(Fortsetzung vom 1. Teil)
JOHANNES PAUL II.
Zu einem Psalm
der ersten Vesper vom Sonntag der ersten Woche
Psalm 141,1-9
1
Herr, ich rufe zu dir. Eile mir zu Hilfe;
höre auf meine Stimme, wenn ich zu dir rufe.
2
Wie ein Rauchopfer steige mein Gebet vor dir auf;
als Abendopfer gelte vor dir, wenn ich meine Hände erhebe.
3
Herr, stell eine Wache vor meinen Mund,
eine Wehr vor das Tor meiner Lippen!
4
Gib, daß mein Herz sich bösen Worten nicht zuneigt,
daß ich nichts tue, was schändlich ist, zusammen mit Menschen,
die Unrecht tun. Von ihren Leckerbissen will ich nicht kosten.
5
Der Gerechte mag mich schlagen aus Güte:
Wenn er mich bessert, ist es Salböl für mein Haupt;
da wird sich mein Haupt nicht sträuben.
Ist er in Not, will ich stets für ihn beten.
6
Haben ihre Richter sich auch die Felsen hinabgestürzt,
sie sollen hören, daß mein Wort für sie freundlich ist.
7
Wie wenn man Furchen zieht und das Erdreich aufreißt,
so sind unsre Glieder hingestreut an den Rand der Unterwelt.
8
Mein Herr und Gott, meine Augen richten sich auf dich;
bei dir berge ich mich. Gieß mein Leben nicht aus!
9
Vor der Schlinge, die sie mir legten, bewahre mich,
vor den Fallen derer, die Unrecht tun!
Bitte um Bewahrung
1. In den vorhergehenden Katechesen haben wir einen Überblick von der Struktur und dem Wert der Liturgie der Vesper, des großen kirchlichen Abendgebetes, gegeben. Jetzt dringen wir ins Innere vor. Es ist gleichsam ein Pilgern in jene Art »Heiliges Land«, das hier aus Psalmen und Cantica besteht. Wir werden bei jedem einzelnen dieser poetischen Gebete, die Gott mit seiner Inspiration besiegelt hat, haltmachen. Es sind die Anrufungen, die auf Wunsch des Herrn an ihn zu richten sind. Er hört sie gern, weil er in ihnen den Herzschlag seiner geliebten Kinder vernimmt.
Wir beginnen mit Psalm 141, der die sonntägliche Vesper in der ersten Woche des Vier-Wochen-Psalters eröffnet, in den das Abendgebet der Kirche seit dem Konzil gegliedert ist.
2. »Wie ein Rauchopfer steige mein Gebet vor dir auf; als Abendopfer gelte vor dir, wenn ich meine Hände erhebe.« Vers 2 dieses Psalms kann als kennzeichnend für den ganzen Psalm betrachtet werden und als offensichtliche Berechtigung dafür, daß er in die Liturgie der Vesper eingebaut wurde. Die Idee spiegelt den Geist der prophetischen Theologie wider, die den Kult mit dem Leben, das Gebet mit dem Dasein vereint.
Das Gebet mit reinem und aufrichtigem Herzen wird zu einem Opfer, das Gott dargebracht wird. Das ganze Wesen der Person, die betet, wird ein Opferakt mit der Vorwegnahme dessen, was der Apostel Paulus gelehrt hat, als er die Christen einlud, sich selbst als lebendiges und heiliges Opfer darzubringen, das Gott gefällt; das ist das geistliche Opfer, das er annimmt (vgl. Röm 12,1).
Die zum Gebet erhobenen Hände sind eine Verbindungsbrücke zu Gott, wie es der Rauch ist, der als angenehmer Duft vom Opfertier während des Abendopfers aufsteigt.
3. Der Psalm geht weiter im Ton einer Bitte, die uns von einem Text überliefert ist, der im hebräischen Original nicht wenige Schwierigkeiten und Unverständlichkeiten für die Deutung aufweist (vor allem in den Versen 4-7).
Der allgemeine Sinn kann dennoch erkannt und in Meditation und Gebet verwandelt werden. Der betende Mensch bittet den Herrn vor allem, er möge ihn davor bewahren, daß seine Lippen (V. 3) und die Gefühle seines Herzens vom Bösen angezogen werden und ihn dazu verleiten, etwas zu tun, »was schändlich ist« (V. 4). Denn die Worte und Werke sind Ausdruck der moralischen Entscheidung der Person. Es ist leicht möglich, daß das Böse auch auf den Gläubigen eine große Anziehung ausübt und daß er die »Leckerbissen« verkostet, die die Sünder anbieten können, wenn er sich an ihren Tisch setzt, das heißt an ihrem unrechten Tun teilhat.
Der Psalm bekommt somit den Beigeschmack einer Gewissenserforschung, auf die das Bemühen folgt, immer Gottes Wege zu wählen.
4. Aber an dieser Stelle ist der Beter so tief erschüttert, daß er in leidenschaftlichen Worten jede Komplizenschaft mit dem Frevler ablehnt: Er will bei dem Frevler nicht zu Gast sein und nicht zulassen, daß das für die hochrangigen Gäste vorbehaltene wohlriechende Salböl (vgl. Ps 23,5) ein Beweis ist für seine Mitwisserschaft mit den Menschen, die Unrecht tun (vgl. Ps 140,4). Um seine radikale Absage an den Frevler noch zu verstärken, spricht der Psalmist ihm dann voller Entrüstung seine Mißbilligung aus, die er in drastischen Bildern als ein strenges Gericht beschreibt.
Es handelt sich um eine der typischen Flüche des Psalters (vgl. Ps 58 und 109), die den Zweck haben, plastisch und sogar malerisch die Feindschaft gegenüber dem Bösen und die Entscheidung für das Gute zu beteuern sowie die Gewißheit zu bekräftigen, daß Gott in die Geschichte eingreift durch sein Gericht und die strenge Bestrafung der Ungerechtigkeit (vgl. V. 6-7).
5. Der Psalm endet mit einer letzten vertrauensvollen Bitte (vgl. V. 8-9): Es ist ein Lied des Glaubens, des Dankes und der Freude in der Gewißheit, daß der Gläubige nicht in den Haß einbezogen wird, den die Frevler ihm gegenüber hegen, und daß er nicht in die Falle gerät, die sie ihm stellen, nachdem sie seinen festen Entschluß für das Gute bemerkt hatten. Der Gerechte wird so jeder Gefahr heil entkommen, wie es in einem anderen Psalm heißt: »Unsere Seele ist wie ein Vogel dem Netz des Jägers entkommen: das Netz ist zerrissen, und wir sind frei« (Ps 124,7).
Wir beenden unsere Lektüre des Psalms 141, indem wir zum anfänglichen Bild zurückkehren, dem des Abendgebetes als ein Gott wohlgefälliges Opfer. Ein großer geistlicher Lehrer, Johannes Cassian, der zwischen dem 4. und 5. Jahrhundert gelebt hat, aus dem Orient kam und seinen Lebensabend im südlichen Gallien verbrachte, hat die Psalmworte nach einem christologischen Schlüssel gedeutet: »In ihnen kann man in höherem Sinn eine Anspielung auf das Abendopfer sehen, das vom Herrn und Erlöser während seines letzten Abendmahls vollbracht und den Aposteln aufgetragen wurde, als er den Anfang der heiligen Geheimnisse der Kirche setzte; oder (man kann darin eine Anspielung sehen) an das Opfer, das er am Abend des folgenden Tages in sich selbst durch die Erhebung seiner Hände darbrachte, ein Opfer, das sich bis ans Ende der Zeiten für das Heil der ganzen Welt fortsetzen wird« (Giovanni Cassiano, Le istituzioni cenobitiche, Padua 1989, S. 92).
Generalaudienz vom 16. November 2005
JOHANNES PAUL II.
Zu einem Psalm
der ersten Vesper vom Sonntag der ersten Woche
Psalm 142
2
Mit lauter Stimme schreie ich zum Herrn,
laut flehe ich zum Herrn um Gnade.
3
Ich schütte vor ihm meine Klagen aus,
eröffne ihm meine Not.
4
Wenn auch mein Geist in mir verzagt,
du kennst meinen Pfad.
Auf dem Weg, den ich gehe,
legten sie mir Schlingen.
5
Ich blicke nach rechts und schaue aus,
doch niemand ist da, der mich beachtet.
Mir ist jede Zuflucht genommen,
niemand fragt nach meinem Leben.
6
Herr, ich schreie zu dir, ich sage: Meine Zuflucht bist du,
mein Anteil im Land der Lebenden.
7
Vernimm doch mein Flehen; denn ich bin arm und elend.
Meinen Verfolgern entreiß mich; sie sind viel stärker als ich.
8
Führe mich heraus aus dem Kerker,
damit ich deinen Namen preise.
Die Gerechten scharen sich um mich,
weil du mir Gutes tust.
Hilferuf in schwerer Bedängnis
1. Am Abend des 3. Oktober 1226 verstarb der hl. Franz von Assisi. Sein letztes Gebet war der Psalm 142, den wir soeben gehört haben. Der hl. Bonaventura berichtet, daß Franziskus »in den Ruf des Psalms ausbrach: ›Mit lauter Stimme schreie ich zum Herrn, laut flehe ich zum Herrn um Gnade‹, und er sprach ihn bis zum letzten Vers: ›Die Gerechten scharen sich um mich, weil du mir Gutes tust«‹ (Legenda maior, XIV, 5, in: Fonti francescane, Padua – Assisi 1980, S. 958).
Der Psalm ist ein dringender Hilferuf mit einer Reihe von Bitten, die an den Herrn gerichtet sind: »Ich schreie«, »ich flehe laut zum Herrn«, »ich schütte vor ihm meine Klagen aus«, »eröffne ihm meine Not« (V. 2-3). Im mittleren Teil des Psalms herrscht das Vertrauen auf Gott vor, dem das Leid des Gläubigen nicht gleichgültig ist (vgl. V. 4-8). In dieser Haltung sah der hl. Franz dem Tod entgegen.
2. Gott wird mit »Du« angesprochen, wie eine Person, die Sicherheit gibt: »Meine Zuflucht bist du« (V. 6). »Du kennst meinen Pfad«, das heißt meinen Lebensweg, einen Weg, der von der Suche nach Gerechtigkeit gekennzeichnet ist. Aber auf diesem Weg legten die Gottlosen mir Schlingen (vgl. V. 4): Es ist das typische Bild, das den Jagdszenen entnommen ist und in den Bittrufen der Psalmen häufig auftritt, um auf die Gefahren und Tücken hinzuweisen, denen der Gerechte ausgesetzt ist.
Angesichts dieses Alptraums gibt der Psalmist sozusagen ein Alarmsignal, damit Gott seine Lage sieht und eingreift: »Ich blicke nach rechts und schaue aus« (V. 5). Nach orientalischem Brauch stand am Gerichtsort rechts von einer Person der Verteidiger oder der entlastende Zeuge und im Kriegsfall die Leibwache. Der Gläubige ist also allein und verlassen, »niemand ist da, der mich beachtet«. Er stellt voller Angst fest: »Mir ist jede Zuflucht genommen, niemand fragt nach meinem Leben« (V. 5).
3. Ein Schrei, gleich danach, offenbart die Hoffnung, die im Herzen des Betenden wohnt. Der einzige Schutz und die einzige wirksame Nähe ist Gott: »Meine Zuflucht bist du, mein Anteil im Land der Lebenden« (V. 6). »Anteil« bedeutet im Sprachgebrauch der Bibel das Geschenk des verheißenen Landes, das Zeichen der Liebe Gottes zu seinem Volk. Der Herr ist nun letztes und einziges Fundament, auf das man sich stützen kann, die einzige Lebensmöglichkeit, die letzte Hoffnung.
Der Psalmist ruft ihn eindringlich an, denn er ist »arm und elend« (V. 7). Er bittet ihn einzugreifen und die Ketten seines Kerkers der Verlassenheit und Anfeindung zu zerreißen und ihn aus dem Abgrund der Prüfung herauszuführen (vgl. V. 8).
4. Wie in anderen Bittpsalmen ist der letzte Ausblick eine Danksagung, die nach der Erhörung Gott dargebracht wird: »Führe mich heraus aus dem Kerker, damit ich deinen Namen preise« (ebd.). Der Gläubige wird nach seiner Rettung dem Herrn inmitten der liturgischen Versammlung danken (vgl. ebd.). Die Gerechten werden sich um ihn scharen und das Heil des Bruders als ein Geschenk aufnehmen, das auch ihnen zuteil wird.
Diese Atmosphäre sollte auch in den christlichen Versammlungen herrschen. Der Schmerz des einzelnen soll in den Herzen aller Widerhall finden; ebenso soll die Freude eines jeden von der ganzen betenden Gemeinde geteilt werden. Denn es ist »gut und schön, wenn Brüder miteinander in Eintracht wohnen« (Ps 133,1), und der Herr Jesus hat gesagt: »Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, bin ich mitten unter ihnen« (Mt 18,20).
5. Die christliche Tradition hat Psalm 142 auf den verfolgten und leidenden Christus angewandt. In dieser Sicht verwandelt sich das leuchtende Ziel des Bittpsalms in ein österliches Zeichen aufgrund des herrlichen Ausgangs des Lebens Christi und unserer Bestimmung der Auferstehung mit ihm. Das bekräftigt der hl. Hilarius von Poitiers, der berühmte Kirchenlehrer des 4. Jahrhunderts, in seinem Traktat über die Psalmen.
Er kommentiert die lateinische Übersetzung des letzten Psalmverses, wo von der Belohnung des Betenden und der Erwartung der Gerechten die Rede ist: Me expectant iusti, donec tribuas mihi. Hilarius erklärt: »Der Apostel lehrt uns, welche Belohnung der Vater seinem Sohn Jesus Christus gegeben hat: ›Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen, damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu und jeder Mund bekennt: Jesus Christus ist der Herr — zur Ehre Gottes, des Vaters‹ (Phil 2,9-11). Das ist der Lohn: dem Leib, den er angenommen hat, wird die ewige Herrlichkeit des Vaters geschenkt. Was dann die Erwartung der Gerechten bedeutet, lehrt uns der Apostel, wenn er sagt: ›Unsere Heimat aber ist im Himmel. Von dorther erwarten wir auch Jesus Christus, den Herrn, als Retter, der unseren armseligen Leib verwandeln wird in die Gestalt seines verherrlichten Leibes‹ (Phil 3,20-21). In der Tat, die Gerechten warten auf ihn, damit er sie belohnt, das heißt, daß er sie der Herrlichkeit seines Leibes gleich macht, der gepriesen sei von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen« (Patrologia Latina 9,833-837).
Generalaudienz vom 12. November 2003
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Quelle: Buch „DIE PSALMEN – DAS ABENDGEBET DER KIRCHE – ausgelegt von JOHANNES PAUL II. und BENEDIKT XVI. – Sankt Ulrich-Verlag GmbH, 2006
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Fortsetzung folgt!
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