DIE ANGELUSGLOCKE

Wallfahrtsgnadenbild von WerlO Beschützerin und Mittlerin der Menschen bei Gott, deinem Sohn, von dir erwartet das mensch­liche Geschlecht sein Glück und seine Seligkeit. Immer ruht es unter deinem liebevollen Schutz, du bist seine Hoffnung und Hilfe.

(Hl. Ephräm der Syrer)

Die neue Lehre Luthers und seiner Anhänger war auch in die Stadt Soest eingedrungen, und ein gro­ßer Teil der Bürger war vom alten Glauben abgefallen. Auch der Priester von der Kirche Maria zur Wiese bekannte sich zum neuen Glauben.

Es war, als sei eine Veränderung mit dem edlen Bauwerke der Wiesenkirche vor sich gegangen. Von dem Tage an, seitdem das schimmernde Brot, das der heilige Leib Christi ist, und der goldene Kelch, der das kostbare Blut des Herrn enthält, nicht mehr allmorgendlich vom Priester emporgehoben wurde, war es, als ströme kein Leben mehr durch den Raum. Seit dem Tage, da man das Gnadenbild der thronenden Muttergottes ehrfurchtslos und spöttisch auf den Kirchen­boden getragen hatte, war die Seele der Kirche Maria zur Wiese erstorben.

Bisher hatten von den Türmen Soests allabendlich die Glocken den Engel des Herrn geläutet. Jetzt hatten die Menschen den Glocken der evangelisch gewordenen Kirchen den Mund zu diesem Gruß ver­schlossen. Aber wer aufmerksam hinhörte, vernahm um die Stunde des Angelusläutens auch von den evangelischen Kirchen noch ein leises Summen. Um diese Stunden be­gannen die Glocken, wie sie es seit ihrem Guß getan, andächtig und still für sich allein das Ave zu singen, mit kaum vernehmbarer Stimme und einem leisen, klagenden Ton, da sie den Gruß nicht mehr über die Stadt hinjubeln durften.

Auch die Angelusglocke von Maria zur Wiese hatte schweigen müssen, bis zu dem Abend, da sie auf einmal wieder klar, mit silberner Stimme über die Stadt hinrief: „Anglus Domini, Domini – Angelus Domini, Domini.“

Der evangelische Pastor der Wiesenkirche war erstaunt und erzürnt aufgesprungen und war hinausgeeilt, um den Küster zu bestra­fen, der es wagte, den englischen Gruß zu läuten. Er hatte die Kirche betreten und schaute sich um, aber er erblickte nieman­den, der am Läuteseil zog. Das Tau hing ruhig und unbeweglich von der Decke her­ab. Die Glocke aber rief weiter: „Angelus Domini, Domini – Angelus Domini, Domini.“

Jeden Abend um dieselbe Stunde erhob die Angelusglocke von Maria zur Wiese ihre Stimme, obschon niemand da war, der die Glocke läutete. Die Soester horchten auf, wenn sie den Klang vernahmen. Die einen hielten sich die Ohren zu, weil sie nichts mehr von dem alten Glauben und den alten Gebeten wissen wollten, die anderen aber, die sich nur äußerlich zur neuen Lehre be­kannten, sahen sich scheu um, bekreuzten sich und begannen still und getröstet wie einst zur heiligen Jungfrau zu beten.

Der Pastor von Maria zur Wiese war wie verzweifelt. Wenn er allabendlich das Läu­ten vernahm, so war es ihm, als riefe eine innere Stimme: „Komm zurück.“ Aber er wollte diese Stimme nicht hören, er wollte im neuen, gereinigten Glauben ausharren, der den alten Marienkult nicht brauchte.

Alles hatte der Pfarrer versucht, um das Angelusläuten zu verhindern. Er hatte sorg­fältig die Kirchentüren schließen lassen und überall Menschen aufgestellt, die darauf ach­ten sollten, ob sich jemand auf verborgenem Wege zum Läuten in die Kirche schleiche. Aber man hatte nichts entdeckt. Nur auf den Glockenturm hatte sich der Pfarrer noch nicht begeben, um das rätselhafte Läuten zu verhindern, denn eine seltsame Scheu hielt ihn davon ab. Um zu den Glocken zu gelan­gen, mußte man über den Kirchenboden gehen, und dorthin hatte der Pfarrer selbst das Bild der thronenden Muttergottes getra­gen. Es mußte dort noch stehen, und er fürchtete den Anblick der Frau, die er einst verehrt hatte.

Nun begann eines Abends wieder die Glocke zu klingen, und die innere Stimme mahn­te den Pastor stärker denn je. Da warf er die ängstliche Scheu von sich, verließ sein Haus, trat in die Kirche ein und stieg die vielen, gewundenen Stufen zum Kirchenboden em­por. Er wollte sehen, wie die Glocke erklin­gen konnte, ohne daß ein Mensch sie läute­te.

Als er den Kirchenboden betrat, stockte sein Fuß. Da stand in einer Ecke ein leerer, schöngeschnitzter Thron. Und auf diesem Thron hockte einsam ein Knabe, der ein Buch in der Hand hielt. Weh, er kannte den Thron und kannte den Knaben. Beide Hän­de preßte der Pastor vor die Augen, um nichts zu sehen, und eilte weiter zur Glocken­stube. Die Glocke klang so hell und silbern, und ihr Schall war so lieblich, wie sie rief: „Angelus Domini, Domini – Angelus Domini, Domini.“

Der Priester trat in die Glockenstube. Jetzt würde er die Ursache des rätselhaften Läu­tens erkennen. – – – Vor ihm stand die Mut­tergottes und schwang die Glocke, sie, deren Anblick er vermeiden wollte, vor der er im Traum aber diese Nacht noch gebetet hatte. Das schöne Gewand mit den weiten Ärmeln floß um ihren jungfräulichen Leib. Sie sah den Pastor schmerzvoll, aber gütig an. Da stürzte dieser fort, an dem leeren Thron und dem Knaben vorbei, die Treppen hinab, fort aus der Stadt.

Niemand sah in Soest den Pastor von Maria zur Wiese wieder. Seit seinem Verschwin­den vernahm man aber auch nicht mehr das rätselhafte Läuten von seiner Kirche.

Nach kurzer Zeit erhielten die Geistli­chen der Stadt Werl von einem unbekann­ten Mönch aus einem fernen Kloster ein Schreiben. Der Mönch berichtete, daß auf dem Kirchenboden von Maria zur Wiese, der lutherisch gewordenen Kirche, das wunder­bare Gnadenbild stehe, das einst im Kloster Fröndenberg gewesen sei. Er bat die Werler, das Bild in ihre katholische Stadt zu holen und es dort wieder zur Verehrung aufzustel­len.

Die Werler Bürger kannten das herrliche Gnadenbild seit langer Zeit und waren so­fort von dem Wunsch beseelt, es in ihre Stadt zu holen, als sie erfuhren, wo es sich befand. Viele Verhandlungen pflog man mit den Soestern, aber die wollten das Bild nicht herausgeben, und es verblieb auf dem Kirchenboden in Maria zur Wiese.

Da geschah es, daß die Soester einst einen Jagdfrevel in dem Werler Gebiet begingen. Zur Buße forderten die Werler Bürger das Gnadenbild, und jetzt mußten es die Soe­ster herausgeben. Seit dem Tag weilt das Bild der thronenden Muttergottes in der Stadt Werl und wird dort von vielen Pilgern hoch verehrt. Die Franziskaner sind jetzt die Hüter des Gnadenbildes, das nach den wei­ten Wanderungen dort für immer bleiben soll.

Bischof Julius Angerhausen, „Wunderbares sagt man von dir!“

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