(Fortsetzung vom 2. Kapitel)
(Warum Maria uns notwendig ist zum Werke unserer Heiligung)
Weil Maria die lebendige Form Gottes und der Heiligen ist.
16. Maria wird vom heiligen Augustin genannt, und sie ist es in der Tat, die lebendige Form Gottes, forma Dei. Das will heißen, dass in ihr allein Gott als Mensch so naturgetreu gebildet worden ist, dass ihm auch nicht ein Zug der Gottheit fehlt. Und darum kann auch in ihr allein der Mensch durch die Gnade Jesu Christi naturgetreu in Gott umgestaltet werden, soweit die menschliche Natur dessen fähig ist.
Ein Bildhauer kann eine Figur oder Statue auf zwei Arten naturgetreu herstellen, erstens, indem er seinen Fleiß, seine Kraft und Fachkenntnis aufwendet und gute Werkzeuge gebraucht, um die Statue aus einem harten und ungestalten Material zu verfertigen; er kann sie zweitens modeln. Die erste Art ist lang und beschwerlich und vielen Zufälligkeiten und Gefahren unterworfen; es braucht manchmal nur einen ungeschickten Meißel- und Hammerschlag, um das ganze Werk zu verderben. Die zweite Art ist rasch, leicht und angenehm, fast mühe- und kostenlos, vorausgesetzt, dass die Form vollkommen und naturgetreu ist; vorausgesetzt auch, dass die Materie, deren sich der Künstler bedient, recht gefügig und bildsam ist und in seiner Hand keinerlei Widerstand entgegensetzt.
17. Maria ist die große Form Gottes, die der Heilige Geist gebildet hat, damit in ihr durch die hypostatische (persönliche) Vereinigung Gott Mensch und durch die Gnade der Mensch Gott werde. Auch nicht einen Zug der Gottheit vermisst man an dieser göttlichen Form. Wer in dieselbe gegossen wird und sich darin auch ganz gefügig bearbeiten lässt, der bekommt alle Züge Jesu Christi, des wahren Gottes; er bekommt sie auf sanfte, der menschlichen Schwachheit angepasste Weise ohne schweren Todeskampf und große Mühe, auf sichere Weise, ohne Furcht vor Täuschung; denn Satan hat in Maria, der Heiligsten und Unbefleckten, die frei ist von jedem Schatten auch nur der geringsten Sündenmakel, niemals Zutritt gehabt und wird zu ihr niemals Zutritt haben.
18. O treue Seele, wie groß ist der Unterschied zwischen einer Seele, die durch jene, die sich, wie Bildhauer, auf ihre eigene Kunst und ihren eigenen Fleiß verlassen, auf den gewöhnlichen Wegen in Jesus Christus umgewandelt wird, und einer recht bildsamen, losgeschälten und geschmolzenen Seele, die sich auf keine Weise auf sich selbst verlässt, sondern sich in Maria ergießt und sich in ihr ganz gefügig dem Wirken des Heiligen Geistes überlässt. O wie viele Flecken und Mängel, wieviel Finsternis und Täuschung, wieviel Natürliches und Menschliches findet sich in der ersten Seele, und wie ist die zweite rein, göttlich und Jesus Christus ähnlich!
Weil Maria das Paradies und die Welt Gottes ist.
19. Wenn wir absehen von der Größe Gottes in seiner eigenen Wesenheit, so gab es niemals ein Geschöpf und wird es niemals eines geben, in welchem Gott größer wäre, als in Maria, selbst die Seligen, die Cherubim und höchsten Seraphim im Himmel nicht ausgenommen.
Maria ist das Paradies Gottes, seine unaussprechliche Welt, das Paradies, in welches der Sohn Gottes eintrat, um darin Wunderwerke zu vollbringen, um es zu bewachen und daselbst seine Freude und Wonne zu finden.
Gott schuf eine Welt für den Menschen im Zustand des Erdenwandels, es ist diese sichtbare Welt; er schuf eine Welt für den Menschen im Zustande der Seligkeit, es ist der Himmel; aber er schuf auch noch eine andere Welt für sich, und er nannte sie Maria, eine Welt, die fast allen Sterblichen hienieden unbekannt und allen Engeln und Seligen im Himmel droben unbegreiflich ist. Voll Staunen darüber, Gott so hoch und erhaben über sie alle, so abgesondert und verborgen in seiner Welt, Maria, zu sehen, rufen sie Tag und Nacht: Heilig, Heilig, Heilig!
20. Glücklich, tausendmal glücklich die Seele hienieden, welcher der Heilige Geist das Geheimnis Mariä offenbart, damit sie es erkenne, welcher er diesen verschlossenen Garten erschließt, diesen versiegelten Quell, damit sie daraus schöpfe und in langen Zügen die lebendigen Wasser der Gnade trinke! Eine solche Seele wird in diesem liebenswürdigen Geschöpfe Gott finden, Gott allein ohne irgend ein Geschöpf, aber Gott, wie er zugleich unendlich heilig und erhaben, unendlich herablassend und ihrer Schwachheit angepasst ist.
Da Gott allgegenwärtig ist, so kann man ihn überall finden, sogar in der Hölle. An keinem Ort aber könnte das Geschöpf Gott näher und der eigenen Schwäche mehr angepasst finden, als in Maria, weil er gerade zu diesem Zwecke in Maria hinabgestiegen ist. An jedem andern Orte ist er das Brot der Starken und der Engel, in Maria aber ist er das Brot der Kinder.
Weil Maria kein Hindernis, sondern das vollkommenste Mittel ist, zur Vereinigung mit Gott zu gelangen.
21. Man bilde sich also nicht ein, wie einige falsche Mystiker es tun, dass Maria als Geschöpf ein Hindernis sei für die Vereinigung mit dem Schöpfer. Nicht mehr Maria ist es, die lebt, sondern Jesus Christus allein, Gott allein lebt in ihr. Ihre Umwandlung in Gott übertrifft die des heiligen Paulus und der übrigen Heiligen mehr als der Himmel die Erde an Erhabenheit überragt. Maria ist nur für Gott geschaffen, und weit entfernt, eine Seele bei sich aufzuhalten, versenkt sie dieselbe vielmehr in Gott und vereinigt sie mit desto größerer Vollkommenheit mit ihm, je mehr sich die Seele mit ihr vereinigt.
Maria ist das wunderbare Echo Gottes, das nichts antwortet als „Gott“, wenn man „Maria“ ruft, das nur Gott verherrlicht, wenn man sie mit der heiligen Elisabeth selig preist.
Wenn die falschen Mystiker, die sogar in Betrachtung und Gebet vom Satan so erbärmlich getäuscht wurden, es verstanden hätten, Maria zu finden und durch Maria Jesus und durch Jesus Gott, so wären sie nicht so schrecklich gefallen. Wenn man einmal Maria gefunden hat und durch Maria Jesus und durch Jesus Gott den Vater, so hat man jegliches Gut gefunden, sagen die heiligen Seelen. Inventa Maria, invenitur omne bonum. Wer sagt „alles“, nimmt nichts aus, also alle Gnade und alle Freundschaft bei Gott, alle Sicherheit gegen die Feinde Gottes, alle Wahrheit gegen die Lüge, alle Leichtigkeit und allen Sieg gegenüber den Hindernissen unseres Heiles, alle Süßigkeit und Freude in den Bitterkeiten des Lebens.
Weil Maria die Gnade verleiht, die Kreuze geduldig und freudig zu tragen.
22. Das will nicht heißen, dass derjenige, der Maria durch eine wahre Andacht gefunden hat, frei sei von Kreuz und Leiden; ganz im Gegenteil; mehr als jeder andere wird er damit überhäuft. Weil nämlich Maria die Mutter der Lebendigen ist, so gibt sie allen ihren Kindern Stücke vom Baume des Lebens. Der Baum des Lebens aber ist das Kreuz Jesu Christi. Jedoch, indem sie ihnen gehörige Kreuze herrichtet, gibt sie ihnen auch die Gnade, dieselben geduldig, ja freudig zu tragen, so dass die Kreuze, die sie denjenigen gibt, die ihr angehören, eher in Zucker eingemachte, als bittere Kreuze sind; oder aber, wenn ihre Kinder eine Zeitlang die Bitterkeit des Kelches verkosten, den man notwendigerweise trinken muss, um ein Freund Gottes zu sein, so werden sie von dem Trost und der Freude, welche die gute Mutter auf die Bitterkeit folgen lässt, so sehr ermutigt, dass sie nach Kreuzen verlangen, die noch schwerer und bitterer sind.
Schlussfolgerung.
Um heilig zu werden, muss man Maria, die Mittlerin aller Gnaden, finden,
und zwar durch eine wahre Andacht zu ihr.
23. Die Schwierigkeit liegt also nur darin, Maria wahrhaft zu finden, damit man jede Gnade überreichlich finde.
Da Gott der unumschränkte Herr und Meister ist, kann er unmittelbar mitteilen, was er gewöhnlich nur durch Maria mitteilt, und ohne Vermessenheit ließe sich nicht leugnen, dass er es auch manchmal tut. Nach der Ordnung jedoch, welche die göttliche festgesetzt hat, teilt er sich den Menschen in der Ordnung der Gnade gewöhnlich nur durch Maria mit, wie der heilige Thomas sagt. Um zu ihm emporzusteigen und uns mit ihm zu vereinigen, müssen wir uns des gleichen Mittels bedienen, dessen er sich bedient hat, um zu uns herabzusteigen, um Mensch zu werden und uns seine Gnaden mitzuteilen; und dieses Mittel ist ein wahre Andacht zur allerseligsten Jungfrau Maria.
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Fortsetzung folgt!
Quelle: Ludwig Maria Grignion von Montfort – Gesammelte Werke – Kleinere Schriften (4. Band)