Bischof Stefan Oster SDB: Gottesvergessenheit und Sexualität

Unzeitgemäße Gedanken zu einem biblischen Zusammenhang

1. EINE DER WIEDERKEHRENDEN KERNFRAGEN:
WELCHER SEX IST RECHT VOR GOTT?

Die  Debatten in und außerhalb der Kirche zum Thema Sexualität und allem, was damit zusammen hängt, reißen nicht ab. Sie scheinen in medialen Wellenbewegungen immer neu auf die Kirche zuzurollen – in wechselnden Themen: Mal sind es die wiederverheirateten Geschiedenen, mal der Zölibat, mal der Umgang der Kirche mit Menschen, die homosexuelle Neigungen haben – um nur die am meisten diskutierten Themen aufzugreifen. Und ist es nicht paradox? Da nimmt sich der Papst mit der Bischofssynode des Themas der Familie an und das Wesentliche, was Monate vor, während und nach der Synode vordringlich zum Thema wird, sind zwei Menschengruppen, die gerade nicht in Verhältnissen leben, die den Normalfall von Familie bilden: wiederverheiratete Geschiedene und Homosexuelle. In beiden Fällen geht es aber im Kern der Debatte letztlich um die Praxis gelebter Sexualität, die nicht dem entspricht, was die Kirche in diesem Bereich seit jeher für Weisung und Willen Gottes hält.

Und man muss es ehrlich sagen, auch im Blick auf viele andere Themen, die immer neu diskutiert werden: Ein Kernproblem, eine Kernfrage, um die es sich dann ausgesprochen oder unausgesprochen immer wieder dreht, hängt tatsächlich genau damit zusammen: Was sagen der Glaube, die Schrift, die Tradition, die Kirche über menschliche Sexualität? Und vor allem, was sagen sie über recht vollzogene sexuelle Praxis, die dann dem entspricht und gerecht wird, was Christen für den Willen Gottes und seine Offenbarung halten? Die Tatsache, dass die Kirche hier in ihren Antworten immer ziemlich klar war, ist deshalb beständiger Stein des Anstoßes, beständiger  Stachel im Fleisch. Die öffentlichen Einwände dagegen gehen konsequent immer in die Richtung  nach einer Forderung von veränderter Lehre über genau diese Frage: Welcher Sex ist recht? Die Argumente: „Die Zeiten haben sich geändert, die Menschen haben sich geändert, die Gesellschaft hat sich geändert, die Beziehungsformen haben sich geändert, die Einsichten über die Sexualität des  Menschen haben sich geändert, also muss sich endlich auch die Lehre der Kirche ändern.“

Freilich, die Tatsache, dass das Thema und seine Klarheit bereits in der Hl. Schrift schon so präsent ist, weist eher das Gegenteil nach, nämlich dass es im Christentum bereits von Anfang an eine heftig angefragte Lehre war und nicht erst heute. Auch in der Zeit der Entstehung des christlichen Glaubens stehen dessen Lehren über menschliche Sexualität quer zu vielem von dem, was in der damaligen Gesellschaft, vor allem in einer griechisch-römisch geprägten Kultur, aber auch in einem jüdischen Kontext (hier etwa die Möglichkeit zur Mehrehe) gängig oder möglich war.

2. IST DIE KIRCHE SEXFIXIERT?

Der Kirche wird heute häufig vorgeworfen, sie sei manchmal allzu fixiert auf das Sexthema. Dabei scheint es mir auch hier eher umgekehrt. Wann etwa hat der durchschnittliche Kirchgänger zuletzt eine Predigt gehört, in der der Pfarrer so mutig war, die Sexualmoral der Kirche tatsächlich und wahrhaftig und ohne Abstriche zu erläutern oder sich dazu zu bekennen? Es passiert vermutlich eher in seltenen Ausnahmen. Ist es also nicht eher anders herum? Ist nicht die Gesellschaft eher so fixiert auf sexuelle Liberalisierung, dass ihr gerade die Kirche mit ihrer vermeintlich sturen Beharrung so sehr ein Dorn im Auge ist, dass Sie das immer und immer wieder, vor allem medial zum Thema machen muss? Und das, obwohl sich der größere Teil derjenigen, die diese Themen medial so sehr ventilieren, für die wirklichen Kernthemen des kirchlichen Glaubens in der Regel kaum mehr interessieren: Erlösung, Sündenvergebung, Versöhnung mit Gott, Kreuz, Auferstehung….?

Der mediale, der öffentliche und gesellschaftliche Druck auf die Kirche wächst also oder er kommt eben wellenartig wieder. Gleichzeitig sinken bei uns die Mitglieder‐ und Kirchenbesucherzahlen; gleichzeitig auch geht man durch verschiedene Krisen der Glaubwürdigkeit (vgl. Missbrauch, Limburg, Kölner Krankenhausaffäre etc.). Und so neigen wir als Kirchenverantwortliche vielleicht allzu leicht zu der Ansicht, wir könnten endlich einmal „punkten“, wenn sich  am innerkirchlich im Grunde wenig geliebten Sexthema endlich mal ein paar, wenigstens kleine „Fortschritte“ zeigen könnten.

3. WAS SAGEN SCHRIFT, TRADITION UND DER GLAUBE?

Aber wie befragen wir die Möglichkeit von vermeintlichen „Fortschritten“ auf diesem Gebiet? Wie befragen wir, welche Formen gelebter Sexualität gut und recht sind in Gottes Augen? Wir blicken auf das Evangelium und erkennen: Es gibt im Grunde keine einzige Form vollzogener Sexualität außerhalb der Ehe, die von der Hl. Schrift nicht entweder Unzucht oder Ehebruch genannt würde. Wir lesen aber auch, dass das Thema in der Schrift immer wieder prominent behandelt wird. Und wir lesen vor allem, dass da ein geheimnisvoller Zusammenhang hergestellt wird zwischen dem, wie Gott den Menschen sieht und will einerseits und sittlicher und sexueller Reinheit andererseits (vgl. Mt 5,28, Eph 5,3f, 1 Kor 6, 18‐20, Röm 1,21ff, 1 Thess 4,3f, Hebr 12, 14ff). In der Bergpredigt preist Jesus die Menschen selig, die ein reines Herz haben, sie würden Gott schauen (Mt  5,8),um nur wenige Zeilen später zu sagen, dass schon der lüsterne Blick auf eine Frau eben diese Menschenherz in seiner Reinheit eintrübe und in eine quasi ehebrecherische Verfassung bringe  (Mt  5,28)!

Gott will den Menschen seinem Sohn ähnlich machen. Er will ihm die Gnade und Kraft schenken, ein heiliges Leben zu leben. Dabei ist Heiligkeit freilich nicht misszuverstehen als eine Art religiöser Leistungssport, gepaart mit außergewöhnlichen Anstrengungen in der Übung der Tugenden. Heiligkeit ist zunächst das Erfüllt sein des Menschen mit Gottes Gegenwart, das Geschenk überfließender Gnade, die aus ihm, aus Gott selbst kommt. Erst sekundär folgt aus dieser Erfahrung des Beschenktseins von Gott und des Lebens aus dieser Gegenwart die Fähigkeit, in der Freiheit des Christenmenschen gut und selbstlos, also auch tugendhaft zu leben.

4. DAS KERNPROBLEM: GOTTESVERGESSENHEIT

Aber meines Erachtens rühren wir genau hier am entscheidenden Problem: Es ist das Ernstnehmen der Gegenwart Gottes. Und zwar zuerst in seiner Heiligkeit, Majestät, abgründigen Unterschiedenheit von jedem Geschöpf. Er ist der Schöpfer des Alls, er ist der Herr aller Welten. Und er gibt uns die Erlaubnis, ihm nahe zu kommen. Israel hat gewusst, dass solches Näherkommen gefährlich ist. Der Israelit des Alten Bundes wusste, dass er grundsätzlich vor Gottes Angesicht vergehen musste (Ex  33,20); und ganz besonders dann, wenn er sich Gott in einer unangemessenen Weise näherte. Die zahlreichen Reinigungsvorschriften des Volkes für den Vollzug des Kultes hatten eben auch diesen Ursprung, nämlich das Bewusstsein, dass man dem Heiligen Israels nur nahen kann, wenn man selbst rein, heil, ganz ist, eben reingewaschen (z.B.  Ex  30,20‐21).

Das Anliegen Jesu liegt auch ganz auf dieser Linie, aber er weiß, dass die Fülle an Vorschriften, dass „das Gesetz“ dazu tendiert, veräußerlicht verstanden zu werden: „Ich wasche mich (äußerlich), dann bin ich schon rein.“ Doch bereits die Propheten des Alten Bundes kündigen einen neuen Bund an, einen der ein „neues Herz“ (Ez 36,26) schenken will, einen Bund, in dem der Mensch seinen Gott nicht nur durch veräußerlichtes Ritual und Gesetz kennt, sondern persönlich, von Herz zu Herz. Die Taufe des Neuen Bundes rettet uns, sagt der Autor des ersten Petrusbriefes: Und „sie dient nicht dazu, den Körper von Schmutz zu reinigen, sondern sie ist eine Bitte an Gott um ein reines Gewissen aufgrund der Auferstehung Jesu Christi.“ (1 Petr 3,21). Freilich: Es bleibt auch im Neuen Bund derselbe majestätische Gott, der ganz Andere. Aber Jesus macht in seiner Person deutlich, dass eben dieser andere, der furchteinflößende, der Herr des Alls zugleich der Allliebende ist, derjenige der sich abgründig niederbeugt, konkret zu jedem von uns, der sich klein macht, um den Menschen wieder aufzurichten zu sich selbst und zurück in seine Beziehung zum Vater. In jeder Hl. Messe feiern wir Wandlung. Christus wandelt sich der Welt ein – in den Gestalten von Brot und Wein. Aber er tut es, um uns zu wandeln und zu neuen Menschen zu machen. Lassen wir es zu, halten wir das überhaupt für möglich?

Und genau hier liegt meines Erachtens unser Problem: Der Glaube daran, dass Gott in Christus wirklich da ist, dass er uns real und schon in diesem Leben, berühren, heilen, verwandeln kann in ein neues, besseres, gottbezogenes und gottgefälliges Leben, dieser Glaube scheint in unseren Breiten in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr zu verdunsten. Wie viele glauben wirklich noch, dass Christus das Leben eines Einzelnen tatsächlich im Hier und Jetzt spürbar erneuern kann? Wie viele glauben wirklich noch, dass sie durch Christus „neu geboren“ (Joh 3,3) sind, tatsächlich „neue Schöpfung“ (2 Kor 5,17) sind? Und zwar so, dass sie es an realen und konkreten Lebensvollzügen festmachen können? Die Schrift ist aber voll davon, dass die Brüder und Schwestern jetzt wo sie den Glauben angenommen haben, ihrem alten Leben entronnen sind, ihrer Gefangenschaft in solchen Bedürfnissen, Trieben und Egoismen, die auf alles mögliche, aber nicht auf Gott hin orientiert waren (vgl. 1 Petr 1,14; 2 Petr 1,9, Hebr 10,32; 1 Thess 1,9; Kol 3,7; Eph 4,17-20 u.a.). Wer hat in volkskirchlichen Breiten, in denen der Glaube von Jahr zu Jahr, von Generation zu Generation schwindet, denn noch die reale Erfahrung von Bekehrung und wer hätte konsequent auch noch zusätzlich das Bestreben, kraft einer geduldigen, beständigen, alltäglichen Bekehrung mit der Hilfe Gottes ein neuer Mensch, ein echter Christ zu werden? Einer, der Gott, der Christus kennt, der ihm wirklich nachfolgen, der sein Kreuz tragen will? Einer, der von ihm die Fülle und die Freude erwartet und diese nicht leicht verwechselt mit den Freuden, die nur diese Welt gibt? All das ist der Kern einer christlichen Anthropologie und des christlichen Menschenbildes, von dem wir – ohne diesen Kern wahrzunehmen – all zu schnell und damit oft auch allzu weich gespült in unserem gesellschaftlichen Diskurs reden.

Wer hätte denn noch wirklich Ehrfurcht vor der Gegenwart Gottes in einem Gotteshaus? Wer fällt hier wirklich angesichts seiner Gegenwart noch voller ernsthafter Demut auf die Knie, weil er weiß, wer Gott ist und wer er selbst im Verhältnis zu diesem Gott ist? Und wer blendet umgekehrt nicht gerne die Tatsache aus, dass der vermeintlich so liebe Jesus in etwa einem Drittel seiner Worte im Neuen Testament Gerichtsworte spricht oder Gerichtsgleichnisse erzählt? Es sind Worte, in denen er den Menschen zur Entscheidung auffordert für ihn und zwar ganz und entschieden. Wer müht sich denn noch „mit Furcht und Zittern“ (Phil 2,12) um sein Heil, wie es Paulus nahe legt, weil nach der Schrift und aus der Sicht Jesu völlig ohne Zweifel die Möglichkeit besteht, auch verloren zu gehen? Viel mehr aber noch ist Paulus von der Hoffnung getragen, dass er, der Allmächtige, uns aus Liebe zu neuen Menschen machen will und schon damit begonnen hat.

In dem Augenblick aber, wo all diese Erfahrungen eben keine mehr sind, nicht mehr nachvollziehbar sind, nicht mehr im Kirchenvolk erlebt, erzählt, tradiert werden, in dem Augenblick kann es im Grunde auch gar nicht mehr sein, dass wir einen Anspruch von Gott selbst an uns wahrnehmen. Einen Anspruch von dem, der uns heiligen will. Der Anspruch wird verdünnt und reduziert auf ein nur mehr gedachtes Gesetz, und von hier ist der nächste Schritt nur ein ganz kleiner, der dann sagt: „Das gedachte Gesetz hat sich die Kirche aus-gedacht, um uns zu knechten. Und jetzt wo die Zeiten sich ändern, muss sie das Gesetz auch ändern!“ Der Anspruch, in der Kirche durch Gottes Gegenwart geheiligt zu werden, ist fast gänzlich in Vergessenheit geraten. Gutes Leben ist jetzt, was alle gut finden; die Gesellschaft als Messlatte für einen, hoffentlich nicht allzu zu anspruchsvollen Humanismus. Und nur die Kirche ist dann schlecht und von gestern, weil sie uns unser gutes, heutiges Leben nicht gönnt!

Wenn diese Diagnose zutrifft, dann können auch wir Amtsträger uns nicht aus der Verantwortung nehmen. Es ist nämlich ein Grundgesetz des geistlichen Lebens, dass das spirituelle Niveau einer christlichen Gemeinschaft oder Gemeinde – nicht nur aber auch – vom geistlichen Leiter abhängt. Ich habe den Verdacht (und schließe mich ein): Womöglich haben wir selbst die leidenschaftliche, gläubige Proklamation und Deutung der Gegenwart Gottes nicht allzu intensiv gepflegt – und vielleicht auch gar nicht mehr recht geglaubt? Und womöglich haben wir auch die Liturgie nicht allzu oft derart mit den Gläubigen gefeiert, dass unser Beten darin sehr real und voll liebender Ehrfurcht und Freude auf diese Gegenwart bezogen wäre.

5. DER WILLE GOTTES FÜR JEDEN: VERWANDLUNG UND HEILIGUNG DES GANZEN MENSCHEN, EINSCHLIESSLICH SEINER SEXUALITÄT DURCH GÖTTLICHE LIEB

Die Heiligung, in der Gott sich uns ähnlich machen will, ist vor allem eine Heiligung in und durch Liebe. Und Gott als unsere Antwort auf seine Liebe mit ganzem Herzen und ganzer Seele und allen Gedanken zu lieben und den Nächsten wie uns selbst ist die „Erfüllung des ganzen Gesetzes“ (vgl. Mt 22,40), es ist die Erfüllung dessen, wozu der Mensch in Gott geschaffen ist. Aber die Liebe, um die es hier geht, ist in der Tiefe absichtslos, sie ist umsonst. Und man kann Gott auch nur lieben, wenn man ihn kennengelernt hat, so wie er sich uns eben in Christus zu erkennen gibt; wenn man in einem Leben der Suche nach Gott, im Gebet, im Meditieren der Schrift wirklich immer wieder auf ihn selbst gestoßen ist. Eine Liebe, die aus Gott kommt, meint dann den anderen Menschen wirklich um seinet- und um Gottes Willen. Sie manipuliert nicht hintergründig und will den Geliebten nicht wie einen Besitz „haben“. Zu dieser Liebe will uns Gott nach dem Zeugnis der Schrift befähigen und die Schrift erklärt auch, dass da der ganze Mensch dazu gehört, mit Leib und Seele und Geist.

Deshalb ist die menschliche Sexualität in diese Bewegung der Heilung und Heiligung mit hineingenommen und bleibt gerade nicht davon unberührt. Und von diesem Anspruch her gibt es von Gott bejahte und konkret vollzogene sexuelle Aktivität in ihrer ganzheitlichen Zielrichtung auch nur ganz oder gar nicht. Das heißt nur und ausschließlich in einer Ehe zwischen einem Mann und einer Frau, mit der Offenheit auf Lebensweitergabe, mit Verbindlichkeit und Treue und der Sorge um das gegenseitige Wohl der Ehepartner – bis zum Lebensende wenigstens eines der Partner.

Katholische Christen glauben ja, dass Gott in und durch Christus diese Kraft zur Treue schenken kann und will, ja dass er darin selbst als der Treue gegenwärtig ist und bleibt. Das ist, knapp gesagt, der Inhalt dessen, was sie Sakrament nennen. Sie glauben auch, dass Christus darin die Kraft und Schönheit der Sexualität auch reifen lassen und ebenfalls tiefer und heiler machen will. Immer mehr weg von der Möglichkeit bloßer Triebabfuhr oder Triebbefriedigung, hin zu einer ganzheitlichen Erfahrung, in der der eine ganze Mensch in Leib und Seele auf den einen Partner ebenfalls als ganzen Menschen liebend ausgerichtet ist und bleibt.

Das Bemerkenswerte ist also: Schon für den konkreten Weg der Ehe sieht Gott einen Weg der Verwandlung vor – und zwar auch der Sexualität der Partner und ihrer Ausrichtung und Integration. Ehrliche Liebe, die sich von Gott begnadet weiß, verwandelt, heilt und integriert auch das sexuelle Begehren, die Sehnsucht, die Bedürfnisse. Wie gesagt, alles das setzt voraus, dass ich überhaupt an die Gegenwart Christi in meinem Leben glaube und vertraue, dass er mein Leben schon jetzt verwandeln kann und will und wird. Unser christliches Nachdenken über Sexualität hat nur unter dieser Voraussetzung überhaupt Sinn! Anders werden Christen in dem, was sie über Sexualität sagen, gar nicht (mehr) verstanden werden können. Schon gar nicht in stark säkularisierten Zeiten.

Und Christen, die diesen Hintergrund sehen, müssten ihrerseits auch ein mitgehendes Verständnis dafür aufbringen können, dass diese Debatten in gottvergessenen Zeiten immer wieder aufbrechen und womöglich auch noch intensiver werden. Denn dort, wo es Gott nicht mehr gibt, dort ist (nach einem herausforderndem Wort Dostojewskis) im Grunde alles erlaubt, aber in sittlichen Fragen insbesondere das, was mehrheitlich Zustimmung findet. Zustimmende Mehrheit ist freilich noch kein hinreichendes Kriterium für Wahrheit. Das Problem ist nur: Wo Gott „fehlt“, dort gibt es auch gar keinen letzten Orientierungspunkt mehr als entscheidendes Wahrheitskriterium. Und in so einem Fall scheint dann Mehrheit eben doch meist der plausibelste Bezugspunkt.

Das erste in der christlichen Verkündigung – auch über diese Themen – wäre also aus meiner Sicht nicht zuerst die Bekanntgabe von moralischen Vorschriften, sondern das Hineinhelfen in die Berührung mit der Gegenwart eines Gottes, der uns liebt und dem es gerade deshalb nicht egal ist, wie wir leben und zwar auch als sexuelle Wesen.

6. WAS IST MIT DENEN, DIE NICHT HEIRATEN WOLLEN ODER KÖNNEN?

Analoges zu dem, was eben über christliche Ehe gesagt wurde, gilt nun aber auch für diejenigen, die an Christus glauben, die seine Realpräsenz in unserer Welt bejahen, und beispielsweise keinen Partner finden oder etwa einen gleichgeschlechtlichen Partner ersehnen, weil sie Menschen mit homosexuellen Neigungen sind. Die Kirche hat stets daran festgehalten, dass der Glaube an die heiligende Gegenwart Christi, dass der Weg in beständiger Verbundenheit mit ihm selbst hilft, aus dieser Kraft zu leben und sein Leben so zu gestalten, dass es dem Willen Gottes gemäß ist. Christus verwandelt und heilt unsere Sexualität hinein in ein Leben vor ihm und mit ihm selbst. In ein Leben, das von ihm auch die Kraft bezieht, sich selbst und seine sexuelle Kraft verwandeln zu lassen in eine Liebe, die der Seinen ähnlich ist – die im rechten Sinn verstanden immer absichtsloser und lauterer wird. Ehrlicher, tiefer Glaube kann also beispielsweise dem Single helfen, ein froher Single zu bleiben, und er kann dem Menschen mit homosexueller Neigung helfen, auch ohne die volle sexuelle Erfahrung erfüllt zu leben bzw. sich von Gott in ein Leben hinein führen zu lassen, das seinem Willen entspricht. Und er kann auch einem von seinem Partner getrennt lebenden Verheirateten die Kraft geben, diese Situation mit ihm zu tragen. Und all das ist nicht zuerst eine moralische Forderung, das ist nach der Überzeugung von Schrift und Tradition und von zahllosen geistlichen Menschen zuerst ein Geschenk. Wir sprechen von Gnade, von der zuvorkommenden geschenkten Gnade, die dem Menschen Kraft und Vertrauen schenkt, dass er seinen Weg mit Gott gehen kann, auch und gerade dann, wenn es ein Kreuzweg ist.

Freilich ist es auch ein Weg, auf dem keiner von Anfang an fertig ist. Jeder ernsthaft geistlich Suchende, zumal die Erfahrenen, wissen, dass der Weg mit Gott und auf ihn hin ein Ringen bleibt, ein Reifen, ein Suchen, auch ein Kampf. Und auch auf diesem Weg wird und kann es Versagen und Scheitern geben. Gott will ja auf unser Ringen und tiefstes Sehnen nach ihm und auf unser Herz viel eher schauen als auf die Schuld. Und er vergibt immer neu jedes Versagen, das aufrichtig vor ihn gebracht wird.

7. DIE REALE ANWESENHEIT GOTTES REDUZIERT AUF EIN ABSTRAKTES KIRCHENGESETZ

Ich bin daher der Ansicht, dass der Glaube an die reale Gegenwart des Herrn und ihre real verändernde Kraft der alles entscheidende Aspekt ist. Steht dieser Glaube fest in vielen Herzen der Menschen, wird das Verständnis für die Lehre der Kirche zur menschlichen Sexualität verständlich sein und ebenso fest stehen. Verdunstet er aber, dann verdunstet mit ihm auch das Verständnis für das, was Bekehrung, Umkehr, Gnade, Heiligung des Lebens bedeuten. Der Verlust des Beichtsakraments ist dann eine weitere notwendige Folge. Und zugleich damit verschwindet ebenfalls notwendig das Verständnis für die von Gott geschenkte Fähigkeit und Herausforderung, seinem Gebot gemäß Sexualität zu leben und von ihm verwandeln zu lassen. Die Folge ist: Ein von Gottes Präsenz losgelöstes, bloßes „Gesetz der Kirche“ wird dann automatisch wie ein Stachel im Fleisch meiner sexuellen Bedürfnisse betrachtet, das zuerst knechten und nicht befreien will. Der Ruf nach Veränderung wird dann von selbst immer lauter: „Nicht mehr Gott will und kann mich verwandeln, sondern ich will ein ärgerliches Gesetz so gewandelt wissen, dass es mir und meiner Lebensweise nun passt.“ Der Glaube an die Realpräsenz, an die konkrete Vergebung der Sünden und das ernsthafte Ringen um sittliche Qualität des menschlichen Lebens auch in sexueller Hinsicht bilden damit einen unauflöslichen Zusammenhang.

Umgekehrt kann man sagen: Eine beständig vorgetragene Anfrage an die Lehre des kirchlichen Glaubens zur Sexualität ist damit bewusst oder unbewusst zugleich eine Anfrage an die Überzeugung von der verwandelnden Gegenwart Gottes in unserem Leben. Denn wenn er, Gott selbst, und seine Präsenz aus der persönlichen Wahrnehmung und dem kollektiven Gedächtnis der Menschen oder einer Gesellschaft endlich verschwunden ist, dann kann der Mensch gerade in diesem Bereich endlich und erst recht tun, was er will und bleiben, wie er ist.

Das sind meines Erachtens einige geistliche Hintergründe und Zusammenhänge dafür, dass die Wellen des gesellschaftlichen Diskurses über die Sexuallehre der Kirche bei abnehmendem Glauben mit zunehmender Frequenz auf uns zurollen werden. Der kirchliche Stachel im buchstäblichen Fleisch liberalisierter Sexualität will endlich beseitigt werden. Und als Christen werden wir solchen Wellen aus meiner Sicht mit Sicherheit nicht dadurch fruchtbar begegnen können, dass wir der Vielzahl der Bedürfnisse in einer glaubensloser werdenden Welt entgegenkommen und ein paar Lockerungen zulassen. Denn es ist vorhersehbar: Man wird dann mehr nicht ruhen, bis endlich alles gleich-gültig ist. Die hier angesprochenen Themen samt ihren medial vorgetragenen Forderungen wären nur ein Anfang, der dem Zeugnis der Schrift und der Überlieferung zwar schon klar widerspricht. Aber wenn die Tür erst einmal im Namen vermeintlicher Barmherzigkeit geöffnet ist, dann wird wohl kaum ein Thema und am Ende womöglich auch nicht einmal manche sexuelle Perversion im selben Namen ausgespart bleiben. Die Geschichte der Internet-Pornographie und ihrer Ausbreitung dürfte hier ruhig als Lehrstück dienen, aber damit verbunden auch die gesellschaftlich-politische Geschichte sexueller Liberalisierung in vielen Ländern der Welt. Freilich, nicht jede gesellschaftliche Liberalisierung ist schon in sich schlecht, vor allem dann nicht, wenn sie Heucheleien überwindet. Aber umgekehrt gilt noch mehr, dass längst nicht jede Liberalisierung automatisch sinnvoll und gut wäre, nur weil sie liberal ist: „Ihr seid zur Freiheit berufen, Brüder. Nur nehmt die Freiheit nicht zum Vorwand für das Fleisch, sondern dient einander in Liebe!“, sagt Paulus (Gal 5,13).

8. DIE NÖTIGE UMKEHR SCHEINT HEUTE ALLZU WELTFREMD.

Der stimmigere und notwendigere Weg aus meiner Sicht heißt biblische Bekehrung, also die erneute Hinwendung zum Gott des Lebens, um ihn tiefer im Glauben zu finden und überzeugender zu bekennen, dass Gott in Christus real gegenwärtig ist und bleibt; dass er uns wahrhaftig liebt und unser eigenes, konkretes, oft erbärmliches Leben tatsächlich verwandeln will und kann.

Und um gleich auf die Frage zu antworten, ob das alles nicht ein wenig weltfremd sei? Ja, natürlich, weil es von der Erfahrung ausgeht, dass Gott selbst dieser Welt und womöglich auch vielen Menschen in seiner Kirche ziemlich fremd geworden ist. Nicht von sich, von Gott selbst her, denn er will ja nach dem Zeugnis der Schrift uns nahe sein. Aber von uns Menschen her bedeutet Säkularisierung auch, dass der innere Abstand der Menschen von Gott heute offenbar wieder größer geworden ist. Paulus sieht das genau, die Problemlagen bleiben nämlich von der menschlichen Konstitution her betrachtet, weitgehend konstant: Die Menschen, schreibt Paulus, haben Gott zwar irgendwie „erkannt, ihn aber nicht als Gott geehrt und ihm nicht gedankt. Sie verfielen in ihrem Denken der Nichtigkeit und ihr unverständiges Herz wurde verfinstert.“ (Röm 1,21f) Die Folge: „Darum lieferte Gott sie durch die Begierden ihres Herzens der Unreinheit aus, so dass sie ihren eigenen Leib durch ihr eigenes Tun entehrten.“ Der tatsächliche Hintergrund zur Debatte um die sexuelle Liberalisierung in der Kirche ist also aus meiner Sicht zuerst geistlicher Natur, weshalb dann auch die Antworten auf die angesprochenen Fragen ebenfalls zuerst theologisch-geistlich sein müssen und gerade nicht zuerst nur als pragmatisches Eingehen auf geänderte gesellschaftliche Verhältnisse. Nicht nur die je neue Kultur soll dem Evangelium immer wieder ein neues konkretes Gesicht für diese jeweilige Zeit geben, sondern auch die umgekehrte Bewegung ist nötig: das Evangelium (besser: Christus selbst!) will in die Kultur hinein inkarniert werden, damit die Kultur selbst verändert, verwandelt und erneuert wird.

_______

PAPST PAUL VI. 1968: ENZYKLIKA „HUMANAE VITAE“

ENZYKLIKA
SEINER HEILIGKEIT
PAUL PP. VI.

HUMANAE VITAE

ÜBER DIE WEITERGABE DES LEBENS

An die Ehrwürdigen Brüder, die Patriarchen, die Erzbischöfe,
Bischöfe und die übrigen Ortsordinarien, die mit dem Apostolischen Stuhl
in Frieden und Gemeinschaft leben,
an den Klerus und die Christgläubigen des ganzen katholischen Erdkreises sowie an alle Menschen guten Willens

EHRWÜRDIGE BRÜDER, LIEBE SÖHNE UND TÖCHTER!
GRUSS UND APOSTOLISCHEN SEGEN!

 

Die Weitergabe des Lebens

1. Die überaus ernste Aufgabe, menschliches Leben weiterzugeben, durch die die Gatten freie und bewußte Mitarbeiter des Schöpfergottes sind, erfüllt sie immer mit großer Freude; doch ist die Freude vielfach mit nicht geringen Schwierigkeiten und Bedrängnissen verbunden. Zu allen Zeiten stellte die Erfüllung dieser Aufgabe das Gewissen der Gatten vor schwere Probleme. Die jüngste Entwicklung jedoch, die die menschliche Gesellschaft nimmt, bringt derartige Veränderungen mit sich, daß sich neue Fragen erheben, denen die Kirche sich stellen muß, weil sie aufs engste mit menschlichem Leben und Glück zusammenhängen.

I. NEUE GESICHTSPUNKTE DES PROBLEMS:
DIE ZUSTÄNDIGKEIT DES KIRCHLICHEN LEHRAMTES

2. Die Veränderungen sind wirklich bedeutsam und verschiedenartig. Zunächst handelt es sich um die rasche Bevölkerungszunahme: viele fürchten, daß die Weltbevölkerung schneller zunimmt, als die zur Verfügung stehende Nahrung erlaubt. Dadurch wächst die Not in vielen Familien und in den Entwicklungsländern. Das kann staatliche Regierungen leicht dazu drängen, diese Gefahr mit radikalen Maßnahmen zu bekämpfen. Dazu erschweren nicht nur Arbeits- und Wohnverhältnisse, sondern auch gesteigerte Ansprüche wirtschaftlicher Art und im Hinblick auf die Erziehung und den Unterricht der Jugend den angemessenen Unterhalt einer größeren Zahl von Kindern. Wir erleben auch einen gewissen Wandel in der Auffassung von der Persönlichkeit der Frau und ihrer Aufgabe in der menschlichen Gesellschaft; ebenso in der Auffassung vom Wert der Gattenliebe in der Ehe und in der Beurteilung des ehelichen Verkehrs im Hinblick auf diese Liebe. Schließlich ist vor allem der staunenswerte Fortschritt des Menschen in der Beherrschung der Naturkräfte und deren rationaler Auswertung in Betracht zu ziehen. Diese Herrschaft sucht nun der Mensch auf sein ganzes Leben auszudehnen: auf seinen Körper, seine seelischen Kräfte, auf das soziale Leben und selbst auf die Gesetze, die die Weitergabe des Lebens regeln.

3. Diese Sachlage wirft neue Fragen auf. Wäre es nicht angebracht, angesichts der gegenwärtigen Lebensverhältnisse und der Bedeutung, die der eheliche Verkehr für die Harmonie und gegenseitige Treue der Gatten hat, die heute geltenden sittlichen Normen zu überprüfen? Zumal, wenn man erwägt, daß diese unter Umständen nur unter heroischen Opfern befolgt werden können? Könnte nicht das sogenannte Ganzheitsprinzip auf diesen Bereich angewandt werden und damit die Planung einer weniger großen, aber vernünftig geregelten Fruchtbarkeit einen physisch unfruchtbar machenden Akt in eine erlaubte und vorausschauende Geburtenlenkung verwandeln? Kann man nicht die Meinung vertreten, daß das Ziel des Dienstes an der Fortpflanzung mehr dem Eheleben als Ganzen aufgegeben sei als jedem einzelnen Akt? Man stellt auch die Frage, ob bei dem gesteigerten Verantwortungsbewußtsein des heutigen Menschen nicht die Zeit gekommen sei, wo die Weitergabe des Lebens mehr von Vernunft und freier Entscheidung bestimmt werden sollte als von gewissen biologischen Regelmäßigkeiten.

4. Zweifellos forderten solche Fragen vom kirchlichen Lehramt eine neue und vertiefte Überlegung über die Prinzipien der Ehemoral, die ihre Grundlage im natürlichen Sittengesetz haben, das durch die göttliche Offenbarung erhellt und bereichert wird. Kein gläubiger Christ wird bestreiten, daß die Auslegung des natürlichen Sittengesetzes zur Aufgabe des kirchlichen Lehramtes gehört. Denn zweifellos hat – wie Unsere Vorgänger wiederholt ausgesprochen haben (1) – Christus Jesus, als er dem Petrus und den übrigen Aposteln an seiner göttlichen Gewalt Anteil gab und sie aussandte, alle Völker zu lehren, was er uns geboten hat (2), sie zu zuverlässigen Wächtern und Auslegern des ganzen Sittengesetzes bestellt, das heißt nicht nur des evangelischen, sondern auch des natürlichen Sittengesetzes. Denn auch das natürliche Sittengesetz bringt den Willen Gottes zum Ausdruck, und dessen treue Befolgung ist ja allen Menschen zum ewigen Heil notwendig (3). In Erfüllung dieses Auftrags hat sich die Kirche zu allen Zeiten, besonders oft in letzter Zeit über die Natur der Ehe, über die sittlich geordnete Inanspruchnahme der ehelichen Rechte und die Pflichten der Eheleute in übereinstimmenden Dokumenten geäußert (4).

5. Im Bewußtsein dieser gleichen Aufgabe haben Wir den von Unserm Vorgänger Johannes XXIII. im März 1963 eingesetzten Ausschuß bestätigt und erweitert. Ihm gehörten außer vielen Gelehrten aus den betreffenden Fachgebieten auch Ehepaare an. Dieser Ausschuß sollte Gutachten einholen über die Fragen, die das eheliche Leben und vor allem die sittlich geordnete Geburtenregelung aufwirft; er sollte darüber hinaus die Ergebnisse seiner Studien so vorlegen, daß das kirchliche Lehramt eine den Erwartungen nicht nur der Gläubigen, sondern auch der übrigen Welt entsprechende Antwort geben könnte (5). Das Forschungsergebnis der Sachkundigen und die Gutachten vieler Unserer Brüder im Bischofsamt, die sie teils aus eigenem Antrieb einsandten, die teils von Uns erbeten waren, erlaubten Uns, dieses vielseitige Problem von allen Seiten aus sorgfältiger zu bedenken. Deshalb sagen Wir allen von Herzen Dank.

6. Die Folgerungen jedoch, zu denen der Ausschuß gelangt war, konnten für Uns kein sicheres und endgültiges Urteil darstellen, das Uns der Pflicht enthoben hätte, ein so bedeutsames Problem zum Gegenstand Unserer persönlichen Erwägung zu machen. Das war auch deshalb notwendig, weil es in der Vollversammlung des Ausschusses nicht zu einer vollen Übereinstimmung der Auffassungen über die vorzulegenden sittlichen Normen gekommen war; und vor allem, weil einige Lösungsvorschläge auftauchten, die von der Ehemoral, wie sie vom kirchlichen Lehramt bestimmt und beständig vorgelegt wurde, abwichen. Daher wollen Wir nun nach genauer Prüfung der Uns zugesandten Akten, nach reiflicher Überlegung, nach inständigem Gebet zu Gott, in kraft des von Christus Uns übertragenen Auftrags auf diese schwerwiegenden Fragen Unsere Antwort geben.

II. PRINZIPIEN DER KIRCHLICHEN LEHRE

Gesamtschau des Menschen

7. Die Frage der Weitergabe menschlichen Lebens darf – wie jede andere Frage, die das menschliche Leben angeht – nicht nur unter biologischen, psychologischen, demographischen, soziologischen Gesichtspunkten gesehen werden; man muß vielmehr den ganzen Menschen im Auge behalten, die gesamte Aufgabe, zu der er berufen ist; nicht nur seine natürliche und irdische Existenz, sondern auch seine übernatürliche und ewige. Da nun viele, die sich für künstliche Geburtenregelung einsetzen, sich dabei auf die Forderungen der ehelichen Liebe und der verantwortlichen Elternschaft berufen, ist es nötig, diese beiden bedeutsamen Elemente des ehelichen Lebens genauer zu bestimmen und zu beleuchten. – Dabei wollen Wir vor allem zurückgreifen auf die Pastoralkonstitution „Gaudium et spes„, in der sich jüngst das Zweite Vatikanische Konzil mit sehr hoher Autorität dazu geäußert hat.

Die eheliche Liebe

8. Die eheliche Liebe zeigt sich uns in ihrem wahren Wesen und Adel, wenn wir sie von ihrem Quellgrund her sehen; von Gott, der „Liebe ist (6)“, von ihm, dem Vater, „nach dem alle Vaterschaft im Himmel und auf Erden ihren Namen trägt (7)“. Weit davon entfernt, das bloße Produkt des Zufalls oder Ergebnis des blinden Ablaufs von Naturkräften zu sein, ist die Ehe in Wirklichkeit vom Schöpfergott in weiser Voraussicht so eingerichtet, daß sie in den Menschen seinen Liebesplan verwirklicht. Darum streben Mann und Frau durch ihre gegenseitige Hingabe, die ihnen in der Ehe eigen und ausschließlich ist, nach jener personalen Gemeinschaft, in der sie sich gegenseitig vollenden, um mit Gott zusammenzuwirken bei der Weckung und Erziehung neuen menschlichen Lebens. Darüber hinaus hat für die Getauften die Ehe die hohe Würde eines sakramentalen Gnadenzeichens, und bringt darin die Verbundenheit Christi mit seiner Kirche zum Ausdruck.

Eigenart der ehelichen Liebe

9. In diesem Licht wird die besondere Eigenart und Forderung der ehelichen Liebe deutlich. Es kommt sehr darauf an, daß man davon die rechte Vorstellung hat. An erster Stelle müssen wir sie als vollmenschliche Liebe sehen; das heißt als sinnenhaft und geistig zugleich. Sie entspringt darum nicht nur Trieb und Leidenschaft, sondern auch und vor allem einem Entscheid des freien Willens, der darauf hindrängt, in Freud und Leid des Alltags durchzuhalten, ja dadurch stärker zu werden: so werden dann die Gatten ein Herz und eine Seele und kommen gemeinsam zu ihrer menschlichen Vollendung. Weiterhin ist es Liebe, die aufs Ganze geht; jene besondere Form personaler Freundschaft, in der die Gatten alles großherzig miteinander teilen, weder unberechtigte Vorbehalte machen noch ihren eigenen Vorteil suchen. Wer seinen Gatten wirklich liebt, liebt ihn um seiner selbst willen, nicht nur wegen dessen, was er von ihm empfängt. Und es ist seine Freude, daß er durch seine Ganzhingabe bereichern darf. Die Liebe der Gatten ist zudem treu und ausschließlich bis zum Ende des Lebens; so wie sie Braut und Bräutigam an jenem Tag verstanden, da sie sich frei und klar bewußt durch das gegenseitige eheliche Jawort aneinander gebunden haben. Niemand kann behaupten, daß die Treue der Gatten – mag sie auch bisweilen schwer werden – unmöglich sei. Im Gegenteil. Zu allen Zeiten hatte sie ihren Adel und reiche Verdienste. Beispiele sehr vieler Ehepaare im Lauf der Jahrhunderte sind der Beweis dafür: Treue entspricht nicht nur dem Wesen der Ehe, sie ist darüber hinaus eine Quelle innigen, dauernden Glücks. Diese Liebe ist schließlich fruchtbar, da sie nicht ganz in der ehelichen Vereinigung aufgeht, sondern darüber hinaus fortzudauern strebt und neues Leben wecken will. „Ehe und eheliche Liebe sind ihrem Wesen nach auf die Zeugung und Erziehung von Nachkommenschaft ausgerichtet. Kinder sind gewiß die vorzüglichste Gabe für die Ehe und tragen zum Wohl der Eltern selbst sehr bei (8).“

Verantwortliche Elternschaft

10. Deshalb fordert die Liebe von den Ehegatten, daß sie ihre Aufgabe verantwortlicher Elternschaft richtig erkennen. Diese Aufgabe, auf die man heute mit gutem Recht ganz besonderen Wert legt, muß darum richtig verstanden werden. Sie muß aber unter verschiedenen berechtigten, miteinander zusammenhängenden Gesichtspunkten betrachtet werden. Was zunächst die biologischen Vorgänge angeht, bedeutet verantwortungsbewußte Elternschaft die Kenntnis und die Beachtung der mit ihnen zusammenhängenden Funktionen. So vermag der Mensch in seinen Fortpflanzungskräften die biologischen Gesetze zu entdecken, die zur menschlichen Person gehören (9). Was dann psychologisch Trieb und Leidenschaft betrifft, so meint verantwortungsbewußte Elternschaft ihre erforderliche Beherrschung durch Vernunft und Willen. Im Hinblick schließlich auf die gesundheitliche, wirtschaftliche, seelische und soziale Situation bedeutet verantwortungsbewußte Elternschaft, daß man entweder, nach klug abwägender Überlegung, sich hochherzig zu einem größeren Kinderreichtum entschließt, oder bei ernsten Gründen und unter Beobachtung des Sittengesetzes zur Entscheidung kommt, zeitweise oder dauernd auf weitere Kinder zu verzichten. Endlich und vor allem hat verantwortungsbewußte Elternschaft einen inneren Bezug zur sogenannten objektiven sittlichen Ordnung, die auf Gott zurückzuführen ist, und deren Deuterin das rechte Gewissen ist. Die Aufgabe verantwortungsbewußter Elternschaft verlangt von den Gatten, daß sie in Wahrung der rechten Güter- und Wertordnung ihre Pflichten gegenüber Gott, sich selbst, gegenüber ihrer Familie und der menschlichen Gesellschaft anerkennen. Daraus folgt, daß sie bei der Aufgabe, das Leben weiterzugeben, keineswegs ihrer Willkür folgen dürfen, gleichsam als hinge die Bestimmung der sittlich gangbaren Wege von ihrem eigenen und freien Ermessen ab. Sie sind vielmehr verpflichtet, ihr Verhalten auf den göttlichen Schöpfungsplan auszurichten, der einerseits im Wesen der Ehe selbst und ihrer Akte zum Ausdruck kommt, den anderseits die beständige Lehre der Kirche kundtut (10).

Achtung vor dem Wesen und der Zielsetzung des ehelichen Aktes

11. Jene Akte, die eine intime und keusche Vereinigung der Gatten darstellen und die das menschliche Leben weitertragen, sind, wie das letzte Konzil betont hat, „zu achten und zu ehren (11)“; sie bleiben auch sittlich erlaubt bei vorauszusehender Unfruchtbarkeit, wenn deren Ursache keineswegs im Willen der Gatten liegt; denn die Bestimmung dieser Akte, die Verbundenheit der Gatten zum Ausdruck zu bringen und zu bestärken, bleibt bestehen. Wie die Erfahrung lehrt, geht tatsächlich nicht aus jedem ehelichen Verkehr neues Leben hervor. Gott hat ja die natürlichen Gesetze und Zeiten der Fruchtbarkeit in seiner Weisheit so gefügt, daß diese schon von selbst Abstände in der Aufeinanderfolge der Geburten schaffen. Indem die Kirche die Menschen zur Beobachtung des von ihr in beständiger Lehre ausgelegten natürlichen Sittengesetzes anhält, lehrt sie nun, daß „jeder eheliche Akt“ von sich aus auf die Erzeugung menschlichen Lebens hingeordnet bleiben muß (12).

Untrennbarkeit von liebender Vereinigung und Fortpflanzung

12. Diese vom kirchlichen Lehramt oft dargelegte Lehre gründet in einer von Gott bestimmten unlösbaren Verknüpfung der beiden Sinngehalte – liebende Vereinigung und Fortpflanzung -, die beide dem ehelichen Akt innewohnen. Diese Verknüpfung darf der Mensch nicht eigenmächtig auflösen. Seiner innersten Struktur nach befähigt der eheliche Akt, indem er den Gatten und die Gattin aufs engste miteinander vereint, zugleich zur Zeugung neuen Lebens, entsprechend den Gesetzen, die in die Natur des Mannes und der Frau eingeschrieben sind. Wenn die beiden wesentlichen Gesichtspunkte der liebenden Vereinigung und der Fortpflanzung beachtet werden, behält der Verkehr in der Ehe voll und ganz den Sinngehalt gegenseitiger und wahrer Liebe, und seine Hinordnung auf die erhabene Aufgabe der Elternschaft, zu der der Mensch berufen ist. Unserer Meinung nach sind die Menschen unserer Zeit durchaus imstande, die Vernunftgemäßheit dieser Lehre zu erfassen.

Treue zum Schöpfungsplan Gottes

13. Man weist ja mit Recht darauf hin, daß ein dem Partner aufgenötigter Verkehr, der weder auf sein Befinden noch auf seine berechtigten Wünsche Rücksicht nimmt, kein wahrer Akt der Liebe ist, daß solche Handlungsweise vielmehr dem widerspricht, was mit Recht die sittliche Ordnung für das Verhältnis der beiden Gatten zueinander verlangt. Ebenso muß man dann auch, wenn man darüber nachdenkt, zugeben: Ein Akt gegenseitiger Liebe widerspricht dem göttlichen Plan, nach dem die Ehe entworfen ist, und dem Willen des ersten Urhebers menschlichen Lebens, wenn er der vom Schöpfergott in ihn nach besonderen Gesetzen hineingelegten Eignung, zur Weckung neuen Lebens beizutragen, abträglich ist. Wenn jemand daher einerseits Gottes Gabe genießt und anderseits – wenn auch nur teilweise – Sinn und Ziel dieser Gabe ausschließt, handelt er somit im Widerspruch zur Natur des Mannes und der Frau und deren inniger Verbundenheit; er stellt sich damit gegen Gottes Plan und heiligen Willen. Wer das Geschenk ehelicher Liebe genießt und sich dabei an die Zeugungsgesetze hält, der verhält sich nicht, als wäre er Herr über die Quellen des Lebens, sondern er stellt sich vielmehr in den Dienst des auf den Schöpfer zurückgehenden Planes. Wie nämlich der Mensch ganz allgemein keine unbeschränkte Verfügungsmacht über seinen Körper hat, so im besonderen auch nicht über die Zeugungskräfte als solche, sind doch diese ihrer innersten Natur nach auf die Weckung menschlichen Lebens angelegt, dessen Ursprung Gott ist. „Das menschliche Leben muß allen etwas Heiliges sein“, mahnt Unser Vorgänger Johannes XXIII., „denn es verlangt von seinem ersten Aufkeimen an das schöpferische Eingreifen Gottes (13).“

Unerlaubte Wege der Geburtenregelung

14. Gemäß diesen fundamentalen Grundsätzen menschlicher und christlicher Eheauffassung müssen Wir noch einmal öffentlich erklären: Der direkte Abbruch einer begonnenen Zeugung, vor allem die direkte Abtreibung – auch wenn zu Heilzwecken vorgenommen -, sind kein rechtmäßiger Weg, die Zahl der Kinder zu beschränken, und daher absolut zu verwerfen (14). Gleicherweise muß, wie das kirchliche Lehramt des öfteren dargetan hat, die direkte, dauernde oder zeitlich begrenzte Sterilisierung des Mannes oder der Frau verurteilt werden (15). Ebenso ist jede Handlung verwerflich, die entweder in Voraussicht oder während des Vollzugs des ehelichen Aktes oder im Anschluß an ihn beim Ablauf seiner natürlichen Auswirkungen darauf abstellt, die Fortpflanzung zu verhindern, sei es als Ziel, sei es als Mittel zum Ziel (16). Man darf, um diese absichtlich unfruchtbar gemachten ehelichen Akte zu rechtfertigen, nicht als Argument geltend machen, man müsse das Übel wählen, das als das weniger schwere erscheine; auch nicht, daß solche Akte eine gewisse Einheit darstellen mit früheren oder nachfolgenden fruchtbaren Akten und deshalb an ihrer einen und gleichen Gutheit teilhaben. Wenn es auch zuweilen erlaubt ist, das kleinere sittliche Übel zu dulden, um ein größeres zu verhindern oder um etwas sittlich Höherwertiges zu fördern (17), so ist es dennoch niemals erlaubt – auch aus noch so ernsten Gründen nicht -, Böses zu tun um eines guten Zweckes willen (18): das heißt etwas zu wollen, was seiner Natur nach die sittliche Ordnung verletzt und deshalb als des Menschen unwürdig gelten muß; das gilt auch, wenn dies mit der Absicht geschieht, das Wohl des einzelnen, der Familie oder der menschlichen Gesellschaft zu schützen oder zu fördern. Völlig irrig ist deshalb die Meinung, ein absichtlich unfruchtbar gemachter und damit in sich unsittlicher ehelicher Akt könne durch die fruchtbaren ehelichen Akte des gesamtehelichen Lebens seine Rechtfertigung erhalten.

Erlaubtheit therapeutischer Mittel

15. Die Kirche hält aber jene therapeutischen Maßnahmen, die zur Heilung körperlicher Krankheiten notwendig sind, nicht für unerlaubt, auch wenn daraus aller Voraussicht nach eine Zeugungsverhinderung eintritt. Voraussetzung dabei ist, daß diese Verhinderung nicht aus irgendeinem Grunde direkt angestrebt wird (19).

Erlaubte Inanspruchnahme unfruchtbarer Perioden

16. Allein dieser Lehre der Kirche über die Gestaltung der ehelichen Sittlichkeit halten einige heute entgegen, wie schon oben (Nr. 3) erwähnt, es sei Recht und Aufgabe der menschlichen Vernunft, die ihr von der Naturwelt dargebotenen Kräfte zu steuern und auf Ziele auszurichten, die dem Wohl des Menschen entsprechen. Ja, man fragt: Ist nicht in diesem Zusammenhang in vielen Situationen künstliche Geburtenregelung vernünftiger, wenn man nämlich damit mehr Frieden und Eintracht in der Familie erreichen und für die Erziehung schon lebender Kinder bessere Bedingungen schaffen kann? Auf diese Frage ist entschieden zu antworten: Die Kirche ist die erste, die den Einsatz der menschlichen Vernunft anerkennt und empfiehlt, wenn es um ein Werk geht, das den vernunftbegabten Menschen so eng mit seinem Schöpfer verbindet; aber ebenso betont sie, daß man sich dabei an die von Gott gesetzte Ordnung halten muß. Wenn also gerechte Gründe dafür sprechen, Abstände einzuhalten in der Reihenfolge der Geburten – Gründe, die sich aus der körperlichen oder seelischen Situation der Gatten oder aus äußeren Verhältnissen ergeben -, ist es nach kirchlicher Lehre den Gatten erlaubt, dem natürlichen Zyklus der Zeugungsfunktionen zu folgen, dabei den ehelichen Verkehr auf die empfängnisfreien Zeiten zu beschränken und die Kinderzahl so zu planen, daß die oben dargelegten sittlichen Grundsätze nicht verletzt werden (20). Die Kirche bleibt sich und ihrer Lehre treu, wenn sie einerseits die Berücksichtigung der empfängnisfreien Zeiten durch die Gatten für erlaubt hält, andererseits den Gebrauch direkt empfängnisverhütender Mittel als immer unerlaubt verwirft auch wenn für diese andere Praxis immer wieder ehrbare und schwerwiegende Gründe angeführt werden. Tatsächlich handelt es sich um zwei ganz unterschiedliche Verhaltensweisen: bei der ersten machen die Eheleute von einer naturgegebenen Möglichkeit rechtmäßig Gebrauch; bei der anderen dagegen hindern sie den Zeugungsvorgang bei seinem natürlichen Ablauf. Zweifellos sind in beiden Fällen die Gatten sich einig, daß sie aus guten Gründen Kinder vermeiden wollen, und dabei möchten sie auch sicher sein. Jedoch ist zu bemerken, daß nur im ersten Fall die Gatten sich in fruchtbaren Zeiten des ehelichen Verkehrs enthalten können, wenn aus berechtigten Gründen keine weiteren Kinder mehr wünschenswert sind. In den empfängnisfreien Zeiten aber vollziehen sie dann den ehelichen Verkehr zur Bezeugung der gegenseitigen Liebe und zur Wahrung der versprochenen Treue. Wenn die Eheleute sich so verhalten, geben sie wirklich ein Zeugnis der rechten Liebe.

Ernste Folgen der Methoden einer künstlichen Geburtenregelung

17. Verständige Menschen können sich noch besser von der Wahrheit der kirchlichen Lehre überzeugen, wenn sie ihr Augenmerk auf die Folgen der Methoden der künstlichen Geburtenregelung richten. Man sollte vor allem bedenken, wie bei solcher Handlungsweise sich ein breiter und leichter Weg einerseits zur ehelichen Untreue, anderseits zur allgemeinen Aufweichung der sittlichen Zucht auftun könnte. Man braucht nicht viel Erfahrung, um zu wissen, wie schwach der Mensch ist, und um zu begreifen, daß der Mensch – besonders der Jugendliche, der gegenüber seiner Triebwelt so verwundbar ist – anspornender Hilfe bedarf, um das Sittengesetz zu beobachten, und daß es unverantwortlich wäre, wenn man ihm die Verletzung des Gesetzes selbst erleichterte. Auch muß man wohl befürchten: Männer, die sich an empfängnisverhütende Mittel gewöhnt haben, könnten die Ehrfurcht vor der Frau verlieren, und, ohne auf ihr körperliches Wohl und seelisches Gleichgewicht Rücksicht zu nehmen, sie zum bloßen Werkzeug ihrer Triebbefriedigung erniedrigen und nicht mehr als Partnerin ansehen, der man Achtung und Liebe schuldet. Schließlich ist sehr zu bedenken, welch gefährliche Macht man auf diese Weise jenen staatlichen Behörden in die Hand gäbe, die sich über sittliche Grundsätze hinwegsetzen. Wer könnte es Staatsregierungen verwehren, zur Überwindung der Schwierigkeiten ihrer Nationen für sich in Anspruch zu nehmen, was man Ehegatten als erlaubte Lösung ihrer Familienprobleme zugesteht? Wer könnte Regierungen hindern, empfängnisverhütende Methoden zu fördern, die ihnen am wirksamsten zu sein scheinen, ja sogar ihre Anwendung allgemein vorzuschreiben, wo immer es ihnen notwendig erscheint? Auf diese Weise könnte es geschehen, daß man, um Schwierigkeiten persönlicher, familiärer oder sozialer Art, die sich aus der Befolgung des göttlichen Gesetzes ergeben, zu vermeiden, es dem Ermessen staatlicher Behörden zugestände, sich in die ganz persönliche und intime Aufgabe der Eheleute einzumischen. Will man nicht den Dienst an der Weitergabe des Lebens menschlicher Willkür überlassen, dann muß man für die Verfügungsmacht des Menschen über den eigenen Körper und seine natürlichen Funktionen unüberschreitbare Grenzen anerkennen, die von niemand, sei es Privatperson oder öffentliche Autorität, verletzt werden dürfen. Diese Grenzen bestimmen sich einzig aus der Ehrfurcht, die dem menschlichen Leibe in seiner Ganzheit und seinen natürlichen Funktionen geschuldet wird: und zwar entsprechend den oben dargelegten Grundsätzen und dem recht verstandenen sogenannten Ganzheitsprinzip, so wie es Unser Vorgänger Pius XII. erläutert hat (21).

Die Kirche als Garant der wahren Werte des Menschen

18. Es ist vorauszusehen, daß vielleicht nicht alle diese überkommene Lehre ohne weiteres annehmen werden; es werden sich, verstärkt durch die modernen Kommunikationsmittel, zu viele Gegenstimmen gegen das Wort der Kirche erheben. Die Kirche aber, die es nicht überrascht, daß sie ebenso wie ihr göttlicher Stifter gesetzt ist „zum Zeichen, dem widersprochen wird (22)“, steht dennoch zu ihrem Auftrag, das gesamte Sittengesetz, das natürliche und evangelische, demütig, aber auch fest zu verkünden. Die Kirche ist ja nicht Urheberin dieser beiden Gesetze; sie kann deshalb darüber nicht nach eigenem Ermessen entscheiden, sondern nur Wächterin und Auslegerin sein; niemals darf sie etwas für erlaubt erklären, was in Wirklichkeit unerlaubt ist, weil das seiner Natur nach dem wahren Wohl des Menschen widerspricht. Indem sie das eheliche Sittengesetz unverkürzt wahrt, weiß die Kirche sehr wohl, daß sie zum Aufbau echter menschlicher Kultur beiträgt; darüber hinaus spornt sie den Menschen an, sich nicht seiner Verantwortung dadurch zu entziehen, daß er sich auf technische Mittel verläßt; damit sichert sie die Würde der Eheleute. Indem die Kirche so dem Beispiel und der Lehre unseres göttlichen Erlösers getreu vorgeht, zeigt sie, daß ihre aufrichtige und uneigennützige Liebe den Menschen begleitet: sie will ihm helfen in dieser Welt, daß er wirklich als Kind am Leben des lebendigen Gottes teilhat, der aller Menschen Vater ist (23).

III. SEELSORGLICHE RICHTLINIEN

Die Kirche als Mutter und Lehrmeisterin

19. Unsere Worte wären nicht der volle und deutliche Ausdruck der Gedanken und Sorgen der Kirche, der Mutter und Lehrmeisterin aller Völker, wenn sie den Menschen, die sie zur treuen Befolgung von Gottes Gebot über die Ehe auffordern, nicht auch in den schweren Situationen, unter denen heute Familien und Völker leiden, Hilfen böten bei der Durchführung einer sittlich geordneten Geburtenregelung. Die Kirche kann sich ja zu den Menschen nicht anders verhalten als unser göttlicher Erlöser: sie kennt die Schwachheit der Menschen, sie hat Erbarmen mit den Scharen, sie nimmt sich der Sünder an; sie muß aber jenes Gesetz lehren, das wirklich das Gesetz des menschlichen Lebens ist: jenes Lebens, das auf seine ursprüngliche Wahrheit zurückgeführt, von Gottes Geist bewegt wird (24).

Möglichkeit der Beobachtung des göttlichen Gesetzes

20. Die Verwirklichung der Lehre über die rechte Geburtenregelung, die die Kirche als Gottes Gebot selbst verkündet, erscheint zweifellos vielen schwer, ja sogar ganz unmöglich. Aber wie jedes besonders hohe und wertvolle Gut verlangt dieses Gesetz vom einzelnen Menschen, von der Familie und von der menschlichen Gesellschaft feste Entschlüsse und viele Anstrengungen. Ja, seine Befolgung ist nicht möglich ohne die helfende Gnade Gottes, die den guten Willen des Menschen stützt und stärkt. Wer aber tiefer nachdenkt, wird erkennen, daß diese Anstrengungen die Würde des Menschen erhöhen und beitragen zum Wohl der menschlichen Gesellschaft.

Selbstbeherrschung

21. Sittlich geordnete Geburtenregelung aber verlangt von den Gatten vor allem eine volle Anerkennung und Wertschätzung der wahren Güter des Lebens und der Familie, ferner eine ständige Bemühung um allseitige Beherrschung ihrer selbst und ihres Trieblebens. Ganz sicher ist diese geistige Herrschaft über den Naturtrieb ohne Askese nicht möglich. Nur so vermag man die dem ehelichen Leben eigentümlichen Ausdrucksformen der Liebe in Einklang zu bringen mit der rechten Ordnung. Das gilt besonders für jene Zeiten, in denen man Enthaltsamkeit üben muß. Solche Selbstzucht, Ausdruck ehelicher Keuschheit, braucht keineswegs der Gattenliebe zu schaden; sie erfüllt sie vielmehr mit einem höheren Sinn für Menschlichkeit. Solche Selbstzucht verlangt zwar beständiges Sich-Mühen; ihre heilsame Kraft aber führt die Gatten zu einer volleren Entfaltung ihrer selbst und macht sie reich an geistlichen Gütern. Sie schenkt der Familie wahren Frieden und hilft, auch sonstige Schwierigkeiten zu meistern. Sie fördert bei den Gatten gegenseitige Achtung und Besorgtsein füreinander; sie hilft den Eheleuten, ungezügelte Selbstsucht, die der wahren Liebe widerspricht, zu überwinden, sie hebt bei ihnen das Verantwortungsbewußtsein für die Erfüllung ihrer Aufgaben. Sie verleiht den Eltern bei der Erziehung der Kinder eine innerlich begründete, wirkungsvollere Autorität: dementsprechend werden dann Kinder und junge Menschen mit fortschreitendem Alter zu den wahren menschlichen Werten die rechte Einstellung bekommen und die Kräfte ihres Geistes und ihrer Sinne in glücklicher Harmonie entfalten.

Schaffung einer für die Keuschheit gedeihlichen Atmosphäre

22. Bei dieser Gelegenheit wollen Wir die Erzieher und alle, die für das Gemeinwohl der menschlichen Gesellschaft verantwortlich sind, an die Notwendigkeit erinnern, ein Klima zu schaffen, das geschlechtlich zuchtvolles Verhalten begünstigt. So überwindet wahre Freiheit Ungebundenheit durch Wahrung der sittlichen Ordnung. Alle, denen der Fortschritt der menschlichen Kultur und der Schutz der wesentlichen Güter der Seele am Herzen liegt, müssen einstimmig verurteilen, was bei den modernen Massenmedien dazu beiträgt, die Sinne aufzupeitschen und Sittenverfall zu verbreiten, ebenso jede Form von Pornographie in Schrift, Wort und Darstellung. Man soll doch nicht versuchen, solche Entartung mit Berufung auf Kunst und Wissenschaft zu rechtfertigen (25) oder mit dem Hinweis auf die Freiheit, die vielleicht in diesem Bereich die staatlichen Stellen gewähren.

Appell an die staatlichen Behörden

23. Daher richten Wir das Wort an die Regierungen, denen vor allem die Verantwortung für den Schutz des Gemeinwohls obliegt und die soviel zur Wahrung der guten Sitten beitragen können: Duldet niemals, daß die guten Sitten eurer Völker untergraben werden; verhindert unter allen Umständen, daß durch Gesetze in die Familie, die Keimzelle des Staates, Praktiken eindringen, die zum natürlichen und göttlichen Gesetz im Widerspruch stehen. Um das Problem des Bevölkerungszuwachses zu lösen, kann und muß die staatliche Gewalt einen anderen Weg gehen: den einer weisen und vorausschauenden Familien- und Bildungspolitik, die das Sittengesetz und die Freiheit der Bürger sicherstellt. Wir wissen sehr wohl um die Schwierigkeiten, die hier die Regierungen haben, zumal in den Entwicklungsländern. Unser Verständnis für diese begründeten Sorgen beweist Unsere Enzyklika „Populorum progressio“. Hier aber wiederholen Wir mit Unserem Vorgänger Johannes XXIII.: „Bei Behandlung und Lösung dieser Fragen darf der Mensch weder Wege gehen noch Mittel anwenden, die im Widerspruch zu seiner Würde stehen, wie sie von jenen ungescheut angeboten werden, die vom Menschen und seinem Leben rein materialistisch denken. Unserer Überzeugung nach läßt sich die Frage nur lösen, wenn beim wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt sowohl der einzelnen wie des ganzen Menschheitsgeschlechtes die echt menschlichen Güter und Werte geachtet und gemehrt werden (26).“ Sehr zu Unrecht würde man die göttliche Vorsehung für das verantwortlich machen, was im Gegenteil eine Folge kurzsichtiger Politik ist, mangelnden Sinns für soziale Gerechtigkeit, selbstsüchtiger Bereicherung, schließlich fauler Nachlässigkeit in der Übernahme von Anstrengungen, die ein Volk mit all seinen Bürgern zu höherem Lebensstandard führen könnten (27). Möchten doch alle Verantwortlichen, auf die es ankommt – wie es einige schon ausgezeichnet tun -, immer wieder mit allen Kräften ans Werk gehen. Man darf nicht nachlassen im Eifer, sich innerhalb der großen Menschenfamilie gegenseitig zu helfen; hier öffnet sich, meinen Wir, ein schier unbegrenztes Betätigungsfeld für die großen überstaatlichen Einrichtungen.

An die Wissenschaftler

24. Wir möchten nun Unsern Appell an die Männer der Wissenschaft richten, „die dem Wohl von Ehe und Familie und dem Frieden des Gewissens sehr dienen, wenn sie durch ihre gemeinsame wissenschaftliche Arbeit die Voraussetzungen für eine sittlich einwandfreie Geburtenregelung genauer zu klären versuchen (28)“. Vor allem ist zu wünschen – was schon Pius XII. gesagt hat -, daß aufbauend auf dem Wissen um die natürlichen Zyklen die Medizin für eine sittlich geordnete Geburtenregelung sichere Grundlagen zu schaffen vermag (29). So werden dann die Wissenschaftler – besonders die Katholiken unter ihnen – durch ihren Beitrag beweisen, daß es so ist, wie die Kirche lehrt: daß nämlich „es keinen wahren Widerspruch geben kann zwischen den göttlichen Gesetzen hinsichtlich der Übermittlung des Lebens und dem, was echter ehelicher Liebe dient (30)“.

An die christlichen Eheleute

25. Nun richtet sich Unser Wort insbesondere an Unsere Söhne und Töchter, besonders an diejenigen, die Gott beruft, ihm im Ehestande zu dienen. Indem die Kirche die unumstößlichen Forderungen des göttlichen Gesetzes weitergibt, verkündet sie das Heil und schließt in den Sakramenten Wege der Gnade auf: dadurch wird der Mensch eine neue Schöpfung, die in Liebe und echter Freiheit dem erhabenen Plan seines Schöpfers und Erlösers entspricht und Sinn hat für die leichte Last Christi (31). Indem sie in Demut seiner Stimme folgen, sollen die christlichen Eheleute daran denken, daß ihre Berufung zum christlichen Leben, die in der Taufe gründet, im Sakrament der Ehe entfaltet und gefestigt wurde. So werden sie „gestärkt und gleichsam geweiht“, um ihre Aufgaben treu erfüllen, ihre Berufung zur Vollendung führen und vor der Welt das ihnen aufgetragene christliche Zeugnis geben zu können (32). Diese Aufgabe hat der Herr ihnen anvertraut, damit sie den Menschen jenes heilige und doch milde Gesetz offenbar machen, das ihre gegenseitige Liebe und ihr Zusammenwirken mit der Liebe Gottes, des Urhebers menschlichen Lebens, innig vereint. Daß für das Leben christlicher Eheleute bisweilen ernste Schwierigkeiten auftreten, leugnen Wir keineswegs: denn wie für jeden von uns ist auch für sie „die Pforte eng und schmal der Weg, der zum Leben führt (33)“. Dennoch wird die Hoffnung auf dieses Leben wie ein hellstrahlendes Licht ihren Weg erleuchten, wenn sie tapferen Sinnes bemüht sind, „nüchtern, gerecht und gottesfürchtig in dieser Welt zu leben (34)“, wohl wissend, daß „die Gestalt dieser Welt vergeht (35)“. Deshalb sollen die Eheleute die ihnen auferlegten Opfer bereitwillig auf sich nehmen, gestärkt durch den Glauben und die Hoffnung, die „nicht zuschanden werden läßt: denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ward (36)“. Sie sollen ferner in inständigem Gebet die Hilfe Gottes erflehen und vor allem aus der immer strömenden Quelle der Eucharistie Gnade und Liebe schöpfen. Sollten aber Sünden ihren Weg hemmen, dann mögen sie nicht den Mut verlieren, sondern demütig und beharrlich zur Barmherzigkeit Gottes ihre Zuflucht nehmen, die ihnen im Bußsakrament in reichem Maße geschenkt wird. So können die Eheleute zu der ihnen als Gatten eigenen Vollkommenheit kommen, wie der Apostel sie kennzeichnet: „Ihr Männer, liebet eure Frauen, wie Christus die Kirche geliebt hat … So sollen die Männer ihre Frauen lieben wie ihren eigenen Leib. Wer seine Frau liebt, liebt sich selbst. Hat doch niemand je sein eigenes Fleisch gehaßt, sondern er hegt und pflegt es wie Christus seine Kirche … Dieses Geheimnis ist groß: ich meine im Hinblick auf Christus und die Kirche. Wohlan, so liebe jeder von euch seine Frau ebenso wie sich selbst; die Frau aber stehe in Ehrfurcht zum Manne (37).“

Familienapostolat

26. Eine der edelsten Früchte, die aus dem unentwegten Bemühen der Eheleute um die Befolgung des göttlichen Gesetzes heranreift, ist der häufige Wunsch der Eheleute, andere an ihrer Erfahrung teilhaben zu lassen. So fügt sich dem weiten Bereich der Laienberufung ein neues Apostolat ausgezeichneter Art ein: der Dienst jener aneinander, die in gleicher Situation stehen: die Eheleute übernehmen für andere Eheleute, denen gegenüber sie sich als Führer erweisen, eine apostolische Aufgabe. Das scheint heute eine besonders zeitgemäße Form des Apostolates zu sein (38).

An die Ärzte und ihre Helfer

27. Große Hochachtung zollen Wir den Ärzten und ihren Helfern, die in der Ausübung ihres Berufes mehr darauf schauen, was ein christliches Berufsethos von ihnen fordert als auf rein menschliche Interessen. Sie mögen beharrlich bei dem Vorsatz bleiben, sich für die Lösungen einzusetzen, die dem Glauben und der Vernunft entsprechen; sie mögen sich auch bemühen, ihre Berufskollegen für die gleiche Einstellung zu gewinnen. Zudem sollen sie es als besondere Aufgabe ihres Berufes betrachten, sich das notwendige Wissen zu erwerben, um in diesem schwierigen Bereich Eheleute, die zu ihnen kommen, recht beraten und ihnen verantwortbare Wege zeigen zu können, wie es mit Fug und Recht von ihnen erwartet wird.

An die Priester

28. Liebe Priester, liebe Söhne! Durch euren heiligen Beruf seid ihr Berater und geistliche Führer der einzelnen Menschen wie der Familien. Voll Vertrauen möchten Wir Uns an euch wenden. Eure Pflicht ist es ja – Unser Wort gilt besonders den Lehrern der Moraltheologie -, die kirchliche Ehelehre unverfälscht und offen vorzulegen. Gebt an erster Stelle ihr bei der Ausübung eures Amtes das Beispiel aufrichtigen Gehorsams, der innerlich und nach außen dem kirchlichen Lehramt zu leisten ist. Wie ihr wohl wißt, verpflichtet euch dieser Gehorsam nicht so sehr wegen der beigebrachten Beweisgründe, als wegen des Lichtes des Heiligen Geistes, mit dem besonders die Hirten der Kirche bei der Darlegung der Wahrheit ausgestattet sind (39). Ihr wißt auch, daß es zur Wahrung des inneren Friedens der einzelnen und der Einheit des christlichen Volkes von größter Bedeutung ist, daß in Sitten- wie in Glaubensfragen alle dem kirchlichen Lehramt gehorchen und die gleiche Sprache sprechen. Deshalb machen Wir Uns die eindringlichen Worte des großen Apostels Paulus zu eigen und appellieren erneut an euch aus ganzem Herzen: „Ich ermahne euch, Brüder, … daß Ihr alle in Eintracht redet; keine Parteiungen soll es unter euch geben, vielmehr sollt ihr im gleichen Sinn und in gleicher Überzeugung zusammenstehen (40).“

29. Ferner, wenn nichts von der Heilsiehre Christi zu unterschlagen eine hervorragende Ausdrucksform der Liebe ist, so muß dies immer mit Duldsamkeit und Liebe verbunden sein; dafür hat der Herr selbst durch sein Wort und Werk den Menschen ein Beispiel gegeben. Denn obwohl er gekommen war; nicht um die Welt zu richten, sondern zu retten (41), war er zwar unerbittlich streng gegen die Sünde, aber geduldig und barmherzig gegenüber den Sündern. Bei ihren Schwierigkeiten und Nöten sollten die Eheleute im Wort und im mitfühlenden Herzen des Priesters ein Echo der Stimme und der Liebe unseres Erlösers finden. Redet mit Zuversicht, liebe Söhne, überzeugt, daß der Heilige Geist, welcher dem Lehramt bei der Darlegung der rechten Lehre beisteht, die Herzen der Gläubigen erleuchtet und sie zur Zustimmung einlädt. Es geht nicht ohne Gebet. Lehrt es die Eheleute; unterweist sie, daß sie oft, mit großem Glauben, zu den Sakramenten der Eucharistie und der Buße kommen und niemals wegen ihrer Schwachheit den Mut verlieren.

An die Bischöfe

30. Liebe und ehrwürdige Brüder im Bischofsamt! Am Ende dieses Rundschreibens wenden Wir Uns in Ehrerbietung und Liebe an euch. Mit euch teilen Wir besonders eng die Sorgen um das geistliche Wohl des Gottesvolkes. An euch richtet sich Unsere dringende Bitte: Setzt euch, an der Spitze eurer Mitarbeiter, der Priester, und eurer Gläubigen restlos und unverzüglich ein für Schutz und Heiligkeit der Ehe; dafür, daß damit das Leben in der Ehe zu menschlicher und christlicher Vollendung kommt. Das sollt ihr als die größte und verantwortungsvollste Aufgabe ansehen, die euch heute anvertraut ist. Ihr wißt sehr wohl, daß dieser Hirtendienst eine gewisse Abstimmung der pastoralen Bemühungen aufeinander erfordert, die alle Bereiche menschlichen Tuns umfaßt: den wirtschaftlichen, den der Bildung und den gesellschaftlichen. Gleichzeitiger Fortschritt auf allen diesen Gebieten wird das Leben von Eltern und Kindern in der Familie erträglicher, leichter und froher machen. Bei ehrfürchtiger Wahrung von Gottes Plan mit der Welt wird auch das Leben der menschlichen Gesellschaft durch brüderliche Liebe reicher und durch wahren Frieden gesicherter werden.

SCHLUSSWORT

31. Euch, ehrwürdige Brüder, liebe Söhne und Töchter, und euch alle, Menschen guten Willens, rufen Wir auf zu einem wahrhaft großen Werk der Erziehung und des Fortschritts und der Liebe. Wir stützen Uns dabei auf die feste Lehre der Kirche, die der Nachfolger des heiligen Petrus, gemeinsam mit den Brüdern im katholischen Bischofsamt, treu bewahrt und auslegt. Dieses wahrhaft große Werk, davon sind Wir fest überzeugt, gereicht sowohl der Welt wie der Kirche zum Segen. Nur wenn der Mensch sich an die von Gott in seine Natur eingeschriebenen und darum weise und liebevoll zu achtenden Gesetze hält, kann er zum wahren, sehnlichst erstrebten Glück gelangen. Für dieses große Werk erflehen Wir nicht nur euch allen, sondern besonders den Eheleuten, vom allheiligen und allbarmherzigen Gott die Fülle himmlischer Gnade und erteilen euch als deren Unterpfand von Herzen Unseren Apostolischen Segen.

Rom, bei St. Peter, am 25. Juli, am Fest des heiligen Apostels Jakobus 1968, im sechsten Jahre Unseres Pontifikats.

PAUL PP. VI.


Anmerkungen

1) Vgl. Pius IX., Enz. Qui Pluribus, 9. Nov. 1846: Pius IX. P. M. Acta, Bd. 1, S. 9-10; Pius X., Enz. Singulari Quadam, 24. Sept. 1912: AAS 4 (1912), S. 658; Pius XI., Enz. Casti Connubii, 31. Dezember 1930: AAS 22 (1930), S. 579-581; Pius XII., Ansprache Magnificate Dominum, an den katholischen Weltepiskopat, 2. Nov. 1954: AAS 46 (1954), S. 671-672; Johannes XXIII., Enz. Mater et Magistra, 15. Mai 1961: AAS 53 (1961), S. 457.

2) Vgl. Mt 28,18-19.

3) Vgl. Mt 7,21.

4) Vgl. Catechismus Romanus Concilii Tridentini, II. Teil, c. CIII; Leo XIII., Enz. Arcanum, 10. Febr. 1880: Acta Leonis XIII., 2 (1881), S. 26-29; Pius XI., Enz. Divini Illius Magistri, 31. Dez. 1929: AAS 22 (1930), S. 56-61; Enz. Casti ConnubiiAAS 22 (1930), S. 545-546; Pius XII., Ansprache an die italienische medizinisch-biologische Vereinigung vom hl. Lukas, 12. Nov. 1944: Ansprache und Radiobotschaften, VI, S. 191-192; An die katholische Vereinigung der Hebammen Italiens, 29. Okt. 1951: AAS 43 (1951), S. 835-854; An den Kongreß des Fronte della Famiglia und der Vereinigung der kinderreichen Familien, 28. Nov. 1951: AAS 43 (1951), S. 857-859; An den 7. Kongreß der internationalen Gesellschaft für Hämatologie, 12. Sept. 1958: AAS 50 (1958), S. 734-735; Johannes XXIII., Enz. Mater et MagistraAAS 53 (1961), S. 446-447; Codex luris Canonici, c. 1067; c. 1068, § 1; c. 1076, §§ 1-2; 2. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution Gaudium et Spes, Nr. 47-52.

5) Vgl. Paul VI., Ansprache an das Kardinalskollegium, 23. Juni 1964: AAS 56 (1964), S. 588; An die Kommission zum Studium der Probleme der Bevölkerung, der Familie und der Geburten, 27. März 1965: AAS 57 (1965), S. 388; An den Nationalkongreß der italienischen Vereinigung der Hebammen und Gynäkologen, 29. Okt. 1966: AAS 58 (1966), S. 1168.

6) Vgl. 1 Joh 4-8.

7) Vgl. Eph 3,15.

8) Vgl. 2. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution Gaudium et Spes, Nr. 50.

9) Vgl. S. Thom. Aqu., S. Th., I-II, qu. 94, a. 2.

10) Vgl. 2. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution Gaudium et Spes, Nr. 50 und 51.

11) Vgl. 2. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution Gaudium et Spes, Nr. 49.

12) Vgl. Pius XI., Enz. Casti Connubii: AAS 92 (1930), S. 560; Pius XII., Ansprache an die katholische Vereinigung der Hebammen Italiens, 29. Okt.1951: AAS 43 (1951), S. 843.

13) Vgl. Johannes XXIII., Enz. Mater et MagistraAAS 53 (1961), S. 447.

14) Vgl. Catechisrnus Romanus Concilii Tridentini, II. Teil, c. VIII; Pius XI., Enz. Casti ConnubiiAAS 22 (1930), S. 562-564; Pius XII., Ansprache an die italienische medizinisch-biologische Vereinigung vom hl. Lukas, 12. Nov. 1944: Ansprache und Radiobotschaften, VI (1944), S. 191-192; Ansprache an die katholische Vereinigung der Hebammen Italiens, 29. Okt. 1951: AAS 43 (1951), S. 842-843; S. 857-859; Johannes XXIII., Enz. Pacem in Terris, 11. April 1963: AAS 55 (1963), S. 259-260; 2. Vatikanisches Konzil, Gaudium et Spes, Nr. 51.

15) Vgl. Pius XI., Enz. Casti Connubii: AAS 22 (1930), S. 565; Dekret d. Hl. Off., 22. Februar 1940, AAS 32 (1940), S. 73; Pius XII., Ansprache an die katholische Vereinigung der Hebammen Italiens, 29. Okt. 1951: AAS 43 (1951), S. 843-844; An den 7. Kongreß der internationalen Gesellschaft für Hämatologie, 12. Sept. 1958: AAS 50 (1958), S. 734-735.

16) Vgl. Catechismus Romanus Concilii Tridentini, II. Teil, c. VIII; Pius XI., Enz. Casti Connubii: AAS 22 (1930), S. 559-561; Pius XII., An die katholische Vereinigung der Hebammen Italiens, 29. Okt. 1951: AAS 43 (1951), S. 843; AAS 45 (1953), S. 674-675; An den 7. Kongreß der internationalen Gesellschaft für Hämatologie, 12. Sept. 1958: AAS 50 (1958), S. 734-735; Johannes XXIII., Enz. Mater et Magistra: AAS 53 (1961), S. 447.

17) Vgl. Pius XII., Ansprache an den Nationalkongreß der Vereinigung kath. Juristen Italiens, 6. Dez. 1953: AAS 45 (1953), S. 798-799.

18) Vgl. Röm 3,8.

19) Vgl. Pius XII., Ansprache an die Teilnehmer des 26. Kongresses der italien. Gesellschaft für Urologie, 8.7.1953: AAS 45 (1953), S. 674-675; An den 7. Kongreß der internationalen Gesellschaft für Hämatologie, 12. Sept. 1958: AAS 50 (1958), S. 734-735.

20) Vgl. Pius XII., Ansprache an die katholische Vereinigung der Hebammen Italiens, 29. Okt. 1951: AAS 43 (1951), S. 846.

21) Vgl. Pius XII., Ansprache an die Teilnehmer des 26. Kongresses der italien. Gesellschaft für Urologie, 8.7.1953: AAS 45 (1953), S. 674-675; AAS 48 (1956), S. 46l-462.

22) Vgl. Lk 2,34.

23) Vgl. Paul VI., Enz. Populorum Progressio, 26. März 1967, Nr. 21.

24) Vgl. Röm 8.

25) Vgl. 2. Vatikanisches Konzil, Dekret Inter Mirifica über die sozialen Kommunikationsmittel, Nr. 6-7.

26) Vgl. Enz. Mater et MagistraAAS 53 (1961), S. 447.

27) Vgl. Enz. Populorum Progressio, Nr. 48-55.

28) Vgl. 2. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution Gaudium et Spes, Nr. 52.

29) Vgl. Pius XII., Ansprache an den Kongreß des Fronte della Famiglia und der Vereinigung der kinderreichen FamilienAAS 43 (1951), S. 859.

30) Vgl. 2. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution Gaudium et Spes, Nr. 51.

31) Vgl. Mt 11,30.

32) Vgl. 2. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution Gaudium et Spes, Nr. 48; Dogm. Konst. Lumen Gentium, Nr. 35.

33) Mt 7,14; vgl. Hebr 12,11.

34) Vgl. Tit 2,12.

35) Vgl. 1 Kor 7,31.

36) Vgl. Röm 5,5.

37) Eph 5,25.28-29.32-33.

38) Vgl. Dogm. Konst. Lumen Gentium, Nr. 35 und 41; Pastoralkonstitution Gaudium et Spes, Nr. 48-49; 2. Vatikanisches Konzil, Dekret Apostolicam Actuositatem, Nr. 11.

39) Vgl. Dogm. Konst. Lumen Gentium, Nr. 25.

40) Vgl. 1 Kor 1,10.

41) Vgl. Joh 3,17.

_______

Quelle

 

DIE CHRISTLICHE MORAL UND IHRE NORMEN

itc

Internationale Theologische Kommission

Die christliche Moral und ihre Normen

(1974)

A) DIE „NEUN THESEN“ VON HANS URS VON BALTHASAR, „in forma generica“ von der Internationalen Theologischen Kommission approbiert

B) DIE „VIER THESEN“ VON HEINZ SCHÜRMANN,  „in forma generica“ von der Internationalen Theologischen Kommission approbiert


A) DIE „NEUN THESEN“ VON HANS URS VON BALTHASAR
in forma generica“ von der Internationalen Theologischen Kommission approbiert

Vorbemerkung

Der Christ, der aus dem Glauben lebt, hat das Recht, sein sittliches Handeln von seinem Glauben her zu begründen. Weil dessen Inhalt, Jesus Christus, der Offenbarer der dreieinigen göttlichen Liebe, zugleich die Gestalt des ersten Adam angenommen und dessen Schuld, aber auch die Engen, Perplexitäten, Entscheidungen seiner Existenz übernommen hat, besteht die Gefahr nicht, dass der Christ im zweiten Adam den ersten und damit seine eigene ethische Problematik nicht wiederfände. Auch Jesus hatte zu wählen zwischen seinem Vater und seiner Familie: „Kind, warum hast du uns das getan?“ (Lk 2,48). So wird der Christ die Tiefenentscheidungen seines Lebens aus dem Gesichtspunkt Christi, d.h. aus dem Glauben, fällen. Man kann eine von der Fülle des Offenbarungslichtes ausgehende und von da zu den defizienten Vorstufen rückwärtsschreitende Ethik nicht eigentlich als eine „absteigende“ (gegenüber einer vom Anthropologischen als solidem Fundament her „aufsteigenden“) bezeichnen.

Ebenso wenig kann man sie, weil sie das Evangelium vor das alttestamentliche Gesetz stellt, der Ungeschichtlichkeit bezichtigen. Der Weg wird durch das Ziel bestimmt und erhellt, auch und gerade dieser einzigartige heilsgeschichtliche Weg, der nur in der Dialektik zwischen Abbruch und Überbietung (prävalent Paulus) und innerer Erfüllung (prävalent Matthäus und Jakobus) an sein Ziel gelangt. Natürlich hätten historisch-chronologisch die Sätze 5 und 6 vor die christologischen gehört und die Sätze 7 bis 9 nochmals vor jene. Aber der Christ lebt nun einmal in der qualitativen „Endzeit“ und muss sich immerfort bemühen, das, was in ihm selbst zu den Vorstufen gehört, in das End-Gültige zu übersteigen. Das schließt nicht aus, sondern ein, dass auch Christus seinen Gehorsam zum Vater nicht bloß prophetisch-unmittelbar, sondern ebenfalls durch Halten des Ge­setzes und „Glauben“ an die Verheißung erfüllte, und dass der Christ ihm darin nachfolgt.

Unsere Sätze sind äußerst summarisch und gehen auf vieles Wesentliche nicht ein. So ist von der Kirche nur ganz in obliquo die Rede, gar nicht von ihren Sakramenten, dem Verhältnis zu ihrem bevollmachteten Amt, ebenso wenig wird eingegangen auf kasuistische Entscheidungen von großer Tragweite, vor die sich die heutige Kirche gestellt sieht und die sie im Rahmen menschheitlicher Entscheidungen treffen muss.

I. Die Vollendung der Sittlichkeit in Christus

1. Christus als die konkrete Norm

Christliche Ethik muss von Jesus Christus aus entworfen werden, da dieser als der Sohn des Vaters den ganzen Willen Gottes (alles Gesollte) in der Welt erfüllt hat, und das „für uns“, damit wir aus ihm, der erfüllten konkreten Norm alles sittlichen Handelns, die Freiheit gewinnen, Gottes Willen zu erfüllen und unserer Bestimmung als freie Kinder des Vaters zu leben.

1. Christus ist der konkrete kategorische Imperativ, sofern er nicht nur formal-universale Norm sittlichen Handelns ist, die auf alle angewendet werden kann, sondern personal-konkrete Norm, die kraft seines Leidens für uns und seiner eucharistischen Lebenshingabe an uns und in uns hinein (per ipsum et in ipso) uns innerlich ermächtigt, mit ihm (cum ipso) den Willen des Vaters zu tun. Der Imperativ stützt sich auf den Indikativ (Röm 6,7ff.; 2 Kor 5,15 usf.) – der Wille des Vaters aber ist beides: in ihm und mit ihm seine Kinder lieben (1 Joh 5,1f.) – und Anbetung im Geist und in der Wahrheit (Joh 4,23). Christi Leben ist Tat und Kult in einem, diese Einheit ist die erfüllte Norm für den Christen. Nur in unendlicher Ehrfurcht (Phil 2,12) können wir am Heilswerk Gottes mitwirken, dessen absolute Liebe uns – in der maior dissimilitudo – unendlich überragt. Leiturgia ist von ethischem Tun untrennbar.

2. Der christliche Imperativ versetzt uns jenseits der Problematik von Autonomie und Heteronomie,
a)
weil der Sohn Gottes, der vom Vater gezeugt ist, ihm gegenüber zwar heteros, aber nichtheteron ist, einer, der als Gott seinem Vater autonom entspricht (seine Person fällt mit seinerprocessio bzw. missio zusammen), als Mensch aber den göttlichen Willen und seine eigene Zustimmung dazu als den Grund seiner Existenz (Hebr 10,5f.; Phil 2,6f.) und als die innere Quelle seines personalen Handelns (Joh 4,34 usf.) in sich hat, selbst dort, wo er die Widerstände der Sünder gegen Gott durchleiden will.  [1]

b) weil die Eucharistie des Sohnes, unser gnadenhaftes Mitgeborenwerden aus dem Schoß des Vaters und die Mitteilung ihres gemeinsamen Geistes uns, die wir als Geschöpfe bleibend „heteron“ sind, dazu ermächtigen, unser eigenstes freies Handeln aus der Kraft des Göttlichen heraus zu entfalten (der „Trank“ wird in uns zum „Quell“, vgl. Joh 4,13f.; 7,38). Und da Gott in seiner Gnade „umsonst“ handelt und wir liebend ebenfalls „umsonst“ handeln sollen (Mt 10,8; Lk 14,12–14), kann der „Große Lohn im Himmel“ (Lk 6,23) nichts anderes sein als die Liebe selbst; das Endziel fällt im ewigen Plan Gottes (Eph 1,1–10) zusammen mit dem ersten Antrieb unserer Freiheit (interior intimo meo, vgl. Röm 8,15f.26f.).

3. Alles christliche Handeln aus der Wirklichkeit der Kindschaft Gottes ist infolgedessen ein Dürfen und kein Müssen. Genauer: Für Christus hängt die ganze Schwere seines heilsgeschichtlichen Müssens (dei) bis zum Kreuz an seinem allerfreiesten Dürfen (den Heilswillen des Vaters offenbaren). Für uns Sünder hat das Dürfen des Gotteskindes oft genug kreuzigende Gestalt, sowohl in personalen Entscheidungen wie im Rahmen der kirchlichen Gemeinschaft, deren Weisungen innerlich den Sinn haben, den Glaubenden aus der Entfremdung der Sünde zu seiner wahren Identität und Freiheit zu führen, äußerlich aber dem Unvollkommenen als hart und gesetzhaft erscheinen können (und oft müssen), so wie auch der Wille des Vaters dem Gekreuzigten erschien.

2. Die Universalität der konkreten Norm

Die Norm der konkreten Existenz Christi ist als personale zugleich universal, da seine Vergegenwärtigung der Liebe des Vaters für die Welt unüberbietbar umfassend und vollständig ist, deshalb alle Differenzen der Menschen und ihrer ethischen Situationen in sich einbirgt und alle Personen (mit ihrer Einmaligkeit und Freiheit) in seiner Person einigt, im Heiligen Geist der Freiheit über sie waltet, um alle ins Reich des Vaters zu führen.

1. Die konkrete Existenz Christi – sein Leben, Leiden, Sterben und endgültig leiblich Auferstehen – hebt alle übrigen Systeme ethischer Normierung in sich auf; sittliches Handeln von Christen hat sich im Letzten nur vor dieser Norm zu verantworten, die selbst das Urbild des vollkommenen Gehorsams an Gott den Vater darbietet. Christi Existenz hebt die Differenz zwischen „Gesetzlichen“ (Juden) und „Gesetzlosen“ (Heiden) (1 Kor 9,20f.), zwischen Knecht und Herrn, Mann und Weib (Gal 3,28) usf. auf; in Christus sind alle mit der gleichen Kindesfreiheit begabt und streben dem gleichen Ziel zu. Das „neue“ Gebot Jesu (Joh 13,34) (das als christologisch verwirklichtes auch mehr ist als das Hauptgebot des Alten Bundes, vgl. Dtn 6,4ff.) ist mehr als die Summe aller Einzelgebote der „Zehn Worte“ und all ihrer Anwendungen. Die in der Person Christi vollbrachte Synthese des gesamten Willens des Vaters ist eschatologisch und unüberbietbar, deshalb a priori universal normativ.

2. Sofern Christus das menschgewordene Wort und der Sohn Gottes des Vaters ist, hebt er die diastatische Zweiseitigkeit des alttestamentlichen „Bundes“ in sich auf. Er ist, jenseits des Begriffs des (zwischen die Parteien tretenden) „Mittlers“, die personifizierte Begegnung und insofern „Einer“: „Ein Mittler ist nicht bloß Sache des einen (Kontrahenten), Gott aber ist nur Einer“ (Gal 3,20). Die Kirche Christi ist nichts anderes als die Fülle dieses Einen, sie ist sein „Leib“, den er belebt (Eph 1,22f.), seine „Braut“ soweit, als er mit ihr „ein Fleisch“ (Eph 5,29) oder „einen Geist“ (1 Kor 6,17) bildet; auch als „Volk Gottes“ ist sie nicht mehr viele, sondern „ihr alle seid Einer in Christus Jesus“ (Gal 3,28). Sofern die Tat Jesu „für alle“ geschah, ist das Leben innerhalb seiner Gemeinschaft zugleich personalisierend und sozialisierend.

3. Dass vorweg in der Kreuzestat über uns verfügt wurde („Wenn einer für alle gestorben ist, sind alle gestorben […] damit die Lebenden nicht mehr für sich leben“, 2 Kor 5,14f.), dass wir „in Christus“ hineinversetzt sind, ist nicht unsere Entfremdung, sondern unsere „Verpflanzung“ aus der „Finsternis“ unseres Sünder- und Entfremdetseins in die Wahrheit und Freiheit der Gotteskindschaft (Kol 1,13), um deretwillen wir geschaffen wurden (Eph 1,4ff.). Vom Kreuz her sind wir begabt mit dem Heiligen Geist Christi und Gottes (Röm 8,9.11), in dem sowohl Christi Person und Werk allzeitlich gegenwärtig und in uns aktuell wird, wie wir immerfort in Christus vergegenwärtigt werden.

Dieses gegenseitige Insein hat für den Glaubenden explizit kirchliche Dimension. Denn das Füreinander in der Liebe, das Jesu neues zu erfüllendes Gebot meint, ist durch die Ausgießung des Heiligen Geistes des Vaters und des Sohnes als des göttlichen „Wir“ in die Herzen der Gläubigen nochmals tiefer apriorisch vorweggegeben (Röm 5,5). Die faktische Gliedschaft im „einen Leib“ schließt auf der (mehr als organischen, nämlich personalen) Ebene der Kirche die Verleihung des personalen Wirbewußtseins der Glieder ein, das lebendig zu vollziehen das ethische Tun der Christen ist. Kirche ist ebenso offen auf Welt, wie Christus offen auf den Vater und sein allumfassendes Reich ist (1 Kor 15,24), beide „mitteln“ nur in die Unmittelbarkeit, was alles kirchliche Verhalten und Handeln bis ins Einzelne immer schon bestimmt.

3. Der christliche Sinn der Goldenen Regel

Die „Goldene Regel“ (Mt 7,12; Lk 6,31) kann im Munde Christi und im Zusammenhang der Bergpredigt nur deshalb als Inbegriff von Gesetz und Propheten hingestellt werden, weil sie das gegenseitige Erwarten und Gewähren der Glieder Christi auf das Geschenk Gottes (das Christus ist) gründet, deshalb die bloße Mitmenschlichkeit übersteigt und den interpersonalen Austausch des göttlichen Lebens mit einschließt.

1. Die „Goldene Regel“ steht bei Matthäus und (noch unmittelbarer) bei Lukas im Kontext der Seligpreisungen, des Verzichts auf ausgleichende Gerechtigkeit, der Feindesliebe, der Forderung, „vollkommen“ und „barmherzig“ zu sein wie der Vater im Himmel. Das von diesem erhaltene Geschenk wird somit als der Inhalt dessen betrachtet, was ein Glied Christi von anderen erwarten kann und ihm entsprechend erstatten muss. Damit bestätigt sich nochmals, dass sowohl das „Gesetz“ wie die allgemeine „Mitmenschlichkeit“ von jeher ihr „Ziel“ (Röm 10,4) in Christus haben:

2. Schon das „Gesetz“ war kein bloßer Ausdruck der Mitmenschlichkeit, sondern die Kundgabe der Heilstreue Gottes, der mit dem Volk ein Bündnis eingehen wollte (vgl. Satz 6). Die „Propheten“ aber wiesen auf eine Erfüllung des Gesetzes voraus, die erst möglich wurde, da Gott alle Heteronomie aufhob und sein Gesetz als seinen Geist in die Herzen der Menschen senkte (Jer 31,33; Ez 36,26f.).

3. Christlich betrachtet ist keine Personal- und keine Sozialethik von der wirksamen, schenkenden Anrede Gottes abstrahierbar: Der zwischenmenschliche Dialog setzt, um sittlich richtig zu sein, als Bedingung seiner Möglichkeit den zwischen-gott-menschlichen „Dialog“ voraus, ob der Mensch sich dessen explizit bewusst ist oder nicht. Umgekehrt aber verweist das Gottesverhältnis ausdrücklich auf den – auf neuer Stufe aufzunehmenden – Dialog (zwischen Jude und Heide, Herr und Knecht, Mann und Frau, Eltern und Kindern, Arm und Reich usf.).

Alle christliche Ethik ist somit kreuzförmig: vertikal und horizontal, diese „Form“ ist aber vom konkreten Inhalt, dem zwischen Gott und Menschen Gekreuzigten, in keinem Moment abstrahierbar. Er vergegenwärtigt sich als die eine Norm in jedem Einzelverhältnis, in jeder Situation. „Alles ist mir erlaubt“ (1 Kor 6,12; vgl. Röm 14–15), wenn ich nur bedenke, dass meine Freiheit meiner Zugehörigkeit zu Christus entstammt (1 Kor 6,19; vgl. 3,21–23).

4. Die Sünde

Erst wo die Liebe Gottes „bis ans Ende gegangen“ ist, tritt die menschliche Schuld als Sünde, und ihre Gesinnung als einem positiv widergöttlichen Geist entstammend hervor.

1. Die Einzigkeit und Konkretheit der personalen sittlichen Norm hat zur Folge, dass alle sittliche Schuld, ob sie will oder nicht, auf Christus bezogen, ihm verantwortlich ist und am Kreuz von ihm getragen werden muss. Die Nähe des sittlich handelnden Christen zum Prinzip der göttlichen Heiligkeit, die ihn als Glied Christi belebt, lässt die Schuld einem bloßen „Gesetz“ (jüdisch), einer bloßen „Idee“ (griechisch) gegenüber zur Sünde werden. Die Heiligkeit des Heiligen Geistes in Christus-Kirche überführt die Welt ihrer Sündigkeit (Joh 16,8–11), eine Welt, zu der auch wir gehören („wenn wir sagen, wir haben nicht gesündigt, machen wir Gott zum Lügner“, 1 Joh 1,10).

2. Die Gegenwart der absoluten Liebe in der Welt vertieft das schuldhafte Nein des Menschen zu einem dämonischen Nein, das negativer ist, als der Mensch sich bewusst ist, und ihn in den Sog des Anti-Christlichen einzubeziehen sucht (vgl. die apokalyptischen Tiere; Paulus über die Kosmosmächte, 1 Joh usf.). Dagegen hat der Einzelne innerhalb des Kampfes von Christus-Kirche mit der „Waffenrüstung Gottes“ (Eph 6,11) mitzukämpfen. – Das Dämonische äußert sich vor allem in einer liebelosen, selbstherrlichen Gnosis, die der Gott fügsamen Agape koextensiv zu sein vorgibt (Gen 3,5), aber „aufbläht“ (1 Kor 8,1), statt aufzubauen. Da diese Gnosis die personal-konkrete Norm nicht wahrhaben will, lässt sie die Sünde wieder als bloße Schuld einem Gesetz oder einer Idee gegenüber erscheinen, die sie progressiv (durch Psychologie, Soziologie usf.) zu entschuldigen trachtet.

3. Die Spitze der antichristlichen Sünde richtet sich unmittelbar gegen das Zentrum der personalen Norm: Sie sticht das Herz des Gekreuzigten auf, das die Konkretheit der hingegebenen trinitarischen Liebe in der Welt darstellt. Die Übernahme der Sünde durch den Gekreuzigten bleibt ein Glaubensmysterium, das von keiner Philosophie als „notwendig“ oder als „unmöglich“ erklärt werden kann. Deshalb bleibt auch das Urteil über die Sünde dem durchbohrten Menschensohn vorbehalten, dem „das ganze Gericht übertragen“ ist (Joh 5,22). „Richtet nicht“ (Mt 7,1).

II. Die alttestamentlichen Elemente der künftigen Synthese

5. Die Verheißung (Abraham)

Das sittliche Subjekt (Abraham) wird konstituiert durch den Anruf Gottes und den Gehorsam diesem Ruf gegenüber (Hebr 11,8).

1. Nach dem Gehorsamsakt erweist sich der innere Sinn des Anrufs als unabsehbare, universale Verheißung („alle Völker“, aber personal zusammengefasst: „semini tuo“:Gal 3,16). Der Name des Gehorsamen ist der seiner Sendung (Gen 17,1–8); da die Verheißung und ihre Erfüllung von Gott stammen, wird Abraham eine übernatürliche Fruchtbarkeit geschenkt.

2. Der Gehorsam ist Glaube an Gott und damit gültige Entsprechung (Gen 15,6), die nicht nur den Geist, sondern auch das Fleisch in Beschlag nimmt (Gen 17,13). Er muss deshalb bis zur Rückgabe der gnadenhaft geschenkten Frucht gehen (Gen 22).

3. Abraham existiert in einem Gehorsam, der im Blick auf die (unerreichbaren) Sterne oben die Verheißung erwartet.

Zu 1. Alle biblische Ethik ist fundiert auf dem Anruf des personalen Gottes und auf der glaubenden Antwort des Menschen an ihn. Gott kennzeichnet sich in seinem Anruf als der Treue, Wahrhaftige, Gerechte, Barmherzige (und andere Umschreibungen seines Namens), von diesem Namen her wird der Name des Antwortenden, d.h. seine einmalige Personalität, festgelegt. Der Anruf isoliert das Subjekt für die Begegnung (Abraham muss aus Sippe und Land heraus), dem Anruf standhaltend („hier bin ich“, Gen 22,1) erhält er seine Sendung, die für ihn zur Sollensnorm wird. In der einsamen dialogischen Situation zu Gott wird Abraham kraft der Sendung zum Begründer von Gemeinschaft, deren horizontale Beziehungsgesetze biblisch alle von der vertikalen des Gründers oder Mittlers zu Gott oder von Gottes begründender Tat abhängen (Ex 22,20; 23,9; Dtn 5,14f.; 15,12–18; 16,11f.; 24,17f.). Die begründende Tat Gottes ist die Gnade ohne Maß, die unverfügbar und allem Verfügen des Menschen Richte bleibt (Jesu Gleichnis vom Schalksknecht, Mt 18,21ff.). Die quantitative Öffnung des Abrahamsegens wird im Alten Bund immer deutlicher als die zur messianischen Erfüllung verstanden: So erfolgt in der Zusammenraffung auf Jesus Christus und der Verleihung (durch den Glauben an ihn) des Heiligen Geistes die Öffnung zu den „Völkern“ (Gal 3,14).

Zu 2. Das sittliche Subjekt wird durch den in Anruf und Glaubensantwort begründeten „Bund“ (Gen 15,18 usf.) in all seinen Dimensionen erfasst: im Wagnis des Glaubens, aber auch im Fleisch und seinem Vermögen („mein Bund wird in eurem Fleisch ein ewiger Bund sein“, Gen 17,13). Und damit der aus Gottes Kraft geborene Isaak jeder nachträglichen Selbstverfügung entzogen sei, wird er von Gott nochmals zurückverlangt. Wenn der Glaube des Unfruchtbaren schon Glaube an Gott war, „der die Toten lebendig macht und das Nichtseiende ins Dasein ruft“ (Röm 4,17), so ist der Glaube des Vaters, der den Sohn der Verheißung zurückgibt, potenzierter Auferstehungsglaube: „Er dachte: Gott hat die Macht, ihn auch von den Toten zu erwecken“ (Hebr 11,19).

Zu 3. Die Existenz Abrahams (und damit des ganzen Alten Bundes, einschließlich der Zeit des Gesetzes) kann nur ein Hängen im Glauben an Gott sein, ohne die Möglichkeit, Gottes Verheißung in Erfüllung zu verwandeln. Das alte Volk kann nur „warten“ (Hebr 11,10), in einem „Suchen“ (Hebr 11,14), das nicht mehr sein kann als ein „von ferne Erblicken und Begrüßen“ und ein Bekennen, dass es „Pilger und Fremdling“ in dieser Welt bleibt (Hebr 11,13–14). Gerade in ihrer Schwebe des Nichterreichen-Könnens und doch Ausharrens erhielten die Alten von Gott das gute Zeugnis (martyrēthentes: Hebr 11,39). Das ist für das Folgende wichtig.

6. Das Gesetz

Die sinaitische Gesetzgebung geht insofern über die Abrahamsverheißung hinaus, als sie ausdrücklich – wenn auch vorläufig von außen und oben – die innere Gesinnung Gottes enthüllt, in der Absicht, die Entsprechung des Bundes zu vertiefen: „Ich bin heilig, also sollt auch ihr heilig sein.“ Dieses Soll, das seinen Grund im innern Sein Gottes hat, zielt auf die innere Gesinnung des Menschen. Dass dem Soll entsprochen werden kann, liegt in der absoluten Wahrhaftigkeit des Gottes, der den Bund anbietet (Röm 7,12). Dieser Wahrhaftigkeit entspricht aber einstweilen nicht die gleiche absolute Wahrhaftigkeit des Menschen; eine solche liegt nur in der (Abrahams-)Verheißung , die neu und präziser als prophetische Verheißung ergeht.

1. Das Gesetz kommt nachträglich und hebt die Konstellation der Verheißung nicht auf (Röm 7; Gal 3), es kann somit nur als eine Näherbestimmung der wartenden Glaubenshaltung gemeint sein. Es beleuchtet von verschiedenen Seiten her das Verhalten des vor Gott „rechten Menschen“. Dieses Verhalten entspricht gewiss den grundlegenden Strukturen des Menschseins („Naturrecht“), weil Gott der Begnader derselbe ist wie der Schöpfer; aber das Motiv dieses rechten Verhaltens ist nicht der Mensch, sondern die tiefere Enthüllung von Gottes Heiligkeit in seiner Bundestreue. Somit geht es auch nicht um eine „Nachahmung“ (des Wesens) Gottes im griechischen Sinn, sondern um eine Entsprechung seinem Verhalten in seinen „Großtaten“ Israel gegenüber. Weil aber die vollkommene Entsprechung Gegenstand der Verheißung bleibt, bleibt das Gesetz in dem von Paulus beschriebenen Sinn dialektisch: an sich gut, aber die Verfehlung hervortreibend, und insofern positiv und negativ „Zuchtmeister“ auf Christus hin.

2. Von Gott aus betrachtet ist das Soll des Gesetzes ein Angebot, in der Bundesnähe vor ihm gottgemäß zu leben. Doch ist dieses gnädige Angebot nur der erste Akt eines erst mit Christus sich vollendenden Heilshandelns, das einstweilen mit der (positiven) Präzision der Entsprechung die (negative) Unfähigkeit des Entsprechenkönnens aufdeckt, während dieses nach wie vor Gegenstand der Verheißung bleibt. Die aufklaffende Differenz, die nur im Warten, in der Geduld des hoffenden Glaubens ausgehalten werden durfte, wird aber vom Menschen als unerträglich empfunden und nach zwei Seiten zu umgehen versucht:

a. Durch Erhebung des Gesetzes (der Torah) zu einem abstrakten Absoluten, das an die Stelle des lebendigen Gottes tritt. Indem der Pharisäer den abstrakten Buchstaben buchstäblich zu erfüllen sucht, meint er die unmögliche Entsprechung leisten zu können. Von dieser Errichtung eines abstrakten, formalen Soll sind viele Formen der Ethik abkünftig, etwa die neukantianische eines Reiches „absoluter Geltungen“ oder „Werte“, die strukturalistische und die phänomenologische Ethik (Scheler), die alle den Trend haben, das menschliche Subjekt schließlich als seinen eigenen Gesetzgeber zu etablieren, als idealistisch-autonomes Subjekt, das sich selbst einschränkt, um sich zu verwirklichen, was schon in Kants ethischem Formalismus angelegt ist.

b. Durch Verflüssigung des als Fremdkörper empfundenen Gesetzes in die Bewegung der Verheißung und der Hoffnung hinein: Das Gesetz als von Außen aufgezwungenes und nach Innen schuldig erklärendes (Kafka) kann keine Emanation eines treuen und barmherzigen Gottes sein, sondern nur die eines tyrannischen Demiurgen (daher E. Blochs Bündnis mit der Gnosis; vgl. Freuds Über-Ich), der kraft einer aus dem eigenen autonomen Ursprung des Menschen geleisteten Hoffnung nach vorn als ein Wahn der Vergangenheit überwunden werden muss.

c. Beide Ausflüchte verbinden sich im dialektischen Materialismus, der das Gesetz mit der dialektischen Bewegung der Geschichte identifiziert und auf diese Weise verflüssigt. Marx weiß, dass nicht die negative Abschaffung des Gesetzes („Kommunismus“) die angestrebte Versöhnung bringt, sondern nur der positive Humanismus, der das Gesetz mit der Spontaneität der Freiheit zusammenfallen lässt, in einer atheistischen Entsprechung zu Jer 31 und Ez 34. Entsprechend der Vorläufigkeit alttestamentlicher Ethik auf die endzeitlich-christliche bleibt in ihr (wie in ihren modernen Entfremdungsformen) die transzendente „Versöhnung“ zunächst immanente politische „Befreiung“, und deren Subjekt primär das Volk (bzw. das menschliche Kollektiv) und nicht die Person, deren Einmaligkeit erst in Christus aufleuchtet.

3. Wo der christliche Glaube an die erfüllte Verheißung in Christus schwindet, beherrschen geschichtsmächtig nicht so sehr außerbiblische fragmentarische Ethiken die Menschheit als vielmehr die dem Christlichen zunächstliegenden alttestamentlichen, und zwar – weil ein Bewusstsein um das Erfülltsein in Christus vorhanden ist – in ihren absolutistischen Zerrformen: absolut gesetztes Gesetz und absolut gesetzte Prophetie.

III. Fragmente außerbiblischer Ethik

7. Das Gewissen

1. Der (außerbiblische) Mensch erwacht zum theoretisch-praktischen Selbstbewusstsein dank einem freien liebenden Anruf des Mitmenschen. Antwortend erfährt er (im cogito/sum) sowohl das Gelichtetsein der Wirklichkeit schlechthin (als wahr und gut), die sich von sich her erschließt und den Menschen auf sich hin freisetzt, wie den mitmenschlichen Charakter seiner Freiheit. [2]

2. Dem transzendental aufleuchtenden Guten ist der Mensch in seiner ganzen Verfasstheit un-bedingt („neccessitate naturalis inclinationis“) [3] zugestaltet (synderesis, Ur-Gewissen); auch in seinen sinnlichen Teilen seines vom Geist durchherrschten Wesens bestehen Geneigtheiten dazu.

Weder das Sichverhüllen der ursprünglichen Lichtung, noch das Gezogenwerden durch unmittelbar vorliegende Güter, noch schließlich die Verdunkelung des Geschenkcharakters des Guten durch die Sünde können eine verborgene Ausrichtung des Menschen nach seinem Licht verhindern, weshalb auch die Heiden „durch Jesus Christus nach meinem Evangelium“ (Röm 2,16) gerichtet werden.

3. Abstrakte Formulierungen der Zugestaltung des Menschen zum Guten als „Naturgesetz“ – etwa die Formulierung der Mitmenschlichkeit als „kategorischer Imperativ“ – sind abkünftig und haben Verweischarakter.

Zu 1. Im mitmenschlichen Angerufenwerden erwacht der Mensch zum cogito/sum als zur Identität von Für-sich-Gelichtetsein und Wirklichkeit, einer Identität, die aber, als erweckte, zugleich als nicht absolut, weil geschenkt, erfahren wird. In der transzendentalen Öffnung wird dreierlei gleichzeitig gesichtet:

a) Ein „Gegebensein“ der absoluten Identität von Geist und Sein, somit absolutem Selbstbesitz in Fülle und Freiheit, das an sich selbst teilgibt (und dieses Absolute „nennen wir Gott, qui interius docet, inquantum huiusmodi lumen animae infundit[4]).

b) Im Erwecktwordensein zu diesem Sichgebenden die Differenz zwischen absoluter und geschenkter Freiheit, und darin der lockende Anspruch, der absoluten Gabe in Freiheit zu entsprechen.

c) Die zunächst bestehende transzendentale Undifferenziertheit zwischen dem Anruf vom Absoluten und dem vom Mitmenschen her differenziert sich durch die aposteriorische Erfahrung (dass der Mitmensch ebenfalls „nur“ ein Erweckter ist), lässt aber die ursprüngliche transzendentale Einheit beider lockenden Ansprüche als untrennbar erscheinen.

Zu 2. Wie in der ursprünglichen Identität von Sein und Gelichtetsein (als absolutes Wahr und deshalb Gut und deshalb Fascinosum: Schön) Freiheit als Selbstmächtigkeit und Gnade als Teilgabe (diffusivum sui) beisammen sind, so sind in der erweckten, abgeleiteten Identität Freiheit und Neigung (zum Ur-Guten) unzertrennlich. Die aktive Anziehung des unbedingt Guten gibt dem Akt der antwortenden Freiheit ein Moment der „Passivität“, das seine Freiheit nicht antastet [5].

Diese Geneigtheit zur Überzeugungsmacht des schlechthin Guten durchwaltet den ganzen Menschen, auch seine vom Geist informierte Sinnlichkeit, die freilich, falls man von der menschlichen Ganzheit abstrahiert, nicht bis zum Ansichtigwerden des Guten schlechthin gelangen kann und bei partikulären Gütern halt macht. Dem Menschen obliegt als sein eigentlich sittliches Werk die Durchsittlichung seines ganzen geistleiblichen Wesens(ethizesthai); das Ergebnis heißt Tugend. Dies um so mehr, als der Anruf des Mitmenschen ihn nötigt, seine Freiheit durch andere, ebenso verkörperte Freiheiten bestimmen zu lassen und diese selbst zu bestimmen, was im Letzten unter dem Licht des Guten geschehen soll, aber jedes Mal die Durchlichtung der vermittelnden Materialität fordert.

Die ursprüngliche Öffnung des schlechthin Guten auf dem Grund des cogito/sum (oder die Durchsichtigkeit der Imago Dei auf ihr exemplarisches Urbild) hält sich nicht aktuell durch. Sie verharrt trotzdem im Gedächtnis „tamquam nota artificis operi suo impressa“[6]. Sie kann, da sie das erste Zusichkommen des Geistes mitbestimmt hat, auch dort nicht völlig vergessen werden, wo eine bewusste oder habituelle Abwendung vom Licht des Guten zwecks Verfolgung einzelner zu genießender oder nützlicher Dinge erfolgt. Und sie ist außerdem zumindest ein transzendentales Vorwissen von dem, was Offenbarung ist, und der Ort, von dem her „positive“ Offenbarung Alten und Neuen Bundes für die ganze Menschheit immer schon ergeht. Wenn diese Offenbarung aber aus dem aposteriorischen Raum der Geschichte her ergeht, so ist nicht zu vergessen, dass der Anruf des Mitmenschen (transzendental-dialogisch) gleichursprünglich ist wie der Anruf des Guten schlechthin.

In welchem Grad und Umfang von Klarheit solche „positive“ Offenbarung außerhalb des biblischen Raumes faktisch ergeht, liegt allein im Ermessen des Magister Interior, der aber nach Paulus die Herzen auch der Heiden nach der hinreichend explizit gewordenen Norm der Selbsthingabe Gottes in Jesus Christus richtet.

Zu 3. Für die Zeit der Verdunkelung des ursprünglichen Leuchtens des Guten als Gnade und Liebe, das eine freie Antwort des liebenden Sichverdankens erwartet, tritt das Mahnmal der „Wegweisung“ ein, das als solches das Gute-Selbst nicht ersetzen, nicht einmal repräsentieren, sondern nur in Erinnerung rufen will. Sofern es die wichtigsten Situationen eines inkarnierten und sozial verfassten Geistes in Betracht zieht, entfaltet es sich als „Naturgesetz“, das nicht divinisiert werden darf, vielmehr seinen wesentlich relativen Verweischarakter behalten muss, um nicht zu erstarren, sondern auf die Lebendigkeit und Hingabe des Guten zeigen zu können. Das gilt auch von Kants kategorischem Imperativ, der aufgrund seines Formalismus die abstrakte „Pflicht“ gegen die sinnliche „Neigung“ setzen muss, während es in Wahrheit darum geht, der absoluten „Geneigtheit“ (inclinatio) der Person zum absoluten Guten das Übergewicht über entgegenstrebende partikuläre Neigungen zu verschaffen. Was der Mensch sich angesichts der ab­soluten Norm zu-eignet (stoisch:oikeiosis), fällt zusammen mit der Selbstenteignung an das göttliche und mitmenschliche Gute.

8. Vorbiblische Naturordnung

Wo eine Selbstoffenbarung des freien personalen Gottes fehlt, sucht der Mensch sich für die sittliche Ordnung seines Lebens an der Ordnung des ihn umgebenden Kosmos zu orientieren. Da er sein Dasein kosmischen Gesetzlichkeiten verdankt, ist es natürlich, dass ihm der Bereich des Ursprungs (des Göttlichen) mit dem des Naturhaften verschmilzt. Eine solche theo-kosmologische Ethik zerbricht, wo das biblische Faktum weltgeschichtlichen Widerhall gewonnen hat.

1. Vorbiblische Ethik, die sich an der Physis orientiert, kann nach einem der Menschennatur angemessenen Guten (honestum) in Analogie zum Guten der Naturwesen fragen. Dieses menschlich Gute wird aber im Rahmen einer umgreifenden Weltordnung enthalten sein, die, sofern sie eine absolute (göttliche) Seite hat, einen gewissen Raum für geordnetes sittliches Handeln eröffnet, sofern sie aber eine weltliche und endliche Seite behält, die menschliche Entscheidungsfreiheit nicht zum ganzen Vollzug kommen lässt. So bleiben die Handlungsziele teils politisch (innerhalb einer Mikro- oder Makropolis), teils individualistisch-intellektualistisch, sofern Theoria und Kenntnis der Rhythmusgesetze des Alls als das Erstrebenswerteste erscheinen.

2. Mit dem Auftauchen des biblischen Faktums wird vom freien Gott her – der sich radikal von der geschaffenen Natur unterscheidet – der Mensch zu einer Freiheit ermächtigt, die sich ihr Handlungsmuster nicht mehr in der untermenschlichen Natur nehmen kann. Wo sich diese Freiheit nicht christlich dem Gott der Gnade verdanken will, wird sie folgerichtig ihren Grund in sich selbst suchen, sittliches Handeln als Selbstgesetzgebung verstehen, zunächst vielleicht in einer Rekapitulation des vorbildlichen Kosmosverständnisses (vgl. Spinoza, Goethe, Hegel), dann diese Vorstufe fallen lassend (vgl. Feuerbach, Nietzsche).

3. Die Entwicklung, die stattgefunden hat, ist unumkehrbar. Wenn auch die Tendenz besteht (s.o. 6.3), christliche Ethik in ihre alttestamentlichen Vorbereitungsformen zurückgleiten zu lassen, ist andererseits eine Einstrahlung christlichen Lichtes in die nichtbiblischen Religionen und Ethiken feststellbar (vgl. etwa die Erstarkung der sozialen Komponente in Indien: Tagore, Gandhi). Die Unterscheidung zwischen existentieller und explizit-dogmatischer Erkenntnis führt nochmals zur Warnung: „Richtet nicht.“

9. Nachchristliche anthropologische Ethik

Eine Grundlage für eine nach-, aber nichtchristliche Ethik kann versuchsweise einzig noch im dialogischen Verhältnis der menschlichen Freiheiten (Ich–Du, Ich–Wir) gesucht werden. Weil aber hier das kultische Sich-Verdanken (Gott gegenüber) nicht mehr im bleibenden Urakt der freien Person liegt, wird das gegenseitige Sich-Verdanken zwischen den Subjekten zu einem sekundären, nur relativ gültigen Akt; die gegenseitige Beschränkung an sich unbegrenzt freier Subjekte erscheint als äußerlich und erzwungen. Die Synthese zwischen der Vollendung des Einzelnen und derjenigen der Gemeinschaft kann nicht gelingen.

1. Die nachchristliche verbleibende „Natur“ oder „Struktur“ des Menschseins ist die Reziprozität der Freiheiten, deren jede nur im Anruf durch eine an­dere zu sich und zur Fähigkeit des Antwortens und Anrufens erwacht. Damit scheint die „Goldene Regel“ wieder erreicht. Weil sich aber die angerufene Freiheit nicht schlechthin der mitmenschlichen anrufenden verdanken kann (sonst wäre sie im Letzten heteronom) und der beide Freiheiten fundierende Anruf Gottes ausgeschlossen wird, bleiben Austausch und Selbsthingabe beider begrenzt und berechnet. Entweder wird die Intersubjektivität als ein sekundärer (und nicht einsichtig zu machender) Modus des einen umfassenden Subjekts verstanden, oder die Subjekte bleiben einander monadisch und undurchdringbar gegenüber.

2. Die so genannten „anthropologischen Wissenschaften“ können wertvolle Einzelerkenntnisse zum Phänomen des Menschseins beitragen, aber diese Grundaporie der Mitmenschlichkeit nicht lösen.

3. Die anthropologische Aporie findet ihren Höhepunkt dort, wo der Tod des Individuums die Synthese zwischen seiner personalen Vollendung und seiner sozialen Integration verunmöglicht. Die auf beiden Linien anhebenden Sinnfragmente bleiben unverbunden und verunmöglichen deshalb die Entfaltung einer in sich selbst evidenten innerweltlichen Ethik; kann doch der Mensch angesichts der Sinnlosigkeit des Todes – und damit des sterbenden Lebens – jedes Eingehen auf ethische Normen verweigern. Die Linien fänden einzig zusammen in der Auferstehung Christi, die das Angeld sowohl für die Vollendung des Einzelnen wie der kirchlichen Gemeinschaft und durch sie der Welt ist, so, dass Gott, ohne die Welt aufzuheben, „Alles in Allem“ sein kann.


B) DIE „VIER THESEN“ VON  HEINZ SCHÜRMANN
in forma generica“ von der Internationalen Theologischen Kommission approbiert

I. Die Fragestellung

1. Das II. Vatikanische Konzil hat „den Gläubigen den Tisch des Gotteswortes reicher bereitet“ und „die Schatzkammer der Bibel weiter aufgetan“ (SC 51; vgl. DV 22). Folglich wollte das Konzil, dass in Homilien durch die Priester „aus dem heiligen Text die Geheimnisse des Glaubens und die Richtlinien für das christliche Leben dargelegt werden“ (SC 52; vgl. DV 24). Jedoch zeigt sich eine Schwierigkeit: Begegnen nicht hier und da im Alten Testament (vgl. DV 15) und sogar im Neuen sittliche Urteile, die durch die Zeit bedingt und festgelegt sind, in der diese Bücher verfasst wurden? Erlaubt uns das, allgemein zu behaupten, wie man es heute so oft hört, dass man den verbindlichen Charakter aller Wertungen und Weisungen der Schrift infrage stellen muss, weil sie alle zeitbedingt sind? Oder müsste man nicht wenigstens zugeben, dass die sittlichen Lehren, die sich auf Einzelfragen beziehen, keinen bleibenden Wert beanspruchen können, eben wegen ihrer Abhängigkeit von einer bestimmten Zeit? Die menschliche Vernunft wäre also das letzte Kriterium bei der Beurteilung der biblischen Werte und Weisungen? Die Wertungen und Weisungen der Heiligen Schrift könnten nicht beanspruchen, in sich selbst irgendeinen bleibenden Wert zu haben, jedenfalls keinen normativen Wert? Sie würden also die Christen einer anderen Epoche allein in der Weise von „Paradigmata“ oder „Verhaltensmodellen“ verpflichten?

2. Obgleich auch „die Bücher des Alten Bundes“ als „von Gott eingegebene Schriften ihren unvergänglichen Wert“ (DV 14) haben (Röm 15,4) und Gott in seiner Weisheit wollte, „dass der Neue [Bund] im Alten verborgen und der Alte im Neuen erschlossen sei“ [7], werden wir unsere Überlegungen im Folgenden auf die Schriften des Neuen Testamentes beschränken. Tatsächlich „erhalten und offenbaren die Bücher des Alten Buches, die als Ganzes in die Verkündigung des Evangeliums aufgenommen wurden, erst im Neuen Bund ihren vollen Sinn“ (DV 16). Folglich stellen sich die Fragen zur Verbindlichkeit der biblischen Werte und Weisungen vor allem im Hinblick auf die Schriften des Neuen Testamentes.

Die Frage nach der Art der Verbindlichkeit der neutestamentlichen Werte und Vorschriften hängt von der Hermeneutik in der Moraltheologie ab. Diese schließt aber die exegetische Frage ein, welche Art und welchen Grad der Verbindlichkeit diese neutestamentlichen Einschätzungen und Weisungen für sich selbst in Anspruch nehmen. Wir werden uns dem Studium dieses Problems insbesondere unter Bezug auf die paulinischen Wertungen und Weisungen widmen, denn diese Problematik der Moral wird in besonderer Weise im Corpus paulinum reflektiert. Im übrigen weisen die neutestamentlichen Schriften trotz ihrer erstaunlichen Verschiedenheit (z.B. bei Paulus, Johannes, Matthäus, Jakobus usw.) eine einzigartige Übereinstimmung im Bereich der Moral auf.

3. In Bezug auf die Wertungen und Weisungen in Sachen der Moral können die neutestamentlichen Schriften einen besonderen Wert in Anspruch nehmen, wenn man in Betracht zieht, dass sich in ihnen das sittliche Urteil der Kirche der Ursprünge herausgebildet hat. Als  „werdende Kirche“ ist sie wirklich noch an den Quellen der Offenbarung gegenwärtig und ist in außergewöhnlicher Weise vom Geist des verherrlichten Herrn geprägt. Folglich konnten das Verhalten und das Wort Jesu als letztes Kriterium der sittlichen Verpflichtung in besonders gültiger Weise in den Wertungen und Weisungen zum Ausdruck kommen, die im Geist und mit Vollmacht vom Apostel sowie von den anderen urchristlichen „Pneumatikern“ und in der paradosis und parathéke der urchristlichen Gemeinden als unmittelbare Handlungskriterien formuliert wurden.

Die Art und Weise des – zweifellos analogen – Verpflichtungscharakters dieser zwei Kriterien, auf denen die sittlichen Vorschriften des Neuen Testamentes gegründet sind (1Kor 7,10.25 mit 7,12.40) sowie die auf diesen beiden Kriterien beruhenden verschiedenen Wertungen und Weisungen (d.h. die verschiedenen sittlichen Vorschriften und Paränesen) sollen in den folgenden Sätzen thesenhaft kurz dargelegt werden. Es ist jedoch zu beachten, dass die neutestamentlichen Begründungen hier nur andeutungsweise und knapp gegeben werden können und dass eine gewisse schematische Gruppierung sich nicht vermeiden lässt.

II. Jesu Verhalten und Wort als letztgültiger sittlicher Wertungsmaßstab

4. Für die neutestamentlichen Schriftsteller gilt Jesu Verhalten und Wort als maßgeblicher Wertungsmaßstab und letztgültige sittliche Norm, „eingeschrieben“ in die Herzen der Gläubigen (Hebr 10,16), „eingenormt“ (ennomos; 1 Kor 9,21) als „Gesetz des Christus“ (Gal 6,2). Dabei stehen die vorösterlichen Weisungen Jesu für die neutestamentlichen Schriftsteller entscheidend im Kontext der Vorbildlichkeit – und damit der Nachahmungsforderung –, die sich vom Verhalten des irdischen Jesus und noch mehr von dem des präexistenten Gottessohnes her aufgeben.

1. These: Jesu Verhalten als Beispiel und Maßgestalt dienender und sich hingebender Liebe

5. Schon synoptisch wird das „Kommen“ Jesu, sein Leben und Tun als Dienst verstanden (Lk 22,27f.), der im Tod zu seiner letzten Erfüllung kommt (Mk 10,25). Vorpaulinisch und paulinisch wird diese Liebe kenotisch als eine solche gedeutet, die in Menschwerdung und Kreuzestod des Sohnes (Phil 2,6ff.; 2 Kor 8,9), johanneisch als „Abstieg“ des Menschensohnes in Menschwerdung und Tod (Joh 6,41f.48–51 usw.), im reinigenden Todes-Dienst (Joh 13,1–11) als dem „Werk“ Jesu (Joh 17,4; vgl. Joh 4,34) zur „Vollendung“ kommt (Joh 19,28.30). Jesu Verhalten wird also letztlich als dienende und sich hingebende Liebe „für uns“ bestimmt, die die Liebe Gottes gegenwärtig macht (z.B. Röm 5,8; 8,31ff.;Joh 3,16; 1 Joh 4,9). Das Gesamt des sittlichen Verhaltens der Gläubigen besteht grundlegend in der Annahme und Nachahmung dieser göttlichen Liebe; es ist daher Leben mit Christus und in Christus.

a) Mehr noch als von ihrer eschatologischen Ausrichtung bekommt in den neutestamentlichen Schriften – besonders bei Paulus und Johannes – die Liebesforderungihre Motivation, damit auch ihre Proprietät, ihre sich selbst überschlagende Radikalität, vielleicht gar einen spezifischen Gehalt von dem sich selbst entäußernden (Paulus) bzw. herabsteigenden (Johannes) Verhalten des Sohnes her, zumal diese sich in das Menschendasein und in den Tod hineingebende Liebe die Liebe Gottes repräsentiert und illustriert. Dieser Zug ist für die neutestamentliche Moral noch charakteristischer als ihre eschatologische Orientierung.

b) Die Nachfolge Jesu und seine Nachahmung, die „Zugesellung“ zum Menschgewordenen und Gekreuzigten und das Leben des Getauften in Christus bestimmen darüber hinaus das konkrete sittliche Verhalten der Gläubigen in Bezug zur Welt in charakteristischer Weise.

2. These: Jesu Wort als letztgültige sittliche Norm

6. Die Herrenworte legen das liebende Verhalten Jesu, des Gekommenen und Gekreuzigten aus; andererseits wollen sie von ihm her gedeutet werden. Im Lichte des Paschageheimnisses und gedeutet und „erinnert“ im Geiste (Joh 14,26) sind sie letztgültige Norm sittlichen Verhaltens der Glaubenden (vgl. 1 Kor 7,10f.25).

a) Einige Worte Jesu wollen ihrer literarischen Art nach nicht im eigentlichen Sinne als „Gesetze“ verstanden werden, sondern geben sich deutlich als Verhaltensmodelle, sind paradigmatisch gemeint.

b) Obgleich für Paulus die Herrenworte letztgültig und bleibend verbindlich sind, kann er in den beiden Fällen, in denen er Weisungen Jesu (Lk 10,7b par. und Mk 10,11f. parr.) ausdrücklich zitiert, raten, sie – in veränderter bzw. erschwerter Situation – nicht in spätjüdischer Weise legalistisch, sondern intentional bzw. approximativ zu befolgen (1 Kor 9,14; 7,12–16).

III. Der Verbindlichkeitsanspruch der apostolischen und urchristlichen Wertungen und Weisungen

7. Die neutestamentlichen Schriften leiten ihren Verpflichtungsanspruch – außer vom Verhalten und Wort Jesu – auch aus dem Tatbestand ab, dass sich in ihnen das Verhalten und Wort der Apostel sowie anderer urchristlicher Pneumatiker sowie die Lebensweise und Überlieferung der Gemeinden in der in vielerlei Hinsicht maßgeblichen Anfangszeit der Kirche niedergeschlagen haben, insofern und soweit die Kirche des Anfangs noch vom Geist des auferstandenen Herrn gebaut und geprägt wurde. Freilich darf dabei nicht übersehen werden, dass „der Geist der Wahrheit“ auch später noch – wohl auch in Bezug auf die sittliche Erkenntnis – die Jünger „in die volle Wahrheit einführen“ wird (Joh 16,13ff.).

8. Zu beachten ist auch, dass der Verbindlichkeitsanspruch der verschiedenen Werte und Weisungen des Urchristentums, sei es der Form, sei es dem Inhalt nach, je nach Fall sehr unterschiedlich ist; in weiten Bereichen wiesen diese Weisungen eine praktisch-pastorale Zielsetzung auf.

3. These: Die theologisch und eschatologisch motivierten Wertungen und Weisungen

9. In den neutestamentlichen Schriften liegt das paränetische Hauptinteresse und entsprechend der Akzent – nach Intensivität und Häufigkeit – auf den (in der Hauptsache: formalen) Wertungen und Weisungen, die als Antwort auf die Liebe Gottes in Christus liebende Ganzhingabe an Christus bzw. den Vater fordern oder situations- und sachgerechtes Verhalten der eschatologischen Stunde bzw. dem Heilshandeln Christi und dem Taufstand gegenüber verlangen.

10. Den so umschriebenen Wertungen und Weisungen wird man, soweit sie unabdingbar im eschatologischen Heilsgeschehen gründen und von der Heilsbotschaft her motiviert sind, einen bleibenden Verpflichtungscharakter zubilligen müssen.

a) Die Zentralforderung der neutestamentlichen Schriften, die – als Zielgebot, das bis zum Äußersten geht – absolute Verbindlichkeit beansprucht, ist die Mahnung zur Ganzhingabe in Christus an den Vater.

b) Unbedingte Verbindlichkeit beanspruchen aber auch die vielen eschato-logischen, meist formal bleibenden Mahnungen und Imperative der neutestamentlichen Schriften. Diese rufen auf, sich einerseits dem Anbruch des eschatologischen Heils – im Heilswerk Christi bzw. im eigenen Taufstand – gegenüber in Glaube und Liebe sach- und situationsgerecht zu verhalten; andererseits mahnen sie, sich hoffend von der Nähe des Reiches bzw. der Parusie in Wachsamkeit und Stetsbereitschaft bestimmen zu lassen.

4. These: Die partikularen Wertungen und Weisungen

11. Außer den vorstehend genannten sittlichen Wertungen und Weisungen artikulieren die neutestamentlichen Schriften auch solche, die sich auf einzelne partikulare Lebensbereiche bzw. auf bestimmte Einzelhandlungen beziehen und die – freilich in recht unterschiedlicher Weise – ebenfalls eine gewisse bleibende Verbindlichkeit beanspruchen dürfen.

a) Besonders häufig und akzentuiert begegnen in den neutestamentlichen Schriften auf partikulare Lebensbereiche und Pflichten bezogene Weisungen zur Nächsten- und Bruderliebe, oft mit dem Hinweis auf das Verhalten des Gottessohnes (z.B. Phil 2,6ff.; 2 Kor 8,2–9) oder in Anspielung an Herrenworte. Diese Forderungen gelten – soweit sie allgemein bleiben – als „das Gesetz des Christus“ (Gal 6,2), als das „neue Gebot“ (Joh 13,34; 15,12; 1 Joh 2,7f.) gewiss bedingungslos. In ihnen „erfüllt“ sich das alttestamentliche Gesetz (Gal 5,14; vgl. Röm 13,8ff.; vgl. auch Mt 7,12; 22,40), d.h. sie sind konzentriert auf das Gebot der Liebe und finden in diesem Gebot ihr Ziel. Wo das Liebesgebot sich freilich in konkrete Einzelanweisungen oder Handlungsnormen „verleiblicht“, ist zu prüfen, ob und in welcher Weise zeitbedingte Wertungen oder besondere geschichtliche Verhältnisse die grundsätzliche Forderung einfärben, so dass in geänderter Situation nur eine analoge, approximative, adaptive oder intentionale Befolgung gefordert sein kann.

b) Neben der Liebesforderung – sehr häufig aber im Kontext derselben – gibt es in den neutestamentlichen Schriften aber andere sittliche Wertungen und Weisungen, die sich auf partikulare Lebensbereiche beziehen. Dass die Liebe „das Gesetz erfüllt“ (Gal 5,14; vgl.Röm 13,8ff.), gilt intentional; doch die Liebe nimmt weder den übrigen Tugenden noch Verhaltensweisen ihre eigene Konsistenz; sie äußert sich in unterschiedlichen Verhaltensweisen und Tugenden, die selbst nicht mit ihr voll identisch sind; vgl. z.B. 1 Kor 13,4–7; Röm 12,9f., besonders die sittlichen Unterweisungen der Pastoralbriefe und des Jakobusbriefes, die Tugend- und Lasterkataloge sowie die Haustafeln der neutestamentlichen Briefe.

aa) Es kann nicht übersehen werden, wie sehr ein Grossteil dieser partikularen Wertungen und Weisungen speziell „spiritueller“ Art sind, die als solche den Raum der Gemeinde geistlich bestimmen. Mahnungen zur Freude (vgl. Phil 3,1; 12,15), zum Gebet ohne Unterlass (1 Thess 5,17), zu Danksagung (1 Thess 5,16; Kol 3,17), zu „Torheit“ im Gegensatz zur Weisheit dieser Welt (1 Kor 3,18ff.) und Indifferenz (1 Kor 7,29ff.) sind gewiss bleibende christliche Zielgebote bzw. „Früchte des Geistes“ (Gal 5,22). Andere sind „Rat“ (1 Kor 7,17–27ff.). Auch wenn manche solcher geistlicher Weisungen recht konkret formuliert und in heutigen Gemeindeverhältnissen nicht buchstäblich zu realisieren sind (vgl. nur 1 Kor 11,5–14; Kol 3,16; Eph 5,19), behalten sie etwas von ihrem ursprünglichen Verbindlichkeitsanspruch und verlangen eine analoge oder adaptierte „Erfüllung“.

bb) Bei partikularen – im speziellen Sinn von „konkreten“ – sittlichen Wertungen und Handlungsnormen wird man darauf achten müssen, in welcher Weise sie mit theologischen bzw. eschatologischen oder auch mit allgemeinen sittlich verbindlichen Grundforderungen motiviert sind oder welchen „Sitz im Leben“ der Gemeinden sie haben, um ihren Verpflichtungsanspruch zu ergründen. Das gilt z.B., wenn in der Taufparänese (Eph 4,17–24) die Getauften mit heidnischen Hauptlastern, der „Unreinheit“ (1 Thess 4,3ff.) und „Unredlichkeit“ (1 Thess 4,6), konfrontiert werden. Solche Forderungen wie auch die Warnung vor „Götzendienst“ (Gal 5,20) haben naturgemäß einen starken Forderungsanspruch.

Nicht übersehen werden kann jedoch, dass bei zahlreichen konkreten sittlichen Wertungen und Weisungen, die partikulare Lebensbereiche betreffen, zeitbedingte Wert- und Sachurteile den ethischen Blick trüben bzw. relativieren. Wenn die neutestamentlichen Schriftsteller z.B. die Frau in Unterordnung unter dem Mann sehen (1 Kor 11,2–16; 14,33–36) – was zeitbedingt verständlich ist –, möchten wir doch meinen, der Heilige Geist habe die heutige Christenheit in dieser Frage, zusammen mit der modernen Welt, tiefer in die sittlichen Forderungen der personalen Welt eingeführt. Wenn aber auch nur ein derartiges Beispiel in den neutestamentlichen Schriften aufgewiesen werden kann, ist die grundsätzliche Berechtigung des hermeneutischen Hinterfragens der neutestamentlichen Wertungen und Weisungen partikularer Art konstatiert.

Zusammenfassung

12. Der weitaus größte Teil der neutestamentlichen Wertungen und Weisungen rufen zu einem konkreten Verhalten gegenüber dem sich in Christus eschatologisch offenbarenden Vater auf und eröffnen damit einen theologischen und eschatologischen Horizont. Das gilt in besonderer Weise von den Forderungen Jesu (II), aber auch von dem Großteil der Weisungen der Apostel (III, These 3); Forderungen und Mahnungen solcher Art haben einen unbedingten Verpflichtungswillen und bleibende Verbindlichkeit. Selbst noch die Wertungen und Weisungen, die partikulare Lebensbereiche betreffen, partizipieren weitgehend an jenem Horizont, zumindest wo sie in allgemeinerer Weise die – mit der Gottes- und Christusliebe in eins gesehene – Nächsten- und Bruderliebe fordern (III, These 4a). Theo-logisch und eschato-ogisch durchwirkt und bestimmt ist weitgehend auch der breite Raum der „geistlichen“ Paränese des Neuen Testaments (III, These 4b, aa). Besonders auf dem – relativ schmalen – Feld der konkreten Einzelunterweisungen und operativen Handlungsnormen (III, These 4b, bb) müssen die sittlichen Urteile und Paränesen der neutestamentlichen Schriften sich Anfragen gefallen lassen.

Der vorstehende Überblick ermutigt keineswegs zu dem Urteil, alle neutestamentlichen Wertungen und Weisungen seien zeitbedingt. Diese „Relativierung“ gilt nicht einmal für die partikularen, die in ihrer grossen Mehrzahl keineswegs hermeneutisch als „Modelle“ oder „Paradigmen“ des Verhaltens verstanden werden können, weil sie nur zum kleineren Teil als zeit- oder milieubedingt entlarvt werden können. Immerhin gibt es aber solche, was ein Hinweis ist, dass den Wertungen und Weisungen gegenüber die menschliche Erfahrung und die urteilende Vernunft, damit dann auch die moraltheologische Hermeneutik ihre Aufgabe hat.

Wenn eine solche Hermeneutik freilich die sittliche Bedeutung der Heiligen Schriften ernst nimmt, wird sie bei der Findung der criteria theologiae moralis bzw. der criteria moralitatisweder einfach biblizistisch noch rein rationalistisch vorgehen können, z.B. bei der Bestimmung des sittlichen Charakters von Handlungen. Sie wird ihre positiven Resultate nur in einem Geist der „Begegnung“ erlangen können: in der stets neuen Konfrontation der heutigen kritischen Erkenntnisse mit den sittlichen Gegebenheiten der Schrift. Nur in einer Haltung des Hörens auf das Wort Gottes – Dei Verbum audiens (DV 1) – wird man die „Zeichen der Zeit“ gefahrlos richtig deuten. Diese Arbeit der Unterscheidung in der Gemeinschaft des Gottesvolkes wird in der Einheit des sensus fidelium und des Lehramtes mit Hilfe der Theologie geschehen müssen.

 


[1] Wo Christi Gottheit nicht anerkannt wird, erscheint er notwendig als ein menschliches Vorbild, und christliche Ethik wird wieder heteronom, falls Christi Norm schlechthin verpflichtend für mein Handeln wird, oder autonom, wo sein Handeln nur noch als die vollkommene Weise der Selbstbestimmung des menschlichen sittlichen Subjekts gedeutet wird.

[2] Vgl. dazu: Hansjürgen Verweyen, Ontologische Voraussetzungen des Glaubensaktes,Düsseldorf: Patmos 1969.

[3] Thomas von Aquin, De veritate 22, 5 (ed. Leon., t. XXII/3, 624).

[4] Thomas von Aquin, De anima 5 ad 6 (ed. Leon., t. XXIV/1, 44).

[5] Vgl. Thomas von Aquin, S.th. I, 80, 2 (ed. Leon., t. V, 283–284; Deutsche Thomas-Ausgabe, Bd. 6, Salzburg-Leipzig 1937, 199–202); ibid., I, 105, 4 (ed. Leon., V, 474–475;Deutsche Thomas-Ausgabe, Bd. 8, Graz 1951, 55–58); Ders., De veritate 25, 1 (ed. Leon., t. XXII/3, 727–730); ibid., 22, 13 ad 4 (ed. Leon., t. XXII/3, 646).

[6] Descartes, Meditatio Tertia, in: Oeuvres. Meditationes de prima philosophia VII, hg. v. Charles Adam und Paul Tannery, Paris 1996, 51.

[7] Wo Christi Gottheit nicht anerkannt wird, erscheint er notwendig als ein menschliches Vorbild, und christliche Ethik wird wieder heteronom, falls Christi Norm schlechthin verpflichtend für mein Handeln wird, oder autonom, wo sein Handeln nur noch als die vollkommene Weise der Selbstbestimmung des menschlichen sittlichen Subjekts gedeutet wird.

_______

Quelle