Aus: Alfons Sarrach: SIEG DER SÜHNE – Wigratzbad: Marias Botschaft an den Menschen

Kapitel XI

Die öffentliche Meinung

 

Presse läuft Sturm

Wigratzbad spricht eine Sprache, die diese Welt nicht ver­steht, eigentlich nie verstanden hat. Der Bau des Gotteshau­ses war in vollem Gange, da lief die öffentliche Meinung – so pflegt man zu sagen, auch wenn sie gesteuert ist – Sturm gegen das Vorhaben. Wo demontiert werden kann, da wird nicht viel recherchiert, nicht viel geforscht, nicht gründlich hinter­fragt, da spielt der Wahrheitsgehalt eine untergeordnete Rolle. Was sich in vierzig Jahren an Misstrauen, Ablehnung, Spott, ja Zynismus ausleben durfte, das wurde wieder ausgegraben. Antonie Rädler wurde dämonisiert, wie in den dunkelsten Jahren des sog. Dritten Reiches.

In den Überschriften einiger Presseorgane spiegelte sich dieser Geist wieder. Und erschütternd ist, dass einige katho­lische Blätter eifrig mitzogen. In der „Allgäuer Zeitung“ vom 17. Februar 1973 wurde es mit unschuldiger Miene in die Frage gekleidet: „Wallfahrt oder Geschäft?“ Die geistige Di­mension, die dahinter stand, blieb den Schreibenden in den Redaktionsstuben verborgen. Andere glaubten, in dem Bau und in der Gebetsstätte überhaupt einen Spaltpilz innerhalb der Kirche des Bistums zu entdecken. So der „Südkurier“ am 6. Februar 1973. Dabei wurden dem Dekan von Lindau Aus­sagen in den Mund gelegt, die nicht zutrafen: „In Wigratz­bad sei alles reichlich obskur.“

Ähnlich lauteten andere Schlagwörter, z.B.: „Die wunder­samen Wunder von Wigratzbad“ oder „Ein Allgäuer Dorf wird wider Willen der Kirche Wallfahrtsort“. In der „Ost­schweiz“ aus St. Gallen hieß es am 14. August 1974: „Der Glaube allein macht selig. Ein Wunder für eine Mark zwan­zig“. Die „Stuttgarter Zeitung“ zitierte im Jahre 1974 in ihrer Nr. 88 eine angebliche Aussage aus dem Bischöflichen Ordi­nariat: „Pseudo- und Aftermystik“. Herabsetzender hätte man es nicht ausdrücken können.

In den katholischen Blättern der benachbarten Diözesen blieb man auf der gleichen Linie. Im „Passauer Bistumsblatt“ wurden die Gläubigen weniger ermutigt als entmutigt, diese Stätte zu besuchen. Darin hieß es: „Eine sehr problematische Kirche entsteht im Allgäu.“ Noch zwei Jahre nach der Fertig­stellung und feierlichen Einweihung der Kirche ließ man es am 4. Juni 1978 in der Jubiläumsnummer des „Katholischen Sonntagsblattes“ in einer Leserzuschrift sagen, die zeigte, wie sehr manchen Christen in den letzten Jahrzehnten der Geist des Kreuzes und seine Botschaft fremd geworden sind: „Das ist genau der Weg“, war zu lesen, „der zu den pharisäischen Sühnenächten in Wigratzbad und anderswo führt, wo man die Sünde anderer sühnen will.“

Vergessen sind die Worte Jesu bei Matthäus: „Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach“ (Mt 16,24-25). Jesus hat das Kreuz auf sich genommen, um für die Sünden der Welt zu sühnen. Daran wird der Gläubige in jeder hl. Messe bei den Wand­lungsworten erinnert: „Das ist mein Blut, das für euch und für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden.“ Bereit zu sein, sogar für die Vergehen des Feindes zu sühnen, macht das Christentum zu einer unvergleichbaren Religion. Das ist christliches Glaubensgut seit 2000 Jahren. Wer dem Herrn nachfolgen will, soll sein Kreuz auf sich nehmen, in dem glei­chen Geist. Christentum bedeutet Verantwortung für den an­dern. Einer auf Selbstverwirklichung und auf Egoismus aus­gerichteten Kultur muss das befremdend erscheinen.

Vier Wochen vor der Einweihung entschloss sich Bischof Josef Stimpfle in seinem Amtsblatt zu einem klärenden Wort. Nach einer kurzen Vorgeschichte erläuterte er die Grundsätze, an denen sich die Seelsorge in Wigratzbad orientiert und in Zukunft ausgerichtet sein wird. Die kirchlichen Verhält­nisse seien geordnet.

Keine Minimalisten

Davon unbeeindruckt wandte sich die Tageszeitung „Der Westallgäuer“ wenige Tage vor der Konsekration an Antonie Rädler und Pater Johannes, um ihnen ein paar kritische Fra­gen zu stellen. Es erweckte den Eindruck, als wollte sie noch in letzter Minute verhindern, was nicht mehr zu verhindern war. Sie begründete ihre Initiative — wie es im Vorspann hieß — mit dem Hinweis darauf, dass die Gebetsstätte Wigratzbad in der Region umstritten sei. Weite Teile der Bevölkerung würden ihr mit Ablehnung oder mit Skepsis begegnen. Die Geistlichkeit verhalte sich reserviert. Antonie und Pater Jo­hannes bezeichnete das Blatt als Hauptverantwortliche.

Eine Zeitung kann unter dem Vorwand, zu informieren, eine Atmosphäre auch anheizen. Die Art der Fragen jeden­falls war nicht zimperlich. Schon in der ersten forschte man nach den Gründen dafür, warum sie den Wallfahrtsbetrieb „aufgezogen“ und ausgebaut habe. In der zweiten beruft man sich darauf, dass Kritiker bei der „Urheberin“ von „Geschäfts­tüchtigkeit“ sprechen. Ob der Besucherstrom ihr persönliche Vorteile gebracht habe, wurde unverblümt gefragt.

Antonie beantwortete die Fragen souverän. Aus Dankbar­keit für die Errettung vom sicheren Tod habe sie eine Marien­grotte auf elterlichem Besitz errichtet, vor der sie in freien Stunden betete. Nachbarn kamen dazu, Menschen von aus­wärts, die Sorgen auf dem Herzen hatten. Eine zarte Anspie­lung auf den Psychoterror, dem sie unter dem Naziregime ausgesetzt war. Persönliche Vorteile habe ihr der Pilgerstrom nicht eingebracht, eher das Gegenteil: Sorgen, Mühen und Ar­beiten bei Tag und Nacht, Sonntag und Werktag. In vierzig Jahren habe sie einmal für drei Tage Urlaub genommen.

Viele Christen vermissten in Wigratzbad die „Kirche von heute“. Ob man sich als konservative Randgruppe verstehe, die im Kampf mit der offiziellen Kirche stehe, ob man die vor­konziliare Kirche kultiviere, lautete die nächste Frage, und sie war an den Pater gerichtet. In Wigratzbad werde jener Spiel­raum genutzt, den die Kirche bei der Feier der Liturgie gelas­sen habe. Bestimmte Reformen seien ein Privileg, aber kein Muss, etwa die Handkommunion, um ein Beispiel zu nennen.

Schließlich kam die Rede auf den angeblich übertriebenen Marienkult in Wigratzbad, den Außenstehende festgestellt haben wollten, und dieser sei nicht im Sinne der Kirche. In Deutschland keine ungewöhnliche Frage, das seit langem ein gespaltenes Verhältnis zur Madonna hat, im Gegensatz zu ei­nigen anderen Ländern Europas, etwa Polen, Italien, Spanien und sogar Russland. Lächelnd konnte der Geistliche, ein in Theorie und Praxis erfahrener Theologe, diese Unterstellung zurückweisen. Ein solcher Widerspruch erkläre sich, wenn man in der neuesten Mariologie nicht zu Hause ist. Dann fügte er hinzu: Natürlich bin ich bei der Marienverehrung kein Minimalist, sondern gehöre eher zu den Maximalisten, aber gerade die haben im Laufe der Geschichte stets den Sieg da­vongetragen.

Am Ende wollte der Journalist eine Erklärung dafür, wa­rum die meisten Pilger nicht aus der näheren Umgebung, son­dern eher von außerhalb des Westallgäus herkämen. Der Seel­sorger empfahl, sich einmal die Fahrzeugschilder anzuschau­en, dann werde man feststellen, dass die Mehrzahl aus dem Allgäu und der Bodenseegegend komme. Übrigens blieben jahrzehntelange Verleumdungen eben nicht ohne Auswirkun­gen, besonders in der nächsten Umgebung. Aber die Tatsache, dass der Bischof des Bistums die Kirche selber konsekriere, sei ein Beweis dafür, wie gegenstandslos die vielen Vorwür­fe gewesen seien. Mit seiner Autorität decke er Wigratzbad und stehe für die Gebetsstätte ein.

Wenn Redakteure an katholischen Zeitschriften sich heute schwer tun, irreführende Behauptungen im Bereich des Glau­bens zurückzuweisen oder ihnen nicht nachzulaufen, wie es z.B. bei der Bibelkritik der Fall ist, wo man auf haarsträuben­de Berichte und Darstellungen stoßen kann, dann ist von Redakteuren der säkularen Presse nicht zu erwarten, dass sie für marianische Mystik ein offenes Ohr haben. Sie sind in diesem Bereich einfach überfordert. In der Auseinanderset­zung um ein christliches Weltbild wird Maria außerdem für Atheisten und Cafeteria-Christen immer ein Stein des An­stoßes bleiben.

 

Kapitel XII

Das Zelt

Welt braucht Beter

Was 1938 niemand erträumen konnte, niemand für mög­lich gehalten hätte, es war nach vierzig Jahren wahr geworden. Am 7. Mai 1976 wurde der Stiftungsbrief unterzeichnet, Vo­raussetzung für ein Gebäude, das für den öffentlichen Kult bestimmt ist. Drei Wochen später, am 30. Mai 1976 weihte der Oberhirte von Augsburg, Dr. Josef Stimpfle, eine aussage­starke Pilgerkirche in Wigratzbad ein. Es war der Sonntag vor Pfingsten und es waren nicht ein paar hundert Gläubige da­bei, wie einst bei der Einweihung der Grotte, es war ein Mas­senansturm aus Süddeutschland, Österreich und der Schweiz. Die Zeltkirche konnte maximal zwei- bis dreitausend Men­schen fassen. Gekommen waren 8000. Die Feierlichkeiten mussten über eine Lautsprecheranlage nach außen übertra­gen werden.

Pater Johannes Schmid, der seit einigen Jahren die Pilger betreute, begrüßte den Bischof im Namen der Gebetsstätte „Maria vom Sieg“. Die Bedeutung der bischöflichen Entschei­dung für Wigratzbad kurz nach seiner Ernennung fasste er in einem Satz zusammen: „Dieses Ereignis ist ein überzeu­gender Beweis, dass Wigratzbad keine Sekte ist, nicht im Wi­derspruch steht zur offiziellen Kirche.“ Vor ihren geistigen Augen dürfte Antonie die monumentale Sühnekirche auf dem Montmartre in Paris gehabt haben, die sie vor dem Zwei­ten Weltkrieg besuchen durfte. Nun gab es eine solche in Deutschland.

Nach dem feierlichen Amt am Vorabend nahm der Ober­hirte an den Sühnegebetsstunden teil, betete selbst vor. Sie dauerten bis zur Frühmesse um 7 Uhr. So setzt man große Beispiele. Am Sonntag um 9 Uhr begann dann die feierliche Konsekration. In einer Prozession wurden die Reliquien vom Seitenaltar abgeholt und in den Hauptaltar versenkt. Seit ih­ren Anfängen feierte die Kirche das heilige Opfer über den Gräbern der Märtyrer.

Die Auswahl spricht für sich. Es waren Reliquien der Mär­tyrin Christina, die gegen Ende des 3. Jahrhunderts, also in der Zeit der Urkirche, von ihrem eigenen Vater um des Glau­bens willen einem grausamen Tod ausgeliefert wurde. Die an­deren waren von Karl Lwanga, dem Anführer der Märtyrer von Uganda, die am 3. Juli 1886 für ihren Glauben hinge­richtet wurden, also Zeugen aus der Neuzeit. Ein Bogen der Entscheidung für Gott spannt sich von den Anfängen bis in die beginnende Moderne.

Lwanga war Vorsteher von 500 Pagen des Königs, unter ihnen bereits einige Christen, die er besonders vor sexuellen Übergriffen des Königs schützte. Aber andere gewannen Ein­fluss auf den jungen Monarchen. Das besiegelte ihr Schicksal. Am Abend des 25. Mai 1886 zwang der König alle, Farbe zu bekennen. Lwanga und 21 andere bekannten sich zum Chris­tentum. Sie wurden zum Tode verurteilt und mussten zu Fuß 60 Kilometer zum Richtplatz zurücklegen, dann wurden sie auf einen brennenden Scheiterhaufen geworfen. Ein Verwand­ter einer dieser Märtyrer wurde der erste farbige Bischof von Afrika. Bei der Heiligsprechung der Märtyrer feierte er gera­de sein silbernes Bischofsjubiläum.

Die Weihepredigt von Bischof Stimpfle war von besonderer Tiefe und Aktualität: „Christi Sühne aus Liebe zur sündigen Welt ist die Mitte des Heilswerkes“, sagte er. „Die Heiligung, das unsagbar hohe Geschenk der Sühne Christi, soll durch die geheiligten Beter der im Argen liegenden Welt erfleht werden. Die Welt braucht Menschen, die die Nacht durchbe­ten, um die Sünder mit Gott auszusöhnen und ihnen den Frieden Christi zu vermitteln.

In einer Zeit, die Gott vergisst, ist in Wigratzbad eine Stät­te des Gebetes erblüht. Inmitten einer Kirche, die viel über ihre Erneuerung diskutiert, wird in Wigratzbad die Antwort liebender Hingabe in der Herzensgesinnung Jesu und Mari­ens geübt. Im Kampf gegen den Fürsten dieser Welt, der die Geister verwirrt und viele Menschen ins Verderben stürzt, wird im Geiste des gekreuzigten Erlösers Sühne geleistet, um Menschen zu retten. Wer möchte in Abrede stellen, dass die Welt Beter braucht, Beter, die Nächte durchbeten, um Sün­der mit Gott auszusöhnen und ihnen den Frieden Christi zu bringen; Beter, die Sühne leisten für das, was in unserer Gesellschaft und unserem Volk geschieht, wenn Grundwerte des Lebens, die Fundamente des Glaubens und der Kirche aus­gehöhlt werden und der Zeitgeist des Materialismus und Sä­kularismus zu einem Leben verführt, das nur an sich denkt und die Erfüllung und den Sinn des Daseins im Genuss der irdischen Güter sucht.“

Beim anschließenden Festessen fasste er in seiner kurzen Abschiedsrede noch einmal seine Meinung über das Lebens­werk von Antonie Rädler zusammen: „Dass jemand durch vierzig Jahre jede Woche mindestens eine Nacht durchgebe­tet, vierzig Jahre dies durchgehalten hat, so etwas habe ich noch nirgendwo gelesen oder gehört. Da ist ein Quell aufge­brochen, eine Quelle, die von Gott ausgeht. Das ist die heu­tige Festfreude. Deswegen freuen wir uns mit Antonie Räd­ler, dass der liebe Gott alles so wunderbar geführt hat. Ich hänge mich mit der ganzen Diözese bei Ihnen an.“

Damit hat eine leidvolle Entwicklung über vier Jahrzehnte einen krönenden Abschluss gefunden. Er zeigt, dass Maria unter „siegen“ etwas anderes versteht als der Mensch in sei­ner blutgetränkten Geschichte. Es ist ein Sieg des Sühnege­dankens, zu dem Maria unter dem Kreuze ihr Ja gegeben hat.

An dieses Ja möchte sie den Menschen über die Geschichte von Wigratzbad erinnern.

Nicht allein gelassen

Wer von Gott zu einer außergewöhnlichen Aufgabe beru­fen wird, den lässt er nicht allein. Man sieht es am Beispiel großer Ordensstifter oder jener, die Erneuerungsbewegungen ins Leben gerufen haben. Antonie Rädler sollte es auch er­fahren. 1949 trat eine 36-jährige Frau, das neunte von elf Kin­dern einer christlichen Familie, an ihre Seite – es war There­sia Moser, Schwester des praktischen Arztes Dr. Konrad Moser aus Bechtersweiler. Über zehn Jahre als Verkäuferin in einem großen Kaufhaus tätig, musste sie ihre Stelle aus gesundheit­lichen Gründen aufgeben. Ein halbes Jahr half sie in der Pra­xis ihres Bruders aus.

Von ihrer Schwester eines Tages dazu eingeladen, an einer Sühnenacht in Wigratzbad teilzunehmen, sträubte sie sich zunächst, gab dann schließlich nach. In den ersten Stunden konnte sie ihre innere Abneigung nicht überwinden. Aber ge­gen 23 Uhr fiel alle Müdigkeit von ihr ab, die Atmosphäre des Gebetes drang in ihre Seele. Sie hielt bis zum frühen Morgen durch. „Ich komme wieder“, sagte sie zum Abschied.

Im September sprach Antonie sie an, ob sie nicht für im­mer zu ihr kommen möchte. Sie wollte es sich noch überle­gen. Zu ihrer Schwester meinte Antonie jedoch: „Die kommt zu mir. Die Gottesmutter hat sie mir gezeigt und mir gesagt, dass sie zu mir kommt.“

Nach einem Gespräch in Wigratzbad wurde Theresia auf ihrem Fahrrad von zwei Männern über eine längere Strecke verfolgt. Es gelang ihr nicht, sie abzuschütteln. In ihrer Angst zog sie den Rosenkranz aus der Tasche, wickelte ihn um ihre Hand und ließ ihn herunterhängen. Als die beiden ihn be­merkten, verschwanden sie. Auf der Weiterfahrt sah sie plötz­lich einen dicken Baumstamm auf der Straße liegen. Sie stieg ab und wollte ihn wegräumen, aber er war zu schwer. So hob sie das Rad über den Stamm hinweg und wollte zum nächs­ten Haus fahren, um Hilfe zu suchen. Da sah sie mit Entset­zen ein Auto ankommen. Der Baum hätte zum Verhängnis für den Fahrer werden können. Zu ihrem maßlosen Erstau­nen fuhr der Wagen jedoch ohne anzuhalten vorbei. Das Hin­dernis war verschwunden. Ein heiligmäßiger Priester erklär­te ihr später, das alles sei ein Versuch der Hölle gewesen, sie davon abzuhalten, nach Wigratzbad zu gehen.

Daheim fand sie vier Angebote vor. Es waren günstige Ar­beitsplätze. Außerdem hielt jemand um ihre Hand an. In die­ser Situation bat sie die Gottesmutter um Entscheidungshilfe. Am darauf folgenden Donnerstag fuhr sie zur Sühnenacht nach Wigratzbad. In der Esspause blieb sie allein in der Ka­pelle zurück und betete in ihrem Herzensanliegen. Da hörte sie eine innere Stimme: „Hier wirst du am notwendigsten ge­braucht!“ Als die junge Frau nachfragte: „Was willst du von mir?“ hörte sie abermals die gleiche Stimme: „Hier wirst du am notwendigsten gebraucht.“ Am Morgen erklärte sie Anto­nie Rädler ihre Bereitschaft, zu kommen. Diese antwortete lächelnd: „Ich wusste es bereits.“

Ein Gotteshaus allein schafft es nicht. Es sind Menschen, betende, ganz auf Gott ausgerichtete Menschen, die ihm seine Ausstrahlung geben. Theresia, von allen Resi genannt, wurde die rechte Hand Antonies und das Herz der Gemeinschaft. Über Jahre oblag ihr die Buchführung, außerdem kümmerte sie sich um die Devotionalien, die an einer Gebetsstätte im­mer gefragt sind. Sie verband gesunden Menschenverstand mit Frohsinn. Mit Energie und Tatkraft meisterte sie schwie­rige Situationen, wirkte ausgleichend. Menschen verschiede­nen Charakters hielten zusammen und blieben dem Werk verpflichtet. Von unvoreingenommenen Beobachtern wurde es als Wunder der Gnade bezeichnet.

Kurz vor ihrem Tode ließ Antonies Mutter Resi ans Ster­bebett kommen und nahm ihr das Versprechen ab, Antonie die Treue zu bewahren. Zu diesem Versprechen stand sie. Nach Antonie wird Theresia Moser das größte Verdienst am Aufblühen der Gebetsstätte zugeschrieben.

Im Jahre 1955 wurde Resi am Pfingstmontag von einem Mann angesprochen, der sich als Anton Walz vorstellte. Ihm war am Motorrad die Kette gerissen, er bat um fünf Mark, die er auf jeden Fall zurückbringen wollte. Resi führte ihn zu Antonie Rädler. Die fragte nach seinem Beruf. Als er sich als Maurer bezeichnete, reagierte sie erfreut und schlug ihm vor, während das Rad repariert werden sollte, bei der Fertigstel­lung des Sanatoriums mitzuhelfen.

Anton Walz gefiel es so gut, dass er Neigung zeigte, für im­mer dort zu bleiben, fürchtete jedoch, sein Arbeitgeber wür­de ihn nicht freigeben. Wider Erwarten willigte dieser jedoch sofort ein und ließ seinen besten Arbeiter gehen, was er später selber nicht verstehen konnte. Es sei wohl eine höhere Kraft gewesen, die ihn dazu bewogen habe. An den Anlagen der Gebetsstätte gab es praktisch nichts, bei dem er nicht mit Hand angelegt hätte, ob Speisesäle, Kühlkeller, ob die Asphaltierung der Wege auf dem Kreuzhügel oder die Treibhäuser, die das Haus das ganze Jahr mit Frischgemüse versorgten. In der Ge­betsstätte fand er sogar seine Frau.

1967 heiratete er Maria Krug, Jahrgang 1915, aus Kisslegg. Sie war 1952, drei Jahre vor ihm, nach Wigratzbad gekommen. Ihr Vater war einer der Ersten, der die Sühnenächte vor der Grotte durchbetete. Der Geist des Vaters ging auf die Tochter über. Sie stand als Köchin zur Verfügung, schmückte die Ka­pelle und später die Kirche, gestaltete mit Resi Moser die Süh­nenächte und die Gottesdienste. Über Jahrzehnte stand sie dem Werk zur Verfügung und hat ihm ihr Leben geweiht.

Nicht unerwähnt bleiben kann hier eine weitere Kraft, Schwester Maria Kennerknecht, Jahrgang 1893. Nach ihrer Versetzung beim Roten Kreuz in den Ruhestand nahm sie 1954 ihren Dienst bei Antonie auf. 28 Jahre hindurch hat sie der Stätte unermüdlich gedient, vor allem bei der Kranken­versorgung. 1982 wurde sie in die Ewigkeit abberufen.

Das Kieswunder

Alle vorgestellten Personen haben Tag für Tag, oft auch die Nacht hindurch, ohne Urlaub, ohne irdischen Gewinn, mit einem kargen Gehalt, viele Stunden, oft bis zur Erschöpfung gearbeitet und viele Stunden gebetet. Jeden Abend hat Anto­nie mit den Angestellten zwei und mehr Stunden im Gebet verbracht. Bisweilen kamen in einer Woche mehrere Sühne­nächte zusammen. Einmal haben sie, so berichtete Resi, in dreieinhalb Tagen nur acht Stunden geschlafen.

Bei dieser Einstellung blieb außerordentliche Hilfe von oben nicht aus. „Als wir das Haus im Garten bauten“, erzählte spä­ter Theresia Moser, „war ich den ganzen Tag an der Beton­maschine tätig. Gegen Mittag sah ich besorgt auf den Kies­haufen, der immer kleiner wurde. Da riefen wir den Bau­meister. Kies hätte er liefern können, hatte aber keine Arbeiter, ihn zu verladen. Da ging Antonie Rädler vorbei. Ich klagte unsere Not. Sie war auf dem Weg zum Kreuzhügel, um dort zu beten. Als sie zurückkam, sagte sie kurz: „Macht nur weiter, der Kies wird reichen!“ Tatsächlich, der Haufen wurde nicht kleiner. Die Decke wurde fertig und es blieben noch fast drei Kubikmeter übrig.“ Ein Vorgang, der übrigens auch aus dem Leben des Pfarrers von Ars berichtet wird.

Diese treuen Begleiter, Gott ganz ergebene Menschen, wa­ren all die Jahre hindurch der Verachtung, dem Hohn und der Verleumdung ausgesetzt. Von Seiten der Bevölkerung schlug ihnen falscher Argwohn entgegen. Auf diese Weise teilten sie das Schicksal Antonies, die sogar von den Kanzeln herunter angefeindet und verunglimpft wurde.

Ideale Voraussetzung

Neben diesen Menschen, jeder in sich eine Persönlichkeit, haben in den späteren Jahren einige Priester die geistliche At­mosphäre geprägt und entfaltet. 1969 stieß Johannes Schmid zur Gemeinschaft, Mitglied des Ordens der Passionisten. Erzbischof Stimpfle nannte ihn eine besondere Aufmerksam­keit Gottes. Die Passionisten sind eine Gemeinschaft, die sich in besonderer Weise der Verehrung des Leidens Christi ver­pflichtet weiß.

Gegründet wurde der Orden 1720 durch den blutjungen Paolo Francesco Danei (1694-1775), der sich später Paul vom Kreuz nannte. Geboren in einer reichen Familie in Ovada in Norditalien, hatte er mit 19 Jahren ein Erlebnis, das ihn be­wog, sich einem dem Gebet gewidmeten Leben hinzugeben. Ein kluger Kapuziner machte ihm klar, dass der Mensch, der auf Gott zugehen will, der Liebe in allem den Vorrang geben und sich von eigenen Gottesbildern lösen muss. Die Erkennt­nis, dass Gott am ehesten im Leiden Christi gefunden werden kann, wurde zur stärksten Triebfeder, sein Leben der Verbreitung dieser Botschaft zu widmen. Die Verehrung des Leidens Christi wurde zum Hauptmerkmal seines Ordens. Paul vom Kreuz gilt als größter Mystiker des 18. Jahrhunderts.

Diese Geisteswelt war eine ideale Voraussetzung für ein Wirken an der Gebetsstätte in Wigratzbad. Mit brennendem Eifer widmete der Passionist sich den zunehmenden Scharen von Pilgern und versuchte ihnen die Bedeutung des Gebetes und der Sühne nahe zu bringen. Seine letzte Ruhestätte fand er 1987 in der Ölbergkapelle im Schatten der Sühnekirche ne­ben Antonie Rädler, die ihm nur ein paar Jahre später folgte.

Die nachlassenden Kräfte von Pater Schmid im Blick, fällte Bischof Stimpfle rechtzeitig eine weitsichtige Entscheidung, die etwas von der Instinktsicherheit dieses Oberhirten erah­nen lässt. Von der berühmten Wieskirche im Allgäu holte er sich einen erfahrenen Theologen, Dr. Dr. Rupert Gläser. Die­ses 1744 erbaute Gotteshaus ist eine Wallfahrtskirche unter dem Titel „Zum Gegeißelten Heiland“. Vielen ist sie jedoch eher bekannt wegen ihrer fantastischen weltberühmten Ar­chitektur. Aber wichtiger ist die Theologie, die sich in ihr aus­drückt. Diese sieht den wesentlichen Zug der Kirche in ihrem eschatologischen Charakter, mit anderen Worten, sie sollte sich nicht von Zeit und Raum einengen lassen, ihr Blick muss vielmehr ständig auf die Wiederkunft des Herrn ausgerichtet sein. Das gefiel gegen Ende des 18. Jahrhunderts – wie auch heute – dem Zeitgeist ganz und gar nicht.

Von einer solchen Theologie geprägt, war Rupert Gläser eine glückliche Besetzung für Wigratzbad. Ihm oblag im Sinne des Oberhirten die Aufgabe, den Geist der Gründergenera­tion in unsere Zeit hinüberzutragen. Das ist ihm in den Jah­ren von 1984 bis 1999, als ihm die Leitung der Stätte anver­traut war, gelungen. Noch heute strahlt er etwas von dieser an ihn ergangenen Berufung aus.

1999 wurde er als Direktor von Thomas Maria Rimmel abgelöst, ernannt von Bischof Dr. Viktor Josef Dammertz, dem Nachfolger von Dr. Josef Stimpfle auf dem Bischofssitz von Augsburg. Rimmel leitete eine neue Phase ein. Er ver­sucht den Geist der Weltkirche in die Stätte hineinzubringen. Typisch dafür ist, dass er an dem weltberühmten Erschei­nungsort Guadalupe in Mexico an Priesterexerzitien teilge­nommen hat. Auch eine Fußwallfahrt nach Santiago de Com­postella gehört dazu.

Seit 1988 hat sich in Wigratzbad die romtreue Petrusbru­derschaft niedergelassen und unterhält dort ein Priestersemi­nar. Um Missverständnissen vorzubeugen, hat Rimmel eine behutsame Entflechtung der Gebetsstätte und der Bruder­schaft vorgenommen. Sein Motto lautet „Integrieren, nicht isolieren“. Das gilt für alle Bewegungen und Gemeinschaften. Programm und eingeladene Gäste, u.a. auch aus Rom, zeigen, dass ihm dies gelungen ist.

Antonie Rädler habe die Menschen im Gebet mitgerissen und ganze Nächte mit ihnen durchgebetet. Daraus seien die sog. Sühnenächte entstanden und zu einem zentralen Moment im Leben der Gebetsstätte geworden. Wigratzbad sei ein Ort – so Rimmel in einem Interview –, der Freude ausstrahle. Das hänge damit zusammen, dass man der Versöhnung des Menschen mit Gott einen hohen Stellenwert einräume. Die Menschen hungerten nach der Botschaft vom Frieden mit Gott. Das zeige u.a. die feierliche Gestaltung des Weißen Sonn­tags als sog. Barmherzigkeitssonntag.

Von Bischof Dr. Walter Mixa, einem Nachfolger im Amt von Dr. Josef Stimpfle, wurde Thomas Maria Rimmel als Di­rektor der Stätte in den Priesterrat der Diözese aufgenommen, ein Beweis für die volle Integration der Gebetsstätte in das Leben der Kirche.

In Wigratzbad wurde im Rahmen der wöchentlichen Süh­nenacht am Donnerstagabend ein Heilungsgebet mit Hand­auflegung durch die anwesenden Priester eingeführt. Der mo­natliche Krankentag mit Eucharistischem Einzelsegen zählt zu den Höhepunkten im Wallfahrtsleben. Ein besonderes Cha­risma, zu segnen, haben die Gläubigen bei dem indischen Priester Santan Fernandes aus St. Ulrich a. Pillersee in Öster­reich entdeckt, der aus diesem Grunde mehrmals im Jahr in die Sühnekirche kommt.

Eng verbunden ist der Stätte auch Erich Maria Fink, gebo­ren in Isny im Allgäu. Von 1992 bis 1995 hat er die Gebets­stätte Marienfried betreut. Zum Beginn des Jahres 2000 wur­de er für den Dienst in Russland freigestellt und ist nun Pfar­rer der Gemeinde „Königin des Friedens“ in Beresniki im Ural. Er ist Wigratzbad treu geblieben und gibt dort zweimal im Jahr Exerzitien.

Ganz von Wigratzbad erfasst wurde auch ein Priester aus der Diözese Hildesheim. Es ist Pfarrer Bernhard Kügler. Seit dem Jahre 2000 steht er der Gebetsstätte zur Verfügung. Die dort gepflegte Geistigkeit entsprach so sehr seinen Vorstel­lungen, dass er sich ihr voll zur Verfügung stellte.

K-TV

Eine Erweiterung des Wirkungsbereiches der Stätte ergab sich in den letzten Jahren durch die Verbindung mit dem ka­tholischen Sender K-TV. Das „K“ steht für Kephas, das grie­chische Wort für Felsen. Er hat sein Hauptstudio im nicht sehr entfernten Dornbirn, im Dreiländereck am Bodensee. Der Sender ist die Verwirklichung eines lang gehegten Wun­sches des Schweizer Geistlichen Hans Buschor aus der Diözese St. Gallen. Er will die christliche Frohe Botschaft in einer säkularen Welt über das Fernsehen verkünden. Besonders ge­pflegt werden dabei Veranstaltungen mit dem Papst in Rom und anderweitig. Oft die einzige Möglichkeit im deutschspra­chigen Raum, über die Reisen des Nachfolgers auf dem Stuhl Petri informiert zu sein.

Medienfachleute gaben der Initiative wenig Chancen. Aber der Sender, der am 11. September 1999 erstmals die Ausstrah­lung auf einem eigenen Kanal über Satellit durchführen konn­te, feierte 2009 sein zehnjähriges Bestehen. In Wigratzbad wurde eigens ein Studio eingerichtet, um Gottesdienste und andere Veranstaltungen zu übertragen.

Von einer solchen neuen Möglichkeit, die Botschaft von Sühne und Versöhnung in die Welt auszustrahlen, hat Anto­nie Rädler noch nicht träumen können. Aber Gott wirkt im­mer und führt fort, wo menschliches Leben seine Grenzen findet. Die Kirche ist unterwegs, woran das Gotteshaus auf dem Hügel Besucher und Pilger erinnert. Sie schreitet voran — bewegt u.a. von Impulsen, wie sie von Orten wie Wigratz­bad immer wieder ausgehen —, der Ewigkeit entgegen, allen Versuchen zum Trotz, die Menschen auch über die Medien mit vorgegaukelten Paradiesen von diesem Weg abzubringen.

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Quelle: Eigener Scan aus meinem persönlichen Exemplar des im Titel genannten (neu nicht mehr erhältlichen) Buches

Siehe weiter:

Aus: Alfons Sarrach: SIEG DER SÜHNE – Wigratzbad: Marias Botschaft an den Menschen

Unbefleckt empfangene Mutter vom Sieg, bitte für uns!

Kapitel II

Unerwünscht

Schlüsselerlebnis

Antonie kam am 15. Dezember 1899 zur Welt, an der Schwelle eines Jahrhunderts, das zu einem blutgetränkten wer­den sollte, ein Jahrhundert des Völkermordes, der Vertreibun­gen, der Vergewaltigungen von Frauen und Mädchen und des Versuchs, die menschliche Geistes- und Kulturgeschichte um viele Jahrtausende zurückzudrehen.

Sie kam als unerwünschtes Kind zur Welt, genauer gesagt als unerwünschtes Mädchen. Drei Kinder waren den Eltern bereits geschenkt worden, zwei Mädchen und ein Junge. Nun hatte sich Mutter Rädler einen Sohn gewünscht, mit dem sie besondere Vorstellungen verband. Sie hatte darum gebetet, er möge einmal zum Priester berufen werden. Es dauerte lange, bis sie sich damit abgefunden hatte, dass es eine Tochter gewor­den war. Aber gerade das sollte einmal zum Zeichen werden.

Dabei dürfte man annehmen, dass ein tiefreligiöses Ehe­paar, und das waren Andreas (1869-1946) und Maria Rädler (1869-1950), davor bewahrt würden, eigene Wunschvorstel­lungen mit den Dimensionen Gottes zu verwechseln. Auch ganz lautere Seelen sind zuweilen nicht davor gefeit, mehr auf eigene Ideale als auf Gottes Visionen zu setzen. Ihr Bund fürs Leben, den sie am 25. Oktober 1889 schlossen, war auf Rat eines alten, frommen Priesters in Mywiler zustande gekom­men. Er hatte dem Mädchen Maria den jungen Andreas als Mann empfohlen. Gott pflegt manche Lebenswege bis ins De­tail hinein lange vorher zu ebnen und zu lenken.

Der andersgeschlechtliche Elternteil hat einen stark prägen­den, besonderen Einfluss auf das Kind. Das weiß man heute. In diesem Zusammenhang bleibt festzuhalten, dass der Vater von Antonie ein unerschütterliches Gottvertrauen besaß, was ein Ereignis bei der Geburt des sechsten Kindes beleuchtet.

Maria Rädler erkrankte an Kindbettfieber. Ein halbes Jahr quälte sie sich trotz guter Pflege dahin, magerte zum Skelett ab. An einem Samstag hörte dann das Herz plötzlich auf zu schlagen.

Erschrocken stürzte die Krankenschwester in den Metzger­laden, um den Mann zu holen: „Sie ist gestorben, es ist so schnell gegangen!“ Der Mann rannte sofort die Treppe hinauf, aber nicht ans Krankenlager der Frau, sondern in das Schlaf­zimmer des Paares. Dort stand ein Hochzeitsgeschenk der El­tern, eine Lourdesgrotte, vor der sie jeden Abend gebetet ha­ben. Vor dieser warf er sich auf die Knie und begann zu beten. Es war mehr ein Aufschrei zum Himmel als ein Gebet:

„Liebe Mutter Gottes! Hilf! Du hast noch immer geholfen. Du bist allmächtig mit deiner Fürbitte. Wir haben dich immer verehrt. So viele Rosenkränze haben wir gebetet. Das kannst du uns nicht antun, du darfst den Kindern die Mutter nicht nehmen. Du hast ein Kind gehabt. Ich habe sechs. Ruf die Mutter zum Leben zurück! Gib mir ein Zeichen der Erhö­rung. Ich stehe nicht auf, bis du es mir gegeben hast!“

Und da geschah das Unglaubliche. Die Statue in der Grotte erhob ihr Haupt und senkte es zustimmend nieder. Wie immer es gewesen sein mag, noch Jahre danach konnte der nüchter­ne Mann jedenfalls darüber nur unter Tränen berichten.

Erst dann ging er ins Krankenzimmer, ergriff die schon starren Hände der Frau, schüttelte sie zum Entsetzen der Pflegerin und befahl: „Mama, wach auf!“ Alle Kinder standen herum und beobachteten erschüttert, was vor sich ging. Da öffnete die scheinbar oder wirklich Tote die Augen, schaute umher und hauchte: „Hunger!“ Der Ehemann holte eiligst eine Flasche lauwarmer Milch, schob der Frau mit Mühe den Strohhalm zwischen die schon erstarrten Lippen. Sie saugte, trank, trank die Flasche leer.

In diesem Augenblick betrat der Arzt das Haus. Als er hörte, was genau abgelaufen war, meinte er: „So etwas ist nur in Ih­rem Hause möglich!“ Und beide Männer, Arzt und Ehe­mann, sanken weinend vor der Gottesmutter in die Knie.

Antonie war damals drei Jahre jung. Ein sehr aufgeweck­tes, intelligentes Kind. Sie hatte alles verfolgt. Der Vorfall muss in der sensiblen Kinderseele einen tiefen, bleibenden Eindruck hinterlassen haben. Das scheinbare Ableben der Mutter, die Reaktion des Vaters, sein fast beispielloses Gott­vertrauen, die rätselhafte Genesung der Mutter blieben als Ur-, als Grunderlebnisse in ihrer Psyche zurück. Ein frühes Schlüsselerlebnis, das seinen Niederschlag im Leben des spä­teren Mädchens, dann der jungen und schließlich der reifen Frau finden sollte.

Das eher schüchterne Kind zeigte einen besonderen Hang zum Gebet. Mit dem Eintritt ins Schulalter verriet es ein auf­fälliges Organisationstalent. Der mühsame Alltag fing für alle Kinder damals mit dem langen Schulweg an, vorher der Be­such der hl. Messe. Antonie wurde bald Klassenbeste, sonnte sich jedoch nicht in dieser Stellung, sondern versuchte Schwä­cheren zu helfen, oft eine Gelegenheit, die ihr dazu diente, an­dere zum gemeinsamen Gebet des Rosenkranzes einzuladen.

In der vierten Klasse traf sie ein erstes persönliches Un­glück. In der Pause stürzte sie beim Spiel kopfüber aus dem ersten Stock und blieb bewusstlos liegen. Erst nach drei Ta­gen kehrte das Bewusstsein zurück. Der Vorfall bewirkte je­doch, dass das Kind innerlicher und stiller wurde.

Wenig spürbare Liebe erhielt Antonie von der eigenen Mut­ter, im Gegenteil, diese behandelte das Mädchen besonders hart, konnte ihr wohl nicht verzeihen, dass sie als Mädchen auf die Welt gekommen war und nicht als der erwünschte Junge. Als sie eines Tages einen Fleißzettel nach Hause brachte, bemerkte die Mutter missachtend: „Das ist nichts Beson­deres. Das bekommen andere auch.“ Viel Vertrauen ging da­durch bei dem enttäuschten Kind gegenüber der eigenen Mut­ter verloren. Instinktiv wandte es sich einer anderen zu, der Mutter des Herrn, und lud ihre Enttäuschungen bei ihr ab, teilte aber auch alle Freuden mit ihr.

Mit fünfzehn Jahren schickten die Eltern sie in eine Haus­haltsschule der Franziskanerinnen in Bonlanden. Dort wurde die Aufnahme in die Marianische Jungfrauenkongregation für das Mädchen zu einem einschneidenden Erlebnis, es war eine Lebensweihe an Maria: „Ich wurde innerlich von einer solchen Freude und Glückseligkeit erfüllt“, berichtete sie später, „nun Maria zur Mutter zu haben, dass ich den ganzen Tag vor lau­ter Freude weinte.“ Täglich ging sie zur hl. Kommunion.

Nach der Internatszeit kehrte sie ins Elternhaus zurück. Es war mitten im Ersten Weltkrieg, überall galt es zuzupacken, im Hause, im Geschäft, in der Metzgerei, selbst zum Einkauf von Vieh wurde sie herangezogen. Materielle Sorgen drohten Antonie zu vereinnahmen.

„Komm und diene mir!“

1918 schwiegen schließlich die Kanonen, die so viele Men­schenleben gefordert hatten. Niemand ahnte, dass sie nur noch größere Leiden eingeläutet hatten, die den ganzen Erdball überziehen sollten. Zunächst suchte die Spanische Grippe den ganzen Kontinent heim und raffte weitere Millionen Men­schen hinweg. Auch das Haus Rädler blieb davon nicht ver­schont. Antonie pflegte alle mit großer Hingabe, bis auch sie sich ansteckte. Aus dieser Zeit, es war Dezember 1919, be­richtete sie später von einem merkwürdigen Todeserlebnis.

Nach einer Operation an der Brust krampfte sich die Lun­ge zusammen. Das Gehör wurde schwach, das Augenlicht schwand. An einem Nachmittag hatte sie den Eindruck, der Tod betrete das Zimmer, nähere sich ihrem Bett und sage zu ihr: „Geh mit!“ Zwei Schwestern wachten an ihrer Seite und wischten ihr den Todesschweiß von der Stirn.

Spät nach Mitternacht sah sie plötzlich ihr ganzes Leben an sich vorbeiziehen, vom Erwachen der Vernunft in der Kindheit bis zu diesem Augenblick. Sie sah alles Gute, das sie hat tun dürfen, aber auch alle Sünden, jedes Fehlverhalten. Sie durfte das Leiden Christi sehen, den Schmerz für jeden einzelnen Menschen, für jedes Mitglied des ganzen Menschengeschlech­tes. Das bewegte sie zu einer solch tiefen Reue, dass sie bereit war, viele Male ihr Leben hinzugeben, um die Sünden der Welt zu sühnen. Als Trost erkannte sie aber auch alle Akte guten Willens, zu denen sie sich je durchgerungen hatte, und darü­ber empfand sie eine große Freude. Eine glühende Liebe er­fasste sie, ein brennendes Verlangen durchdrang ihre Seele, ganz Jesus zu gehören, ihre Seele ganz in ihn zu versenken. Das Glück über diese Liebe war wie ein Magnet, der sie ganz in das Herz Gottes hineinzog. Sie dachte nur noch daran, Ihn zu besitzen, und wollte nicht mehr in das Leben zurückkeh­ren. In der Frühe wachte sie auf, konnte plötzlich wieder se­hen und hören.

Aber das Leiden blieb. Eine Komplikation folgte der ande­ren: eitrige Hirnhautentzündung, Drüsenschwellungen, Was­sersucht, Lungenentzündung und Nierenblutungen. Die El­tern schleppten sie von einem Spezialisten zum anderen – bis nach Augsburg und München, opferten ein Vermögen. Erst versuchten zwei Ärzte im nahe gelegenen Bregenz ihr zu hel­fen, bis sie resignierten: „Es ist zu spät. Das Mädchen ist verlo­ren.“ Am Ende kam sie nach Wörishofen. Nach drei Monaten erklärte der behandelnde Arzt Dr. Schaller: „Hier ist die ärztli­che Kunst am Ende. Hier gibt es keine Rettung mehr. Ich gebe dem Mädchen im besten Fall noch ein paar Tage.“ Antonie bat die Eltern, sie heim zu nehmen, sie wolle zu Hause sterben. Der Körper war voll Wasser, die Nieren vereitert, Erstickungs­anfälle häuften sich, nur mühsam konnte sie kurze Atemzüge am offenen Fenster machen. Sie ertrug alles mit großer Ge­duld, als Sühne für die Sünden des eignen Lebens und anderer.

Da trat eines Tages eine überraschende Wende ein. Es war gegen Abend. Antonie wandte sich im Gebet an die Gottes­mutter, wohl ein letzter Versuch, eine klärende Antwort von oben zu bekommen: „Liebe himmlische Mutter! Wie freue ich mich, Jesus und dich bald sehen zu dürfen. Wenn du mich aber noch brauchen willst auf Erden, wenn ich hier noch et­was tun kann zu deiner Ehre, so stelle ich mich dir ganz zur Verfügung. Ich werde nicht heiraten. Mein Leben soll einzig Jesus und dir geweiht sein.“

Dieses Gebet verrät – zum Beispiel die Freude auf die bal­dige Anschauung Gottes – bereits mystische Reife. Auf der­selben Linie liegt ihr Angebot der totalen, exklusiven Hingabe an Jesus und seine Mutter. Und die Antwort blieb nicht aus. In der Nacht stand plötzlich die Gottesmutter vor ihr, legte ihr in überströmender Liebe die Hände aufs Haupt und sagte: „Nimm deine Zuflucht allein zu mir. Komm und diene mir!“ Eine wunderbare Kraft durchströmte den ganzen zermarter­ten Körper und heilte ihn. Antonie schlief ein. Es war der erste tiefe Schlaf nach Jahren. Am Morgen stand sie gesund auf und verlangte ihre Arbeitskleider. „Ich bin gesund“, sagte sie. „Gebt mir zu essen, ich habe einen riesigen Hunger.“ Und dann nahm sie ihre Arbeit auf, wie in früheren Jahren.

Die Geburtsstunde einer Gnaden- und Sühnestätte hatte geschlagen, noch von niemandem wahrgenommen, von niemandem erkannt. Es war das Jahr 1923. Der Same wurde in die Seele einer begnadeten jungen Frau gelegt, anders als an­derweitig. Gott wiederholt sich nicht. Die Früchte sollten es eines Tages ans Licht bringen.

Mystische Vermählung

Auf das Versprechen folgten Taten. Sie wollte ihr Wort ein­lösen und begann mit der Gründung einer Mädchenkongre­gation. Der zuständige Ortspfarrer von Wohmbrechts, Josef Basch, willigte gern ein, blieb jedoch skeptisch bezüglich des Erfolges. Er sollte sich geirrt haben.

Antonie begann Mädchen um sich zu sammeln, zunächst Mädchen aus Wangen und Umgebung, die in einem Haus­halt halfen. Ein halbes Dutzend konnte sie zunächst begeis­tern, bald waren es jedoch 70 bis 80. Sie hielt ihnen anregen­de Vorträge. Anfangs beobachtete der Pfarrer sie genau, kam dann zur Überzeugung, dass er sich auf die junge Frau ver­lassen konnte. Der Erfolg ermunterte diese wiederum, eine Kinderkongregation ins Leben zu rufen, eine Gruppe mit jün­geren (zwischen 6 und 13 Jahren) und eine zweite für ältere (13 bis 20 Jahre).

Bedenkt man, was sie alles anstoßen konnte, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Antonie schon in jenen Jahren eine große Ausstrahlung gehabt haben muss. Jeden Monat führte sie die Gruppen zur hl. Kommunion, betete vor der hl. Messe mit ihnen den Rosenkranz und erreichte, dass jeden Montag früh vor der hl. Messe eine Sühnestunde vor dem ausgesetzten Allerheiligsten gehalten wurde. An Sonnta­gen brachen die Gruppen oft zu Wallfahrten auf. Schließlich übertrug der Geistliche ihr sogar die Führung des Frauenbun­des, als die Vorsteherin erkrankte. Eine so rege Aktivität weck­te natürlich – wie immer – auch Neid und gehässigen Wider­spruch bei manchen Menschen in der Gemeinde. Das ist der Preis, den begnadete Seelen zahlen müssen.

In diese Zeit fällt ein mystisches Christuserlebnis, wie es in dieser Art aus dem Leben anderer Mystiker nicht unbekannt ist. In der Stadtpfarrkirche in Wangen nahm sie mit anderen an einem Hochamt teil. Während des Gloria, also am Anfang der hl. Messe, versank die Umwelt um sie herum. Was sie dann erlebte, darüber schwieg sie jahrzehntelang. Als sie es preisgab, hat sie versucht, es mit folgenden Worten wiederzugeben:

„Ich sah mich auf einem Weg vorwärts schreiten. Plötz­lich stand ein König vor mir in wunderbarem Licht und gro­ßer Majestät. Er legte mir die Hand auf das Haupt mit den Worten: ,Sei mein! Ich will dich mir vermählen‘ und küsste mich auf die Stirn. Erst dachte ich, ein irdischer König werbe um meine Hand. Plötzlich aber erkannte ich in ihm Jesus, den König der Könige. Tief beschämt versank ich im Abgrund des eigenen Nichts und konnte nur stammeln: ,Nein, das kann ich nicht. Ich bin doch ein Nichts, ein sündiges armes Ding, deiner unwürdig.‘

Da verwandelte sich die Erscheinung in den kreuztragen­den Heiland, der folgende Worte an mich richtete: ,Folge mir!‘ Ich antwortete: ,Auf den Weg des Kreuzes will ich Dir gern folgen, will die Last des Kreuzes Dir tragen helfen.‘ Da­nach trat Stille ein. Ich kam in ein fremdes Land und musste ganz niedrige Dienste leisten, Opfer bringen und Entsagung üben bis zur Erschöpfung. Keine Demütigung blieb mir er­spart. Dann trat abermals Stille ein. Danach kam Jesus mit dem Kreuz auf den Schultern auf mich zu. Wieder sagte ich ihm: ,Jetzt will ich Dir helfen und Dir folgen.‘ Jesus sah mich mit einem dankbaren Lächeln an.

Plötzlich stand der Heiland in unbeschreiblicher Schön­heit vor mir, küsste mich mit den Worten auf die Stirn: ,Sei mein und bleibe mein!‘ Dann führte er mich an seiner Seite in himmlische Regionen mit unzähligen mannshohen Lilien, wie ich sie auf Erden noch nie gesehen hatte. Eine unüberseh­bare Menschenmenge schloss sich uns an und sang in tausend Chören, von herrlicher Musik begleitet: ,Heil dem König und der Königin.‘ Wir nahten uns einem Schloss, dessen Tore sich uns öffneten. Der himmlische Vater winkte uns in überströ­mender Freude zu und hieß uns willkommen.

In diesem Augenblick kam ich wieder zu mir. Der amtie­rende Priester gab eben den Schlusssegen. Die hl. Messe war vorbei.“

An die Worte der Offenbarung des Johannes wird man bei diesem Bericht erinnert: „Wer siegt, dem werde ich geben, mit mir auf meinem Thron zu sitzen, wie auch ich gesiegt und mich zu meinem Vater auf seinen Thron gesetzt habe“ (Offb 3,21). In der Vision werden auch die Enttäuschungen, Demütigungen und Leiden angedeutet, die Antonie zu erwar­ten hatte. Vor allem aber erfüllte sie die junge Frau mit tiefer Freude. Sie nahm die mystische Vermählung sehr ernst, eine glühende Liebe erfasste sie, die jede irdische Beziehung in den Schatten stellte.

Zur Erinnerung an dieses Erlebnis trug sie zuerst einen Ring am Finger mit einem roten Stein, der an der Blutreliquie in Weingarten berührt worden war. Diesen Ring liebte An­tonie sehr, bis die Gottesmutter ihr eines Tages zu verstehen gab: „Leg den Ring weg. Es braucht niemand zu wissen, wem du vermählt bist!“ Daraufhin steckte Antonie den Ring der Gottesmutter in der Grotte im Schlafzimmer der Eltern an den Finger und hat ihn nie mehr getragen. Lange hat sie die­ses Geheimnis für sich behalten. Die Auswirkungen sprachen aber ihre eigene Sprache. In den Jahren und Prüfungen, die auf sie zukamen, zeigte sie eine ungewöhnliche Klarheit des Urteils, Sicherheit und Charakterstärke, Mut und Zuversicht.

Verlockende Angebote

Ihre Treue zu Jesus wurde auf eine harte Probe gestellt. Ver­lockende Heiratsanträge wurden ihr gemacht. Eine sehr reiche Dame aus Lindau zum Beispiel versuchte alles, sie für ihren Sohn zu gewinnen. Sie bot ihr eine herrliche Villa am Boden­see an, ein großes Vermögen und versprach, ihr alle Wünsche zu erfüllen, wenn sie nur den Sohn heiraten wollte. Ohne ei­nen Augenblick zu zögern, wies Antonie den Antrag lächelnd zurück. „Ich bin schon vergeben“, war ihre Antwort.

Für diese Haltung der Tochter konnte die eigene Mutter kein Verständnis aufbringen. Sie redete auf sie ein und dräng­te, so glänzende Anträge nicht einfach abzuweisen. Aber An­tonie hatte für alle Überredungskünste nur eine Antwort: „Mutter! Ich kann nicht, ich bin schon vermählt.“

Ein neuer Lebensabschnitt begann für Antonie im Jahre 1927. Er sollte sich fast zehn Jahre hinziehen und für die jun­ge Frau zu einem Kreuzweg werden. Der Vater beschloss, in Lindau eine Filiale seiner Metzgerei einzurichten, und über­trug die Leitung seiner Tochter. Das bedeutete auch, dass sie die Betreuung der jungen Frauen in der Gemeinde abgeben musste.

Dafür vertiefte sie ihr Gebets- und Innenleben. Jede Ge­schäftspause nutzte sie dazu, in der Stadtpfarrkirche in Lin­dau vor dem Tabernakel zu beten. Schließlich erfuhr sie, dass sich im nahe gelegenen Schloss Moos, etwa eine halbe Stunde Fußweg entfernt, über der Familiengruft eine neugotische Kapelle befand. Die Herren von Quadt hatten sie 1882 errichtet. Alle zwei Wochen wurde dort die hl. Messe gefeiert und das Allerheiligste aufbewahrt. Aber die Kapelle blieb die übrige Zeit geschlossen. Antonie erbat sich von der Gräfin, der Schloss­herrin, den Schlüssel, der es ihr ermöglichte, in den kleinen Erker hinaufzusteigen und dort allein zu wachen und zu beten. Erst war es eine halbe Stunde täglich, dann wurden Stunden daraus. In diesen Stunden fühlte sie sich gedrängt, die ver­schiedenen Rosenkränze zusammenzustellen, die später in den Sühnenächten in Wigratzbad viele Male gebetet wurden.

Aber damit nicht genug. Auf dem Wege nach Hause mach­te sie einen Abstecher in die Hauskapelle des Marienheims der Englischen Fräulein. Die verständnisvolle Hausoberin, Mater Maria, überließ Antonie die Schlüssel zur Kapelle, so dass sie jederzeit hinein konnte, ohne jemanden zu stören. In dieser ungeheizten Kapelle verbrachte sie weitere Stunden des Ge­betes, manchmal bis zwei, drei Uhr in der Nacht. Es waren Sühnestunden.

Für die eigentliche Nachtruhe blieben so oft nur drei bis vier Stunden. Dennoch war sie bei der Frühmesse in der Stadtpfarrkirche wieder dabei. Das ist ohne besondere Gna­de, ohne Beistand von oben kaum durchzuhalten. Um diese Gnade, nämlich die der Ausdauer, flehte sie zur Gottesmutter, sie betete für die Frauen und Mädchen, für deren Umkehr, erflehte für sie ein Leben im Sinne Marias.

Ihr vergeistigtes Leben begann auszustrahlen. Immer mehr Frauen fassten Vertrauen zu ihr und suchten mit ihren Sor­gen und Nöten bei ihr Zuflucht. Beim Stadtpfarrer, Prälat Kerler, erreichte sie, dass jeden Abend öffentlich der Rosen­kranz gebetet wurde. Sie selber führte die Frauen an Sonnta­gen betend hinauf zum Gnadenbild der Rosenkranzkönigin von Unterreitnau. Mehrfach unternahm sie den Versuch, in Lindau oder Umgebung eine Lourdesgrotte zu errichten. Der Vorschlag scheiterte am Widerspruch des Pfarrers.

In diesen Jahren lernte Antonie eine sich damals entfalten­de, ganz auf Maria ausgerichtete Bewegung kennen, bei Val­lendar am Rhein ins Leben gerufen von dem charismatischen Priester Josef Kentenich. Sechsmal suchte sie das Kapellchen in Schönstatt auf, um dort an achttägigen Exerzitien teilzu­nehmen. Beim letzten Mal hörte sie während der hl. Messe eine innere Stimme, die ihr sagte: „Von nun an will ich dir einen zweiten Schutzengel als besonderen Beistand und Schutz für das kommende Leben an die Seite stellen, den hl. Erzengel Michael. Rufe ihn oft an und verehre ihn sehr!“

Antonie vertraute sich mit diesem Erlebnis dem Leiter des Kurses an, Pater Michael Kolb, einem reifen Priester, und schloss mit der Bitte, ihr aus dem Städtchen Vallendar einen Strauß weißer Schwertlilien mitzubringen. Sie wollte diese der Gottesmutter schenken. Aber der Pater konnte nur rote auftreiben. Als er ihr die Blumen überreichte, meinte er lä­chelnd, ohne zu ahnen, wie prophetisch seine Worte waren: „Seien Sie künftig auf große Kämpfe in Ihrem Leben gefasst.“ Sie hat den Erzengel zeit ihres Lebens besonders verehrt und ihm am Weg zur großen Kirche ein Denkmal gestiftet. Schönstatt, inzwischen ein weltweit bekanntes Marienheiligtum, stand somit Pate für ein weiteres späteres Heiligtum — in Wi­gratzbad nämlich.

Beschlossener Mord

Einige Jahre vergingen scheinbar gleichförmig. Da gewann ein Mann namens Adolf Hitler in Deutschland immer mehr an Einfluss. In seinem Buch „Mein Kampf“ hatte er der Kirche den Kampf angesagt. Antonie bekam es bald zu spüren. Eines Tages betraten Parteileute den Metzgerladen, brachten ein Bild des Führers Adolf Hitler mit und verlangten, dass es im Verkaufsraum aufgehängt wird. Das Bild der Gottesmut­ter von Schönstatt sollte ihm weichen. Antonie weigerte sich. „Für Ihr Bild ist in diesem Raum, wie Sie selber sehen, kein Platz mehr. Das Bild der Mutter des Allerhöchsten, das Sie dort sehen, hängt schon seit Jahren dort. Ich werde es unter keinen Umständen entfernen.“

Wusste sie, wen sie da herausgefordert hatte, oder handelte sie auf höheren Impuls? Hitler hatte in seinem Buch keinen Zweifel darüber gelassen, wie er mit dem Christentum umzu­gehen gedachte. Am 30. Januar 1933 erlangte er schließlich die Macht, aus der nach dem Tode des Reichspräsidenten Hin­denburg die absolute wurde. In den ersten Ausgaben seiner Kampfschrift hieß es: „Eine Weltanschauung kann mit einer anderen keinen Kompromiss schließen, denn sie ist totalitär. Mit dem Christentum ist ein infernaler Terror in die Welt ge­kommen, der nur überwunden werden kann durch einen Ter­ror, der noch infernaler ist.“ Die Worte ließen keinen Zwei­fel daran, dass Hitler die totale Vernichtung der Kirche, des Christentums zum Ziele hatte.

Für Antonie muss es ein Schock gewesen sein, wie sich die von ihr gegründeten marianischen Gruppen im Jahre 1932 sang- und klanglos auflösten. Nach einem Auftritt des natio­nalsozialistischen Gruppenleiters liefen Frauen und Mädchen zu den Nazis über und traten dem Bund deutscher Mädchen (BdM) und der Frauenschaft bei. Sie wollten in der modernen, neuen Zeit den anderen Frauen nicht nachstehen.

Das hätte Antonie wankend machen müssen. Lohnt sich der Einsatz überhaupt, bleibt man am Ende nicht allein auf weiter Flur, der Lächerlichkeit preisgegeben? Sie musste das Schicksal aller Charismatiker teilen, deren Berufung oft in tiefster Vereinsamung auf den Prüfstand kommt.

Die Weigerung, das Bild des Führers in ihrem Verkaufs­raum aufzuhängen, der sich mit „Heil“-Rufen als neuer Hei­land feiern ließ, musste den Zorn seiner blinden Anhänger he­rausfordern. Sie beschlossen, Antonie Rädler umzubringen.

Man wusste um ihre Gebetsstunden in der Nacht. Ein Be­weis, wie sehr sie bereits bespitzelt worden war und dass es hässliche Zuträger gegeben haben muss. Darin witterten sie ei­ne Gelegenheit, mit ihr abzurechnen. In einem kleinen Wäld­chen gegenüber dem Marienheim lauerten sie ihr auf. Als An­tonie gegen 3 Uhr herauskam, versuchten drei Männer sich auf sie zu stürzen. Da geschah das fast Unglaubliche. Mitten in der Nacht tauchte ein junger Radfahrer im Alter von etwa 20 Jah­ren auf, blendete die Männer mit starkem Licht, umkreiste Antonie in großem Bogen und begleitete sie nach Hause. Die drei Männer waren nicht in der Lage, sich ihr zu nähern.

Antonie wurde jetzt klar, in welcher Gefahr sie schwebte. Aus natürlicher Angst überlegte sie, ob sie die nächtliche An­betung nicht aufgeben sollte. Da glaubte sie, so erzählte sie später, eine Stimme zu hören, die ihr befahl: „Leiste Sühne! Du darfst nicht nachgeben! Du stehst unter dem Schutze Gottes!“ Sie pflegte immer sieben Vaterunser zu Ehren der fünf Wun­den Jesu zu beten. Das gab ihr Kraft. Entgegen ihrer inneren Angst und der offensichtlichen Gefahr suchte sie am nächsten Tag wieder das Marienheim auf, verließ allerdings eine halbe Stunde früher die Kapelle. Kaum hatte sie die Parktüre hin­ter sich geschlossen, sprangen wieder drei Männer auf sie zu. Die Gesichter hatten sie mit einer Zipfelmütze halb verhüllt, wie man es von kriminellen Überfällen her kennt. Da tauch­te der geheimnisvolle Radfahrer wieder auf und blendete die Männer, dann begleitete er Antonie nach Hause.

Aus heutiger Sicht muss man vermerken, dass Fahrradlam­pen damals nur ein ganz schwaches Licht hatten, das kaum die nächsten Meter erhellen konnte. Antonie glaubte, dass dieser Radfahrer ihr Schutzengel gewesen sein muss. Und wieder fällt auf, dass eine geheimnisvolle Stimme, als sie ver­zagen wollte, ihr zuflüsterte: „Leiste Sühne!“ Der Gedanke der Sühne zieht sich wie ein roter Faden durch ihr Leben, von der frühen Kindheit an.

Einen dritten Versuch unternahmen ihre fanatisierten Geg­ner. Diesmal warteten sie vor ihrem Hause. Zu ihrer Wohnung führte ein Korridor, der auf der anderen Seite in eine Wasch­küche führte und zum See hin endete. Als sie vor dem Hause stand, sprangen zwei verhüllte Männer wieder auf sie zu; sie hatten einen Sack bei sich, den sie offenbar über sie stülpen wollten. Antonie erschrak zu Tode und streckte instinktiv ab­wehrend die Hände aus. Da stolperten diese, fielen zu Boden und konnten nicht sofort aufstehen. Inzwischen gelang es der bedrohten jungen Frau, die Treppen hinaufzuspringen und hinter sich die Türe zu schließen und zu verriegeln.

In ihrem Zimmer schlief eine Verkäuferin. Sie war entsetzt über das Aussehen ihrer Chefin. „Ich bin krank vor Angst“, stammelte diese, „habe Furchtbares erlebt, aber der Herrgott hat mir geholfen.“

Als sie am nächsten Tag von der Frühmesse heimkam, war­tete überraschenderweise ein Bote auf sie. Er überreichte ihr einen Brief vom Vater mit der dringenden Bitte: „Komme so­fort heim, sofort. Ich werde dir ein Auto entgegenschicken. Warte so lange.“ Kurz vor 7 Uhr stand der Wagen schon vor der Türe. Die Filiale wurde umgehend geschlossen, bis zum Mittag alles zusammengeräumt und heimgefahren.

Was war passiert? Die Familie hatte in diesen Zeiten doch noch gute Freunde. Einer von ihnen war ein gewisser Ministerialrat Rauch bei der Regierung in München. Der schick­te in der Nacht mit dem Schnellzug über einen Boten einen Brief mit der dringenden Warnung: „Nimm deine Tochter so­fort von der Filiale in Lindau weg, sonst wird sie ihres Lebens nicht mehr sicher sein!“ Er hatte aus sicherer Quelle erfahren, dass Antonies Tod beschlossene Sache sei. SS-Leute sollten sie über Nacht überfallen, in den See werfen und anschlie­ßend das Gerücht ausstreuen, sie habe in religiösem Wahn Selbstmord begangen.

Es ist schwer nachzuvollziehen, wie ein übermächtiger Staat sich von einer jungen wehrlosen Frau, Mitte dreißig, so he­rausgefordert sehen kann, dass er sie über Mord aus dem Wege schaffen will. Hier stand mehr dahinter: Die spirituelle Aus­strahlung Antonies war zum Ärgernis geworden für Macht­haber, die ein neues, ein tausendjähriges Reich nach eigenen Vorstellungen, ohne Gott, ohne Jenseitsbezug ins Leben rufen wollten. Sie spürten, dass hinter Antonie eine Welt stand, die ihnen im Wege war und der sie den Kampf angesagt hatten. Es verrät etwas von der hemmungslosen Wut der Hölle im­mer dann, wenn Maria in die Geschichte der Menschen ein­zugreifen beginnt.

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Quelle: Eigener Scan aus meinem persönlichen Exemplar des im Titel genannten (neu nicht mehr erhältlichen) Buches

Siehe auch:

Aus: Alfons Sarrach: SIEG DER SÜHNE – Wigratzbad: Marias Botschaft an den Menschen

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Kapitel III

Die Grotte – Maria vom Sieg

 

„Beginne mit dem Bau!”

Der Rückzug ins Elternhaus veränderte Antonies Leben nur äußerlich. Der Vater übertrug ihr im Hause und im Ge­schäft, was sie zu leisten vermochte. Das und die Erinnerung an den fluchtartigen Rückzug aus Lindau konnten in ihr nicht eine tiefe Sehnsucht nach Einsamkeit und Gebet auslöschen. Eines Tages trat sie an ihren Vater heran und machte ihm fol­genden Vorschlag:

„Vater, ich muss einen einsamen Ort haben, wo ich unge­stört beten kann. Der Weg in die Pfarrkirche ist zu weit. Du weißt um die Notwendigkeit des Gebetes gerade jetzt. Erlau­be mir, auf unserem Grund eine Lourdesgrotte zu bauen! Es soll unser Dank sein für meine wunderbare Rettung. Ich bin überzeugt, dass jener geheimnisvolle Radfahrer in der Nacht in Lindau mein Schutzengel war.“

Der Vater stimmte zu, aber die Familie äußerte Bedenken. Sie befürchtete, dass Antonie mit diesem Bau erneut ihre Geg­ner auf sich aufmerksam machen würde und ihr Leben da­mit wieder in Gefahr geriete.

Antonie überlegte und wartete einen Monat ab. Das zeigt, dass sie in keiner Weise unbedacht war und einfach sponta­nen Neigungen folgte. Sie vertraute sich ihrem seinerzeitigen Seelenführer an. Es war Georg Weiß (1901-1977), der damali­ge Pfarrverweser von Ratzenried, ein sehr vergeistigter, ganz marianischer Priester. Und es ist bemerkenswert, wie er da­rauf einging. Er unternahm seinerseits eine Wallfahrt nach Altötting, betete, fastete, rutschte auf den Knien, das Buß­kreuz auf den Schultern, um die Gnadenkapelle, bis er über den Vorschlag volle innere Klarheit und Sicherheit gewonnen hatte. Die Antwort, die er für Antonie mitbrachte, als er wie­der daheim war, zeigt ein für Wigratzbad bezeichnendes Phä­nomen. Er sagte zu ihr: „Beginne sofort mit dem Bau, oder ich ziehe mich von deiner Leitung zurück!“ Das war beinahe wie ein Befehl. Es zeigt aber auch, dass der Himmel in Wi­gratzbad keine einsame Einzelgängerin auf einen dornenrei­chen Weg berufen hat. Mehrere Menschen erhielten beinahe unerklärliche Anstöße, ihr zu helfen oder ihr beratend zur Seite zu stehen. Antonie war zwar der menschliche Brenn­punkt, aber daneben tauchten immer wieder Personen auf, denen bei der Entstehung eines noch „fiktiven“ Gnadenortes eine ergänzende Rolle zugefallen war.

Die Antwort, die ihr Georg Weiß gab, muss sie sehr glück­lich gemacht haben. Der Geistliche hat übrigens das Aufblü­hen der Gnadenstätte noch miterlebt. Der Bau wurde sofort in Angriff genommen. Nun aber kamen neue Probleme auf, die es zu lösen galt.

Antonies leiblicher Bruder Martin begann die nötigen Stei­ne aus dem nahe gelegenen Fluss, der Laiblach, zu heben und auf den Bauplatz zu karren. Da ließ ein gewaltiges Unwetter den Fluss anschwellen; er trat über die Ufer, vernichtete die Ernte und riss eine eiserne Brücke hinweg, über den die Stei­ne transportiert wurden.

Dann kam ein weiteres Unglück hinzu. Die sechs Metz­gergehilfen und Stallknechte des Hauses, die ab und zu bei den Bauarbeiten mitgeholfen hatten, streikten. Für eine sol­che Arbeit seien sie nicht angestellt worden. Der Bau einer Grotte sei nicht ihre Sache. Sie verließen am gleichen Tag das Haus, ohne die Kündigungsfrist abzuwarten. Die Familie stand mit der ganzen Arbeit allein da.

Das wahre Motiv der Streikenden war jedoch ein anderes. Es überrascht, wie schnell der eigentlich erst geplante Bau der Grotte bereits Antonies Gegner auf den Plan gerufen hatte. Sie streuten in der ganzen Umgebung ein niederträchtiges Gerücht, das eigentlich ihr moralisches Ende hätte sein können. Sie habe – so hieß es – in Lindau von drei Herren 50 000 Mark für den Bau einer Kapelle bekommen. Das Geld habe sie je­doch vertan oder ins Geschäft gesteckt. Mit dem Bau einer Grotte wolle sie nur ihr Gewissen beruhigen. Außerdem hätte sie sündigen Umgang gehabt – in der Sprache von heute wür­de es heißen, sie hätte sexuelle Beziehungen gehabt, die nicht ohne Folgen geblieben seien. Um das Kind abtreiben zu lassen, sei sie zum Schein auf eine Wallfahrt ins Ausland gegangen. Nun erkühne sie sich, hier ein Heiligtum der Unbefleckten Empfängnis zu errichten.

Zu allem Leid kam hinzu, dass ihr Bruder Martin sich im kühlen Wasser erkältet hatte. Der Arzt stellte eine galoppieren­de Kehlkopfschwindsucht fest. Der Hals schwoll an, er konn­te kein Wort mehr reden, nur etwas Flüssigkeit zu sich neh­men, auch das Augenlicht erlosch. Der Arzt meinte, innerhalb von zwei Wochen könnte der Tod eintreten. Martins Frau er­wartete ihr erstes Kind. Die Trauer im ganzen Hause war groß und Antonie musste als Blitzableiter herhalten. Eigensinnig habe sie den Bau der Grotte erzwingen wollen.

Was lag für Antonie näher, als sich in dieser Situation an je­ne Mutter zu wenden, die ihr vor einem Jahrzehnt gesagt hatte: „Komm und diene mir!“, zu der sie ein so inniges Verhältnis besaß. Im Garten betete sie vor einem Bild der Unbefleckten eine Nacht hindurch auf Kieselsteinen kniend, bis die Knie bluteten. „Ich wollte ja nur deine Ehre fördern“, flehte sie, „ich wollte helfen, Sünder zu bekehren, das Vaterland zu retten.“

Es soll schon 4 Uhr in der Frühe gewesen sein, als sie das Haus wieder betrat. Leise klopfte sie an die Tür des kranken Bruders. Die Schwägerin machte auf und erzählte, Martin hätte sie vor einer halben Stunde gerufen, was er vorher gar nicht konnte. Eine Stunde später verlangte er zu essen und zu trinken. Die Geschwulst hatte sich zurückgebildet. Gegen 7 Uhr war auch das Fieber weg.

„Siehst du, was die Mutter Gottes kann“, meinte Antonie lächelnd zu ihrem Bruder. „Du hast recht“, antwortete dieser. „Wenn ich wieder gesund bin, hole ich noch die letzten Stei­ne aus der Laiblach heraus. Ich fürchte mich nicht.“ Als der Arzt, Dr. Frewitz, aus Bregenz kam, zeigte er sich überrascht und machte dann eine Bemerkung, die in diesen Mauern nicht das erste Mal fallen sollte: „Das ist ein wirkliches Wunder! Das ist nur in diesem Hause möglich.“ Es war der unerschüt­terliche Glaube einer jungen Frau, der das alles bewirkte.

Das Standbild

Das Material zum Bau kam zusammen, und der Steinmetz­meister Thronsberg von Wangen begann mit dem Aufbau. Was noch fehlte, war das entsprechende Standbild der Unbe­fleckten Empfängnis von Lourdes. Die Entdeckung dieses Bil­des für Wigratzbad zeigt das Ineinandergreifen verschiede­ner Lebensschicksale, die auf ein Ziel ausgerichtet waren: die Entstehung einer großen Gebetsstätte.

Am 31. Mai 1936 erhielt Antonie in einer inneren Erfah­rung in der hl. Messe, während der Wandlung, und zwar in der kurzen Pause zwischen den Erhebungen der Hostie und des Kelches, einen Hinweis. Sie hörte die Worte: „1,50 Meter. Hole mich!“ Sie konnte damit zunächst nichts anfangen, gab aber dem Steinmetz den Auftrag, eine entsprechende Nische vorzubereiten.

Eine Woche später schickte der Vater sie in einer geschäft­lichen Angelegenheit mit dem Fahrrad nach Wasserburg. Es war ein unfreundlicher, regnerischer Tag, sie wäre lieber daheim geblieben, aber der Vater drängte. In Wasserburg traf sie die gesuchten Leute nicht an und machte sich auf den Heim­weg. Sie hatte den Ort jedoch noch nicht ganz verlassen, da war ihr, als zupfe sie jemand am Mantel und sage ihr: „Steig ab. Hier hole mich!“

Sie stieg ab und schaute sich um. Es war niemand zu sehen, außer einem Mann, der in einem Wiesengraben arbeitete. Deshalb wollte sie weiterfahren, aber das Fahrrad bremste und war nicht in Gang zu bringen. Da erinnerte sie sich an ihre Zeit in Lindau, als sie dort an den Bau einer Grotte dachte, was ihr eine Frau erzählt hatte. Verwandte in Wasserburg wür­den eine große Statue im Hause haben, die für eine Lourdes­grotte bestimmt sei. Das Standbild würde jedes Jahr bei der Fronleichnamsprozession vor das Haus gestellt werden.

So fragte sie den Mann im Graben, ob hier irgendwo eine große Statue der Madonna stehe. Der Angesprochene konn­te ihr das Haus sofort zeigen. Die Familie hieß Hagen. Man nahm sie freundlich auf und sie konnte ihr Anliegen vorbrin­gen. Als man die Tür zur Kammer öffnete, in der die Statue stand, durchfuhr Antonie ein Schauer. Es war genau das Stand­bild, das ihr während der hl. Messe gezeigt worden war: 1,50 Meter groß! Dann erfuhr sie aus dem Munde des Sohnes die Geschichte der Statue.

Der Vater sei ein sehr frommer Mann gewesen. Mehrfach hätte er Lourdes besucht. Nach der letzten Pilgerreise erzähl­te er daheim, er habe auf geheimnisvolle Weise den Auftrag erhalten, in seiner Heimat eine Marienstätte zu errichten. Der Plan wurde ausgearbeitet. Die Grotte sollte in Naturgröße auf­gebaut werden. Gleichzeitig verfasste er eine Broschüre, 188 Seiten, in der er von zwei seiner Wallfahrten nach Lourdes berichtete und die Vorzüge der Andacht zur Unbefleckten Empfängnis schilderte. Ein Gebets- und Liederteil wurde beigefügt. Der Erlös der Schrift sollte den Bau finanzieren. Hin­zu kam eine Spende von 20 000 Mark von einem protestan­tischen Christen.

300 Fuhren Steine waren schon beisammen, die Behörden hatten bereits die Baugenehmigung erteilt. Da widersetzte sich der damalige Pfarrer von Wasserburg dem Vorhaben, erhob bei den Behörden Einspruch und erreichte, dass die Geneh­migung zurückgezogen wurde. Der vorgesehene Platz wurde später für ein Strandbad verwendet. Vater Hagen starb bald darauf an einem Herzschlag, wahrscheinlich aus Kummer über den gescheiterten Plan.

Vor seinem Tode hatte der Mann bei einem italienischen Künstler eine Marmorstatue der Unbefleckten Empfängnis in Auftrag gegeben. Dieser fertigte aber zunächst ein Modell an, und dieses hat die Familie Hagen als Andenken aufbewahrt und verehrt.

Als Antonie ihre Bitte vortrug, das Standbild zu erwerben, stieß sie auf entschiedenen Widerstand der Familie. Sechs­mal fuhr sie hin, sechsmal unternahm sie den Versuch, die Fa­milie umzustimmen, bot ihr sogar einen kostbaren Brillant­schmuck an. Vergeblich. Daraufhin vertraute sie alles der Got­tesmutter an: „Nun übergebe ich dir die Sache. Wenn du willst, dass diese Statue nach Wigratzbad kommt und hier verehrt wird, dann sorge nun du dafür! Ich habe getan, was in mei­nen Kräften lag.“

Einweihung

Trotz der enttäuschenden Absagen überkam sie plötzlich ein gewaltiges Vertrauen. Sie unternahm etwas, was die Fa­milie als Wahnsinn bezeichnete. Sie ging am Sonntag zum Pfarrer von Wohmbrechts und bat ihn, von der Kanzel zu ver­künden, dass am nächsten Sonntag, am Rosenkranzfest, die Grotte eingeweiht werde. „Entwerfen Sie bitte ein Programm für die Feier!“ bat sie ihn. Und der stimmte seltsamerweise zu. Nicht nur das. Er zeigte sich begeistert: „Das muss feierlich gemacht werden. Ich lade die ganze Gemeinde ein. Die Kom­munionkinder erscheinen in weißen Kleidern. Der Kirchen­chor wird singen. Ich freue mich selbst darauf.“

Im Hauptgottesdienst am Sonntag wurde die Weihe an­gekündigt. Antonies Mutter und die Schwägerin, die in der Kirche anwesend waren, trauten ihren Ohren nicht. Daheim überschütteten sie die Tochter mit heftigsten Vorwürfen: „Du lässt die Weihe verkünden und hast noch keine Statue für die Grotte. Man sagt immer, du spinnst. Nun glauben wir es bald selber.“ Sie sollten schon am nächsten Tag eines Besseren be­lehrt werden.

Am Montagmorgen half Antonie beim Einkochen von Äp­feln. Da klingelte das Telefon und die Schwägerin nahm ab. Sie traute ihren Ohren kaum. Angerufen hatte Frau Hagen, die Besitzerin jenes Standbildes, das Antonie so dringend erbeten hatte: „Holt die Statue sofort ab. Mein verstorbener Mann lässt mir keine Ruhe mehr. Ich kann nicht mehr schlafen. Tag und Nacht drängt er mich ohne Unterlass, ich soll die Statue her­geben. Ich habe genug. Holt sie ab und zwar sofort!“

Noch am gleichen Nachmittag holte Antonie die Mariensta­tue ab. Der Frau übergab sie einen kostbaren Brillantschmuck. Er war dem Vater einmal als Pfand für eine Geldanleihe hin­terlegt und nie eingelöst worden. Er hatte ihn Antonie zum Geschenk gemacht. Jetzt gab sie ihn weiter. Die Madonna war ihr unendlich viel mehr wert.

Daheim wurde das Standbild der Gottesmutter in ein Meer von Blumen gestellt und bis zum Sonntag von der ganzen Fa­milie verehrt. Mit ausgebreiteten Armen haben alle den Ro­senkranz gebetet.

In feierlicher Prozession wurde die Statue am Rosenkranz­sonntag 1936 aus dem Hause der Familie zur Grotte hinaufge­tragen. Den Gesang gestaltete der Kirchenchor von Primiswei­ler, die Festpredigt hielt Pfarrer Bernhard von Maria Thann, die Weihe vollzog Ortspfarrer Basch, und eine große Schar von Menschen war dabei, wie sie Wigratzbad noch nie gesehen hatte. Diese festliche Umrahmung für die Weihe einer Grotte auf privatem Boden muss erstaunen. Hier kündigte sich be­reits Größeres an. Eine Gebetsstätte, die einmal über den gan­zen deutschsprachigen Raum und darüber hinaus über Eu­ropa ausstrahlen sollte, zeichnete sich am Horizont ab.

Es galt nun, sie mit Leben zu füllen. Antonie nahm vor der Statue ihre nächtlichen Anbetungsstunden wieder auf. Wäh­rend eine ganze Nation im politischen Rausch versank – wo­für die Olympiade in Berlin ein Beispiel bot – gelobten eini­ge Mädchen, täglich an dieser Grotte den Rosenkranz zu be­ten. Jeden Samstagabend kam die Gruppe zusammen, oft die Nacht hindurch, bis es Zeit wurde, zur Frühmesse nach Wan­gen zu wandern. Man wollte vor allem die Arbeit der Pries­ter in dieser schweren Zeit unterstützen. Man betete auch in der Hoffnung, dass hier einmal die hl. Messe gefeiert und das Allerheiligste verehrt werde.

Und das Ganze blieb nicht nur Frauensache. Am Sonntag­abend fanden sich Männer ein, um die Nacht hindurch zu be­ten. Unter ihnen war der Landwirt Krug aus Kisslegg, dessen Tochter Maria sich nach dem Zweiten Weltkrieg Antonie an­schloss und in ihre Dienste trat. 25 Jahre hat sie entscheidend am Aufbau der Stätte mitgewirkt.

Erzbischof Josef Stimpfle sagte einmal gegenüber dem Ver­fasser, für ihn sei Wigratzbad ein Beispiel dafür, was das Gebet und das Opfer einiger weniger bewirken könne, wenn dahin­ter der Geist totaler Hingabe an die Sache stehe. Die Entwick­lung um die Grotte ist tatsächlich eine Bestätigung dafür. Immer häufiger erzählten Leute, dass ihre Gebete erhört wurden, andere sprachen von außerordentlichen Gnaden, die sie empfangen hätten. Das machte im Volke die Runde. Im­mer mehr Leute kamen, um vor der Grotte ihr Herz auszu­schütten, erst aus der näheren Umgebung, dann aber auch aus der weiteren. Sehr bald zeigte sich, dass man ein bescheide­nes Dach über der Stätte errichten musste, um die Pilger – das waren sie bereits – vor der Witterung zu schützen.

Es ist wie bei einem Arzt, der ein besonderes Charisma hat, Menschen zu heilen. Das spricht sich wie ein Lauffeuer hrum, auch heute noch. In Wigratzbad war eine geheimnis­volle Kraft am Werke, weit mehr als ein Arzt. Das sollte bald eine weitere Bestätigung finden.

Engelchöre

Es war ein paar Tage nach dem Fest Mariä Empfängnis. Um die Mittagszeit drängte es Antonie zur Grotte und einen schmerzhaften Rosenkranz zu beten. Beim dritten Geheim­nis, „der für uns mit Dornen gekrönt worden ist“, hörte sie auf einmal ein Rauschen, das immer stärker wurde. Es hörte sich an, als käme es von unzähligen Flügelschlägen. Die jun ge Frau schaute zum Standbild, sah aber nichts. Dann hob ein Gesang an, der immer mächtiger wurde und schließlich gewaltig und wuchtig wurde, als würden unzählige himmli­sche Heerscharen um die Grotte versammelt in wundervol­len Akkorden zusammenstimmen. Sie sangen alle: „Unbefleckt empfangene Mutter vom Sieg, bitte für uns!“ Um die fünfzig Mal hörte Antonie die Worte und begann schließlich unwill­kürlich mitzusingen. Wieder schaute sie auf die Statue, aber es hatte sich nichts verändert. Allerdings hatte sie den Ein­druck, als würde Maria lächeln. Dann hob das Singen wieder an, wurde aber allmählich schwächer und verstummte schließ­lich. Antonie kniete auf ihrem Betschemel und wusste nicht, wie ihr war. Sie war wie gebannt. Plötzlich fiel ihr ein, dass man daheim wohl auf sie wartete.

Tatsächlich empfing die Mutter sie mit bitteren Vorwürfen. „Ich war in der Grotte“, antwortete die Tochter, „dort habe ich ein Erlebnis gehabt. Ich war wie gebannt, ich konnte nicht weg.“ Aber wie so oft stieß die Tochter damit bei ihrer eigenen Mutter auf kein Verständnis. „Immer hast du so eigenartige Sachen im Kopf. Du meinst, du wärest etwas Besonderes. Du bist ein dummes Mädchen, hast Grillen im Kopf, sonst nichts.“ Immerhin hatte die Mutter schon einiges mit ihr erlebt, was sie hätte nachdenklich machen müssen. Aber warum soll es Mystikern anders ergehen als ihrem Meister, der in Nazareth lange von Verwandten verkannt und abgelehnt wurde. Anto­nie schwieg, das Beste, was sie tun konnte, ging früh zu Bett, aber ihr Herz zersprang fast vor Freude.

Es ist nicht zu übersehen, dass Antonie bei ihren entschei­denden Erlebnissen instinktiv den Rat mystisch erfahrener Priester gesucht hat. So war es auch in diesem Fall. Ein paar Wochen nach ihrem Erlebnis in der Grotte erfuhr sie von ei­nem sehr vergeistigten Priester. Es war Pfarrer Norbert Feiel, der damals die Gemeinde Eglofs betreute, drei Wegstunden von Wigratzbad entfernt. Er war selber ein von den Nazis Ver­folgter. Eine Zeitlang verbrachte er im Gefängnis, weil er die Gemeinde aufgefordert hatte, nicht mit „Heil Hitler“, sondern weiterhin mit „Grüß Gott“ und „Gelobt sei Jesus Christus“ zu grüßen. Ein ehemaliger Mitarbeiter, B. Dobler, schilderte ihn später als einen Mann mit großem Wissen, als einen unge­wöhnlichen Pädagogen und Menschenkenner. Die hl. Messe hat er stets in tiefer Ergriffenheit gefeiert und eine besonde­re Verehrung für die kleine Theresia von Lisieux gehabt, die, so wird vermutet, ihm auch erschienen sein soll.

Bei diesem nüchternen, aber doch sehr gläubigen Priester suchte Antonie Rat und ein Urteil über ihre innere Erfahrung. Sie sollte nicht enttäuscht werden.

„Ein Teufelsspuk ist es sicher nicht gewesen“, meinte er im Sinne theologischer Logik, „denn dieser wird sich nie mit einer solchen Formulierung anfreunden: Unbefleckt empfangene Mutter vom Sieg. Was Sie erlebten, war eine gottgewollte Be­gegnung. Gott hat sie mit der Gnade verbunden, Engelchöre zu senden, die der gottfernen, sinkenden Welt andeuten, Maria wolle hier als Siegerin über Welt und Teufel thronen, Siege­rin heißen und sein und als solche große Gnaden in und um dieses Heiligtum verknüpfen und den Menschen schenken. Schon im Uranfang, an der Wiege des Menschengeschlechtes, hat der Schöpfer Maria als Siegerin verheißen, die der hölli­schen Schlange den Kopf zertreten werde. Maria will also, um es Ihnen kurz zu sagen, an diesem Ort genannt werden, wie Sie es gehört haben: ,Unbefleckt empfangene Mutter vom Sieg‘.“

Im Anschluss machte er einen Vorschlag, der beinahe ver­messen hätte erscheinen können, der aber aus dem Leben großer, heiligmäßiger Persönlichkeiten nicht unbekannt ist. Damit sie ganz sicher gehe, solle sie die Gottesmutter in die­sem jungen Heiligtum bitten, binnen acht Tagen drei große Gebetserhörungen zu gewähren. Er wolle das als Zeichen von ihr. Sollte es eintreten, möge sie ihm berichten. Wenn sich nichts ereigne, brauchte sie gar nicht erst zu kommen.

Und was geschah? Daheim steuerte sie gleich auf die Grot­te zu. Sie wollte den Auftrag des Priesters an die Gottesmutter sofort weitergeben. Vor der Grotte traf sie auf den ehemaligen Bürgermeister von Wangen, Geray, und seine Frau. Tränen­überströmt erzählten sie, ihr einziger Sohn sei von der Ge­heimen Staatspolizei abgeholt worden. Seit Wochen hätten sie nichts von ihm gehört. Sie wüssten nicht, ob er überhaupt noch lebe oder wo er gefangen gehalten werde. Antonie trös­tete und forderte sie auf, mit ihr den Psalter, also drei Rosen­kränze zu beten. Nach jedem Zehner fügten sie hinzu „Unbe­fleckt empfangene Mutter vom Sieg, bitte für uns!“

Schon am nächsten Tag fand sich das Paar wieder ein. Das Gebet war umgehend erhört worden. Am Abend sei der Sohn heimgekommen. Er war in einem Stall eingesperrt gewesen und plötzlich freigelassen worden. Man könne nicht genug danken, beteuerten sie.

Antonie erbat eine schriftliche Erklärung über den Vor­gang, die ihr auch gegeben wurde. Außerdem brachte das Paar eine Reliquie mit und hing sie in der Grotte als Votivgeschenk mit der Inschrift auf: „Unser Dank an die Mutter Gottes, weil sie uns so schnell und wunderbar erhört hat!“ Bei dieser Er­hörung sollte es nicht bleiben.

Schon am anderen Tag kam eine Frau Stadelmann von Scheidegg mit zwei Nachbarinnen zu Antonie. Sie waren auf dem Heimweg vom Krankenhaus Hoyren in Lindau. Dort lag ihr Mann im Sterben, Leberkrebs im letzten Stadium. Zwei Ärzte und die Krankenschwester hatten die Ehefrau kom­men lassen, um ihr mitzuteilen, dass der Mann den nächsten Tag wahrscheinlich nicht überleben werde. Die Schmerzen seien unerträglich. Weinend baten die Frauen, Antonie mö­ge doch für ihn beten: „Wir hätten den Vater noch so bitter notwendig.“

„Bei Gott ist nichts unmöglich“, antwortete Antonie und forderte die Frauen ebenfalls auf, sofort mit ihr drei Rosenkränze zu beten, mit dem Einschub „Unbefleckt empfangene Mutter vom Sieg, bitte für uns!“ Noch am gleichen Abend er­reichte Antonie ein Anruf, aus Hoyren sei eine Nachricht ge­kommen, dem Mann würde es besser gehen. Zu der Zeit, da in Wigratzbad gebetet wurde, seien Fieber und Schmerz gewi­chen. Er habe sich erholt und wenn die Besserung anhalte, könnte er am nächsten Tag entlassen werden. Das geschah auch. Zur Überwachung begleitete ihn eine Krankenschwester.

Auch in diesem Fall erbat Antonie eine schriftliche Erklä­rung und legte sie zu den Akten.

Noch in der gleichen Woche rief eine verzweifelte Frau aus Opfenbach an. Die Mutter, eine Frau Milz, liege im Sterben. Sie bat dringend, Antonie möge ihr doch Wasser aus der Si­ckerquelle in Wigratzbad bringen. Sie wolle sofort aufbrechen und Antonie entgegenkommen. Auf halbem Wege trafen sie zusammen. Mit der Flasche eilte die Tochter an das Sterbe­bett der Mutter und reichte ihr das Wasser. Die Kranke trank sie ganz leer. Daraufhin erholte sie sich zusehends und konn­te am nächsten Tag aufstehen. Alle sprachen von einem Wun­der. Das war nun Fall drei.

Bald danach kam eine Frau aus Wigratzbad selber. Rönt­genaufnahmen hätten bei ihrem Mann Magenkrebs im letzten Stadium erkannt. Eine Operation erschien den Ärzten sinnlos. Der Mann war zum Skelett abgemagert. Antonie sollte für ihn beten. Aber die machte es der Bittstellerin nicht zu leicht. „Schicken Sie mir am Samstagabend Ihre beiden Töchter. Wir werden die Nacht hindurch beten.“ Aber das war für die Frau zu viel des Guten. Dazu würden ihre Kinder kaum be­reit sein. Antonie gab nicht nach: „Wenn ich durchhalte, wer­den auch sie durchhalten. Wenn es ernst ist, dann müsst ihr eben beten.“ Und sie beteten, die ganze Nacht hindurch, zur „Unbefleckt empfangenen Mutter vom Sieg“. Am darauf fol­genden Mittag, es war Sonntag, verlangte der todkranke Mann zu essen, aß mit großem Appetit und spürte keine Schmer­zen mehr. Bei der Röntgenaufnahme stellte man eine völlige Heilung fest. Der Mann lebte danach noch 18 Jahre. Antonie hatte eine weitere schriftliche Erklärung in der Hand.

Die Stätte wird groß werden

Mit diesen Dokumenten machte sie sich eine Woche spä­ter auf den Weg nach Eglofs. Pfarrer Norbert Feiel zeigte sich tief betroffen und betete mit Antonie das „Magnificat“. Dann sagte er zu Antonie ein paar Worte, die man heute als pro­phetisch bezeichnen kann:

„Liebes Marienkind! Diese Stätte wird groß werden. Es wird ein Gnadenort erster Güte werden und bleiben. Bleiben Sie de­mütig! Dienen Sie Maria mit noch größerem Eifer! Ich werde bald sterben und den Triumph Mariens über ihre Feinde, die so zahlreich in unserem Lande geworden sind, nicht mehr er­leben. Ich werde aber vom Himmel aus dieses Heiligtum seg­nen. Meine Füße tragen mich nicht mehr hin zu dieser Stätte, wo ich gerne den Boden küssen wollte aus Ehrfurcht vor der göttlichen Heimsuchung, die dort stattfand. Ich werde eine Predigt halten über Maria vom Sieg und diese Ihnen zuschi­cken. Beten Sie den Rosenkranz immer mit großer Andacht. Dann wird Maria bald die engen Wände sprengen.“

Die Predigt hat er tatsächlich am 23. Mai 1937 in Bühl, das zur Pfarrei Eglofs gehört, gehalten. Darin sagte er u.a.: „Im Allgäu ist ein mutiges Mädchen, das zusammen mit Männern und Frauen, jungen Männern und jungen Frauen, stundenlang vor einer Lourdesgrotte den Rosenkranz betet mit der Anru­fung: 0 Unbefleckt empfangene Mutter vom Sieg, bitte für uns! Einzig mit dieser Waffe des Gebetes wollen sie die Welt über­winden.“ Mit diesen Worten schloss er auch die Predigt.

Ein hochsensibler Priester war ein großes Wagnis einge­gangen. Er hatte den Himmel herausgefordert und drei Zei­chen erbeten. Das erinnert an Lourdes, wo der zuständige Seelsorger über die Seherin Bernadette ebenfalls einen Beweis haben wollte. Die Madonna sollte im Februar in der Grotte einen Rosenstrauch erblühen lassen. Statt der Rosen bekam er eine Quelle. Maria lässt sich ihr Handeln nicht vorschrei­ben. Der Geistliche in Eglofs war vorsichtiger, er erbat nur Zeichen, die Art überließ er dem Himmel. Und er erhielt in der Tat Beweise für den übernatürlichen Ursprung der Visio­nen von Antonie Rädler, auch für den Wunsch des Himmels, Maria an dieser Stätte als „Unbefleckt empfangene Mutter vom Sieg“ zu verehren.

Der Sieg Jesu am Kreuze, das war der Sühnetod. Auch in Wigratzbad spielt der Gedanke an Sühne von Anfang an ei­ne entscheidende Rolle. Maria fordert zur Sühne für die ei­genen und für die Verfehlungen und Verirrungen anderer auf. Sühne für andere. Das ist ihr großer Sieg in einer Zeit, die sich darin überschlägt, sich und die eigene Schuld ständig zu rechtfertigen, Sünde nicht mehr als Sünde zu beteichnen, son­dern als Tugend, als Ausdruck seiner persönlichen Freiheit, Sünde als Freiheit. Diese Freiheit hat den Sünder, einsam ge­macht, einsamer denn je, und muss am Ende seinen geistigen Tod bedeuten. Das ist die große Botschaft von Wigratzbad.

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Quelle: Eigener Scan aus meinem persönlichen Exemplar des im Titel genannten (neu nicht mehr erhältlichen) Buches

Siehe ferner:

Unsere Liebe Frau vom Sieg – Wigratzbad – Antonie Rädler (14.12.1899 – 9.12.1991)

„Ich weiß, dass Wigratzbad echt ist!“

von Bischof DDr. Josef Stimpfle

Der Ursprung der Gnadenstätte „Maria vom Sieg“ in Wigratzbad ist eng mit der Lebensgeschichte von Frl. Antonie Rädler verbunden. Dem bisherigen Direktor Msgr. DDr. Rupert Gläser vertraute der damals für Wigratzbad zuständige Diözesanbischof DDr. Josef Stimpfle (1963-1992 Bischof von Augsburg) das persönliche Urteil an: „Ich weiß, dass Wigratzbad echt ist!“ Nur so ist es zu erklären, dass Bischof Stimpfle am 12. Dezember 1991 selbst die Beerdigung von Frl. Antonie Rädler hielt und die Gelegenheit dazu nützte, in der Predigt sein Urteil über den Ursprung und die Sendung der Gebetsstätte darzulegen. Nachfolgend die Ausführungen von Bischof Stimpfle im Wortlaut, die in gewisser Weise eine kirchliche Anerkennung der Vorgänge von Wigratzbad darstellen.

I. DER HEIMGANG

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen. Liebe in christlicher Trauer und Hoffnung versammelte Schwestern und Brüder!
Nun ist die uns so wohlbekannte Stimme verstummt. Ein Herz hat zu schlagen aufgehört, das erfüllt war von der Liebe zu Gott und den Menschen. Eine Frau der Kirche ist in die ewige Heimat heimgegangen. Ihr Erdenleben ist ein Vorbild für das christliche Lebenszeugnis, zu dem alte Getauften und Gefirmten vom Herrn berufen sind. In den Letzten Monaten war Antonie Rädler an das Bett gefesselt. Immer seltener wurden die Augenblicke, in denen sie die Menschen ansprechen konnte. Frl. Antonie Rädler wurde ihnen zusehends entrückt, bis sie am 9. Dezember heimgehen durfte in das ewige Leben. Am Hochfest der Gottesmutter eine besondere Fügung Ihr Heimgang ist für uns alte zu einem Zeichen geworden. Es scheint, als hätte sie nach Gottes Willen warten sollen bis zum Hochfest der Unbefleckt Empfangenen Jungfrau und Gottesmutter Maria, die sie in besonders inniger Weise ihr ganzes Leben Lang angerufen, der sie Kapelle und Kirche erbaut, die sie unzählige Male in diesem Gotteshaus gegrüßt hat mit dem Ave Maria, dem Gruß des Engels. Dass Antonie am 9. Dezember heimgerufen wurde, an dem Tag, an dem die Kirche in diesem Jahr das Hochfest der Immaculata gefeiert hat, erscheint uns, so meine ich, als eine besondere Fügung Gottes. Ihr Heimgang wurde zur Begegnung mit der verklärten Gottesmutter, zu der wir mit der gesamten katholischen Kirche an diesem Tag gefleht haben: „Trahe nos, Virgo Immaculata, post te curremus in odorem unguentorum tuorum“ – „Ziehe uns zu Dir, Unbefleckte Jungfrau, damit wir Dir folgen. Deine Gewänder sind voller Herrlichkeit.“ Ihr Heimgang am Fest der heiligsten Jungfrau und Gottesmutter Maria ist auch zur Begegnung mit ihrem verklärten Sohn geworden, den Antonie Tag für Tag angefleht hat: „O mein Jesus, ich glaube an Dich, ich bete Dich an, ich hoffe auf Dich, ich liebe Dich aus ganzem Herzen.“ Das Gebet erinnert an das Wort des Apostels Petrus: „Ihn habt ihr nicht gesehen, und dennoch liebt ihr ihn, ihr seht ihn auch jetzt nicht, aber ihr glaubt an ihn und jubelt in unsagbarer, von himmlischer Herrlichkeit verklärter Freude, da ihr das Ziel des Glaubens erreichen werdet: euer Heil“ (Petr 1,81).

Lichtschein auf dem Antlitz der Sterbenden

Antonie’s Begegnung mit Jesus und Maria wurde für sie zur Begegnung mit dem Dreifaltigen Gott: Das „Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heilgen Geiste“ ist die kürzeste Zusammenfassung ihres gläubigen Betens, Schaffens und Lebens. Im Lichtschein der von himmlischer Herrlichkeit verklärten Freude steht also der Heimgang der verehrten Frl. Antonie. Der Direktor dieser Gebetsstätte, Dr. Rupert Gläser, sagte mir, am 9. Dezember nachmittags gegen 18.00 Uhr war auf dem Antlitz der sterbenden Antonie ein Lichtschein zu sehen. Ich meine, wir können ihn deuten als einen Widerschein der ungeheuren Freude, die Antonie Rädler empfand, als sie die Augen für diese Welt schloss und der seligsten Jungfrau Maria und ihrem Sohn, dem auferstandenen Erlöser begegnete und schließlich in die volle Lichtherrlichkeit des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes aufgenommen wurde, ein Heimgang im Lichtschein himmlischer Herrlichkeit. Wir müssen sie beneiden. Wir brauchen nicht trauern heute. Wir können gar nicht trauern. Der Heimgang von Antonie ist der Abschluss ihres langen Erdenweges. Antonie Rädler würde übermorgen, am 14. Dezember, das 92. Lebensjahr vollendet haben.

II. DER LEBENSWEG

Antonie Rädler ist am 14. Dezember 1899 in Wigratzbad ihren Eltern als viertes Kind geschenkt worden. Ihre Mutter hatte dringend um einen Buben gebetet, von dem sie hoffte, er werde einmal Priester werden. Als sie ein Mädchen gebar, war ihre Enttäuschung zunächst sehr groß. Sie konnte nicht ahnen, dass dieses vierte Kind, Antonie, später so viel für die Priester, für heilige, seeleneifrige Priester beten und Tausende und Abertausende von Menschen zum Gebet um gute Priester versammeln werde. Die Zuneigung zu ihrem Kind ist aber nach einem Unfall Antonie’s auch bei der Mutter gewachsen. Und als ihre Tochter herangewachsen und von den Nationalsozialisten mehrmals verurteilt, ja dem Tode überliefert werden sollte, hat die gute Mutter Rädler dem lieben Gott versprochen: „Wenn meine Tochter Antonie den Nationalsozialismus überlebt, werde ich jeden Tag neun Rosenkränze beten.“ Antonie hat überlebt und die Mutter hat ihr Versprechen gehalten. Seit dem Ende des Krieges ist sie täglich um 3.00 Uhr morgens aufgestanden, um neun Rosenkränze zu beten, ehe sie um 6.00 Uhr zur Frühmesse ging und die Arbeit aufnahm.

Die Nazis mit ihrem Führer „wegbeten“

Ein Kind, das in der Gebetsatmosphäre einer gläubigen Familie heranwachsen durfte und das Vorbild einer so betenden Mutter und eines glaubensstarken Vaters vor Augen hatte, konnte nicht anders als eine große, gläubige Beterin werden. Schon in den reiferen Jugendjahren hat Antonie Mädchen um sich versammelt und mit ihnen eine marianische Kongregation aufgebaut. Sie hat mir selber erzählt, dass sie mit diesen Mädchen an den Sonntagen nachmittags in der Pfarrkirche in Wohmbrechts betete, um die nationalsozialistische Gewaltherrschaft mit ihrem Führer „wegzubeten“, wie sie sagte. Das war ihr Einsatz für Freiheit und Frieden und für die Zukunft unseres Volkes und Vaterlandes. Und dieses Gebet war nicht vergebens.
Ihr Vater, der eine Metzgerei in Wigratzbad hatte, machte in der Stadt Lindau eine Metzgerfiliale auf, die Antonie führte. Antonie stand von morgens 8.00 Uhr bis abends im Laden. Nach Arbeitsschluss ging sie jeden Tag über die Lindauer Brücke in das Marienheim der Maria-Ward-Schwestern und betete dort bis tief in die Nacht hinein, ehe sie gegen 2.00 Uhr oder 3.00 Uhr morgens wieder zurückkehrte, die Hl. Messe besuchte und dann die Arbeit des Tages im Laden aufnahm.

Eine große Beterin.
Geheimnisvolle Rettung

Da trug sich 1936 etwas zu, was sie auch mir erzählt hat: Sie hatte in der Metzgerei an einem zentralen Ort ein Marienbild, die Dreimal Wunderbare Mutter von Schönstatt, angebracht. Eines Tages kam eine Staffel von SA-Leuten mit einem Hitlerbild unter dem Arm die Metzgerei und verlangte kategorisch die Entfernung des Marienbildes und das Anbringen des Hitlerbildes. Darüber kam es zu einem heftigen Streit in der Metzgerei. Antonie hat sich durchgesetzt, aber die Aufmerksamkeit der damaligen Machthaber auf sich gezogen. Einige Tage später wurde sie bei ihrem nächtlichen Heimgang von Unbekannten überfallen. Einer hatte einen Sack in der Hand, in den Antonie Rädler wohl gesteckt und im Bodensee ertränkt werden sollte. Da erschien ein Radfahrer, der, von einem geheimnisvollen Lichtschein umgeben, Antonie Rädler umkreiste und die Verfolger von ihr fernhielt, bis sie ihren Metzgerladen erreichte. Am nächsten Tag holte sie der Vater in Lindau ab und brachte sie heim. Er war nämlich von einem Münchner Beamten des Innenministeriums darauf aufmerksam gemacht worden, dass man seiner Tochter nach dem Leben trachte.

Der Engelsgesang an der Lourdesgrotte

Antonie errichtete auf dem elterlichen Grundstück eine Lourdesgrotte, die heute neben der Kapelle „Maria vom Sieg“ steht. Immer mehr Beter kamen zu dieser Grotte. In der Oktav von Maria Empfängnis geschah es, dass Antonie in dieser Grotte einen Engelsgesang hörte. Es waren viele Chöre der Engel, die eine Art himmlischer Sinfonie bildeten und immer wieder die Worte sangen: „Unbefleckt empfangene Mutter vom Sieg, bitte für uns.“ Antonie, die nicht wusste, was das Erlebnis bedeuten sollte, suchte den alten, frommen, weisen Pfarrer Feil in Eglofs auf, um ihm das Erlebnis zu erzählen. Der kluge Seelsorger sagte ihr: „Antonie, geh nach Hause und bitte die Gottesmutter, sie möge dir ein Zeichen geben. Dann komm nach 10 Tagen wieder. Wenn bis dahin drei Wunder geschehen sind, kannst du sicher sein, dass es die Mutter Gottes war, die will, dass du diese Kirche erbaust.“ Schon auf dem Heimweg geschah das erste Wunder, die Heilung eines krebskranken Vaters, drei andere folgten in den nächsten Tagen.

Kapellenbau und Verhaftung

1938 errichtete Antonie die bekannte Kapelle, die den Titel erhielt: „Unsere Liebe Frau, die unbefleckte Mutter vom Sieg“. Im selben Jahr wurde Antonie zum erstenmal verhaftet und in das berüchtigte Gefängnis „Katzenstadl“ nach Augsburg gebracht. Dies war für sie eine schlimme Erfahrung: denn sie wusste nicht, dass es kriminelle Frauen und Mörderinnen gibt, die keinen Glauben hatten und nicht beten konnten. Am 7. Dezember 1938 war Antonie im Gefängnis sehr verzweifelt, aber der Himmel half ihr. Um die Mitternacht vom 7. auf den 8. Dezember trat die Hl. Jungfrau aus einer Lichtwolke heraus auf sie zu, tröstete sie und sagte ihr, sie würde noch vor Weihnachten freigelassen werden. Anschließend lehrte sie ihr ein Gebet, das „Kindlein-Jesu-Gebet“, das bis auf den heutigen Tag in der Adventszeit gebetet wird. Am 18. Dezember, am Fest Mariä Erwartung, wurde Antonie wider altes Erwarten aus dem Gefängnis entlassen.

Flucht vor der Gestapo

1940 sollte sie wiederum verhaftet werden; diesmal floh sie in den Bregenzer Wald und versteckte sich dort mehrere Jahre bei einer guten Familie, ständig von der Gestapo gesucht. Gegen Ende des Krieges bekam sie eines Tages so große Angst, dass sie ihr Versteck verließ. Noch am selben Tag umstellte die Gestapo das Haus, in dem sie geweilt hatte, suchte nach ihr, ohne sie zu finden. Antonie kam nach Wigratzbad zurück, wo sie der Vater in der Scheune versteckte, bis der Krieg zu Ende war. Öfters kam die Gestapo, fand sie aber nicht. Nach dem Krieg besetzten die Franzosen das Allgäu und beschossen auch Wigratzbad. Über 180 Granaten schlugen in der Nähe der Kapelle ein, die aber keinen Schaden erlitt. In den Nachkriegsjahren errichtete Antonie Rädler neben der Kapelle ein Sanatorium für krebskranke Menschen, das nach dem Tode des Arztes im Jahre 1982 aufgegeben werden musste und zu einem Pilgerheim wurde. Aus Dankbarkeit für ihre Rettung baute sie die größere Kapelle „Maria vom Sieg“. In all diesen Jahren hielt sie beharrlich die Sühnenächte in der Krypta und in der Kapelle, allwöchentlich in der Nacht vom Donnerstag auf den Freitag und jeden Samstag bis Mitternacht.

Hier ist der Finger Gottes am Werk

Nach meiner Ernennung zum Bischof im Jahre 1963 hat mich der damalige Dekan Josef Hirschvogel von Lindau darauf aufmerksam gemacht, dass hier in Wigratzbad etwas gutzumachen sei. Frl. Antonie Rädler sei verleumdet und grundlos bei meinem Vorgänger Bischof Freundorfer angeschuldigt worden. Daraufhin begab ich mich inkognito nach Wigratzbad, um zu sehen und zu hören, was dort geschieht und wie dort gebetet wird. Frl. Rädler, die mich bald erkannte, lud mich in ihr Haus ein. Dort blieb ich den ganzen Nachmittag, und sie erzählte ihre Geschichte. Ich erkannte, dass hier der Finger Gottes am Werk ist. Und ich gab die Erlaubnis, in der Kapelle Maria vom Sieg“ die Liturgie zu feiern und zu beten, was mein Vorgänger, der falsch unterrichtet war, verboten hatte. Als die Kapelle „Maria vom Sieg“ die vielen Beter nicht mehr fassen konnte, baute Frl. Rädler die Kirche, die ich im Jahre 1976 auf den Titel der heiligsten Herzen Jesu und Mariä geweiht habe. Anfang der achtziger Jahre wurde das Pilgerheim „Sankt Josef“ erbaut, das im Jahre 1988 fertiggestellt wurde.

So sterben die Heiligen

Bald darauf ließen die Kräfte von Frl. Antonie Rädler nach, sie wurde bettlägerig und in den Letzten zwei Jahren aufopferungsvoll von unseren Schwestern, den Dienerinnen Christi, gepflegt. Dafür danken wir den Schwestern sehr herzlich. Schließlich kam ihr Ende. Sie konnte schon lange nicht mehr sprechen, deshalb war es erstaunlich, dass sie in der vergangenen Woche plötzlich das Wort „Ende“ zweimal aussprechen konnte. Es war am 7. Dezember. Darauf hat man am 7. oder 8. Dezember mit ihrem Ableben gerechnet; aber der Samstag und der zweite Adventssonntag vergingen. Am Montag, dem 9. Dezember, an dem wir, wie gesagt, das verschobene Fest der unbefleckten Empfängnis Mariens feierten, erschien gegen 16.00 Uhr plötzlich ein Lichtschein auf ihrem Gesicht, der dreimal zu sehen war, wie die Schwester, die sie pflegte, versicherte. Wenige Minuten danach verschied Antonie Rädler. So endete der Lebensweg der 92-jährigen im Lichte Gottes. Der Heimgang und der Lebensweg von Frl. Rädler sind etwas ganz Seltenes. So sterben die Heiligen. Was bleibt nun übrig von ihrem Lebenswerk?

III. DAS VERMÄCHTNIS

Ich meine, heute ein dreifaches Vermächtnis der Verstorbenen nennen zu dürfen:

1. Das Vorbild einer betenden Frau

Das Vorbild einer gottesfürchtigen, betenden, apostolisch tätigen Frau. Das Vorbild einer gläubigen Frau, die in der Liebe Christi gelebt und ausgeharrt hat. Das Vorbild einer begnadeten Frau, die von den Gesinnungen der heiligsten Herzen Jesu und Mariä erfüllt war. Das ist das erste, was bleibt. Das Vorbild einer gottesfürchtigen, betenden Frau. Wahrhaftig, sie war eine Beterin und hat die Menschen bewogen, mitzubeten. Wir hören ihre klare Stimme noch, wie sie die Menschen mitriss, bei Tag und bei Nacht, und ganze Nächte mit ihnen hindurch betete. Eine betende Frau, die auf die Hilfe der heiligsten Gottesmutter vertraut hat. Tausende Male hat sie gesprochen: „Unbefleckt empfangene Mutter vom Sieg, bitte für uns!“ Die Gott Liebende, apostolisch tätige Frau war eine schlichte Frau aus dem Volke, eine Frau der Kirche. Sie hat für das geistliche Leben der Kirche mehr geleistet, als viele andere, die von der Emanzipation der Frau reden. Diese Frau Antonie Rädler hatte ihren Platz in der Kirche gefunden: ganz im Herzen Jesu, ganz im Herzen Gottes, ganz erfüllt von der Gesinnung der Mutter Gottes. So wurde sie zum Werkzeug Gottes für die Heilung der Menschen, für die Rettung dieser Wett. Was bleibt, ist also zuerst ihr Vorbild, das Vorbild einer gottesfürchtigen, betenden, apostolisch tätigen Frau.

2. Die Gebetsstätte Wigratzbad

Es bleibt die Gebetsstätte Wigratzbad. Was diese Gebetsstätte kennzeichnet ist das Charisma des immerwährenden Betens, des Rosenkranzgebetes insbesondere, der eucharistischen Anbetung des Herrn. Eine Stätte des Gebetes, die ihren Höhepunkt in der täglichen Feier der Eucharistie, ja der öfteren Feier der Eucharistie in den Gebetstagen und -nächten hat. Auch die eucharistischen Prozessionen möchte ich nennen. Hier lebt das Charisma des immerwährenden Gebetes. Das Charisma auch der stellvertretenden Sühne.
Das ist das besondere, das wir an anderen Gebetsstätten nicht so finden. Jesus Christus, unser einziger Mittler zwischen Gott und den Menschen hat durch seinen Tod und seine Auferstehung die Sünde der Wett gesühnt ein für allemal. Aber er hat uns, die Getauften dazu berufen, dass wir in seinem Namen seine Sühneleistung Gott dem himmlischen Vater darbieten für das Heil der Welt. Das wollte Frl. Antonie Rädler, das hat sie verstanden, das hat sie geübt. Antonie hat an der stellvertretenden Sühneleistung Jesu Christi teilgenommen. Daher wollte sie eine „Herz-Jesu- und Herz-Mariä-Sühnekirche bauen. Zur Sühne für die Sünden der Menschen von heute, insbesondere zur,«Sühne für die schrecklichen Verbrechen» die täglich begangen werden, zur Sühne für die sich verbreitende Unsittlichkeit, zur Sühne für die Entheiligung des Sonntags, zur Sühne für die Rettung der Sünder. Das war ihr Apostolat. Für diese Menschen hat sie sich Tag und Nacht im Gebet eingesetzt. Diese Sühnekirche ist ausgestattet mit sechs Beichtstühlen. Viele Menschen kommen, um hierzu beten, viele bekehren sich, beichten und empfangen das große Geschenk des auferstandenen Erlösers, die Vergebung der Sünden, und kehren als österliche Menschen im Frieden Christi wieder heim.

3. Apostolat um heilige und seeleneifrige Priester

Das Charisma dieser Gebetsstätte des immerwährenden Gebets und der Sühne ist auch das Charisma des Gebetsapostolats um heilige und seeleneifrige Priester. Antonie hat mit frappierender Sicherheit vorhergesagt: „Hier wird ein Priesterseminar entstehen und es werden Seminaristen aus Rom kommen.“ Der Passionistenpater Johannes, der ihr zwanzig Jahre bis zu seinem Tod zur Seite stand, sagte mir bei meinem letzten Besuch kurz vor seinem Heimgang: „Sorgen Sie für heilige, seeleneifrige Priester!“ Das war sein Vermächtnis, das Vermächtnis, das er von Antonie empfangen hatte. Was also bleibt, ist das Vorbild, das Antonie gegeben hat, die Gebetsstätte, die sie gebaut hat, und schließlich das Priesterseminar der St. Petrusbruderschaft, die im Jahre 1988 von Papst Johannes Paul II. errichtet worden ist. Als mir Direktor Dr. Rupert Gläser im August 1988 sagte, das Pilgerheim sei gerade fertig geworden, es könne sofort bezogen werden, habe ich dem Heiligen Vater über Kardinal Augustinus Mayer die Zusage gegeben: „Die Priesterbruderschaft St. Petrus kann in der Diözese Augsburg an der Gebetsstätte Wigratzbad Aufnahme finden.“ Und ich fügte hinzu, „dass ich keinen besseren Ort für sie wisse, als die Gebetsstätte Maria vom Sieg“. Vom Himmel her werden Antonie Rädler und P. Johannes, der Hl. Petrus und die liebe Gottesmutter als Fürsprecher die Gnade des Heiligen Geistes erflehen, dass die Priesterbruderschaft St. Petrus in der Heiligen Kirche den Platz einnehme, der ihr durch den heiligen Willen Gottes bestimmt ist. „In allem soll Gott verherrlicht werden durch Jesus Christus“ (1 Petr 4,11).

Liebe Brüder und Schwestern,
wenn wir bei diesem Begräbnisgottesdienst auf den Heimgang, den Lebensweg und das Lebenswerk von Antonie blicken, legen wir nun sie und ihr Vermächtnis getrost in Gottes Hände. Er gewähre uns, dass auch wir unser Leben im Lichte vollenden, in der Begegnung mit Unserer Lieben Frau, mit Jesus Christus und mit ihm, dem Heiligen Dreifaltigen Gott. Amen.

Bischof DDr. Josef Stimpfle

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Siehe ferner:

GEBETSSTÄTTE WIGRATZBAD ZERSTÖRT

Von einem hochgeschätzten Freund von mir erhalte ich soeben folgende E-Mail-Mitteilung:

Lieber Paul,

Heute [6. August 2014] war ich mit meiner Mutter in Wigratzbad. Als wir angekommen waren, sagte ich zu meiner Mutter: jetzt sind wir wieder daheim.
Wir freuten uns auf die neu renovierte Sühnekirche. Aber wir hätten es eigentlich wissen müssen, was es bedeutet, wenn heute eine Kirche umgebaut oder renoviert wird.
Als ich die Kirche betrat, glaubte ich meinen Augen nicht zu trauen. Auf dem Weihwasserbrunnen beim Eingang, wo früher eine Muttergottes Statue stand, befindet sich jetzt eine dunkelviolette Glaspyramide. Du weisst, was dies bedeutet. Innen haben sie alle Heiligenbilder an den Fenstern durch eine Rose ersetzt. Auch da weisst Du, was dies bedeutet.
Die Beichtstühle sind neu in die Wandpartien auch farblich integriert und dadurch auf den ersten Blick nicht sofort als solche erkennbar.
Die Kniebänke bei der Mutter Gottes vorne neben dem Altar sind raus.
Der gesamte Altarraum wurde komplett umgekrempelt. Der Tabernakel ist nur noch ein Stahlzylinder ohne jegliche Verzierung oder auch nur andeutungsweise eines Kreuzes.
Die Stühle und der Ambo im Altarraum sind nur noch Betonklötze. Das Kreuz hängt jetzt ganz alleine über dem steinernen Volksaltar.
Mit einem Satz: hier haben die Feinde der Kirche ganze Arbeit geleistet. Es ist die schlimmste Verwüstung an heiliger Stätte.
Am liebsten verlässt man diesen Raum so schnell als möglich wieder.
Im Gegensatz zu früher, wo einem die Tränen der Gerührtheit schon beim Anblick des damals noch wunderbaren Altarraumes kamen.
Eine wirkliche Tragödie. Ich frage mich, wer solche „Verbrechen“ bewilligt.
Sehr sehr traurig. Ich weiss nicht, was man dazu noch sagen soll. Und wieder ist ein Heiligtum zerstört.

Lieber Paul, ich wünsche Dir von Herzen Gottes und Mariens reichsten Segen.

Herzliche Grüsse, C.

 
PS: auf dem ganzen Areal ist es nicht mehr erlaubt, die heimeligen Kerzen anzuzünden.
Es hat nur noch so kleine, dünne Zigarettenähnliche Kerzlein, welche man in einem Sandständer stecken muss.
Und dies nur noch an ganz wenigen Orten. Ähnlich einem Zigarretenaschenbecher.

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Siehe dazu: