichtig, auf die Verben zu achten, die das Eingreifen Gottes beschreiben: Er sieht, hört, kennt, steigt herab und entreißt, d.?h. befreit. Gott ist nicht gleichgültig. Er ist aufmerksam und handelt.

Auf die gleiche Weise ist Gott in seinem Sohn Jesus herabgestiegen unter die Menschen, hat Fleisch angenommen und hat sich in allem, außer der Sünde, solidarisch mit der Menschheit gezeigt. Jesus hat sich mit der Menschheit identifiziert als »der Erstgeborene von vielen Brüdern« (Röm 8,29). Er begnügte sich nicht damit, die Menschenmenge zu unterweisen, sondern er kümmerte sich um sie, besonders wenn er sah, dass sie hungrig (vgl. Mk 6,34-44) oder arbeitslos (vgl. Mt 20,3) waren. Sein Blick war nicht nur auf die Menschen gerichtet, sondern auch auf die Fische im Meer, die Vögel des Himmels, die kleinen und großen Pflanzen und Bäume; er umfass­te die gesamte Schöpfung. Jesus sieht, gewiss, aber er beschränkt sich nicht darauf, denn er berührt die Menschen, spricht mit ihnen, handelt zu ihren Gunsten und tut denen Gutes, die bedürftig sind. Und nicht nur das, sondern er lässt sich innerlich erschüttern und weint (vgl. Joh 11,33-44). Und er handelt, um dem Leiden, der Traurigkeit, dem Elend und dem Tod ein Ende zu bereiten.

Jesus lehrt uns, barmherzig zu sein wie der himmlische Vater (vgl. Lk 6,36). In dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter (vgl. Lk 10,29-37) prangert er die unterlassene Hilfeleistung angesichts der dringenden Not der Mitmenschen an: »Er sah ihn und ging weiter« (Lk 10,31.32). Zugleich fordert er durch dieses Beispiel seine Hörer – und besonders seine Jünger – auf zu lernen, anzuhalten vor den Leiden dieser Welt, um sie zu lindern; vor den Wunden der anderen, um sie zu pflegen mit den Mitteln, über die man verfügt, angefangen bei der eigenen Zeit, trotz der vielen Beschäftigungen. Die Gleichgültigkeit sucht nämlich immer nach Ausreden: in der Beachtung ritueller Vorschriften, in der Menge der zu erledigenden Dinge, in den Gegensätzen, die uns auf Distanz voneinander halten, in den Vorurteilen aller Art, die uns daran hindern, dem anderen ein Nächster zu werden.

Die Barmherzigkeit ist das »Herz« Gottes. Darum muss sie auch das Herz all derer sein, die sich als Glieder der einen großen Familie seiner Kinder erkennen; ein Herz, das überall dort heftig schlägt, wo die Menschenwürde – ein Widerschein von Gottes Angesicht in seinen Geschöpfen – auf dem Spiel steht. Jesus warnt uns: Die Liebe zu den anderen – den Fremden, den Kranken, den Gefangenen, den Obdachlosen und sogar den Feinden – ist der Maßstab Gottes zur Beurteilung unserer Taten. Davon hängt unser ewiges Geschick ab. So ist es nicht verwunderlich, dass der Apostel Paulus die Christen von Rom auffordert, sich zu freuen mit den Fröhlichen und zu weinen mit den Weinenden (vgl. Röm 12,15), oder dass er den Korinthern ans Herz legt, Sammlungen zu organisieren als Zeichen der Solidarität mit den leidenden Gliedern der Kirche (vgl. 1 Kor 16,2-3). Und der heilige Johannes schreibt: »Wenn jemand Vermögen hat und sein Herz vor dem Bruder verschließt, den er in Not sieht, wie kann die Gottesliebe in ihm bleiben?« (1 Joh 3,17; vgl. Jak 2,15-16).

Darum ist es »entscheidend für die Kirche und für die Glaubwürdigkeit ihrer Verkündigung, dass sie in erster Person die Barmherzigkeit lebt und bezeugt! Ihre Sprache und ihre Gesten müssen die Barmherzigkeit vermitteln und so in die Herzen der Menschen eindringen und sie herausfordern, den Weg zurück zum Vater einzuschlagen. Die erste Wahrheit der Kirche ist die Liebe Christi. Die Kirche macht sich zur Dienerin und Mittlerin dieser Liebe, die bis zur Vergebung und zur Selbsthingabe führt. Wo also die Kirche gegenwärtig ist, dort muss auch die Barmherzigkeit des Vaters sichtbar werden. In unseren Pfarreien, Gemeinschaften, Vereinigungen und Bewegungen, d.h. überall wo Christen sind, muss ein jeder Oasen der Barmherzigkeit vorfinden können.«20

So sind auch wir aufgerufen, aus der Liebe, dem Mitgefühl, der Barmherzigkeit und der Solidarität ein wirkliches Lebensprogramm zu machen, einen Verhaltensstil in unseren Beziehungen untereinander.21 Das verlangt die Umkehr des Herzens: dass die Gnade Gottes unser Herz von Stein in ein Herz von Fleisch verwandelt (vgl. Ez 36,26), das fähig ist, sich den anderen mit echter Solidarität zu öffnen. Diese ist nämlich viel mehr als »ein Gefühl vagen Mitleids oder oberflächlicher Rührung wegen der Leiden so vieler Menschen nah oder fern«.22 Die Solidarität ist »die feste und beständige Entschlossenheit, sich für das Gemeinwohl einzusetzen, das heißt, für das Wohl aller und eines jeden, weil wir alle für alle verantwortlich sind«23, denn das Mitgefühl geht aus der Brüderlichkeit hervor.

So verstanden ist die Solidarität das moralische und soziale Verhalten, das am besten der Bewusstwerdung der Plagen unserer Zeit und der unleugbaren Interdependenz entspricht – einer besonders in einer globalisierten Welt ständig zunehmenden Interdependenz zwischen dem Leben des Einzelnen und seiner Gemeinschaft an einem bestimmten Ort und dem Leben anderer Menschen in der übrigen Welt.24

Eine Kultur der Solidarität und der Barmherzigkeit fördern, um die Gleichgültigkeit zu überwinden

6. Die Solidarität als moralische Tugend und soziales Verhalten, eine Frucht der persönlichen Umkehr, erfordert ein Engagement vieler Einzelner, die im Erziehungs- und Bildungswesen Verantwortung tragen.

Ich denke zunächst an die Familien, die zu einer vorrangigen und unabdingbaren Erziehungsaufgabe berufen sind. Sie bilden den ersten Ort, an dem die Werte der Liebe und der Geschwis­terlichkeit, des Zusammenlebens und des Miteinander-Teilens, der Aufmerksamkeit und der Sorge für den anderen gelebt und vermittelt werden. Sie sind auch der bevorzugte Bereich für die Weitergabe des Glaubens, angefangen von jenen ersten einfachen Gesten der Frömmigkeit, die die Mütter ihren Kindern beibringen.25

Die Erzieher und die Lehrer, die in der Schule oder in den verschiedenen Kinder- und Jugendzentren die anspruchsvolle Aufgabe haben, die jungen Menschen zu erziehen, sind berufen, sich bewusst zu machen, dass ihre Verantwortung die moralische, spirituelle und soziale Dimension des Menschen betrifft.

Die Werte der Freiheit, der gegenseitigen Achtung und der Solidarität können vom frühesten Alter an vermittelt werden. In einem Wort an die Verantwortlichen der Einrichtungen, die Erziehungsaufgaben haben, sagte Benedikt XVI.: »Möge jeder Bereich pädagogischer Arbeit ein Ort der Offenheit gegenüber dem Transzendenten und gegenüber den anderen sein; ein Ort des Dialogs, des Zusammenhalts und des Hörens, in dem der Jugendliche spürt, dass seine persönlichen Möglichkeiten und inneren Werte zur Geltung gebracht werden, und lernt, seine Mitmenschen zu schätzen. Mögen sie dazu anleiten, die Freude zu empfinden, die daraus entspringt, dass man Tag für Tag Liebe und Mitgefühl gegenüber dem Nächsten praktiziert und sich aktiv am Aufbau einer menschlicheren und brüderlicheren Gesellschaft beteiligt.«26

Auch die Kulturanbieter und die Betreiber der sozialen Kommunikationsmittel tragen eine Verantwortung auf dem Gebiet der Erziehung und der Bildung, besonders in den zeitgenössischen Gesellschaften, in denen der Zugriff auf Informations- und Kommunikationsmittel immer stärker verbreitet ist. Ihre Aufgabe ist vor allem, sich in den Dienst der Wahrheit und nicht der Partikular­interessen zu stellen.

Denn die Kommunikationsmittel »informieren nicht nur den Geist ihrer Adressaten, sondern sie formen ihn auch und können folglich beträchtlich zur Erziehung der Jugendlichen beitragen. Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, dass die Verbindung zwischen Erziehung und Kommunikation äußerst eng ist: Die Erziehung ereignet sich ja durch Kommunikation, welche die Bildung des Menschen positiv oder negativ beeinflusst«.27 Die Kulturanbieter und die Betreiber der Medien müssten auch darüber wachen, dass die Weise, wie die Informationen erhalten und verbreitet werden, immer rechtlich und moralisch zulässig ist.

Der Friede – Frucht einer Kultur der Solidarität, der Barmherzigkeit und des Mitgefühls

7. Im Bewusstsein der Bedrohung durch eine Globalisierung der Gleichgültigkeit dürfen wir aber nicht unterlassen anzuerkennen, dass sich in die oben beschriebene Gesamtsituation auch zahlreiche positive Initiativen und Aktionen einfügen, die das Mitgefühl, die Barmherzigkeit und die Solidarität bezeugen, zu denen der Mensch fähig ist.

Ich möchte einige Beispiele lobenswerten Engagements erwähnen, die zeigen, wie jeder die Gleichgültigkeit überwinden kann, wenn er sich entscheidet, seinen Blick nicht von seinem Nächsten abzuwenden – Beispiele für gute Formen konkreten Handelns auf dem Weg zu einer menschlicheren Gesellschaft.

Es gibt viele Nichtregierungsorganisationen und karitative Gruppen in und außerhalb der Kirche, deren Mitglieder im Fall von Epidemien, Unglücken oder bewaffneten Konflikten Mühen und Gefahren auf sich nehmen, um die Verletzten und die Kranken zu pflegen und die Toten zu begraben. Neben ihnen möchte ich die Personen und Vereinigungen erwähnen, die den Migranten Hilfe bringen, die auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen Wüsten durchziehen und Meere überqueren. Diese Taten sind Werke der leiblichen und geistigen Barmherzigkeit, nach denen wir am Ende unseres Lebens gerichtet werden.

Ich denke auch an die Journalisten und Fotografen, die die Öffentlichkeit über schwierige Situationen informieren, die an die Gewissen appellieren, sowie an diejenigen, die sich für die Verteidigung der Menschenrechte einsetzen, besonders für die der ethnischen und religiösen Minderheiten, der indigenen Völker, der Frauen und Kinder und aller, die in Situationen größerer Verwundbarkeit leben. Unter ihnen gibt es auch viele Priester und Missionare, die als gute Hirten trotz der Gefahren und Entbehrungen – besonders während bewaffneter Konflikte – an der Seite ihrer Gläubigen bleiben und sie unterstützen.

Und außerdem: Wie viele Familien bemühen sich inmitten zahlreicher sozialer und arbeitsbezogener Schwierigkeiten konkret und um den Preis vieler Opfer, ihre Kinder »gegen den Strom« zu den Werten der Solidarität, des Mitgefühls und der Geschwisterlichkeit zu erziehen! Wie viele Familien öffnen Notleidenden wie den Flüchtlingen und Migranten ihre Herzen und ihre Häuser! Ich möchte in besonderer Weise allen Einzelpersonen, Familien, Pfarreien, Ordensgemeinschaften, Klöstern und Heiligtümern danken, die umgehend auf meinen Aufruf reagiert haben, eine Flüchtlingsfamilie aufzunehmen.28

Schließlich möchte ich die Jugendlichen erwähnen, die sich zusammentun, um Projekte der Solidarität zu verwirklichen, sowie alle, die ihre Hände öffnen, um dem notleidenden Nächsten in ihren Städten, in ihrem Land oder in anderen Regionen der Welt zu helfen. Allen, die sich in Aktionen dieser Art engagieren, auch wenn diese nicht öffentlich bekannt werden, möchte ich danken und sie ermutigen: Ihr Hunger und Durst nach Gerechtigkeit wird gesättigt werden, ihre Barmherzigkeit wird sie selbst Barmherzigkeit finden lassen, und insofern sie Friedenstifter sind, werden sie Kinder Gottes genannt werden (vgl. Mt 5,6-9).

8. Im Geist des Jubiläums der Barmherzigkeit ist jeder aufgerufen zu erkennen, wie sich die Gleichgültigkeit in seinem eigenen Leben zeigt, und ein konkretes Engagement zu übernehmen, um dazu beizutragen, die Wirklichkeit, in der er lebt, zu verbessern, ausgehend von der eigenen Familie, der Nachbarschaft oder dem Arbeitsbereich.

Auch die Staaten sind zu konkreten Taten aufgerufen, zu mutigen Gesten gegenüber den Schwächsten ihrer Gesellschaft wie den Gefangenen, den Migranten, den Arbeitslosen und den Kranken.

Was die Häftlinge betrifft, erscheint es in vielen Fällen dringend, konkrete Maßnahmen zu ergreifen, um ihre Lebensbedingungen in den Gefängnissen zu verbessern. Dabei sollte man denen, die ihrer Freiheit beraubt sind und noch auf ihr Urteil warten, eine besondere Aufmerksamkeit schenken29, bei der Verbüßung der Strafe die Zielsetzung der Rehabilitation im Sinn haben und die Möglichkeit erwägen, in die nationalen Gesetzgebungen alternative Strafen zur Gefängnishaft einzufügen. In diesem Zusammenhang möchte ich meinen Appell an die staatlichen Autoritäten erneuern, die Todesstrafe dort, wo sie noch in Kraft ist, abzuschaffen und die Möglichkeit einer Begnadigung in Betracht zu ziehen.

In Bezug auf die Migranten möchte ich dazu einladen, die Gesetzgebungen über die Migration zu überdenken, damit sie – in der Achtung der wechselseitigen Pflichten und Verantwortungen – von Aufnahmebereitschaft geprägt sind und die Integration der Migranten vereinfachen können. Aus dieser Sicht müsste den Aufenthaltsbedingungen der Migranten eine besondere Aufmerksamkeit gelten, wenn man bedenkt, dass das Leben im Untergrund die Gefahr birgt, sie in die Kriminalität zu ziehen.

Außerdem möchte ich in diesem Jubiläumsjahr einen dringenden Appell an die Verant­wortlichen der Staaten richten, konkrete Taten zugunsten unserer Brüder und Schwestern zu vollziehen, die unter dem Mangel an Arbeit, Land und Wohnung leiden. Ich denke an die Schaffung von Arbeitsplätzen mit würdiger Arbeit, um der sozialen Plage der Arbeitslosigkeit entgegenzuwirken, die eine große Anzahl von Familien und von Jugendlichen betrifft und sehr ernste Folgen für den Zusammenhalt der gesamten Gesellschaft hat. Keine Arbeit zu haben schwächt in hohem Maße das Empfinden für die eigene Würde, lässt die Hoffnung schwinden und kann nur zum Teil durch die – wenn auch notwendigen – Hilfen aufgewogen werden, die für die Arbeitslosen und ihre Familien bestimmt sind. Eine spezielle Aufmerksamkeit müsste den – im Arbeitsbereich leider noch diskriminierten – Frauen gewidmet werden sowie einigen Kategorien von Beschäftigten, deren Arbeitsbedingungen unsicher oder gefährlich sind und deren Besoldung der Bedeutung ihrer sozialen Aufgabe nicht angemessen ist.

Zum Schluss möchte ich dazu auffordern, wirksame Schritte zu unternehmen, um die Lebensbedingungen der Kranken zu verbessern, indem allen der Zugang zu medizinischer Behandlung und lebensnotwendigen Medikamenten einschließlich der Möglichkeit zu häuslicher Pflege gewährleistet wird.

Die Verantwortungsträger der Staaten sind auch aufgerufen, mit einem Blick über die eigenen Grenzen hinaus ihre Beziehungen zu den anderen Völkern zu erneuern und allen eine wirkliche Einschließung und Beteiligung am Leben der internationalen Gemeinschaft zu erlauben, damit die Brüderlichkeit auch innerhalb der Familie der Nationen verwirklicht wird.

Aus dieser Sicht möchte ich an alle einen dreifachen Appell richten: Abstand davon zu nehmen, andere Völker in Konflikte oder Kriege zu verwickeln, die nicht nur ihre materiellen und kulturellen Güter sowie ihre sozialen Errungenschaften zerstören, sondern auch – und auf lange Sicht – die moralische und geistige Integrität; die internationalen Schulden der ärmsten Länder zu streichen oder annehmbar zu verwalten; Formen einer Politik der Zusammenarbeit anzuwenden, die sich nicht der Diktatur einiger Ideologien beugen, sondern stattdessen die Werte der örtlichen Bevölkerungen respektieren und keinesfalls das fundamentale und unveräußerliche Recht der Ungeborenen auf Leben verletzen.

Ich vertraue diese Überlegungen – zusammen mit meinen besten Wünschen für das neue Jahr – der Fürsprache Marias an, der für die Nöte der Menschheit aufmerksamen Mutter, damit sie für uns von ihrem Sohn Jesus, dem Friedensfürs­ten, die Erhörung unserer Gebete und den Segen für unseren täglichen Einsatz zugunsten einer brüderlichen und solidarischen Welt erbitte.

Aus dem Vatikan, am 8. Dezember 2015, Hochfest der ohne Erbsünde empfangenen Jungfrau Maria, Eröffnung des Außerordentlichen Jubiläums der Barmherzigkeit.

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Fußnoten

1 Zweites Vatikanisches Konzil, Past. Konst. Gaudium et spes, 1.

2 # Vgl. ebd., 3.

3 Verkündigungsbulle des Außerordentlichen Jubiläums der Barmherzigkeit Misericordiae Vultus, 14-15.

4 Vgl. Benedikt XVI., Enzyklika Caritas in veritate, 43.

5 Vgl. ebd., 16.

6 Enzyklika Populorum progressio, 42.

7 »Die zunehmend globalisierte Gesellschaft macht uns zu Nachbarn, aber nicht zu Geschwis­tern. Die Vernunft für sich allein ist imstande, die Gleichheit unter den Menschen zu begreifen und ein bürgerliches Zusammenleben herzustellen, aber es gelingt ihr nicht, Brüderlichkeit zu schaffen« (Benedikt XVI., Enzyklika Caritas in veritate, 19).

8 Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 60.

9 #Vgl. ebd., 54.

10 Botschaft zur österlichen Bußzeit 2015.

11 Vgl. Enzyklika Laudato si’, 92.

12 Vgl. ebd., 51.

13 #Ansprache beim Neujahrsempfang für die Mitglieder des beim Heiligen Stuhl akkreditierten Diplomatischen Corps (7. Januar 2013).

14 Ebd.

15 Vgl. Benedikt XVI., Ansprache am Tag der Reflexion, des Dialogs und des Gebets für Frieden und Gerechtigkeit auf der Welt (Assisi, 27. Oktober 2011).

16 Vgl. Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 217-237.

17 #»Solange die Ausschließung und die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft und unter den verschiedenen Völkern nicht beseitigt werden, wird es unmöglich sein, die Gewalt auszumerzen. Die Armen und die ärmsten Bevölkerungen werden der Gewalt beschuldigt, aber ohne Chancengleichheit finden die verschiedenen Formen von Aggression und Krieg einen fruchtbaren Boden, der früher oder später die Explosion verursacht. Wenn die lokale, nationale oder weltweite Gesellschaft einen Teil ihrer selbst in den Randgebieten seinem Schicksal überlässt, wird es keine politischen Programme, noch Ordnungskräfte oder Intelligence geben, die unbeschränkt die Ruhe gewährleisten können. Das geschieht nicht nur, weil die soziale Ungleichheit gewaltsame Reaktionen derer provoziert, die vom Sys­tem ausgeschlossen sind, sondern weil das gesellschaftliche und wirtschaftliche System an der Wurzel ungerecht ist. Wie das Gute dazu neigt, sich auszubreiten, so neigt das Böse, dem man einwilligt, das heißt die Ungerechtigkeit, dazu, ihre schädigende Kraft auszudehnen und im Stillen die Grundlagen jeden politischen und sozialen Systems aus den Angeln zu heben, so gefes­tigt es auch erscheinen mag« (Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 59).

18 Vgl. Enzyklika Laudato si’, 31; 48.

19 Botschaft zum Weltfriedenstag 2015, 2.

20 Verkündigungsbulle des Außerordentlichen Jubiläums der Barmherzigkeit Misericordiae Vultus, 12.

21 Ebd., 13.

22 Johannes Paul II., Enzyklika Sollecitudo rei socialis, 38.

23 Ebd.

24 Vgl. ebd.

25 # Vgl. Ansprache bei der Generalaudienz am 7. Januar 2015.

26 Botschaft zum Weltfriedenstag 2012, 2

27 Ebd.

28 Vgl. Angelus vom 6. September 2015.

29 Vgl. Ansprache an eine Delegation der internationalen Strafrechtsgesellschaft (23. Oktober 2014).

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Quelle: Osservatore Romano 52/2015

DER HEILIGE JOHANNES PAUL II. AN DIE BOTSCHAFTERIN DER NIEDERLANDE

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Johannes Paul II. ist am 2. April 2005 gestorben.

ANSPRACHE VON JOHANNES PAUL II.
AN FRAU Monique Patricia Antoinette Frank,
BOTSCHAFTERIN DES KÖNIGREICHS DER NIEDERLANDE*

Samstag, 22. Januar 2005

 

Frau Botschafterin!

1. Es ist mir eine Freude, Eure Exzellenz anläßlich der Übergabe des Beglaubigungsschreibens zu empfangen, mit dem Sie als außerordentliche und bevollmächtigte Botschafterin des Königreichs der Niederlande beim Heiligen Stuhl akkreditiert werden.

Ich danke Ihnen von Herzen, daß Sie mir die freundliche Botschaft Ihrer Majestät Königin Beatrix übermittelt haben, und bitte Sie, Ihrer Majestät dafür meine besten Wünsche für ihre Person, für die königliche Familie sowie für das ganze niederländische Volk auszusprechen.

2. Jeden Tag erinnern die Nachrichten aus der Welt uns alle an die dringende Notwendigkeit, eine friedliche Zukunft für die Menschen aufzubauen; zur Erreichung dieses Ziels muß eine solide internationale Ordnung geschaffen werden, die vor allem durch eine bessere Verteilung der Ressourcen auf internationaler Ebene und durch eine aktive Entwicklungshilfepolitik gewährleistet wird.

Wie Sie soeben angemerkt haben, Frau Botschafterin, sieht sich auch Ihr Land in jüngster Zeit neuen Spannungen ausgesetzt, die sich aus dem raschen Wandel in unseren Gesellschaften ergeben, in einer Welt, die sich der kulturellen Vielfalt immer mehr öffnet. Auch hier wird die Notwendigkeit und Dringlichkeit eines vertieften Dialogs zwischen den verschiedenen Gruppen im Lande erkennbar, damit alle lernen, einander kennenzulernen und zu respektieren. Diese Offenheit gegenüber den Mitmenschen ist unentbehrlich, um die Grenzen zwischen den jeweiligen Gruppen zu überwinden, wie ich schon in meiner Botschaft zur Feier des Weltfriedenstags am 1. Januar 2001 erwähnt habe: »Ein wirksames Mittel dagegen, daß das kulturelle Zugehörigkeitsgefühl zur Abschottung wird, ist das unparteiliche, nicht von negativen Vorurteilen bestimmte Kennenlernen der anderen Kulturen« (Nr. 7).

Unter dieser Bedingung wird es möglich sein, friedliche Beziehungen zwischen den verschiedenen Gemeinschaften herzustellen, damit alle zusammen das gemeinsame Haus der Nation aufbauen.

3. Zur Gewährleistung eines maßgeblichen Beitrags der katholischen Kirche zu diesem Prozeß, der in vielerlei Hinsicht einer »neuen politischen Kultur« den Weg ebnet (vgl. Botschaft zur Feier des Weltfriedenstags am 1. Januar 2005, 10), habe ich vor gut drei Jahren erneut die Initiative ergriffen und die Vertreter der großen Weltreligionen in Assisi versammelt, um vereint unseren gemeinsamen Willen zum Frieden zu bekunden; ich habe sie aufgerufen, einen tiefgehenden Dialog zwischen allen Religionen zu fördern. Vor allem habe ich sie gebeten, unbedingt davon Abstand zu nehmen, den Rückgriff auf Gewalt durch religiöse Beweggründe zu rechtfertigen, sondern ihn vielmehr ausdrücklich zu verurteilen.

Seither bemüht sich der Heilige Stuhl um die Förderung eines aufrichtigen interreligiösen Dialogs auf allen Ebenen, wobei die Christen aufgefordert sind, in allen Gesellschaften, in denen sie leben, im gleichen Geist zu handeln, nämlich als Bauleute des Friedens und des Dialogs, vor allem im Verhältnis zu den Gläubigen der anderen Religionen, mit denen sie zusammenleben. Ich weiß, daß die katholische Kirche in den Niederlanden sich vor kurzem durch die Stimme ihrer Bischöfe in diesem Sinne geäußert hat, und ich versichere sie bei dieser Gelegenheit meiner vollen Unterstützung.

4. Exzellenz, Sie betonten die wichtige Rolle ihres Landes im Kampf gegen den Hunger und die Armut in der Welt und sein Engagement für die Entwicklung und die gesundheitliche Betreuung von Völkern, die in besonderem Maße dem Drama der Pandemien ausgesetzt sind; darunter ist besonders Aids zu nennen, das sich in Afrika rapide ausbreitet und dort schon unzählige Opfer gefordert hat.

Wie Sie wissen, hält der Heilige Stuhl zur verantwortungsvollen Bekämpfung dieser Krankheit in erster Linie eine Verstärkung der Vorbeugung für nötig, vor allem durch eine Erziehung zur Achtung des heiligen Charakters des Lebens und zu einem rechten Umgang mit der Sexualität, der Keuschheit und Treue voraussetzt.

Auf meine Anregung hin hat sich auch die Kirche zugunsten der Opfer mobilisiert, vor allem um ihnen den Zugang zur erforderlichen medizinischen Versorgung und zu den notwendigen Medikamenten durch zahlreiche Behandlungszentren zu sichern.

Die Niederlande haben vor kurzem den Vorsitz in der Europäischen Union übernommen, zu einer Zeit, da die Union neue Länder in ihren Kreis aufgenommen hat und weitere neue Beitritte vorbereitet werden. Der Heilige Stuhl hat das »Projekt Europa« stets aufmerksam verfolgt und unterstützt es als konstruktiven Beitrag zum Frieden sowohl auf dem Kontinent selbst als auch andernorts, denn er betrachtet es als ein Modell der Zusammenarbeit für andere Regionen der Welt. Wie ich in meiner jüngsten Botschaft zum Weltfriedenstag 2005 eindringlich gefordert habe (vgl. Nr. 10), sind die Regierungen der Europäischen Union aufgerufen, gemeinsam neue Initiativen zur Entwicklungshilfe zu entwickeln, und zwar vor allem in Afrika, unserem Nachbarkontinent, der durch die geschichtlichen Verbindungen Europa so nahe steht; dies kann durch die Ausarbeitung von Abkommen echter Zusammenarbeit und Partnerschaft verwirklicht werden.

5. Seit mehreren Jahren folgt die niederländische Gesellschaft, die vom Phänomen der Säkularisierung geprägt ist, einer neuen Politik im Bereich der Gesetzgebung über den Beginn und das Ende des menschlichen Lebens. Der Heilige Stuhl hat es seither nicht an klaren Stellungnahmen fehlen lassen und die Katholiken der Niederlande aufgefordert, immer entschlossener zu bezeugen, daß sie an der uneingeschränkten Achtung des Menschen von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod festhalten.

Erneut fordere ich die Autoritäten und das medizinische Personal sowie alle im Erziehungswesen tätigen Personen auf, die Tragweite dieser Fragen und demzufolge die Bedeutung der von ihnen getroffenen Entscheidungen zu erwägen, damit eine Gesellschaft aufgebaut werden kann, die den Menschen und ihrer Würde gegenüber immer mehr Aufmerksamkeit entgegenbringt.

Die Jugendlichen Ihres Landes, die seit mehreren Generationen das Glück haben, innerhalb der Europäischen Union in Frieden zu leben, und die berechtigterweise nach Entwicklung und Wohlergehen streben, benötigen zur Übernahme ihrer künftigen Verantwortung eine solide Erziehung, die ihre Persönlichkeit zur Entfaltung und Ganzheitlichkeit führt und ihr »Inneres« stärkt, um mit dem schönen Wort des Apostels Paulus zu sprechen (vgl. Eph 3,16). Vor allem aber sollen sie dadurch in einer immer kosmopolitischer und multikultureller werdenden Gesellschaft für die Begegnung mit den Mitmenschen offen werden.

Die katholische Kirche hat seit jeher der Jugend ihre Aufmerksamkeit gewidmet, und sie wird sich auch in Zukunft um eine ganzheitliche Erziehung der Jugendlichen bemühen. Außerdem ist sie bereit, ihren Anteil beizutragen zu den Anstrengungen, die die ganze Nation mit Sicherheit in diesem Sinne unternehmen wird.

6. Ich freue mich, Exzellenz, durch Sie die katholische Gemeinschaft der Niederlande und ihre Hirten grüßen zu können. Mir ist bekannt, daß sie sich aktiv für das Leben des Landes einsetzt, die gesellschaftlichen Entwicklungen aufmerksam verfolgt und entschlossen ist, einen umfassenden Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten durch ihr Zeugnis für das, was sie glaubt und hofft, und durch ihre Bemühung, gemäß dem vom Herrn erhaltenen Liebesgebot zu leben.

Ich ermutige die katholische Kirche der Niederlande besonders zur täglichen Pflege des Dialogs zwischen den Einzelpersonen und den Gruppen in der Gesellschaft, vor allem in den großen städtischen Ballungszentren, wo die Komplexität der zwischenmenschlichen Beziehungen zu großer Einsamkeit führen kann.

Außerdem fordere ich sie auf, sich vorbehaltlos in den Dienst der Schwächsten zu stellen, die in den modernen, von wirtschaftlichem und sozialem Konkurrenzdenken geprägten Gesellschaften oft ausgegrenzt werden.

7. Frau Botschafterin, heute beginnen Sie Ihr hohes Amt als Vertreterin Ihres Landes beim Heiligen Stuhl. Nehmen Sie dazu meine herzlichen Wünsche für ein gutes Gelingen entgegen, und seien Sie sicher, daß Sie bei meinen Mitarbeitern stets Verständnis und die nötige Unterstützung finden werden!

Auf Ihre Exzellenz, Ihre Familie und Ihre Mitarbeiter sowie auf alle Ihre Landsleute rufe ich von ganzem Herzen die Fülle des göttlichen Segens herab.


*L’Osservatore Romano n. 7 p. 8.

© Copyright 2005 – Libreria Editrice Vaticana

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Quelle