„DAS ZWEITE VATIKANISCHE KONZIL WAR WAHRHAFT PROPHETISCH“

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Exklusives Interview mit Kardinal Mauro Piacenza,
Präfekt der Kongregation für den Klerus

 

VATIKANSTADT, 10. September 2012 (ZENIT.org)

ZENIT: Eminenz, Zenit beabsichtigt mit diesem Interview, eine Serie von Beiträgen zum Jahr des Glaubens zu beginnen, indem es anlässlich des 50. Jahrestages die Aufmerksamkeit auf das Zweite Vatikanische Konzil richtet. Warum gibt es über dieses kirchliche Ereignis so viele Debatten?

Piacenza: Eine Debatte ist immer positiv, weil sie ein Hinweis auf die Lebendigkeit und auf den Willen zur Vertiefung ist. Wenn dann das, worüber diskutiert wird, nicht ausschließlich menschlich, sondern wie ein ökumenisches Konzil ein sowohl natürliches als auch übernatürliches Ereignis ist, weil der Heilige Geist die Kirche zu einem fortgeschrittenen vollen Verstehen der einen Offenbarungswahrheit führt, dann erstaunt es ganz und gar nicht, dass das Verständnis der Konzilsaussagen eine jahrzehntelange Diskussion erfordert – und manchmal sogar lebhafte Debatten –, immer in der Bereitschaft des Hörens auf das, was der Heilige Geist der Kirche in dieser außerordentlichen Versammlung hat sagen wollen.

ZENIT: Worin besteht die richtige Haltung gegenüber dem Konzil?

Piacenza: Die des Hörens! Das Zweite Vatikanische Konzil ist faktisch das erste „mediale“ Konzil, dessen Diskussionsverlauf und dessen Texte, deren wirkliche Bedeutung nicht immer erfasst worden ist und deren Verständnis sich an weltlichen Maßstäben orientiert hat, unmittelbar durch die Massenmedien verbreitet worden sind. Ich halte es für besonders interessant – und vielleicht sogar für notwendig –, zurückzukehren oder besser, sich dem aufmerksamen Hören auf das zuzuwenden, was der Heilige Geist tatsächlich durch die Konzilsväter der ganzen Kirche hat sagen wollen. Diese Vertiefungsdynamik, diese „richtige Haltung“ geschieht durch die unmittelbare Lektüre der Texte, aus denen der authentische Geist des Konzils hervorgeht, ihr exakter Standort in der Kirchengeschichte und die redaktionelle Genese.

ZENIT: Manchmal scheinen einige Entscheidungen – auch des Lehramtes – „gegen“ das Konzil zu gehen. Ist das möglich?

Piacenza: Es genügt, an die nachkonziliaren Verlautbarungen des universalen authentischen Lehramtes zu denken, um festzustellen, dass das nicht geschehen ist. Gut hingegen ist es, die korrekte Rezeption der Konzilsentscheidungen zu fördern, die Bedeutung bestimmter Aussagen zu klären, manchmal einseitige Interpretationen oder sogar falsche, künstliche, provoziert durch die Lektüre der pneumatisch kirchlichen Ereignisse aus einer ausschließlich menschlichen und historistischen Perspektive, zu korrigieren. Der kirchliche Dienst des Lehramtes, das im ausdrücklichen Willen Gottes wurzelt, bereitet die Ökumenischen Konzilien vor, entfaltet sich in diesen in seiner größtmöglichen Form und folgt diesen in den nachfolgenden Entscheidungen, indem es die richtige Rezeption fördert.

ZENIT: Was hat es wirklich mit der „Hermeneutik der Kontinuität“auf sich, von der Heilige Vater oft spricht?

Piacenza: Sie ist, worauf der Papst ausdrücklich hingewiesen hat, die einzig richtige Weise, jedes ökumenische Konzil zu lesen und zu interpretieren und daher auch das Zweite Vatikanische Konzil. Bevor die Kontinuität des einen kirchlichen Leibes ein hermeneutisches Kriterium, d. h. ein Kriterium der Interpretation der Texte ist, ist sie eine theologische Wirklichkeit, die in dem Akt des Glaubens wurzelt, der uns bekennen lässt: „Ich glaube an die eine Kirche“. Daher ist eine Dichotomie zwischen vor und nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil nicht denkbar, und sowohl die Position dessen, der im Zweiten Vatikanischen Konzil einen „Neuanfang“ der Kirche sieht, als auch die Position dessen, der die „wahre Kirche“ nur vor diesem historischen Konzil sieht, sind sicher zurückzuweisen. Niemand kann willkürlich entscheiden, ob und wann die „wahre Kirche“ beginnt. Die Kirche, hervorgegangen aus der Seite Christi und gestärkt durch die Ausgießung des Geistes zu Pfingsten, ist eine und einzig bis zur Vollendung der Geschichte, und die Gemeinschaft, die sich in ihr verwirklicht, ist für die Ewigkeit.

Einige vertreten die Meinung, dass die Hermeneutik der Reform in der Kontinuität nur eine der möglichen Hermeneutiken neben jener der Diskontinuität und des Bruchs ist. Der Heilige Vater hat kürzlich die Hermeneutik der Diskontinuität für „inakzeptabel“ erklärt (Audienz der Vollversammlung der Italienischen Bischofskonferenz, 24. Mai 2012). Im Übrigen ist dies selbstverständlich. Anders wäre man nicht katholisch, und man würde den Keim der Infektion und des fortschreitenden Verfalls injizieren. Das wäre auch ein großer Schaden für den Ökumene.

ZENIT: Ist es möglich, diese so komplexen Gegebenheiten zu verstehen?

Piacenza: Sie wissen besser als ich, dass das Verständnis auch offensichtlicher Gegebenheiten oft von gefühlsmäßigen, biografischen, kulturellen und sogar ideologischen Aspekten bedingt sein kann. Es ist menschlich nachvollziehbar, dass jemand, der in seinen Jugendjahren die legitime Begeisterung der Konzilsversammlung erlebt hat, die mit dem Wunsch der Überwindung mancher „Verkrustungen“, die notwendigerweise und dringend aus dem Antlitz der Kirche beseitigt werden mussten, verbunden war, jede Äußerung, die nicht die gleiche „emotionale Einstellung“ teilt, als Gefahr des „Verrats“ des Konzils interpretieren kann. Alle bedürfen eines radikalen Qualitätssprungs im Verständnis der konziliaren Texte, um ein halbes Jahrhundert nach diesem außerordentlichen Ereignis zu begreifen, was der Heilige Geist wirklich eingegeben hat und der Kirche eingibt. Das Konzil auf seine notwendige, aber nicht ausreichende „enthusiastische Dimension“ zu fixieren, bedeutet, der Rezeption des Konzils keinen guten Dienst zu erweisen, die dadurch gleichsam gelähmt wird, weil man im Laufe der Zeit über objektive Texte diskutieren und sie bewerten kann, nicht jedoch Gefühlszustände und eine historisch bedingte Begeisterung.

ZENIT: Es ist bekannt, dass Sie immer mit großem Enthusiasmus vom Zweiten Vatikanischen Konzil gesprochen haben. Was hat es für sie bedeutet?

Piacenza: Wie sollte man nicht von einem außerordentlichen Ereignis wie einem ökumenischen Konzil begeistert sein! In ihm erstrahlt die Kirche in ihrer ganzen Schönheit: Petrus und alle Bischöfe, die Gemeinschaft mit Ihm haben, hören auf den Heiligen Geist, auf das, was Gott seiner Braut zu sagen hat, indem sie – gemäß dem Wunsch des seligen Johannes XXIII. – versuchen, im Heute der Geschichte die unveränderlichen Offenbarungswahrheiten zu erklären, indem sie die Zeichen Gottes in den Zeichen der Zeit und die Zeichen der Zeit im Lichte Gottes lesen! Der Papst sagte in der feierlichen Ansprache zur Eröffnung des Konzils am 11. Oktober 1962: „Die Lehre rein und vollständig, ohne Veränderungen und Verfälschungen weitergeben […] diese sichere und unveränderliche Lehre, die treu respektiert werden muss, werde vertieft und so dargelegt, dass sie den Erfordernissen unserer Zeit entspricht“.

In den Konzilsjahren war ich ein junger Student, dann ein Seminarist und mein priesterlicher Dienst ist von den ersten Schritten an vollständig im Lichte des Konzils und seiner Reformen geschehen. Ich wurde 1969 zum Priester geweiht. Ich komme also nicht umhin, mich als einen Sohn des Konzils zu betrachten, der auch dank der eigenen Lehrer von Anfang an versucht hat, die Konzilslehren gemäß einer natürlichen Hermeneutik der Einheit und der Kontinuität anzunehmen. Diese Reform in der Kontinuität habe ich persönlich immer gespürt, gelebt und auch als Dozent gelehrt.

ZENIT: Denken Sie als Präfekt des Klerus, dass die Priester das Konzil gut rezipiert haben?

Piacenza: Sicher, als auserwählter Teil des Volkes Gottes sind die Priester jene, die in der Kirche die Konzilslehren besser kennen und sie in höherem Masse vertieft haben. Trotzdem scheinen dieselben Probleme nicht zu fehlen, auf die wir vorhin verwiesen haben sowohl im Hinblick auf die rechte Hermeneutik der Reform in der Kontinuität als auch im Hinblick auf die notwendige nicht vorwiegend gefühlsmäßige Herangehensweise an das konziliare Ereignis. Wenn wir alle in diesem Jahr des Glaubens die Demut und den guten Willen hätten, die Texte des Konzils so zu nehmen, wie sie wirklich sind, und nicht wie sie die Medien „verbreitetet“ haben, würden wir entdecken, wie wirklich prophetisch das Zweite Vatikanische Konzil war und viele seiner Hinweise noch als Horizont vor uns liegen, zu dem wir hinschauen und den wir mit Gottes Hilfe erreichen müssen. Um das zu erlangen, ist sicher eine große Portion Demut und eine gewisse Fähigkeit des Verzichts auf das im Voraus gebildete Urteil notwendig, um wieder eine Wahrheit anzunehmen, die vielleicht zulange anders erschien.

ZENIT: Auf welche Aspekte müsste sich die Rezeption der Konzilsdokumente konzentrieren?

Piacenza: Ich verweise auf einen Aspekt besonderer Spannung, den die liturgische Reform darstellt, auch weil sie mit Blick auf die Kirche am besten wahrnehmbar ist. Sehr oft haben der Diener Gottes Paul VI., der selige Johannes Paul II. und der Heilige Vater Benedikt XVI. die Bedeutung der Liturgie als Ort hervorgehoben, an dem sich in voller Weise das Wesen der Kirche verwirklicht und leider ist es in den Augen aller so als sei man in nicht wenigen Fällen noch weit von einer diesbezüglichen akzeptierten Ausgewogenheit entfernt. Sicher ist eine entsakralisierte oder auf eine „menschliche Aufführung“ reduzierte Liturgie, in der die christologische und theologische Dimension bis zum Verschwinden verdunstet, nicht das, was der Buchstabe und der Geist des Beschlusses Sacrosanctum Concilium beabsichtigt haben. Das rechtfertigt dennoch nicht die Position dessen, der, indem sich auf seine Weise der Hermeneutik der Diskontinuität verschreibt, die konziliare Reform zurückweist und sie für einen „Verrat“ einer erträumten „wahren Kirche“ hält.

ZENIT: Gibt es wichtigere als die liturgischen Neuerungen?

Piacenza: Angesichts der Zentralität der Liturgie als „Höhepunkt und Quelle“ des Lebens der Kirche (vgl. SC 10) würde ich nicht von größerer Wichtigkeit sprechen. Sicher hat das Konzil einige Wahrheiten des Evangeliums hervorheben wollen, die heute gemeinsames Erbgut des gesamten Katholizismus darstellen. Man denke nur an die gelungene Betonung der universalen Berufung aller Getauften zur Heiligkeit. Das hat das Entstehen und die Entwicklung vieler neuer Erfahrungen begünstigt. Man denke auch an die Öffnung gegenüber den Christen anderer Konfessionen, die den Wert der Einheit in all ihrer Schönheit wieder hat auftauchen lassen, als notwendiges Attribut der Kirche und wie ein von Christus angebotenes Geschenk, das durch die beständige Reinigung derer, die zu Ihm gehören, immer anzunehmen ist. Die Wichtigkeit der bischöflichen Kollegialität, die zu den wichtigsten Ausdrucksformen kirchlicher Gemeinschaft zählt und der Welt zeigt, wie die Kirche notwendigerweise ein geeinter Leib ist. Schließlich das organische Verständnis des geweihten Amtes, das dem Priestertum der Taufe dient, das Priester und Diakone kennt, die mit dem Bischof zuinnerst vereint sind als Ausdruck der sakramentalen Gemeinschaft im Dienst an der Kirche und den Menschen, stellt eine objektive und gute Entwicklung des Verständnisses des Antlitzes der Kirche gemäß der Absicht Unseres Herrn dar.

ZENIT: Eminenz, zurzeit schickt sich die Kirche an, die Synode über die Neuevangelisierung und das Jahr des Glaubens zu initiieren. Wenn sie den Priestern eine kompakte Formel mitteilen müssten, was würden sie sagen?

Piacenza: Priester, werde im Lichte des Glaubens jeden Tag das, was Du bist!

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Quelle: [1] [2]