Aus: Alfons Sarrach: SIEG DER SÜHNE – Wigratzbad: Marias Botschaft an den Menschen

Unbefleckt empfangene Mutter vom Sieg, bitte für uns!

Kapitel XIII

Das Vermächtnis

 

So sterben Heilige

„Ich weiß, dass Wigratzbad echt ist.“ Mit diesen Worten vertraute der Bischof von Augsburg, Dr. Josef Stimpfle, einem Geistlichen seines Bistums, Dr. Dr. Rupert Gläser, sein Urteil über die Gebetsstätte an. Woher dieses Wissen, darüber ließ er sich nicht aus. Es lässt sich nur erahnen. Und es erklärt die Seelenverwandtschaft zwischen der Mystikerin aus einfachem Hause und dem gebildeten Theologen und charismatischen Oberhirten.

Deshalb ließ er es sich nicht nehmen, selbst die Beerdigung der Seherin am 12. Dezember 1991 zu übernehmen. Am 9. Dezember hatte sie die Augen geschlossen. „Nun ist die uns wohlbekannte Stimme verstummt. Ein Herz hat zu schlagen aufgehört, das erfüllt war von der Liebe zu Gott und den Men­schen. Eine Frau der Kirche ist in die ewige Heimat eingegan­gen.“ Mit diesen bewegenden Worten eröffnete der Bischof seine Ansprache. Eine besondere Fügung Gottes sei es sicher­lich, dass sie am Hochfest der Immakulata in die Ewigkeit ge­rufen wurde, das man in diesem Jahr einen Tag später feiere. Dieser Heimgang am Fest der heiligsten Jungfrau und Got­tesmutter Maria sei auch zu einer Begegnung mit ihrem ver­klärten Sohn geworden, den die Seherin Tag für Tag ange­fleht hat: 0 mein Jesus, ich glaube an Dich, ich bete Dich an, ich hoffe auf Dich, ich liebe Dich.

Der Direktor dieser Gebetsstätte, Monsignore Dr. Dr. Ru­pert Gläser, habe ihm berichtet, am 9. Dezember nachmittags gegen 18 Uhr sei auf dem Antlitz der sterbenden Antonie ein Lichtschein zu sehen gewesen. Er lasse sich deuten als ein Wi­derschein der ungeheuren Freude, die Antonie empfunden habe, als sie die Augen für diese Welt schloss, ein Heimgang im Lichtschein himmlischer Herrlichkeit. Wir sollten sie beneiden und brauchten nicht zu trauern. Der Heimgang sei der Abschluss ihres langen Erdenweges, vier Tage später wäre sie 92 Jahre alt geworden. Ihr Heimgang und ihr Lebensweg seien etwas ganz Seltenes gewesen. So würden Heilige sterben.

Was bleibe nun von ihrem Lebenswerk als Vermächtnis übrig – fragte Bischof Stimpfle und versuchte eine Antwort zu geben. Diese nimmt sich aus wie eine weit in die Zukunft ausgreifende Vision.

Betende Frau

An erster Stelle hob der Oberhirte ihr Gebetsleben hervor. Sie sei das Vorbild einer betenden Frau gewesen und habe Menschen bewogen, sich ihr anzuschließen. Eine betende Frau, die auf die Hilfe der Gottesmutter gesetzt habe. Ihm, ihrem Oberhirten, habe sie anvertraut, dass sie sich als junge Frau mit vielen Mädchen in der Pfarrkirche zu Wohmbrechts getroffen habe, um die nationalsozialistische Gewaltherrschaft mit dem Führer „wegzubeten“ (und das in jener Pfarrkirche, in der einmal ein irregeleiteter Priester Lobeshymnen auf ihn singen sollte – Anm. des Verfassers). Das sei der Einsatz ge­wesen für Freiheit und Frieden und für die Zukunft unseres Volkes. Diese Gebete seien nicht vergebens gewesen.

Ihre eigene Mutter, die sich ihr lange gegenüber zurück­haltend verhalten habe, sei von dieser Atmosphäre angesteckt worden. Bei der Schilderung der Biographie der Verstorbenen erwähnte der Bischof ein Versprechen, das die Mutter Rädler Gott gemacht habe: Sie wolle für den Fall, dass ihre Tochter, die ja mehrmals dem Tode überliefert worden war, den Natio­nalsozialismus überlebe, jeden Tag neun Rosenkränze beten. Die Tochter habe das Terrorregime überlebt und die Mutter ihr Gelöbnis eingehalten. Nach Beendigung des Krieges sei sie täglich um 3 Uhr morgens aufgestanden, um die verspro­chenen Rosenkränze zu beten, ehe sie um 6 Uhr zur Früh­messe ging und danach ihre Arbeit aufnahm.

Antonie sei eine Frau der Kirche gewesen und habe für das geistliche Leben der Kirche mehr geleistet als viele andere, die von der Emanzipation der Frau redeten. Diese Worte des Bischofs hallten in eine Zeit hinein, in der das Gebet von end­losen Debatten und Podiumsdiskussionen und das mystische Leben von theologischen Tagungen verdrängt wurden, auf de­nen die Soziologie und die moderne Bibelauslegung als neue Orientierungsdaten dienten.

Das Leben der Urkirche war geprägt von ständigem Gebet. Das muss der Bischof im Sinn gehabt haben, als er diese im­merfort betende Frau an ihrem Grabe allen als nachahmens­wertes Beispiel empfahl. Als der Herausgeber Bischof Stimpf­le gegenüber einmal bekannte, dass er sich seit seinem Besuch in Medjugorje die Empfehlung der Gottesmutter zu eigen ge­macht habe, wenn möglich, täglich den Psalter zu beten, das heißt alle drei Rosenkränze, schaute der Bischof ihn nach­denklich an und sagte: ,,Wenn Sie für das Reich Gottes etwas mehr bewirken wollen, versuchen Sie es auf drei Psalter zu bringen, das heißt auf neun Rosenkränze am Tag. Die Welt wird vom Gebet getragen.“ Das war die mystische Sicht von Wigratzbad, die in diesen seinen Worten durchschimmerte.

Stätte der Sühne

An zweiter Stelle des geistigen Testamentes der Verstorbe­nen nannte der Bischof die Gebetsstätte Wigratzbad. Sie wer­de bleiben. Es war eine Antwort auf die Zweifel jener Fachleute, die bei der Planung und dem Bau der Stätte nicht da­ran glauben wollten und konnten, dass die Stätte den Tod der Antonie Rädler lange überdauern werde. Hier lebe das Charisma des immerwährenden Gebetes.

Aber was dem Oberhirten beinahe noch wichtiger erschien: das Charisma der stellvertretenden Sühne. Und er hatte kei­ne Hemmungen festzustellen, dass man diesen Charakter an anderen Gebetsstätten so nicht finde. Dann fügte er hinzu, was nicht nur ein großes Nein zum Zeitgeist war, auch so­weit dieser sich in die Kirche eingeschlichen hat, sondern ein Nein zu allen theologischen Spekulationen und Versuchen, die Bedeutung der Sühne im Heilswirken Gottes abzuschwä­chen: „Jesus Christus, unser einziger Mittler zwischen Gott und den Menschen, hat durch seinen Tod und seine Aufer­stehung die Sünde der Welt gesühnt ein für allemal. Aber er hat uns, die Getauften, dazu berufen, in seinem Namen seine Sühneleistung Gott dem himmlischen Vater darzubieten für das Heil der Welt.“

Antonie hätte das verstanden und umgesetzt. Das sei das große Motiv für den Bau einer „Herz Jesu- und Herz Mariä-Sühnekirche“ gewesen. „Zur Sühne für die Sünden der Men­schen von heute, insbesondere zur Sühne für die schreckli­chen Verbrechen, die täglich begangen werden, zur Sühne für die sich verbreitende Unsittlichkeit, zur Sühne für die Enthei­ligung des Sonntags, zur Sühne für die Rettung der Sünder.“ Die Kirche sei ausgestattet mit sechs Beichtstühlen. Viele Men­schen kämen, um hier zu beten, viele würden sich bekehren, beichten, empfingen das große Geschenk des auferstandenen Erlösers, die Vergebung der Sünden.

Die säkulare Welt hat zynischerweise die Sühne erst wieder und zwar ausschließlich entdeckt in Verbindung mit den Ver­fehlungen von Geistlichen an Jugendlichen in den USA und in Irland, als sich das über Entschädigungsforderungen in blan­ke Münze umsetzen ließ und viele Bistümer finanziell an den Rand des Ruins gebracht hat und in Irland die Kirche um ih­re ganze, in Jahrhunderten aufgebaute Glaubwürdigkeit.

Ansonsten gilt Sühne als Fremdwort, auch im Rechtswe­sen, auch gegenüber Straftätern, die sich schwerster sexueller Verbrechen schuldig gemacht haben. Nur wenige, wenn über­haupt, kompetente Rechtswissenschaftler, Politiker und Sozio­logen wollen wahrhaben, dass das die Gesellschaft auf lange Sicht in den Zusammenbruch führen wird. Erste Anzeichen sind schon da, wo Jugendliche zu Amokläufern werden oder ihre Familien umbringen, Eheleute bei Konflikten immer häufiger zum Küchenmesser greifen und im wirtschaftlichen Bereich Banken den Ruin herbeiführen, wie es die Welt in den Jahren 2008/9 erleben musste. Sie gehen davon aus, dass für alle diese Vergehen nie wirkliche Sühne von ihnen einge­fordert wird.

Sühne, das wurde an anderer Stelle bereits erläutert, hat nichts mit Rache zu tun, ist nicht die Erfindung eines blut­rünstigen Gottes, sondern bleibt Voraussetzung für die Selbst­achtung des Menschen, der stets Gefahr läuft, in den Sumpf abzugleiten, auf welcher gesellschaftlichen Ebene er sich auch bewegen mag. Erst die Sühne Gottes am Kreuze hat dem Men­schen die Chance gegeben, nicht der Verzweiflung zu verfallen, sondern wieder an sich selbst zu glauben, wie tief er auch ge­fallen sein mag. Darin liegt das Ungewöhnliche der Botschaft von Wigratzbad und ihrer Gültigkeit für alle Zeit.

Es war goldener Herbst, als Bischof Stimpfle uns wieder einmal in der Rhön bei Fulda besuchte, am Ende einer Bi­schofskonferenz. Nach einem langen Gedankenaustausch stand er auf, ging ans Fenster, schaute auf die Bergkette vor uns und meinte: „Wir müssen die Bedeutung der stellvertre­tenden Sühne wieder entdecken. Jesus hat es uns vorgelebt. Einer für alle. Einer für viele sollte es für uns heißen.“

Die Visionen der großen italienischen Mystikerin Maria Valtorta (1897-1961) kamen mir in den Sinn. Im ersten Buch ihrer zwölfbändigen Serie „Der Gottmensch“ (Parvis-Verlag) gibt sie Worte der Gottesmutter wieder, die sie niederschreiben sollte. Im Kapitel „Entzieht euch nie dem Schutz des Gebetes“ sagt sie u.a.: „Die Erde bedarf der Ströme des Gebetes, um sich zu reinigen von ihren Sünden. Und da nur wenige beten, müs­sen diese wenigen viel beten, um das Versagen der vielen aus­zugleichen.“ Auf die Sühne bezogen müsste es heißen: „Da nur wenige sühnen, müssen diese wenigen viel sühnen, um das Versagen der vielen auszugleichen.“

Der Islam hat sich im Wesentlichen bei seiner Verbreitung im Osten, also in Richtung Indien und auf den Fernen Osten, wie in Richtung Westen, Nordafrika und Spanien, auf sieg­reiche Armeen gestützt. Das Christentum wird von einer an­deren Einstellung geleitet: „Gott braucht nicht siegreiche Ar­meen, Er braucht sühnende Armeen“.

Das waren auch die mystischen Schlussfolgerungen der Antonie Rädler, und einem weisen, ja heiligmäßigen Oberhir­ten wurde die Gnade zuteil, sie richtig einzuschätzen und ihr Anliegen zu erkennen. Er hat es zu seinem eigenen gemacht.

Sorge um heilige Priester

Das dritte Anliegen, das Antonie als Vermächtnis hinter­lassen hat und das der Bischof in seiner Rede erwähnte, war die Sorge um heilige und eifrige Priester. Sie wusste um de­ren große Bedeutung für die Menschen. Sie selber ist mehr­fach großen Priesterpersönlichkeiten begegnet, hat Verständnis und Unterstützung bei ihnen erfahren, wie sie auf der an­deren Seite auch das bittere Leiden auskosten musste, das un­sensible oder verirrte Geistliche auslösen können.

1988 errichtete Papst Johannes Paul II. die Petrusbruder­schaft und hielt Ausschau nach einem Ort, wo sie sich nie­derlassen und ihren geistlichen Nachwuchs ausbilden könn­te. Gerade um diese Zeit wurde in Wigratzbad das Pilger­heim fertig. So konnte der Bischof dem Heiligen Stuhl die Stätte als Stützpunkt auch für die neue Gemeinschaft anbieten. Antonie durfte noch erleben, wie ihr diesbezüglicher Traum in Erfüllung ging.

Klares Denken

Die Würdigung des Erzbischofs am Grabe von Antonie Rädler hatte in Teilen auf seine Weise über vierzig Jahre vor­her ein Graphologe vorweggenommen, dem ihre Schrift vor­gelegt worden war. Es war Siegfried Graf von Burgau/Schwa­ben. In der Analyse aus dem Jahre 1949 heißt es u.a.:

„Der Gesamteindruck zeigt uns eine selten klare Zeilen- und Worttrennung, das charakteristische Zeichen für ausgespro­chen klares Denken und Urteilen. Das Ganze ein Bild eines Menschen mit einer seltenen Unternehmungslust, eigener Ini­tiative und Energie. Die Schreiberin kann geschickt mit Geld umgehen. Diese Frau hat eine selten gute eigene Initiative, ein wirklich sehr gutes Organisations- und Dispositionsvermögen, dazu eine seltene Zähigkeit in der Durchsetzung ihrer Ab­sichten. Offensichtlich beschäftigt sich die betreffende Person mit sehr großen Problemen und Unternehmungen, so viel die Einteilung des Textes verrät. Auf alle Fälle könnte ich sie mir vorstellen als Vorstandsdame einer Zweigstelle der Caritas.

Schrift- und Zeilenführung hat etwas Beständiges an sich, lässt ein klares Denk- und Urteilsvermögen erkennen. So schreibt nur ein Mensch, der über ein hübsches Quantum an seelischer Kraft verfügt und eine gute Portion unbedingter Konsequenz im täglichen Leben zeigt, sich also dem Wechsel der Meinungen kühn mit seinen eigenen entgegenstellt, und auf ihnen beharrt, ganz gleich, wie man über ihn urteilt oder denkt. Sie ist und bleibt, die sie ist.“

Der Schriftsachverständige geht auch auf die Möglichkeit einer hysterischen Veranlagung ein und kommt zu folgendem Ergebnis: „Eine hysterische Schrift zeigt ein krankhaftes Gel­tungsbedürfnis, überreizte Erotik, allgemeine Überempfind­lichkeit, Herzstörungen, allgemeine Rhythmusstörungen im Gedankenablauf und Zerstreutheit verbunden mit schlechtem Gedächtnis und Vergesslichkeit, Angst, Unzuverlässigkeit, un­berechenbare Stimmungsschwankungen, Neigung zu Gereizt­heit und Zorn, Arbeitsunlust, Trägheit und Genusssucht. Von all den hier angeführten Merkmalen ist in dieser Schrift kein Anzeichen vorhanden, kann deshalb auch nicht vorhanden sein. Ganz im Gegenteil. Groß- und Kleinbuchstaben zeigen ein untrügliches Symbol für Demut, Bescheidenheit und auf­richtiger selbstloser Hilfsbereitschaft.

Die Art des Druckes sagt uns, dass wir es in der Person der Schreiberin mit einer unbedingt wesensechten, überzeugt frommen Person zu tun haben, die jeder Übertreibung abhold ist. Für sie bedeutet Religion keine Gefühlssache, sondern eine furchtbar reale, tiefernste Angelegenheit, die gelebt sein will.

Verantwortungsbewusst

Insbesondere spricht aus der Schrift keinerlei Geltungsbe­dürfnis, sondern lediglich ein fast überdurchschnittliches Verantwortungsbewusstsein, aufgrund dessen sie in Ermangelung einer anderen passenden Person die eigene Initiative ergreift und handelt, wie man handeln sollte. Bei ihren Handlungen und Unternehmungen ist es ihr nicht darum zu tun, zu zei­gen, was sie alles kann und wie tüchtig und unternehmungs­lustig sie ist, sondern ihr ist es um eine Sache zu tun, die eben ohne sie nicht gefördert und gehoben wird und doch unbe­dingt notwendig ist.

Die Schrift zeigt keinerlei Anzeichen von Rechthaberei, Brutalität, Streitlust, sondern lediglich die Anzeichen konse­quenter Selbstbehauptung und konsequenter Zielstrebigkeit. Das sind Eigenschaften, die an und für sich einen hohen Grad seelischer Festigkeit voraussetzen. Das Christentum verlangt keinen Kadavergehorsam. Bei dieser Frau, dem Menschen mit einem so hohen Verantwortungsbewusstsein, kann kein so genannter blinder Gehorsam verlangt werden, wenn es sich um Dinge handelt, die gleichsam ihre ganze Lebensaufgabe ändern soll.

Die Schrift zeigt, dass es diese Frau hinsichtlich der Askese und Mystik wirklich ernst nimmt und sich nichts schenkt. Mystik ist allerdings ein so hoher Grad von Gnade, dass er wohl aus der Schrift nicht gut ersichtlich sein kann. Diese Gnade kann allerdings nur einsetzen, wenn die entsprechen­den natürlichen Voraussetzungen dazu gegeben sind. Und dass diese gegeben sind, haben wir in vorliegender Schilde­rung hinreichend gesehen.“

Der Schriftsachverständige verrät ein hohes Maß an Ein­fühlungsvermögen. In der Theologie ist die sog. alte Regel bekannt: „gratia supponit naturam“, Gnade setzt die Natur voraus. Sie baut auf den natürlichen Voraussetzungen, die bei einem Menschen gegeben sind, auf, aber sie bedeutet nicht unbedingt eine ungewöhnliche Steigerung natürlicher Befä­higungen und Talente, denn sie ist etwas wesentlich Neues, das jede Natur übersteigt. Gnade ist Teilnahme an der gött­lichen Natur, das heißt etwas, was mit der natürlichen Er­kenntnisfähigkeit nicht wahrgenommen werden kann.

Oberhirte und Graphologe liegen in ihrem Urteil über Antonie Rädler nah beieinander. Religiöse Berufung war für sie eine tiefernste Sache. Sie ließ sich von ihr nicht abbringen, von der Familie nicht, von staatlichen Behörden nicht, von Männern der Kirche nicht, die ihr misstrauten. Was für sie galt, war allein Gott, von den frühen Jahren ihres Lebens bis zu ihrem letzten Atemzug.

 

Kapitel XIV

Der Himmel ist uns immer nah

 

Die Frage nach der Wahrheit allein ist es nicht, die sich heute stellt. Mit ihr beginnt alles Forschen und alles Erken­nen. Aber die Ergebnisse einer fast dreitausend Jahre zurück­reichenden Denkgeschichte haben den Menschen bisher of­fensichtlich nicht befriedigen, geschweige denn befreien kön­nen. Über die Evolutionstheorie hoffte er die Wurzeln seines Daseins zu erkennen und damit der Wahrheit näher zu kom­men. Allein diese Verheißung, politisch umgesetzt, hat im 20. Jahrhundert ein Meer von Leiden zur Folge gehabt. Au­ßerdem haben die vermeintlichen Erkenntnisse, trotz beacht­licher Leistungen des Verstandes auf der einen Seite, den Menschen auf der anderen immer mehr ins Animalische zu­rückfallen lassen, wie der Verzicht auf Ethik und Ästhetik, auf Wahrheit und Liebe in der Gesellschaft uns täglich vor Augen führt.

Im Augenblick dieser Herausforderungen stellt sich für den gläubigen Menschen daher eine andere Frage. Und sie geht auf den bekannten deutschen Theologen Karl Rahner zurück, dem man rationalistisches Denken keineswegs absprechen kann. Offensichtlich hatte dieser Mann des 20. Jahrhunderts eine stille Vorahnung von der Sackgasse, auf die hin sich das aufgeklärte Denken seiner Zeit zubewegte. Sein Rat an die kommende Generation lautete: „Der Christ von morgen wird ein Mystiker sein oder er wird nicht sein.“ Christliche Mystik ist Liebesmystik, Sühnemystik ist Liebesmystik. Vor dem Hin­tergrund seiner ganzen, am rationalistischen Denken orien­tierten Theologie wirkt diese Bemerkung eher überraschend, aber es scheint in der Tat eine prophetische Intuition gewe­sen zu sein, vielleicht die wichtigste, die aus seinem Gedan­kengut Bestand haben wird.

Während Philosophen und die sie bewundernden Theolo­gen sich auf der Suche nach der Wahrheit im Kreise drehen oder Antworten anbieten, die in sich den Keim der Verzweif­lung tragen, waren und sind es Visionäre und Mystiker, die den Menschen wieder Hoffnung geschenkt haben und schen­ken und Licht am Ende eines dunklen Tunnels aufleuchten lassen, durch den sich die auf ihre Vernunft fixierte Mensch­heit quält. Wie anders sind die Massen zu erklären, die all­jährlich an Orten wie Lourdes, Lisieux, Fatima, Guadalupe oder Medjugorje anzutreffen sind und nicht selten gerade dort seelische Weichenstellungen vornehmen, die im Gegen­satz zu dem stehen, was sie bisher gelebt haben. Sie entdecken die Atmosphäre wahrer Liebe.

Eine gütige Hand hat bewirkt, dass der Verfasser im Laufe seines langen Lebens verschiedenen Sehern und Visionären an verschiedenen Stätten begegnet ist, ausgiebig mit ihnen gesprochen und über sie geschrieben hat. Und von allen Per­sönlichkeiten, die er beruflich als Journalist oder privat kennen gelernt hat, waren sie es, die Seherinnen und Seher, die ihm – trotz ihres oft jungen Alters – am nachhaltigsten in Erinne­rung geblieben sind. Karol Wojtyla, der spätere Papst Johannes Paul II., nimmt da allerdings eine Sonderstellung ein.

Der Versuch, Glaube ganz in Vernunft umzusetzen, führt am Ende dazu, alles um uns herum zur Physik zu erklären und seltsamerweise, nach einer kurzen Atempause, zum Schein. Ein Zeichen, wie brüchig diese unsere Erkenntnis der Reali­tät ist, wenn sie nicht in Beziehung steht zu einer anderen, jenseits dieser Realität.

Es sind die Mystiker, die zu dieser vordringen, und der Weg dahin kann nur einer sein. Zum Urgrund allen Seins, der Liebe, führt nur die Liebe, die wie ein Metallkörnchen von einem gewaltigen Magneten angezogen wird. Glaubwürdige Visionäre männlichen und weiblichen Geschlechts werden nicht müde, das zu wiederholen und vorzuleben.

Antonie Rädler war eine. Was sie mit ihrem geistigen Auge vorausgesehen hat, ist eingetreten, der Versuch des Menschen, trotz aller Enttäuschungen und bitterbösen Erfahrungen im 19. und 20. Jahrhundert, sein eigenes Ich zum Maßstab aller Wirklichkeit zu machen, auf den sich alles zu beziehen hat. Eine freudlose Ich-Gesellschaft breitet sich aus rund um den Globus, die alles zertrampelt, was einmal heilig war und dem Menschen den Weg zum Heil gewiesen hat. In dieser Ego-Welt kommt die wahre Liebe unter die Räder. Antonies Ant­wort darauf war, sich selbst aufzuopfern, Sühne zu leisten und auf diese Weise den Menschen das Umdenken zu er­leichtern, die Wiederentdeckung der Frohen Botschaft, dass Gott uns nahe ist und in der Eucharistie als Ewige Liebe un­ter uns wohnt.

Beim Verfassen dieses Buches musste der Autor es erfah­ren. Er blieb von Leiden nicht verschont. Die ersten Zeilen waren kaum geschrieben, als bei seiner Frau Anneliese ein schweres Krebsleiden entdeckt wurde. Über acht Monate schrieb er, ständig unterwegs zwischen Klinik oder Pflege­heim und der Wohnung, die es in Ordnung zu halten galt. Keine der drei indischen Töchter war in der Nähe, sie konn­ten nur sporadisch helfen. Dazwischen galt es versprochene Vorträge zu halten, Medjugorje und Wigratzbad vor Ort im Auge zu behalten.

Nach der Erholung vom Tumor traten bei der Patientin Störungen bei der Wasserzirkulation im Gehirn auf, die zu Sprach- und Gehstörungen führten und zwei operative Ein­griffe notwendig machten. Hinzu kam ein Oberschenkelhals­bruch in der Rehaklinik. In wachen Zuständen zwischen­durch fragte sie stets nach dem Fortschritt des Buchmanu­skriptes über Wigratzbad und erinnerte an das dem Bischof von Augsburg gegebene Versprechen. Mehr unbewusst als be­wusst nahm sie an den Arbeiten intensiven Anteil. Ihr Leiden nahm sie als Sühneleiden an. Am Ende stand sie unter dem Kreuze. „Ich habe zu wenig Gutes getan“, flüsterte sie, eine Frau, die drei Kindern aus Indien mütterliche Geborgenheit gegeben und in Indien ein Kinderheim mit einer Eucharisti­schen Anbetungsstätte gestiftet hatte, das der Gottesmutter geweiht wurde. Auf dem Höhepunkt dieser Prüfungen stattete ihr die Seherin von Heroldsbach, Erika Bachg, einen sponta­nen Besuch ab. Einen Tag später folgte auf der Durchreise der Erzbischof von Bamberg, Dr. Ludwig Schick, und spendete ihr den Krankensegen. „Ein Zeichen“, sagte die Kranke mit leiser Stimme, „die Gottesmutter ruft mich.“ So war es. Ein paar Ta­ge später, am 22. August 2009, bei Sonnenaufgang des Festes „Maria Königin“ hat Gott, die Ewige Liebe, sie zu sich gerufen, ein Wunder der Gnade. Aus traditionsreichem protestanti­schem Hause kommend, war sie durch Stätten wie Medjugorje und Wigratzbad und Oberhirten wie Dr. J. Stimpfle zu einer in­nigen Marienverehrerin geworden und zur katholischen Kirche übergetreten. Ihrem Leitmotiv „Semper simplex – Immer ein­fach“ war sie, die gebildete Studiendirektorin, bis zum Schluss treu geblieben. Das „Siehe, ich bin die Magd des Herrn“ der Gottesmutter war für ihren Lebensstil prägend geworden. Konzelebrant beim Requiem war Thomas Maria Rimmel, Leiter der marianischen Gebetsstätte Wigratzbad.

Um ein Haar entging während der Arbeiten an diesem Buch der Autor bei einem Autounfall dem Tode. Der Verfas­ser war auf dem Wege von der Klinik in die Apotheke. Der zuständige Unfallarzt sprach hinterher von einem Wunder. Immer sind wir vom Himmel begleitet. Jede geschriebene Zeile dieses Buches ist wie kein anderes zuvor mit Schmerz durchtränkt. Er soll der Botschaft von Wigratzbad dienen. Gnade hat immer ihren Preis.

Ein besonderer Dank gilt zum Ausklang den Ärzten vom Klinikum Fulda, die uns in jener Zeit begleitet und beige­standen haben. Sie waren in ihrem Tun für uns ein wenig der Widerschein einer Liebe nicht von dieser Welt:

Prof. Dr. H.G. Höffkes, Onkologie
Prof. Dr. R. Behr, Neurochirurgie
Prof. Dr. A.H. Jacobs, Neurologie
PD Dr. Martin Hessmann, Unfallchirurgie
Dr. Dr. R. Wächter, MKG-Chirurgie

 

Über den Autor

Geboren im damaligen Freistaat Danzig, wuchs der Autor in einer deutsch-polnischen Kultur auf. 1939 wurde er unter dem NS-Regime mit der Familie in ein Konzentrationslager eingeliefert. Das hat sein Denken für immer geprägt. Nach dem Zweiten Weltkrieg studierte er Philosophie, Theologie und Psychologie in Rom, Paris, Posen und Warschau. Seit 1957 lebt er in der Bundesrepublik. Verheiratet mit einer 2009 verstor­benen Historikerin. Sie hatten drei indische Adoptivtöchter. Über vierzig Jahre verfolgte er als kritischer Publizist die in­ternationale Politik. In den 60er Jahren veröffentlichte er das „Polnische Experiment“, eine Vorahnung großer Dinge, die aus Polen kommen sollten. Das erste Exemplar überreichte er in Rom während des Zweiten Vaticanums Erzbischof Karol Woj­tyla aus Krakau, an dem sich einmal die Vision erfüllen sollte.

In den 80er Jahren schlug er mit den Titeln „Ich adoptierte Kinder aus Indien“ und „Komm Thomas, leg‘ deine Hand in meine Seite“ literarische Brücken nach Indien. In den 90er Jahren kam „Auf den Spuren des ungläubigen Thomas“ hinzu. Von den Titeln „Der prophetische Aufbruch von Medjugorje“ und „Medjugorjes Botschaft vom dienenden Gott“ gingen Im­pulse für das theologische und politische Denken aus. „Die Madonna und die Deutschen“, „Die Frau von Marpingen“ und „Leuchtfeuer für Europa“ sind dem Verhältnis der Deutschen zur Madonna gewidmet. „Weine über Deutschland, mein Kind“ gilt der Aussöhnung der Kulturen und der „Jahrhundert­skandal“ rechnet mit den unwissenschaftlichen Forschungs­methoden ab, die sich mit dem Leben Jesu auseinandersetzen. Im Jenseits des Scheins“ schließlich berichtet er über seine geheimnisvolle Heilung vom Blutkrebs, die er auf den Geist von Medjugorje zurückführt.

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Quelle: Eigener Scan aus meinem persönlichen Exemplar des im Titel genannten (neu nicht mehr erhältlichen) Buches

Siehe weiter:

 

Aus: Alfons Sarrach: SIEG DER SÜHNE – Wigratzbad: Marias Botschaft an den Menschen

Kapitel XI

Die öffentliche Meinung

 

Presse läuft Sturm

Wigratzbad spricht eine Sprache, die diese Welt nicht ver­steht, eigentlich nie verstanden hat. Der Bau des Gotteshau­ses war in vollem Gange, da lief die öffentliche Meinung – so pflegt man zu sagen, auch wenn sie gesteuert ist – Sturm gegen das Vorhaben. Wo demontiert werden kann, da wird nicht viel recherchiert, nicht viel geforscht, nicht gründlich hinter­fragt, da spielt der Wahrheitsgehalt eine untergeordnete Rolle. Was sich in vierzig Jahren an Misstrauen, Ablehnung, Spott, ja Zynismus ausleben durfte, das wurde wieder ausgegraben. Antonie Rädler wurde dämonisiert, wie in den dunkelsten Jahren des sog. Dritten Reiches.

In den Überschriften einiger Presseorgane spiegelte sich dieser Geist wieder. Und erschütternd ist, dass einige katho­lische Blätter eifrig mitzogen. In der „Allgäuer Zeitung“ vom 17. Februar 1973 wurde es mit unschuldiger Miene in die Frage gekleidet: „Wallfahrt oder Geschäft?“ Die geistige Di­mension, die dahinter stand, blieb den Schreibenden in den Redaktionsstuben verborgen. Andere glaubten, in dem Bau und in der Gebetsstätte überhaupt einen Spaltpilz innerhalb der Kirche des Bistums zu entdecken. So der „Südkurier“ am 6. Februar 1973. Dabei wurden dem Dekan von Lindau Aus­sagen in den Mund gelegt, die nicht zutrafen: „In Wigratz­bad sei alles reichlich obskur.“

Ähnlich lauteten andere Schlagwörter, z.B.: „Die wunder­samen Wunder von Wigratzbad“ oder „Ein Allgäuer Dorf wird wider Willen der Kirche Wallfahrtsort“. In der „Ost­schweiz“ aus St. Gallen hieß es am 14. August 1974: „Der Glaube allein macht selig. Ein Wunder für eine Mark zwan­zig“. Die „Stuttgarter Zeitung“ zitierte im Jahre 1974 in ihrer Nr. 88 eine angebliche Aussage aus dem Bischöflichen Ordi­nariat: „Pseudo- und Aftermystik“. Herabsetzender hätte man es nicht ausdrücken können.

In den katholischen Blättern der benachbarten Diözesen blieb man auf der gleichen Linie. Im „Passauer Bistumsblatt“ wurden die Gläubigen weniger ermutigt als entmutigt, diese Stätte zu besuchen. Darin hieß es: „Eine sehr problematische Kirche entsteht im Allgäu.“ Noch zwei Jahre nach der Fertig­stellung und feierlichen Einweihung der Kirche ließ man es am 4. Juni 1978 in der Jubiläumsnummer des „Katholischen Sonntagsblattes“ in einer Leserzuschrift sagen, die zeigte, wie sehr manchen Christen in den letzten Jahrzehnten der Geist des Kreuzes und seine Botschaft fremd geworden sind: „Das ist genau der Weg“, war zu lesen, „der zu den pharisäischen Sühnenächten in Wigratzbad und anderswo führt, wo man die Sünde anderer sühnen will.“

Vergessen sind die Worte Jesu bei Matthäus: „Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach“ (Mt 16,24-25). Jesus hat das Kreuz auf sich genommen, um für die Sünden der Welt zu sühnen. Daran wird der Gläubige in jeder hl. Messe bei den Wand­lungsworten erinnert: „Das ist mein Blut, das für euch und für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden.“ Bereit zu sein, sogar für die Vergehen des Feindes zu sühnen, macht das Christentum zu einer unvergleichbaren Religion. Das ist christliches Glaubensgut seit 2000 Jahren. Wer dem Herrn nachfolgen will, soll sein Kreuz auf sich nehmen, in dem glei­chen Geist. Christentum bedeutet Verantwortung für den an­dern. Einer auf Selbstverwirklichung und auf Egoismus aus­gerichteten Kultur muss das befremdend erscheinen.

Vier Wochen vor der Einweihung entschloss sich Bischof Josef Stimpfle in seinem Amtsblatt zu einem klärenden Wort. Nach einer kurzen Vorgeschichte erläuterte er die Grundsätze, an denen sich die Seelsorge in Wigratzbad orientiert und in Zukunft ausgerichtet sein wird. Die kirchlichen Verhält­nisse seien geordnet.

Keine Minimalisten

Davon unbeeindruckt wandte sich die Tageszeitung „Der Westallgäuer“ wenige Tage vor der Konsekration an Antonie Rädler und Pater Johannes, um ihnen ein paar kritische Fra­gen zu stellen. Es erweckte den Eindruck, als wollte sie noch in letzter Minute verhindern, was nicht mehr zu verhindern war. Sie begründete ihre Initiative — wie es im Vorspann hieß — mit dem Hinweis darauf, dass die Gebetsstätte Wigratzbad in der Region umstritten sei. Weite Teile der Bevölkerung würden ihr mit Ablehnung oder mit Skepsis begegnen. Die Geistlichkeit verhalte sich reserviert. Antonie und Pater Jo­hannes bezeichnete das Blatt als Hauptverantwortliche.

Eine Zeitung kann unter dem Vorwand, zu informieren, eine Atmosphäre auch anheizen. Die Art der Fragen jeden­falls war nicht zimperlich. Schon in der ersten forschte man nach den Gründen dafür, warum sie den Wallfahrtsbetrieb „aufgezogen“ und ausgebaut habe. In der zweiten beruft man sich darauf, dass Kritiker bei der „Urheberin“ von „Geschäfts­tüchtigkeit“ sprechen. Ob der Besucherstrom ihr persönliche Vorteile gebracht habe, wurde unverblümt gefragt.

Antonie beantwortete die Fragen souverän. Aus Dankbar­keit für die Errettung vom sicheren Tod habe sie eine Marien­grotte auf elterlichem Besitz errichtet, vor der sie in freien Stunden betete. Nachbarn kamen dazu, Menschen von aus­wärts, die Sorgen auf dem Herzen hatten. Eine zarte Anspie­lung auf den Psychoterror, dem sie unter dem Naziregime ausgesetzt war. Persönliche Vorteile habe ihr der Pilgerstrom nicht eingebracht, eher das Gegenteil: Sorgen, Mühen und Ar­beiten bei Tag und Nacht, Sonntag und Werktag. In vierzig Jahren habe sie einmal für drei Tage Urlaub genommen.

Viele Christen vermissten in Wigratzbad die „Kirche von heute“. Ob man sich als konservative Randgruppe verstehe, die im Kampf mit der offiziellen Kirche stehe, ob man die vor­konziliare Kirche kultiviere, lautete die nächste Frage, und sie war an den Pater gerichtet. In Wigratzbad werde jener Spiel­raum genutzt, den die Kirche bei der Feier der Liturgie gelas­sen habe. Bestimmte Reformen seien ein Privileg, aber kein Muss, etwa die Handkommunion, um ein Beispiel zu nennen.

Schließlich kam die Rede auf den angeblich übertriebenen Marienkult in Wigratzbad, den Außenstehende festgestellt haben wollten, und dieser sei nicht im Sinne der Kirche. In Deutschland keine ungewöhnliche Frage, das seit langem ein gespaltenes Verhältnis zur Madonna hat, im Gegensatz zu ei­nigen anderen Ländern Europas, etwa Polen, Italien, Spanien und sogar Russland. Lächelnd konnte der Geistliche, ein in Theorie und Praxis erfahrener Theologe, diese Unterstellung zurückweisen. Ein solcher Widerspruch erkläre sich, wenn man in der neuesten Mariologie nicht zu Hause ist. Dann fügte er hinzu: Natürlich bin ich bei der Marienverehrung kein Minimalist, sondern gehöre eher zu den Maximalisten, aber gerade die haben im Laufe der Geschichte stets den Sieg da­vongetragen.

Am Ende wollte der Journalist eine Erklärung dafür, wa­rum die meisten Pilger nicht aus der näheren Umgebung, son­dern eher von außerhalb des Westallgäus herkämen. Der Seel­sorger empfahl, sich einmal die Fahrzeugschilder anzuschau­en, dann werde man feststellen, dass die Mehrzahl aus dem Allgäu und der Bodenseegegend komme. Übrigens blieben jahrzehntelange Verleumdungen eben nicht ohne Auswirkun­gen, besonders in der nächsten Umgebung. Aber die Tatsache, dass der Bischof des Bistums die Kirche selber konsekriere, sei ein Beweis dafür, wie gegenstandslos die vielen Vorwür­fe gewesen seien. Mit seiner Autorität decke er Wigratzbad und stehe für die Gebetsstätte ein.

Wenn Redakteure an katholischen Zeitschriften sich heute schwer tun, irreführende Behauptungen im Bereich des Glau­bens zurückzuweisen oder ihnen nicht nachzulaufen, wie es z.B. bei der Bibelkritik der Fall ist, wo man auf haarsträuben­de Berichte und Darstellungen stoßen kann, dann ist von Redakteuren der säkularen Presse nicht zu erwarten, dass sie für marianische Mystik ein offenes Ohr haben. Sie sind in diesem Bereich einfach überfordert. In der Auseinanderset­zung um ein christliches Weltbild wird Maria außerdem für Atheisten und Cafeteria-Christen immer ein Stein des An­stoßes bleiben.

 

Kapitel XII

Das Zelt

Welt braucht Beter

Was 1938 niemand erträumen konnte, niemand für mög­lich gehalten hätte, es war nach vierzig Jahren wahr geworden. Am 7. Mai 1976 wurde der Stiftungsbrief unterzeichnet, Vo­raussetzung für ein Gebäude, das für den öffentlichen Kult bestimmt ist. Drei Wochen später, am 30. Mai 1976 weihte der Oberhirte von Augsburg, Dr. Josef Stimpfle, eine aussage­starke Pilgerkirche in Wigratzbad ein. Es war der Sonntag vor Pfingsten und es waren nicht ein paar hundert Gläubige da­bei, wie einst bei der Einweihung der Grotte, es war ein Mas­senansturm aus Süddeutschland, Österreich und der Schweiz. Die Zeltkirche konnte maximal zwei- bis dreitausend Men­schen fassen. Gekommen waren 8000. Die Feierlichkeiten mussten über eine Lautsprecheranlage nach außen übertra­gen werden.

Pater Johannes Schmid, der seit einigen Jahren die Pilger betreute, begrüßte den Bischof im Namen der Gebetsstätte „Maria vom Sieg“. Die Bedeutung der bischöflichen Entschei­dung für Wigratzbad kurz nach seiner Ernennung fasste er in einem Satz zusammen: „Dieses Ereignis ist ein überzeu­gender Beweis, dass Wigratzbad keine Sekte ist, nicht im Wi­derspruch steht zur offiziellen Kirche.“ Vor ihren geistigen Augen dürfte Antonie die monumentale Sühnekirche auf dem Montmartre in Paris gehabt haben, die sie vor dem Zwei­ten Weltkrieg besuchen durfte. Nun gab es eine solche in Deutschland.

Nach dem feierlichen Amt am Vorabend nahm der Ober­hirte an den Sühnegebetsstunden teil, betete selbst vor. Sie dauerten bis zur Frühmesse um 7 Uhr. So setzt man große Beispiele. Am Sonntag um 9 Uhr begann dann die feierliche Konsekration. In einer Prozession wurden die Reliquien vom Seitenaltar abgeholt und in den Hauptaltar versenkt. Seit ih­ren Anfängen feierte die Kirche das heilige Opfer über den Gräbern der Märtyrer.

Die Auswahl spricht für sich. Es waren Reliquien der Mär­tyrin Christina, die gegen Ende des 3. Jahrhunderts, also in der Zeit der Urkirche, von ihrem eigenen Vater um des Glau­bens willen einem grausamen Tod ausgeliefert wurde. Die an­deren waren von Karl Lwanga, dem Anführer der Märtyrer von Uganda, die am 3. Juli 1886 für ihren Glauben hinge­richtet wurden, also Zeugen aus der Neuzeit. Ein Bogen der Entscheidung für Gott spannt sich von den Anfängen bis in die beginnende Moderne.

Lwanga war Vorsteher von 500 Pagen des Königs, unter ihnen bereits einige Christen, die er besonders vor sexuellen Übergriffen des Königs schützte. Aber andere gewannen Ein­fluss auf den jungen Monarchen. Das besiegelte ihr Schicksal. Am Abend des 25. Mai 1886 zwang der König alle, Farbe zu bekennen. Lwanga und 21 andere bekannten sich zum Chris­tentum. Sie wurden zum Tode verurteilt und mussten zu Fuß 60 Kilometer zum Richtplatz zurücklegen, dann wurden sie auf einen brennenden Scheiterhaufen geworfen. Ein Verwand­ter einer dieser Märtyrer wurde der erste farbige Bischof von Afrika. Bei der Heiligsprechung der Märtyrer feierte er gera­de sein silbernes Bischofsjubiläum.

Die Weihepredigt von Bischof Stimpfle war von besonderer Tiefe und Aktualität: „Christi Sühne aus Liebe zur sündigen Welt ist die Mitte des Heilswerkes“, sagte er. „Die Heiligung, das unsagbar hohe Geschenk der Sühne Christi, soll durch die geheiligten Beter der im Argen liegenden Welt erfleht werden. Die Welt braucht Menschen, die die Nacht durchbe­ten, um die Sünder mit Gott auszusöhnen und ihnen den Frieden Christi zu vermitteln.

In einer Zeit, die Gott vergisst, ist in Wigratzbad eine Stät­te des Gebetes erblüht. Inmitten einer Kirche, die viel über ihre Erneuerung diskutiert, wird in Wigratzbad die Antwort liebender Hingabe in der Herzensgesinnung Jesu und Mari­ens geübt. Im Kampf gegen den Fürsten dieser Welt, der die Geister verwirrt und viele Menschen ins Verderben stürzt, wird im Geiste des gekreuzigten Erlösers Sühne geleistet, um Menschen zu retten. Wer möchte in Abrede stellen, dass die Welt Beter braucht, Beter, die Nächte durchbeten, um Sün­der mit Gott auszusöhnen und ihnen den Frieden Christi zu bringen; Beter, die Sühne leisten für das, was in unserer Gesellschaft und unserem Volk geschieht, wenn Grundwerte des Lebens, die Fundamente des Glaubens und der Kirche aus­gehöhlt werden und der Zeitgeist des Materialismus und Sä­kularismus zu einem Leben verführt, das nur an sich denkt und die Erfüllung und den Sinn des Daseins im Genuss der irdischen Güter sucht.“

Beim anschließenden Festessen fasste er in seiner kurzen Abschiedsrede noch einmal seine Meinung über das Lebens­werk von Antonie Rädler zusammen: „Dass jemand durch vierzig Jahre jede Woche mindestens eine Nacht durchgebe­tet, vierzig Jahre dies durchgehalten hat, so etwas habe ich noch nirgendwo gelesen oder gehört. Da ist ein Quell aufge­brochen, eine Quelle, die von Gott ausgeht. Das ist die heu­tige Festfreude. Deswegen freuen wir uns mit Antonie Räd­ler, dass der liebe Gott alles so wunderbar geführt hat. Ich hänge mich mit der ganzen Diözese bei Ihnen an.“

Damit hat eine leidvolle Entwicklung über vier Jahrzehnte einen krönenden Abschluss gefunden. Er zeigt, dass Maria unter „siegen“ etwas anderes versteht als der Mensch in sei­ner blutgetränkten Geschichte. Es ist ein Sieg des Sühnege­dankens, zu dem Maria unter dem Kreuze ihr Ja gegeben hat.

An dieses Ja möchte sie den Menschen über die Geschichte von Wigratzbad erinnern.

Nicht allein gelassen

Wer von Gott zu einer außergewöhnlichen Aufgabe beru­fen wird, den lässt er nicht allein. Man sieht es am Beispiel großer Ordensstifter oder jener, die Erneuerungsbewegungen ins Leben gerufen haben. Antonie Rädler sollte es auch er­fahren. 1949 trat eine 36-jährige Frau, das neunte von elf Kin­dern einer christlichen Familie, an ihre Seite – es war There­sia Moser, Schwester des praktischen Arztes Dr. Konrad Moser aus Bechtersweiler. Über zehn Jahre als Verkäuferin in einem großen Kaufhaus tätig, musste sie ihre Stelle aus gesundheit­lichen Gründen aufgeben. Ein halbes Jahr half sie in der Pra­xis ihres Bruders aus.

Von ihrer Schwester eines Tages dazu eingeladen, an einer Sühnenacht in Wigratzbad teilzunehmen, sträubte sie sich zunächst, gab dann schließlich nach. In den ersten Stunden konnte sie ihre innere Abneigung nicht überwinden. Aber ge­gen 23 Uhr fiel alle Müdigkeit von ihr ab, die Atmosphäre des Gebetes drang in ihre Seele. Sie hielt bis zum frühen Morgen durch. „Ich komme wieder“, sagte sie zum Abschied.

Im September sprach Antonie sie an, ob sie nicht für im­mer zu ihr kommen möchte. Sie wollte es sich noch überle­gen. Zu ihrer Schwester meinte Antonie jedoch: „Die kommt zu mir. Die Gottesmutter hat sie mir gezeigt und mir gesagt, dass sie zu mir kommt.“

Nach einem Gespräch in Wigratzbad wurde Theresia auf ihrem Fahrrad von zwei Männern über eine längere Strecke verfolgt. Es gelang ihr nicht, sie abzuschütteln. In ihrer Angst zog sie den Rosenkranz aus der Tasche, wickelte ihn um ihre Hand und ließ ihn herunterhängen. Als die beiden ihn be­merkten, verschwanden sie. Auf der Weiterfahrt sah sie plötz­lich einen dicken Baumstamm auf der Straße liegen. Sie stieg ab und wollte ihn wegräumen, aber er war zu schwer. So hob sie das Rad über den Stamm hinweg und wollte zum nächs­ten Haus fahren, um Hilfe zu suchen. Da sah sie mit Entset­zen ein Auto ankommen. Der Baum hätte zum Verhängnis für den Fahrer werden können. Zu ihrem maßlosen Erstau­nen fuhr der Wagen jedoch ohne anzuhalten vorbei. Das Hin­dernis war verschwunden. Ein heiligmäßiger Priester erklär­te ihr später, das alles sei ein Versuch der Hölle gewesen, sie davon abzuhalten, nach Wigratzbad zu gehen.

Daheim fand sie vier Angebote vor. Es waren günstige Ar­beitsplätze. Außerdem hielt jemand um ihre Hand an. In die­ser Situation bat sie die Gottesmutter um Entscheidungshilfe. Am darauf folgenden Donnerstag fuhr sie zur Sühnenacht nach Wigratzbad. In der Esspause blieb sie allein in der Ka­pelle zurück und betete in ihrem Herzensanliegen. Da hörte sie eine innere Stimme: „Hier wirst du am notwendigsten ge­braucht!“ Als die junge Frau nachfragte: „Was willst du von mir?“ hörte sie abermals die gleiche Stimme: „Hier wirst du am notwendigsten gebraucht.“ Am Morgen erklärte sie Anto­nie Rädler ihre Bereitschaft, zu kommen. Diese antwortete lächelnd: „Ich wusste es bereits.“

Ein Gotteshaus allein schafft es nicht. Es sind Menschen, betende, ganz auf Gott ausgerichtete Menschen, die ihm seine Ausstrahlung geben. Theresia, von allen Resi genannt, wurde die rechte Hand Antonies und das Herz der Gemeinschaft. Über Jahre oblag ihr die Buchführung, außerdem kümmerte sie sich um die Devotionalien, die an einer Gebetsstätte im­mer gefragt sind. Sie verband gesunden Menschenverstand mit Frohsinn. Mit Energie und Tatkraft meisterte sie schwie­rige Situationen, wirkte ausgleichend. Menschen verschiede­nen Charakters hielten zusammen und blieben dem Werk verpflichtet. Von unvoreingenommenen Beobachtern wurde es als Wunder der Gnade bezeichnet.

Kurz vor ihrem Tode ließ Antonies Mutter Resi ans Ster­bebett kommen und nahm ihr das Versprechen ab, Antonie die Treue zu bewahren. Zu diesem Versprechen stand sie. Nach Antonie wird Theresia Moser das größte Verdienst am Aufblühen der Gebetsstätte zugeschrieben.

Im Jahre 1955 wurde Resi am Pfingstmontag von einem Mann angesprochen, der sich als Anton Walz vorstellte. Ihm war am Motorrad die Kette gerissen, er bat um fünf Mark, die er auf jeden Fall zurückbringen wollte. Resi führte ihn zu Antonie Rädler. Die fragte nach seinem Beruf. Als er sich als Maurer bezeichnete, reagierte sie erfreut und schlug ihm vor, während das Rad repariert werden sollte, bei der Fertigstel­lung des Sanatoriums mitzuhelfen.

Anton Walz gefiel es so gut, dass er Neigung zeigte, für im­mer dort zu bleiben, fürchtete jedoch, sein Arbeitgeber wür­de ihn nicht freigeben. Wider Erwarten willigte dieser jedoch sofort ein und ließ seinen besten Arbeiter gehen, was er später selber nicht verstehen konnte. Es sei wohl eine höhere Kraft gewesen, die ihn dazu bewogen habe. An den Anlagen der Gebetsstätte gab es praktisch nichts, bei dem er nicht mit Hand angelegt hätte, ob Speisesäle, Kühlkeller, ob die Asphaltierung der Wege auf dem Kreuzhügel oder die Treibhäuser, die das Haus das ganze Jahr mit Frischgemüse versorgten. In der Ge­betsstätte fand er sogar seine Frau.

1967 heiratete er Maria Krug, Jahrgang 1915, aus Kisslegg. Sie war 1952, drei Jahre vor ihm, nach Wigratzbad gekommen. Ihr Vater war einer der Ersten, der die Sühnenächte vor der Grotte durchbetete. Der Geist des Vaters ging auf die Tochter über. Sie stand als Köchin zur Verfügung, schmückte die Ka­pelle und später die Kirche, gestaltete mit Resi Moser die Süh­nenächte und die Gottesdienste. Über Jahrzehnte stand sie dem Werk zur Verfügung und hat ihm ihr Leben geweiht.

Nicht unerwähnt bleiben kann hier eine weitere Kraft, Schwester Maria Kennerknecht, Jahrgang 1893. Nach ihrer Versetzung beim Roten Kreuz in den Ruhestand nahm sie 1954 ihren Dienst bei Antonie auf. 28 Jahre hindurch hat sie der Stätte unermüdlich gedient, vor allem bei der Kranken­versorgung. 1982 wurde sie in die Ewigkeit abberufen.

Das Kieswunder

Alle vorgestellten Personen haben Tag für Tag, oft auch die Nacht hindurch, ohne Urlaub, ohne irdischen Gewinn, mit einem kargen Gehalt, viele Stunden, oft bis zur Erschöpfung gearbeitet und viele Stunden gebetet. Jeden Abend hat Anto­nie mit den Angestellten zwei und mehr Stunden im Gebet verbracht. Bisweilen kamen in einer Woche mehrere Sühne­nächte zusammen. Einmal haben sie, so berichtete Resi, in dreieinhalb Tagen nur acht Stunden geschlafen.

Bei dieser Einstellung blieb außerordentliche Hilfe von oben nicht aus. „Als wir das Haus im Garten bauten“, erzählte spä­ter Theresia Moser, „war ich den ganzen Tag an der Beton­maschine tätig. Gegen Mittag sah ich besorgt auf den Kies­haufen, der immer kleiner wurde. Da riefen wir den Bau­meister. Kies hätte er liefern können, hatte aber keine Arbeiter, ihn zu verladen. Da ging Antonie Rädler vorbei. Ich klagte unsere Not. Sie war auf dem Weg zum Kreuzhügel, um dort zu beten. Als sie zurückkam, sagte sie kurz: „Macht nur weiter, der Kies wird reichen!“ Tatsächlich, der Haufen wurde nicht kleiner. Die Decke wurde fertig und es blieben noch fast drei Kubikmeter übrig.“ Ein Vorgang, der übrigens auch aus dem Leben des Pfarrers von Ars berichtet wird.

Diese treuen Begleiter, Gott ganz ergebene Menschen, wa­ren all die Jahre hindurch der Verachtung, dem Hohn und der Verleumdung ausgesetzt. Von Seiten der Bevölkerung schlug ihnen falscher Argwohn entgegen. Auf diese Weise teilten sie das Schicksal Antonies, die sogar von den Kanzeln herunter angefeindet und verunglimpft wurde.

Ideale Voraussetzung

Neben diesen Menschen, jeder in sich eine Persönlichkeit, haben in den späteren Jahren einige Priester die geistliche At­mosphäre geprägt und entfaltet. 1969 stieß Johannes Schmid zur Gemeinschaft, Mitglied des Ordens der Passionisten. Erzbischof Stimpfle nannte ihn eine besondere Aufmerksam­keit Gottes. Die Passionisten sind eine Gemeinschaft, die sich in besonderer Weise der Verehrung des Leidens Christi ver­pflichtet weiß.

Gegründet wurde der Orden 1720 durch den blutjungen Paolo Francesco Danei (1694-1775), der sich später Paul vom Kreuz nannte. Geboren in einer reichen Familie in Ovada in Norditalien, hatte er mit 19 Jahren ein Erlebnis, das ihn be­wog, sich einem dem Gebet gewidmeten Leben hinzugeben. Ein kluger Kapuziner machte ihm klar, dass der Mensch, der auf Gott zugehen will, der Liebe in allem den Vorrang geben und sich von eigenen Gottesbildern lösen muss. Die Erkennt­nis, dass Gott am ehesten im Leiden Christi gefunden werden kann, wurde zur stärksten Triebfeder, sein Leben der Verbreitung dieser Botschaft zu widmen. Die Verehrung des Leidens Christi wurde zum Hauptmerkmal seines Ordens. Paul vom Kreuz gilt als größter Mystiker des 18. Jahrhunderts.

Diese Geisteswelt war eine ideale Voraussetzung für ein Wirken an der Gebetsstätte in Wigratzbad. Mit brennendem Eifer widmete der Passionist sich den zunehmenden Scharen von Pilgern und versuchte ihnen die Bedeutung des Gebetes und der Sühne nahe zu bringen. Seine letzte Ruhestätte fand er 1987 in der Ölbergkapelle im Schatten der Sühnekirche ne­ben Antonie Rädler, die ihm nur ein paar Jahre später folgte.

Die nachlassenden Kräfte von Pater Schmid im Blick, fällte Bischof Stimpfle rechtzeitig eine weitsichtige Entscheidung, die etwas von der Instinktsicherheit dieses Oberhirten erah­nen lässt. Von der berühmten Wieskirche im Allgäu holte er sich einen erfahrenen Theologen, Dr. Dr. Rupert Gläser. Die­ses 1744 erbaute Gotteshaus ist eine Wallfahrtskirche unter dem Titel „Zum Gegeißelten Heiland“. Vielen ist sie jedoch eher bekannt wegen ihrer fantastischen weltberühmten Ar­chitektur. Aber wichtiger ist die Theologie, die sich in ihr aus­drückt. Diese sieht den wesentlichen Zug der Kirche in ihrem eschatologischen Charakter, mit anderen Worten, sie sollte sich nicht von Zeit und Raum einengen lassen, ihr Blick muss vielmehr ständig auf die Wiederkunft des Herrn ausgerichtet sein. Das gefiel gegen Ende des 18. Jahrhunderts – wie auch heute – dem Zeitgeist ganz und gar nicht.

Von einer solchen Theologie geprägt, war Rupert Gläser eine glückliche Besetzung für Wigratzbad. Ihm oblag im Sinne des Oberhirten die Aufgabe, den Geist der Gründergenera­tion in unsere Zeit hinüberzutragen. Das ist ihm in den Jah­ren von 1984 bis 1999, als ihm die Leitung der Stätte anver­traut war, gelungen. Noch heute strahlt er etwas von dieser an ihn ergangenen Berufung aus.

1999 wurde er als Direktor von Thomas Maria Rimmel abgelöst, ernannt von Bischof Dr. Viktor Josef Dammertz, dem Nachfolger von Dr. Josef Stimpfle auf dem Bischofssitz von Augsburg. Rimmel leitete eine neue Phase ein. Er ver­sucht den Geist der Weltkirche in die Stätte hineinzubringen. Typisch dafür ist, dass er an dem weltberühmten Erschei­nungsort Guadalupe in Mexico an Priesterexerzitien teilge­nommen hat. Auch eine Fußwallfahrt nach Santiago de Com­postella gehört dazu.

Seit 1988 hat sich in Wigratzbad die romtreue Petrusbru­derschaft niedergelassen und unterhält dort ein Priestersemi­nar. Um Missverständnissen vorzubeugen, hat Rimmel eine behutsame Entflechtung der Gebetsstätte und der Bruder­schaft vorgenommen. Sein Motto lautet „Integrieren, nicht isolieren“. Das gilt für alle Bewegungen und Gemeinschaften. Programm und eingeladene Gäste, u.a. auch aus Rom, zeigen, dass ihm dies gelungen ist.

Antonie Rädler habe die Menschen im Gebet mitgerissen und ganze Nächte mit ihnen durchgebetet. Daraus seien die sog. Sühnenächte entstanden und zu einem zentralen Moment im Leben der Gebetsstätte geworden. Wigratzbad sei ein Ort – so Rimmel in einem Interview –, der Freude ausstrahle. Das hänge damit zusammen, dass man der Versöhnung des Menschen mit Gott einen hohen Stellenwert einräume. Die Menschen hungerten nach der Botschaft vom Frieden mit Gott. Das zeige u.a. die feierliche Gestaltung des Weißen Sonn­tags als sog. Barmherzigkeitssonntag.

Von Bischof Dr. Walter Mixa, einem Nachfolger im Amt von Dr. Josef Stimpfle, wurde Thomas Maria Rimmel als Di­rektor der Stätte in den Priesterrat der Diözese aufgenommen, ein Beweis für die volle Integration der Gebetsstätte in das Leben der Kirche.

In Wigratzbad wurde im Rahmen der wöchentlichen Süh­nenacht am Donnerstagabend ein Heilungsgebet mit Hand­auflegung durch die anwesenden Priester eingeführt. Der mo­natliche Krankentag mit Eucharistischem Einzelsegen zählt zu den Höhepunkten im Wallfahrtsleben. Ein besonderes Cha­risma, zu segnen, haben die Gläubigen bei dem indischen Priester Santan Fernandes aus St. Ulrich a. Pillersee in Öster­reich entdeckt, der aus diesem Grunde mehrmals im Jahr in die Sühnekirche kommt.

Eng verbunden ist der Stätte auch Erich Maria Fink, gebo­ren in Isny im Allgäu. Von 1992 bis 1995 hat er die Gebets­stätte Marienfried betreut. Zum Beginn des Jahres 2000 wur­de er für den Dienst in Russland freigestellt und ist nun Pfar­rer der Gemeinde „Königin des Friedens“ in Beresniki im Ural. Er ist Wigratzbad treu geblieben und gibt dort zweimal im Jahr Exerzitien.

Ganz von Wigratzbad erfasst wurde auch ein Priester aus der Diözese Hildesheim. Es ist Pfarrer Bernhard Kügler. Seit dem Jahre 2000 steht er der Gebetsstätte zur Verfügung. Die dort gepflegte Geistigkeit entsprach so sehr seinen Vorstel­lungen, dass er sich ihr voll zur Verfügung stellte.

K-TV

Eine Erweiterung des Wirkungsbereiches der Stätte ergab sich in den letzten Jahren durch die Verbindung mit dem ka­tholischen Sender K-TV. Das „K“ steht für Kephas, das grie­chische Wort für Felsen. Er hat sein Hauptstudio im nicht sehr entfernten Dornbirn, im Dreiländereck am Bodensee. Der Sender ist die Verwirklichung eines lang gehegten Wun­sches des Schweizer Geistlichen Hans Buschor aus der Diözese St. Gallen. Er will die christliche Frohe Botschaft in einer säkularen Welt über das Fernsehen verkünden. Besonders ge­pflegt werden dabei Veranstaltungen mit dem Papst in Rom und anderweitig. Oft die einzige Möglichkeit im deutschspra­chigen Raum, über die Reisen des Nachfolgers auf dem Stuhl Petri informiert zu sein.

Medienfachleute gaben der Initiative wenig Chancen. Aber der Sender, der am 11. September 1999 erstmals die Ausstrah­lung auf einem eigenen Kanal über Satellit durchführen konn­te, feierte 2009 sein zehnjähriges Bestehen. In Wigratzbad wurde eigens ein Studio eingerichtet, um Gottesdienste und andere Veranstaltungen zu übertragen.

Von einer solchen neuen Möglichkeit, die Botschaft von Sühne und Versöhnung in die Welt auszustrahlen, hat Anto­nie Rädler noch nicht träumen können. Aber Gott wirkt im­mer und führt fort, wo menschliches Leben seine Grenzen findet. Die Kirche ist unterwegs, woran das Gotteshaus auf dem Hügel Besucher und Pilger erinnert. Sie schreitet voran — bewegt u.a. von Impulsen, wie sie von Orten wie Wigratz­bad immer wieder ausgehen —, der Ewigkeit entgegen, allen Versuchen zum Trotz, die Menschen auch über die Medien mit vorgegaukelten Paradiesen von diesem Weg abzubringen.

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Quelle: Eigener Scan aus meinem persönlichen Exemplar des im Titel genannten (neu nicht mehr erhältlichen) Buches

Siehe weiter:

Aus: Alfons Sarrach: SIEG DER SÜHNE – Wigratzbad: Marias Botschaft an den Menschen

Kapitel X

Geistiger Frühling

Vaterfigur aus dem Buch

Zu den Eigenarten der Gebetsstätte Wigratzbad gehört ­– worauf schon hingewiesen wurde –, dass auf verschiedene Weise und zu verschiedenen Zeiten ganz verschiedene Personen mit einbezogen wurden, um ein Vorhaben voranzubrin­gen, das ganz offensichtlich vom Himmel gesteuert wurde. In diesen Rahmen gehört die ungewöhnliche Gestalt eines Oberhirten, der am 12. September 1963 von Papst Paul VI. zum Bischof von Augsburg ernannt wurde.

Geboren in Maihingen am 25. März 1916 – an einem be­deutenden Marienfest also – in einer aus dem Glauben heraus lebenden Familie, schickte diese ihn mit zehn Jahren in das bischöfliche Knabenseminar nach Dillingen an der Donau. Nach dem Abitur entschied er sich 1935 für die Theologie. Seine Betreuer legten ihm bald nahe, sich um die Möglichkeit eines Studiums an der berühmten päpstlichen Universität, der Gregoriana, in Rom zu bewerben. Damit war seine spätere Laufbahn vorgezeichnet. In der Ewigen Stadt bekam er etwas von der Atmosphäre der Weltkirche mit. Seinen Aufent­halt dort musste er 1940 jäh unterbrechen, weil er zum Wehr­dienst nach Deutschland einberufen wurde.

Nach dem Kriege empfing er von Bischof J. Kumpfmüller die Priesterweihe. Beide ahnten nicht, dass der Geweihte den Weihenden einmal in einer wichtigen Sache korrigieren sollte. Anschließend war er zwei Jahre in der Seelsorge in Augs­burg tätig. 1948 konnte er dann sein Studium in Rom fortsetzen, das er 1951 mit dem Doktortitel abgeschlossen hat. Ein Jahr danach wurde er zum Subregens am Priesterseminar in Dillingen ernannt. Von dort, etwa zehn Jahre später, auf den Bischofssitz von Augsburg berufen.

Er war das genaue Gegenteil seiner beiden Vorgänger und hatte ein ganz anderes Selbstverständnis von seinem hohen Amt. Er wollte geistiger Vater aller sein und somit etwas von der väterlichen Güte Gottes ausstrahlen. Das überzeugte und machte ihn sehr populär. Gegenüber geistigen Impulsen zeig­te er sich aufgeschlossen und ließ sich diesbezüglich nicht von Vorurteilen in die Irre führen. Oft kam er bei den Besuchen unserer indischen Kinder mit Geschenken unter dem Arm. Aber er begnügte sich nicht damit, diese nur zu überreichen. Noch heute haben unsere Töchter, inzwischen reife Frauen und selbst zum Teil schon Mütter, vor Augen, wie er sich mit ihnen auf den Teppich setzte, um ihnen die mitgebrachten Spiele zu erläutern und mit ihnen zu spielen. Eine Vaterfigur wie aus dem Buch.

Als er einmal nach einem Besuch unser Haus verließ, traf er auf der Straße eine Gruppe von Bauarbeitern an, die er so­fort begrüßte und ansprach. Wegen des Autos erkannten sie ihn natürlich als Bischof und waren entsprechend beein­druckt. Als Mitbrüder im Amt Bedenken gegen einen regel­mäßigen Besuch in unserem Hause äußerten, hat ihn das wenig beeindruckt. Im Gegenteil. In der Bischofskonferenz bekam er Gelegenheit, einiges über den bekannten Journalis­ten zurechtzurücken. Auch Johannes Paul II. wurde von ihm über die literarische und publizistische Tätigkeit des Autors unterrichtet.

Das alles konnte er guten Gewissens tun, denn sein Mit­bruder im Amt aus Rottenburg-Stuttgart, Bischof Dr. Georg Moser, war der zweite regelmäßige Besucher in unserem Heim und hat die indischen Kinder mitsamt ihren Eltern einmal für zwei Tage in seine Residenz eingeladen. Beide Oberhir­ten sprachen ihre Visiten miteinander ab, um zeitlich nicht aufeinander zu treffen. Beides Persönlichkeiten von ganz gro­ßem Format, die sich voll als Dienende verstanden.

Die Ernennung Stimpfles zum Bischof erfolgte rechtzeitig, um ihn noch am Zweiten Vatikanischen Konzil teilnehmen zu lassen. Als Neuling musste er in den hintersten Rängen, nahe der Tür, Platz nehmen, ein Bereich, der von den älteren Bischöfen scherzhaft als „Kindergarten“ bezeichnet wurde. Das hinderte ihn nicht daran, viele Kontakte zu knüpfen, die über Jahre hielten, u.a. auch mit dem damaligen Erzbischof von Krakau, Karol Wojtyla, dem späteren Papst Johannes Paul II., den er tatkräftig unterstützte, was dieser unter dem kom­munistischen Regime dankbar zu würdigen wusste.

Glaubenssehnsucht bricht durch

Als ihn kurz nach seiner Bischofsweihe der Dekan von Lindau, Josef Hirschvogel, sofort darauf aufmerksam mach­te, dass in Wigratzbad etwas gutzumachen sei, stieß das auf sensible Ohren. Josef Stimpfle ahnte, dass er dieser Anregung folgen musste, und machte sich bereits in den ersten Wochen unerkannt auf den Weg zu der umstrittenen Stätte, um sich vor Ort selbst ein Bild zu machen, was dort ablief. So han­deln wahrhaft unabhängige Männer. Er begnügte sich nicht mit dem Bericht aus dritter Hand, er wollte sich selber ein Urteil bilden.

Womit er nicht gerechnet hatte war, dass die Seherin An­tonie ihn erkannte und ihn in ihr Haus einlud. Einen ganzen Nachmittag konnte er sie befragen und ausforschen. Es zeugt von einem besonderen Charisma, dass er damals den „Finger Gottes“ am Wirken erspürte.

In Wigratzbad brach im tiefsten Winter ein geistiger Früh­ling an. Nach vorurteilsfreier Prüfung der Angaben des De­kans in Lindau und des Ortspfarrers Ludwig Dorn in Wohm­brechts lautete die Entscheidung aus Augsburg: „Die Kapelle soll für den öffentlichen Gottesdienst geöffnet werden.“ Am 24. Dezember 1963 durfte der Pfarrer in dem nun als öffent­licher Kapelle anerkannten Heiligtum das hl. Messopfer fei­ern und das Allerheiligste aufbewahrt werden. Die Freunde der Stätte jubelten.

Eine über ein Vierteljahrhundert angestaute Glaubenssehn­sucht brach sich Bahn. Sie explodierte förmlich. Im Jahre 1966 zählte man im Jahr bereits 25 000 ausgeteilte Kommunionen, 1967 stieg die Zahl auf 32 000, 1968 auf 40 000, 1969 regis­trierte man zum Vorjahr eine Verdoppelung auf 80 000 und ab 1970 auf über 100 000 mit steigender Tendenz.

In den Wintermonaten von 1965/1966 führte der Passio­nistenpater Johannes Schmid (1897-1987) sechs marianische Exerzitienkurse durch, an denen mehr als 300 Personen teil­nahmen. 1969 kam er für immer nach Wigratzbad und stand bis 1987 den Pilgern als Seelsorger zur Verfügung. Viele sehen in ihm, übrigens ein Altersgenosse der Seherin, einen Mitbe­gründer der Gebetsstätte.

Zu den Sühnenächten platzten die obere und die untere Kapelle aus allen Nähten. Immer mehr Beter fanden keinen Platz mehr. Mehrere Priester hatten in den Nächten Mühe, den wartenden Gläubigen das Sakrament der Versöhnung zu spenden, in einer Zeit, in der in vielen Kirchen die Beicht­stühle verschwanden und oft nie mehr auftauchten. Es wurde erweitert, aufgestockt, ausgebaut. Die Angestellten arbeite­ten bis in die Nächte hinein, um Platz für die Pilger zu schaf­fen. Eine Lautsprecheranlage übertrug die Gottesdienste in drei Säle. Der Pilgerstrom schwoll an, von niemandem ge­trieben, gedrängt. Es war der Geist von oben, der sie führte. Im Sommer begann man die hl. Messen ins Freie zu verle­gen. Im Winter dagegen wurde die Raumnot unerträglich.

Die Situation rief nach einem größeren Gebetsraum oder nach einer Kirche für tausend bis zweitausend Menschen.

Diese Erfahrung sollte viele Oberhirten nachdenklich ma­chen, wie die aufgeschlossene Haltung eines Bischofs gegen­über dem Wehen des Heiligen Geistes ungeahnte Schleusen der Glaubenssehnsucht öffnen kann. Josef Stimpfle, bei seiner Ernennung für damalige Verhältnisse ein eher blutjunger Bi­schof von erst 47 Jahren, wurde der einzige Bischof Deutsch­lands, der in den letzten hundert Jahren eine Marienerscheinung in seiner Diözese persönlich als echt erkannte und die Verehrung der Stätte förderte. Das brachte ihm nicht nur Freunde ein. Bestimmte Kreise hielten mit ihrer Abneigung nicht zurück und verleumdeten ihn bis über den Tod hinaus.

Der Bau der notwendig gewordenen Kirche wurde zu einer weiteren Herausforderung. Das Anliegen überstieg die Kräfte einer Privatperson. So kamen am 21. Juli 1971 zehn Personen zusammen (fünf Priester und fünf Laien), um die rechtlichen Grundlagen zu schaffen. Der Verein „Maria vom Sieg e.V.“ wurde ins Leben gerufen. Die Baukosten schätzte man auf drei bis vier Millionen Deutsche Mark. Antonie Rädler übertrug ihr gesamtes Vermögen auf den Verein, u.a. ein großes Land­gut in Wangen in bester Lage. Es wurde zur wichtigen Rü­ckendeckung für den geplanten Bau. Die Schenkungsurkunde wurde ausgearbeitet und die Bedingungen festgelegt.

Das Finanzamt sah nach eingehender Prüfung aller Ein­nahmen und Ausgaben in den letzten zehn Jahren kein Pro­blem, die Spendenaktion zugunsten der Kirche zu erlauben und die Steuerbegünstigung zu bewilligen. Die Aktion konn­te anlaufen. Die mustergültig geführte Buchhaltung durch einen früheren Angestellten der Stadt Lindenberg wies ohne Zuschuss der Diözese in kurzer Zeit die Summe von vier Millionen Deutsche Mark auf. Die Spenden vieler Wohltä­ter, besonders jener, die hier Hilfe und Heilung erlangt hat­ten, machten es möglich.

Zwei Mentalitäten

Dennoch galt es neue Hürden zu nehmen. Die Behörden, die kirchlichen und die staatlichen, sperrten sich. Am 4. April 1971 erschien die bischöfliche Baukommission in Wigratz­bad, stellte viele Fragen. Die Reaktion der Herren zeigte, dass man kein Vertrauen in die Zukunft des Objektes hatte. Man ließ durchblicken, was man dachte: mit dem Tode der Sehe­rin würde alles sein Ende finden. Aus diesem Grunde schlug man einen Bau vor, der später anderen Zwecken zugeführt werden könnte, etwa als Lagerhalle. Antonie begründete trotz­dem ihr Werk mit so großer Überzeugungskraft, dass die Kommission nicht umhin konnte, ihr zu versprechen, das Gut­achten dem Bischof vorzulegen. Hier waren zwei Denkweisen aufeinander gestoßen – die menschliche, auf das Praktische ausgerichtete, und die mystische, die in einer ganz anderen Dimension beheimatet war und von dort her ihre Sicherheit bezog. Das Gutachten verschwand in der Schublade. Aber der Oberhirte ließ nicht locker, er fragte nach und drängte, die Sache zu fördern.

Nun sträubten sich die staatlichen Ämter. Der eingereich­te Plan des Architekten wurde verworfen, andere Vorschläge gemacht, um eine angeblich optimale Lösung zu finden. Die Absicht war eine andere. Antonie durchschaute sie und lehn­te ab. Da schlug endlich ein Regierungsbaurat vor – und zwar gegenüber dem Sohn des Erbauers der Kapelle „Maria vom Sieg“ –, einen angesehenen Architekten zu finden. Er nann­te Prof. Gottfried Böhm aus Köln. Dem würde man so leicht nichts abschlagen können. So geschah es. Der Professor kam nach Wigratzbad, schaute sich alles an und wollte innerhalb von drei Monaten den Entwurf vorlegen.

Die inzwischen über 70 Jahre alte Antonie trug schwer un­ter dieser Verantwortung. In schlaflosen Nächten betete sie um Erleuchtung, und der Himmel blieb nicht stumm. Am 11. Januar 1972 sah sie am Abend während des Rosenkranzes plötzlich die Gottesmutter oben am Himmel. Die Madonna brachte in den schwarz-dunklen Himmel eine große Lichtfülle zwischen rechts und links aufgeschichtete Felsblöcke, die sich von der Erde bis zum Wolkenhimmel auftürmten. Da erschie­nen Engelchöre, die mit Blitzesschnelle die großen Blöcke nach rechts und links schoben, so dass das Licht in der Mitte vom Wolkenhimmel bis zur Erde alles erhellte und überflutete.

„Innerlich erkannte ich“ — so Antonie „dass die Gottes­mutter jetzt die von der Hölle aufgetürmten Schwierigkeiten aus dem Wege räumte. Eine große innere Ruhe und Freude kam über mich und ließ mich die nächsten Nächte ohne Stö­rung durchschlafen.“ Ein paar Tage später sah sie während der hl. Messe innerlich den himmlischen Vater gütig herab­schauen und hörte die Worte: „Fange mit dem Bau an! Ich segne dich in meiner Allmacht, Weisheit und Güte. Ich bin mit dir. Fürchte nichts! Mein Segen bewirkt alles, überwindet alles, führt das Begonnene zum Ziel. Des Vaters Segen baut den Kindern Häuser, der Mutter Güte bereitet alles wunderbar. Fange an in meinem Namen. Mein Segen ruht auf euch. Auch deine Eltern segnen dich. Lass dich auch segnen von Pfarrer Weiß und Pater Johannes!“

Der Architekt aus Köln hielt Wort. Ende März 1972 legte er einer kirchlich-staatlichen Kommission den Entwurf vor. Dieser wurde widerspruchslos genehmigt. Dem Bau des gro­ßen Gotteshauses stand nichts mehr im Wege. Am 3. November 1972, an einem Herz-Jesu-Freitag, begann Baumeister Ruß das Gelände abzustecken. Der erste Spatenstich für die ei­gentliche Kirche war vollzogen.

Pilgernde Kirche

Vier Jahre harter und sorgfältiger Arbeit sollten ins Land gehen, bis das Werk vollendet war. Viele Einzelheiten mussten bedacht, Hoch- und Seitenaltäre auf das Ganze abgestimmt werden, Orgel, Beichtstühle, Bestuhlung, Verglasung der Kir­chenfenster sich einfügen. Im Oktober 1974 war der Außen-und Innenausbau so weit gediehen, dass ein erster Gottes­dienst gefeiert werden konnte. Aber erst im Frühjahr 1976 war alles für die feierliche Einweihung vollendet.

Ein großer Wurf, ein Bau, in dem die Visionen einer von Gott leidgeprüften Frau Formen annahmen. Den Preis musste sie über Jahrzehnte zahlen. Professor Gottfried Böhm hatte viel Einfühlungsvermögen gezeigt. Das Gotteshaus wurde zur Gestalt gewordenen Botschaft.

Es war als Zelt konzipiert. Wir sind eine pilgernde Kirche, will sie den Gläubigen ins Gedächtnis rufen. Wir sind nicht von dieser Erde und nicht für diese Erde bestimmt. Ein Pilger baut sich keine feste Bleibe für lange Zeit, auch kein Eigen­heim, den Palästen der großen Kaiser nachempfunden, die zu Schutt und Asche wurden, kein Haus, das viel Aufmerk­samkeit und Mühe verschlingt und von der nächsten Gene­ration schon nicht mehr begehrt wird. Das Gotteshaus war ein Appell in Stein, Stahl und Glas und stand im Gegensatz zum Bauboom der Zeit, der dreißig Jahre später zu Beginn eines neuen Jahrtausends in den Vereinigten Staaten einen Kollaps erleiden und weltweit die größte Finanzkrise seit hundert Jahren auslösen sollte. Christen sind — sollten es sein – ­die Alternative zu einer Welt, die sich hier für immer einrich­ten möchte und in allen politischen Systemen und unter allen Regimen das Paradies auf Erden verspricht.

Das Hauptzelt wird von zwölf kleineren umgeben, zur Er­innerung an die zwölf Stämme Israels und an die zwölf Apos­tel, die ihr Erbe angetreten haben auf dem Wege zum Heil der Menschheit. Wir stehen in einer langen Tradition, Gott führt den Menschen seit Jahrtausenden durch seine Propheten und durch seine Heiligen. Die über Jahre sich hinziehende Wan­derung durch die Wüste, die vor über 3200 Jahren die Israe­liten, geführt von Mose, unter großen Opfern auf sich neh­men mussten, wird durch stets neue abgelöst. Geistige Wüs­ten wie die, die wir durchlaufen, können härter sein als jede Sandwüste.

Die Kirche in Wigratzbad erinnert in ihren Strukturen auch an die Worte des Evangelisten Matthäus: „Jerusalem, Jerusa­lem! Wie oft wollte ich deine Kinder sammeln, wie eine Henne ihre Küchlein unter ihre Flügel sammelt, aber ihr habt nicht gewollt“ (23,37). In diesen Worten Jesu lag auch eine War­nung, eine letzte Warnung. Keine vierzig Jahre später wurden die Einwohner Jerusalems in alle Winde zerstreut. Sie waren dem Ruf des verheißenen Messias nicht gefolgt. Nun muss­ten sie den Befehlen ihrer neuen Herren, der Römer, folgen und in die Sklaverei gehen. Überall heimatlos. Der von ihnen abgelehnte und gekreuzigte, Mensch gewordene Gott aber er­wies sich als Sieger. Andere Nationen folgten ihm und übernahmen die Aufgabe, die dem Volk Israel zugedacht war.

Der Blick des in die Kirche Eintretenden wird sofort vom Altarraum gefesselt. Er steht wie auf einer Insel, drei Stufen über dem Boden, an allen Seiten von einer Kommunionbank umgeben. Hinter dem Altar auf breiter Bank ein goldener Tabernakel, in eine große goldene Sonne hineingestellt. Fünf Strahlenbündel unterstreichen die Bedeutung des Ortes. Die Sonne der Gerechtigkeit soll den ganzen Raum beherrschen. Diese Kirche ist durch und durch eine Anbetungskirche, ruft zur Anbetung auf, zur Anbetung des Herrn, im Gegensatz zu einer Zeit, die den Menschen in den Mittelpunkt stellen möchte, mit all seinen von Sinnlichkeit gespeisten Vorstel­lungen, seinem Ruf nach totaler Autonomie und am Ende hemmungsloser Selbstanbetung. Humanismus und Säkula­rismus nennt sich der Trend, als Fundamentalisten werden jene gebrandmarkt, die sich an Gott und an bleibenden Wer­ten orientieren.

Unübersehbares Zentrum

Während in diesen Jahren in vielen Gotteshäusern im deutschsprachigen Raum die Tabernakel aus der Mitte ver­schwanden, an Seitenwänden oder in Nebenkapellen unter­gebracht wurden, bildet er in dieser „Zeltstadt“ das unüber­sehbare Zentrum. Wie einst die Bundeslade in einem Zelt mit den Israeliten durch die Wüste auf das Heilige Land zu­wanderte, will hier der Tabernakel die Gläubigen dieser Zeit durch die immer trockener werdende Wüste des Säkularis­mus, des Relativismus, des erlöschenden Gewissens und des sich ausbreitenden offenen Atheismus der Wiederkunft des Herrn zuführen. Die Innenansicht dieses Hauses sagt dem Menschen auf den ersten Blick: Gott ist das letzte Maß aller Dinge, nicht der Mensch.

Das gewaltige, eindrucksvolle Kreuz darüber erinnert da­ran, dass hier das Opfer am Kreuze gegenwärtig wird. Da­runter die Sonne als Symbol der Auferstehung.

Im Sechseckraum zur Linken des Hochaltares steht eine lebensgroße Herz-Jesu-Statue, die an die Visionen der großen Mystikerin Margarete Maria Alacoque (1647-1690) erinnert, die im französischen Paray-le-Monial verehrt wird. Sie wurde am 13. Mai 1920, erst 230 Jahre nach ihrem Tode, durch Papst Benedikt XV. heilig gesprochen.

Im Sechseck zur Rechten fällt eine liebliche Statue der Got­tesmutter von Fatima ins Auge, wie sie am 13. Juli 1917 den drei Seherkindern ihr von Dornen durchstochenes Herz auf der Brust gezeigt hat. Beide Standbilder sollen die Anwesen­den ständig an den Titel der Kirche erinnern. Beide waren andernorts nicht erwünscht oder nicht mehr erwünscht, das Jesus-Standbild im Vorarlberg, die Marienstatue in Düssel­dorf. In Wigratzbad wurden sie 1971 willkommen geheißen.

In mehreren Erscheinungen hat sich Jesus bei der jungen Ordensfrau Margarete Maria Alacoque über den Undank, über Kälte und Missachtung beklagt, die ihm – auch in der Eucharistie – entgegengebracht werden. Er schlug vor, sei­nem Herzen ein eigenes Fest, eine Woche nach Fronleich­nam, einzurichten und Abbitte und Sühne für die mangeln­de Ehrfurcht und Aufmerksamkeit zu leisten. In diesen Vi­sionen machte der Sohn Gottes nicht nur auf seine mensch­liche Seite aufmerksam, sondern auch auf die Bedeutung der Wiedergutmachung im Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen. Margarete Maria Alacoque hatte wegen dieser Vi­sionen viel zu erleiden – auch von den eigenen Mitschwes­tern, und das über Jahre hinweg. Sie wurde verspottet und von den Hausgeistlichen gar als besessen oder geisteskrank be­zeichnet. Sie hat dieses Leiden als Sühne angenommen. Sie ist nur 43 Jahre alt geworden. Paray-le-Monial wird interes­santerweise in den letzten Jahren besonders von der jünge­ren Generation neu entdeckt.

Auch in Fatima geht es vor allem um Sühne. Am 13. Juli 1917 erhielten die drei Seherkinder eine Botschaft von großer Bedeutung für das Schicksal der Menschheit: „Der Herr will die Welt retten durch die Andacht zum Unbefleckten Herzen Mariens. Wer sie übt, dem verspreche ich das Heil. Ja, diese Seelen werden von Gott bevorzugt werden wie Blumen, die ich vor seinen Thron bringe.“

Anschließend öffnete Maria die Hände, von denen ein ge­heimnisvolles Licht ausstrahlte. Vor der rechten Hand sah man ein Herz, ganz von Dornen umgeben. Die Kinder ver­standen, was gemeint war. Die vielen Sünden der Welt ver­wunden auch das Herz Mariens. Es ruft nach Sühne und Wie­dergutmachung.

Mit ihrem Jawort hat sie der Menschheit den Sohn Gottes geschenkt. Sie ist in tiefster Gemeinschaft mit ihm verbunden, hat alle Opfer, alle ihm zugefügten Erniedrigungen mit ihm geteilt, hat unter dem Kreuze stehend die Kreuzigung erfahren wie ihre eigene. Seine Leiden sind ihre Leiden. Deshalb will ihr Sohn, dass nicht nur ihm, sondern auch ihrem Herzen Sühne geleistet wird. Und aus eben diesem Grunde gehört in die Sühnekirche von Wigratzbad nicht nur das Bild des tief verletzten Gottessohnes, sondern auch das Herz seiner Mutter. Das Heiligtum von Wigratzbad ist eine „Herz Jesu- und Herz Mariä-Sühnekirche“. Unter diesem Namen wurde sie von ei­nem Bischof konsekriert, der die Zeichen der Zeit voll ver­standen hat und bereit war, dafür viel Kritik, Missverständ­nisse, Kränkungen und Vereinsamung auf sich zu nehmen.

In der äußeren, ausdrucksstarken Architektur dieses Got­teshauses spiegelt sich eine innere Architektur wieder, in der die Impulse Gottes ineinandergreifen. Das wurde von einer Frau, von Antonie Rädler, erahnt und aufgegriffen. Genau vierzig Jahre zuvor hat sie in der gegenüberliegenden Grotte den Gesang himmlischer Chöre vernommen, die der Unbe­fleckt Empfangenen, die Mutter Gottes wurde, geweiht war. Ihr bedingungsloser Gehorsam, ihre unfassbare Demut, die die Hölle in Entsetzen versetzte, aber Engel jubeln ließ, wur­den für sie zum großen Sieg. Darum darf sie mit Recht Mut­ter vom Sieg genannt werden. Für Antonie begann damit ein langer Weg, der voller Dornen und tödlicher Gefahren war.

Was mag sich in ihrem Inneren abgespielt haben, als ein großer Oberhirte das Heiligtum feierlich einweihte? Für sie war es jedenfalls eine Bestätigung, dass Gottes Verheißungen sich immer erfüllen. Für den Menschen gilt es, ihnen voll zu vertrauen, auf sie zu bauen, ihnen zu glauben und bereit zu sein, den eigenen Beitrag zu leisten. Gott hat den Menschen nicht als Marionette gewollt, niemanden, sondern als Mitwir­kenden. Das macht die Kirche von Wigratzbad auch zu einem Mahnmal der Verantwortung – für das eigene Heil und für das Heil anderer Menschen.

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Quelle: Eigener Scan aus meinem persönlichen Exemplar des im Titel genannten (neu nicht mehr erhältlichen) Buches

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Aus: Alfons Sarrach: SIEG DER SÜHNE – Wigratzbad: Marias Botschaft an den Menschen

Kapitel IX

Jahre gingen dahin

 

Dienst am Menschen

Aber es sollte lange dauern, bis der Frühling aus einer an­deren Welt Einzug halten konnte in Wigratzbad. Noch viele Jahre musste sich Antonie immer wieder mit Geduld wapp­nen und immer wieder auf neue Prüfungen einstellen. Die Zeit floss dahin, die charismatische Frau wurde älter, mit der Zeit kein junges Mädchen mehr, keine Frau in den besten Jah­ren, sondern eine von einem harten Leben gezeichnete Per­sönlichkeit. Es war ein Sühneleben von Anbeginn. Ihr Glau­be, Maria würde sich am Ende durchsetzen, war nicht zu er­schüttern. Sie blieb ihr treues Werkzeug.

Deshalb ließ sie keine Zeit verstreichen, im Sinne ihres Herrn und Meisters, im Sinne seiner reinsten Mutter zu han­deln. Sie suchte den Dienst am leidenden Menschen. 1948 begann sie mit dem Bau eines Heimes, obwohl vorerst keine Aussicht bestand, offiziell Pilgergruppen zu empfangen und in der Kapelle das hl. Messopfer zu feiern. Ihre Einstellung musste in den Augen uneingeweihter Beobachter absonder­lich erscheinen.

Von 1952 bis 1954 kam der zweite Teil des Heimes hinzu. Gestützt auf ihre guten Zeugnisse erreichte sie bei den Behör­den die Erlaubnis zur Eröffnung eines Privatsanatoriums. 25 Betten standen zur Verfügung.

Ein profilierter Leitender Arzt, Dr. Konrad Moser aus Bech­tersweiler bei Lindau, übernahm auch die Leitung in Wigratz­bad. Er hatte sich auf die Nachbehandlung von Krebs, Gicht und Rheumatismus spezialisiert und suchte nach Wegen der Heilung bei Kranken, die von Ärzten bereits aufgegeben wor­den waren. Es waren auch Geistliche unter ihnen. Deshalb lag ihm neben der physischen Behandlung auch viel an der seeli­schen und religiösen Betreuung der Patienten. Er war Antonie Rädler sehr dankbar, dass sie ihm ihre Pension mitsamt den Hilfskräften zur Verfügung stellte.

Aus diesem Grunde wandte er sich am 29. Juni 1953 mit der Bitte an das Generalvikariat in Augsburg, den Kranken die Kapelle neben dem Sanatorium zur Verfügung zu stellen. Aber diese war inzwischen für die bischöfliche Behörde – als solche verhielt sie sich im wahrsten Sinne des Wortes in jenen Jahren – zu einem roten Tuch geworden. Man hielt das Schrei­ben des Mediziners vorerst nicht einmal einer Antwort wert, später stellte man absurde Bedingungen. Die Türen, die nach außen führten, sollten zugemauert werden und die Kapelle nur den Insassen des Sanatoriums zugängig sein. Der Orts­pfarrer sollte es überwachen. Der beauftragte Maurer jedoch zögerte, weil für ein solches Vorhaben die Zustimmung der Baubehörde notwendig gewesen wäre. Aber die lehnte, wie es der schlichte Mann befürchtet hatte, ab.

Eigenartig wurde die ganze Angelegenheit, als protestanti­sche Seelsorger die Kapelle für ihre Gläubigen in Anspruch nahmen. Das Unverständnis über das Verhalten des General­vikariates unter den katholischen Patienten wurde immer grö­ßer. Aber in Augsburg fürchtete man – wie es hieß – pseudo­mystische und pseudoreligiöse Konventikel, mit anderen Wor­ten: verworrene Zusammenkünfte. Und das Urteil darüber überließ man einem nationalsozialistisch, auf Adolf Hitler ein­geschworenen, theologisch entgleisten Priester. Selbst nach dem Zusammenbruch des Regimes durfte er noch zehn Jahre, bis zu seiner Pensionierung, im Amt bleiben. In den Verei­nigten Staaten von Amerika – und in Irland ähnlich – hat in anderen Bereichen die zu lasche Haltung gegenüber irrenden Priestern einige Bistümer am Anfang des 21. Jahrhunderts an den Rand des Ruins gebracht.

Das große Trauma

Im Kern ging es nicht um Pseudomystik, sondern um Mystik selbst, das große Trauma der katholischen Kirche in Deutsch­land überhaupt. Wenn Spanien eine Glaubensspaltung, wie die durch die Reformation ausgelöste, erspart geblieben ist, so ist das sicherlich auch Mystikern wie Johannes vom Kreuz oder Teresa von Avila zu verdanken. Mystik wird an theologischen Hochschulen in Deutschland kaum gelehrt. Kein Wunder, dass die Haltung vieler Priester, vor allem in verantwortlichen Po­sitionen, gegenüber der Mystik verkrampft geblieben ist, ob­wohl sie zum Wesen des Christentums gehört. Dass es hier­zulande, im Gegensatz zu einigen Nachbarländern, nicht eine einzige anerkannte Marienerscheinung gibt, spricht seine ei­gene Sprache. Der Schaden, den das für unzählige Gläubige nach sich zieht, übersteigt jedes Vorstellungsvermögen.

Deshalb musste der Leitende Arzt Dr. K. Moser eines Ta­ges resignierend feststellen, dass er ähnliches in seiner 20-jäh­rigen Laufbahn noch nicht erlebt hatte. In einem Brief äußer­te er sogar die Meinung vom „fehlenden guten Willen“ (bona voluntas). Nach langem Hin und Her einigte man sich schließ­lich dahingehend, dass eines der Zimmer des Sanatoriums als Kapelle hergerichtet werden sollte, allerdings mit vielen Auf­lagen. Doch bald erwies sich dieser Raum als zu klein, die Enge wurde unerträglich.

1955 ging Ortspfarrer Rädler schließlich in den Ruhestand, ihm folgte Ludwig Dorn, ein kritischer, aber aufgeschlossener Geistlicher, der sich bald gegenüber dem Phänomen Wigratz­bad öffnete. 1960 wagte er noch einmal den Versuch, in Augs­burg um Erlaubnis zu bitten, in der großen Kapelle die hl. Messe zu feiern. Das hatte zur Folge, dass nun auch ihm eine Rüge nicht erspart blieb.

Es ist ein psychologisches Rätsel, wie eine auf sich allein gestellte Frau über mehrere Jahrzehnte so viele seelische Tor­turen unbeschadet durchstehen konnte. Und es gibt dafür nur eine Antwort: Es ist eine geheimnisvolle Dimension Gottes, die Welt der Mystik. Und es war an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Europa kein Sonderfall. Auch das macht nachdenklich.

Gegenzeichen Gottes

Als Antonie Rädler 1899 das Licht der Welt erblickte, hatte in Frankreich Thérèse von Lisieux (1873-1897) von dieser Welt Abschied genommen, im Rufe der Heiligkeit. Eine durch und durch vom Gedanken der Sühne durchdrungene junge Seele. Erst 24 Jahre war sie alt, als sie für immer die Augen schloss. Sie ist zur Lieblingsheiligen vieler modern denkender junger Menschen geworden. Papst Johannes Paul II. erhob sie in den Rang einer Kirchenlehrerin. Als er diese Absicht auf dem Welt­jugendtag in Paris bekannt gab, brach unter den jungen Men­schen aus aller Welt großer Jubel aus. Das verrät etwas von der tiefen Sehnsucht gerade junger Seelen nach der Welt des Mystischen. Sie ahnen, dass es hier nicht um Illusionen, nicht um Einbildungen, sondern um die letzte Überwindung von Illusionen geht, um das Vordringen zur eigentlichen Wirk­lichkeit, zur letzten, zur Wirklichkeit Gottes. Nicht von un­gefähr fühlte sich Antonie auf ihrer Frankreichreise nach Li­sieux hingezogen. Es war Seelenverwandtschaft, die sie dort­hin führte. Sie sollte in ihre Fußstapfen treten.

In Italien war es Gemma Galgani (1878-1903) in Lucca in der Toskana. Als sie an einem Karsamstag, am 11. April 1903 um 13.30 Uhr starb, war sie erst 25 Jahre jung. An ihrem Sterbebett zog eine große Menschenmenge vorbei. Schon zu Leb­zeiten hatte man die leidgeprüfte, stigmatisierte junge Frau als Heilige bezeichnet. Mit 7 Jahren verlor sie die Mutter, in ih­rem 16. Lebensjahr ihren geliebten Bruder Gino, erst 17 Jah­re jung. Mit 19 Jahren erlebte sie den Tod ihres Vaters. Als sie 24 war, starb ihre von ihr zärtlich geliebte Schwester Giulia, erst 18 Jahre, und ein paar Monate später ihr Bruder Antonio, 22 Jahre. Sie blieb allein zurück. Selber noch eine Blüte.

Am 8. Juni 1899, sie war im 22. Lebensjahr, empfing sie die Wundmale Jesu. Die Stigmatisierungen wiederholten sich je­de Woche. Sie begannen am Donnerstag gegen Abend und dauerten bis Freitag 15 Uhr. Die Jahre bis zu ihrem Lebens­ende waren eine Zeit bewusst durchlebter Sühne.

Antonie Rädlers Leiden bestand darin, dass sie die Un­barmherzigkeit einer gottfernen Welt und das Unverständnis der Menschen über viele Jahrzehnte auf sich nehmen musste. Aber wie bei Thérèse und wie bei Gemma war es der Wille zur Sühne für die Sünden einer sich vom Schöpfer lösenden Welt, die ihr die Kraft verlieh, alles durchzustehen.

Alle drei lebten auf einem Kontinent, der sich schrittweise auf eine Vorstellung vom Leben zubewegte, die im Genuss Erfüllung und Sinn des Daseins suchte. In Frankreich, Italien und in Deutschland setzte Gott zu dieser Entwicklung Ge­genzeichen. Sie hängen alle miteinander zusammen, ergän­zen einander, erinnern an den Kern der Botschaft, die vom Kreuze kommt. Keine Heilung ohne Wiedergutmachung, kei­ne Harmonie ohne Gleichgewicht, kein Heil ohne Sühne.

Wohlbefinden ist das große Leitmotiv geworden — auch auf Kosten anderer. Jedoch nicht der auf Wellness fixierte Mensch schenkt Geborgenheit, sondern der sich aufopfernde, der süh­nende. Das ist die Botschaft von Wigratzbad.

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Quelle: Eigener Scan aus meinem persönlichen Exemplar des im Titel genannten (neu nicht mehr erhältlichen) Buches

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Aus: Alfons Sarrach: SIEG DER SÜHNE – Wigratzbad: Marias Botschaft an den Menschen

Kapitel VIII

Schatten und Licht

 

Überfordert

Der Zweite Weltkrieg ging zu Ende. Er hatte noch nie dagewesenes Leid über Europa gebracht. Ein Mann und das unmenschliche System, das er geschaffen hatte, hinterließen Witwen, Waisen und Trümmerlandschaften, Millionen Menschen wurden von Haus und Hof vertrieben, verloren ihre Heimat. Sie zahlten für den Größenwahn eines Mannes, der kein Gewissen mehr hatte und der doch zu sagen wagte, er sei das Gewissen der Nation, der im kleinen Kreise zugab, er sei bereit, zwei Millionen junger Menschen zu opfern, um sich Osteuropa einzuverleiben. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn es ihm gelungen wäre, sich zum Herrn der Welt aufzuschwingen, ein Ziel, auf das er zusteuerte. Er hatte geschworen, den Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen, nach dem Siege öffentlich hängen zu lassen. Und dieser wäre nicht der einzige gewesen. Am Schluss musste er sich in seiner Reichskanzlei selbst umbringen.

Es war ein Sieg jener Frau, die in der kleinen Kapelle zu Wigratzbad bei Tag und bei Nacht von vielen Menschen angefleht worden war, der Schlange in dieser Zeit den Kopf zu zertreten. Jetzt konnte man aufatmen. Die Hauptgegner waren verschwunden. – Aber andere sollten sie ablösen. An die Stelle des politischen Gegners traten Menschen, von denen eigentlich eher Unterstützung zu erwarten gewesen wäre. Das war die große Enttäuschung in jener Zeit und nicht nur in Wigratzbad, sondern auch an anderen Stätten in Deutschland. Zu erwähnen sei nur Josef Kentenich (1885-1968), der Gründer der marianischen Schönstatt-Bewegung, die ihren Sitz bei Vallendar am Rhein hat. Er musste nach dem Kriege in die Verbannung nach Nordamerika und wurde erst gegen Ende des Konzils von Papst Paul VI. rehabilitiert.

Nicht unerwähnt bleiben darf hier Heroldsbach, ein unscheinbarer Ort bei Bamberg, der in den Jahren von 1949 bis 1952 Hintergrund aufrüttelnder mystischer Vorgänge wurde. Auch dort reagierte die zuständige Behörde abweisend und gegenüber den Seherkindern unangemessen hart, ja grausam. Als große Botschaft schälte sich dort der Aufruf heraus, an der Schwelle zum dritten Jahrtausend die persönliche Verantwortung jedes einzelnen Menschen wahrzunehmen. Erst 46 Jahre später rang sich der damalige Erzbischof von Bamberg, Dr. Karl Braun, zu einer unschätzbaren Leistung durch. Anfang 1998 erwirkte er in Rom die Anerkennung von Heroldsbach als Gebetsstätte. Unübersehbar dabei ist, dass Braun in früheren Jahren Mitglied des Domkapitels von Augsburg unter Erzbischof Stimpfle war.

Um der Wahrhaftigkeit willen können, dürfen diese Leiden nicht verschwiegen werden. Dazu hat die Kirche, ein großer Papst, Johannes Paul II., im Jubiläumsjahr 2000 aufgerufen. Am 12. März jenes Jahres hat er vor den Augen der ganzen Welt den Blick auf das Kreuz gerichtet, um Vergebung für die Sünden aller Söhne und Töchter der Kirche gebetet. In seinem Rundschreiben „Novo millennio ineunte„, mit dem er die Kirche auf dieses Jubiläum vorbereitet hatte, war die Rede von der „Reinigung des Gewissens“. Das galt für die ganze Kirche, also auch für alle Lokalkirchen.

Neun Jahre später haben Vertreter anderer Konfessionen sich dankend darauf berufen und sich schützend vor die katholische Kirche gestellt. „Als protestantische Christen und Amerikaner verurteilen wir die groteske Intoleranz, die sich in Verbindung mit der Abtreibungsgesetzgebung gegen die katholische Kirche breit macht“, hieß es in einer Erklärung protestantischer Kirchenführer in den USA. „Papst Johannes Paul II. hat alle Ungerechtigkeiten verurteilt, die Kinder der katholischen Kirche andern gegenüber begangen haben. In gleicher Weise verurteilen wir jetzt alle Selbstgerechtigkeit und Intoleranz gegenüber unseren katholischen Brüdern und Schwestern. Sie sollen unsere entschiedene Stimme gegen diese Intoleranz vernehmen.“ Wahrhaftigkeit zahlt sich immer aus.

Vor diesem Hintergrund muss auch die Geschichte von Wigratzbad gesehen werden. Um der Gerechtigkeit willen ist es allerdings auch unumgänglich hervorzuheben, dass der Kern der Tragödie sich zeitlich vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil abgespielt hat, durch das vieles verändert wurde, was auch das Charisma von Wigratzbad betraf. Die verantwortlichen Personen in der kirchlichen Hierarchie dürften zum Teil auch überfordert gewesen sein. Zu ungewöhnlich war das, was sich im Allgäu abspielte.

Hauptgegner

25 Jahre musste Antonie Rädler darum ringen, dass in der neu erbauten Kapelle die hl. Messe gefeiert, das Allerheiligste aufbewahrt und das Sakrament der Versöhnung gespendet werden durfte. Dazu wurde die Einwilligung des Oberhirten in Augsburg und das Verständnis des Ortspfarrers gebraucht. Aber gerade bei letzterem fehlte hierzu jeder gute Wille. Im Gegenteil. Er wurde zum Hauptfeind der charismatisch begabten Frau. Es war Hermann Rädler, von 1937 bis 1955 Pfarrer von Wohmbrechts, zu dem kirchlich auch Wigratzbad gehörte. Trotz des gleichen Namens war er mit der Familie nicht verwandt.

In einem Schreiben vom 13.12.1957 hat der damalige Dekan von Lindau, J. Hirschvogel, dem auch die Pfarrei Wohmbrechts unterstand, eine Charakterbeschreibung des Geistlichen geliefert, die im Grunde alles aussagt: „Hermann Rädler war ein durch und durch“ — so hieß es — „liberal eingestellter Kleriker, der eine eigene Meinung vom Christentum hatte, Anhänger des damals bekannten nichtkatholischen Theologen von Marburg, Professor Friedrich Heiler, eines Grenzgängers zwischen Katholizismus und Protestantismus.“ Ein paar Beispiele mögen dies beleuchten.

Er wünschte nicht die öftere hl. Kommunion der Gläubigen. Damit stand er im Gegensatz zu den Aufrufen der damaligen Päpste. Die Gemeinde zählte zu seiner Zeit 850 Gläubige. Der Kommunionempfang im Jahr betrug ca. 3000. Bei der Taufe ließ er grundsätzlich den Exorzismus weg. Und als Anhänger des Theologen Friedrich Heiler war er ein Gegner der Marienverehrung. Als Antonie ihm voller Freude die von einem Benediktiner aus Rom geschenkten Reliquien zeigte, erschien bald darauf in der Lindauer Zeitung ein Artikel über den „Reliquienschwindel“ der Antonie Rädler, eine Falschmeldung, die viele andere Zeitungen aufgriffen. Da Antonie sie niemandem anderen gezeigt hatte, kam als Urheber dieser denunzierenden Fehlinformation nur der eigene Pfarrer in Frage.

Tragischer noch als seine liberale theologische Haltung war seine Einstellung zum Nationalsozialismus. Er war Mitglied der SA (Sturmabteilung), im Volke Braunhemden genannt, einer Kampftruppe, die vor Folter und Einschüchterung politischer Gegner nicht zurückschreckte. Bei seiner Amtseinführung wurde er von der lokalen SA begleitet. Vor der versammelten Gemeinde sagte er: „Ich stehe im Namen und im Auftrag unseres gottbegnadeten Führers Adolf Hitler in dieser gottgeweihten Kirche.“ In seinem Arbeitszimmer hing ein lebensgroßes Bild Adolf Hitlers. Nach dem Zusammenbruch des Systems im Jahre 1945 ließ er es uneinsichtig an der Wand hängen. Erst ein französischer Offizier zwang ihn dazu, das Bild zu entfernen. Man fragt sich heute, musste es erst ein französischer Offizier sein, der das veranlasst hat?

Als Antonie 1938 von der Gestapo abgeführt worden war, suchte ihr Vater weinend Trost beim Pfarrer. Dessen Reaktion zeigt, wie weit sich auch ein Geistlicher verirren kann, der seine Berufung nie verinnerlicht und darum eigentlich nicht verstanden hat: „Glauben Sie etwa“, so fragte er, „dass Antonie nicht am rechten Ort ist? Wollen Sie etwa sagen, dass der Führer etwas anordnet, was nicht recht wäre?“ Der zuständige Polizeibeamte, ein Gesinnungsgenosse des Pfarrers, sprach es später offen gegenüber Antonie aus: „Es war Pfarrer Rädler, der Sie ins Gefängnis gebracht hat. Er war auch der Meinung, die Kapelle brauche man nicht, aber als Heim für die Hitler-Jugend sei sie geeignet.“

Von einem solchen Priester hatte Antonie keine Unterstützung zu erwarten. Die Erlaubnis zur Einweihung der Kapelle wurde von Seiten des Bischofs von der Errichtung einer Kapellenstiftung abhängig gemacht, Hermann Rädler sollte als Kirchenrektor eingesetzt werden. Antonie Rädler hätte praktisch nichts mehr zu sagen gehabt. Nicht einmal das Recht, mit anderen den Rosenkranz zu beten oder ein Marienlied anzustimmen, wäre ihr zugestanden worden. Das machte er in einem Gespräch mit ihrem Notar deutlich. Indirekt warf ihr das Ordinariat Augsburg, von Rädler entsprechend informiert, abergläubische und übersteigerte Andachtsformen vor, die es zu unterlassen gelte.

Wirken der Gnade

Der Oberhirte in Augsburg damals war seit 1938 Bischof Dr. Josef Kumpfmüller (1869-1949). Er war, als er sein Amt antrat, 69 Jahre alt. 1945 setzte er sich, damals 76-jährig, mit anderen mutigen Persönlichkeiten für die kampflose Übergabe der Stadt Augsburg an die heranrückenden amerikanischen Truppen ein, wodurch die Stadt vor großen Schäden bewahrt blieb und viele Menschenleben gerettet wurden. Die Gruppe nannte sich „Friedensbewegung für Augsburg“.

An Hermann Rädler und an Bischof Kumpfmüller lässt sich in Verbindung mit Wigratzbad das geheimnisvolle Wirken der Gnade beobachten. 14 Tage vor seinem Tode ließ Pfarrer Rädler den für Antonie Rädler tätigen leitenden Kurarzt Dr. Konrad Moser zu sich kommen. Er wollte, was Wigratzbad anging, sein Gewissen entlasten und teilte dem Arzt mit, er habe dem Bischof von Augsburg, Dr. Joseph Freundorfer, geschrieben, dass er als Seelsorger wissentlich unwahre und belastende Mitteilungen über Antonie Rädler an das Ordinariat geschickt habe. Aus Gewissensgründen möchte er diese deshalb zurücknehmen. Daraufhin habe ihm Bischof Freundorfer geantwortet, er habe zu seinen Angaben zu stehen, denn nach diesen Aussagen habe er als Bischof Wigratzbad beurteilt. Dabei bleibe es.

Kurz nach seiner Einsetzung als Pfarrer von Wohmbrechts wurde Ludwig Dorn im August 1955 gebeten, Monsignore Dr. Kraft aufzusuchen. Er habe ihm eine wichtige Mitteilung zu machen. Sie betraf den 1949 verstorbenen Bischof Kumpfmüller. Dieser habe ihn kurz vor seinem Tode zu sich gerufen und folgendes Geständnis abgelegt: „Es tut mir unendlich leid und es reut mich tief, dass ich der Gebetsstätte Maria vom Sieg nicht zur Höhe verholfen habe. Jetzt kann ich es leider nicht mehr tun. Erfüllen Sie mir aber die Bitte, ich bitte Sie inständig darum: Sagen Sie meinem Nachfolger im Amte persönlich, er möge sich für Wigratzbad einsetzen, dass diese Gebetsstätte ehestens öffentlich anerkannt werde und so der neue Bischof sehr bald meine Versäumnisse gut mache.“ Er sei dieser Bitte nachgekommen. Bischof Dr. Joseph Freundorfer (1894-1963) habe ihn als seinen Studienfreund persönlich zu sich eingeladen. Bei dieser Gelegenheit konnte er ihm die letzte Bitte seines Vorgängers vortragen und ihm die Sache Wigratzbad wärmstens empfehlen. Er habe versprochen, sie zu erfüllen. Aber nach sechs Jahren sei immer noch nichts geschehen. Er wolle ihn jetzt bitten, sich der Sache als zuständiger Pfarrer anzunehmen.

Freundorfer hatte das Gegenteil getan. Nachdem Antonie Rädler ihm in einem ausführlichen Brief ihren Standpunkt und ihre begründeten Vorbehalte gegen Pfarrer Hermann Rädler als Stiftungsrat dargelegt hatte, ließ er ihr eine knappe Mitteilung zukommen, die in ihrer Kürze schon eine Kränkung war. Darin hieß es: Eine Schenkung der Kapelle Wigratzbad an die Kirche oder eine kirchliche Stiftung unter den im Brief von Antonie gestellten Bedingungen wird nicht angenommen. Die Zelebration und jede Art von öffentlichen Gottesdiensten in der Kapelle Wigratzbad sind von jetzt an verboten. Dabei blieb es bis zum Tode des Bischofs am 11. April 1963.

Joseph Freundorfer war ein sehr gebildeter Mann. 1926 erwarb er in München mit seiner Arbeit über „Erbsünde und Erbtod beim Apostel Paulus“ den Doktortitel. 1928 habilitierte er sich dort für das Neue Testament. Im Anschluss daran war er in Rom am Bibelinstitut und an der Vatikanischen Bibliothek tätig, außerdem Privatdozent in München, ab 1930 außerordentlicher Professor an der Universität Passau, 1945 ordentlicher Professor.
Als Oberhirte förderte er besonders die Katholische Aktion, über regionale Katholikentage gab er dem religiösen Leben in seinem Gebiet neue Anstöße. Seine Fürsorge erstreckte sich auf den sozialen Wohnungsbau und die Tätigkeit des Familienbundes der deutschen Katholiken. Besondere Bedeutung maß er der katholischen Presse bei und war bemüht, sie zu stärken.

Beide Würdenträger zeigen, dass weder die Weisheit des Alters noch eine hohe theologische Bildung Garantie dafür sein können, ein von Gott geschenktes ungewöhnliches Charisma zu erkennen. Ganz besonders schwierig war es sicher vor dem Zweiten Vaticanum, durch das erst die Stellung der Laien, der Frauen und die Rolle des Charismas aus ihrer stiefmütterlichen Rolle in der Kirche in den Vordergrund rückten. Freundorfer starb 1963 unerwartet in der Nacht zum Gründonnerstag, ohne sich mit Antonie Rädler und besonders mit ihrer Berufung ausgesöhnt zu haben. Im Wege gestanden hat ihm dabei offensichtlich sein hoher Bildungsgrad. Er hatte sich bei seiner Doktorarbeit besonders mit dem Apostel Paulus beschäftigt. Aber gerade Paulus hat die Hirten der Urkirche dazu ermahnt, den Geist nicht auszulöschen (1 Thess 5,16).

Würde der Frau

Was hat es den beiden genannten Oberhirten und vielen Geistlichen so schwer gemacht, zu erkennen, dass durch Antonie Rädler Gott am Handeln war und warum? Das weiß am Ende Gott allein und Er allein ist in der Lage, ein gerechtes, von Barmherzigkeit getragenes Urteil zu fällen. Aus menschlicher Sicht waren es psychologisch gesehen drei ungünstige Voraussetzungen.

Antonie Rädler war eine Frau, dazu eine einfache Frau, ohne höhere Schulbildung. Der Vater war zwar nicht arm, aber auch kein Großunternehmer. Er war Metzger, Antonie hatte lediglich eine Haushaltsschule besucht, ansonsten half sie ihrem Vater im Geschäft. Dass ein so unbedarftes Mädchen die Menschen beeindrucken konnte und durch ihre religiöse Grundeinstellung faszinierte, passte nicht in das Bild der Frau, das damals noch vorherrschend war. Es war ja gerade erst drei Jahrzehnte her, dass Frauen Berufe erlernten und in der Öffentlichkeit für ihre Rechte eintreten durften. Die Kirche spiegelte die Atmosphäre in der Gesellschaft wider.

Das änderte sich erst mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil und ganz besonders mit Papst Johannes Paul II. In seinem berühmten Rundschreiben über die Frau „Mulieris dignitatem“ heißt es in der Einleitung: „Die Würde der Frau und ihre Berufung – ständiges Thema menschlicher und christlicher Reflexion – haben in den letzten Jahren eine ganz besondere Bedeutung gewonnen.“ Das beweisen unter anderem die Beiträge des kirchlichen Lehramtes, die sich in verschiedenen Dokumenten des II. Vatikanischen Konzils wieder finden, das dann in seiner Schlussbotschaft sagte: „Die Stunde kommt, die Stunde ist schon da, in der sich die Berufung der Frau voll entfaltet, die Stunde, in der die Frau in der Gesellschaft einen Einfluss, eine Ausstrahlung, eine bisher noch nie erreichte Stellung erlangt. In dieser Zeit, in welcher die Menschheit einen so tiefgreifenden Wandel erfährt, können deshalb die vom Geist des Evangeliums erleuchteten Frauen der Menschheit tatkräftig dabei helfen, dass sie nicht in Verfall gerät. Die Worte dieser Botschaft fassen zusammen, was bereits in der Lehre des Konzils … Ausdruck gefunden hatte.“

Antonie war eine „vom Geist des Evangeliums erleuchtete Frau“. Aber das zu erkennen, darin taten sich die Verantwortlichen in der Kirche in jenen Jahren sehr schwer.

Sendung der Laien

Ein weiteres Hindernis, Antonie und ihre Berufung, ihre Absichten und Vorstellungen einzuordnen, war die Tatsache, dass sie dem Laienstand angehörte. Sie war weder Ordensfrau wie Thérèse von Lisieux, Edith Stein oder wie Schwester Faustyna in Krakau, heute unbestritten anerkannte große Mystikerinnen. Wäre es bei ihr bei einer persönlichen Frömmigkeit geblieben, hätte kaum jemand daran Anstoß genommen. Aber ihre Berufung galt der Sorge um die Kirche, um die Menschen, um ihre Erlösung und um ihr Heil, ja um das Heil der Welt. Zugegeben, sehr hohe Ansprüche, die da eine unbedarfte Seele zu erkennen gab.

Erst dem Zweiten Vaticanum ist auf diesem Gebiet ein großer Durchbruch zu verdanken. In der Einleitung zum „Dekret über das Laienapostolat“ heißt es: „Um dem apostolischen Wirken des Gottesvolkes mehr Gewicht zu verleihen, wendet sich die Heilige Synode nunmehr eindringlich an die Laienchristen, von deren spezifischem und in jeder Hinsicht notwendigem Anteil an der Sendung der Kirche sie schon andernorts gesprochen hat. Denn das Apostolat der Laien, das in deren christlicher Berufung selbst seinen Ursprung hat, kann in der Kirche niemals fehlen.

Wie spontan und fruchtbar dieses Wirken in der Frühzeit der Kirche war, zeigt klar die Heilige Schrift selbst (Apg 11, 19-21; 18,26; Röm 16,1-16; Phil 4,3). Unsere Zeit aber erfordert keinen geringeren Einsatz der Laien, im Gegenteil, die gegenwärtigen Verhältnisse verlangen von ihnen ein durchaus intensiveres und weiteres Apostolat. Das dauernde Anwachsen der Menschheit, der Fortschritt von Wissenschaft und Technik, das engere Netz der gegenseitigen menschlichen Beziehungen haben nicht nur die Räume des Apostolates der Laien, die großenteils nur ihnen offenstehen, ins Unermessliche erweitert; sie haben darüber hinaus auch neue Probleme hervorgerufen, die das eifrige Bemühen sachkundiger Laien erfordern.

Dieses Apostolat wird um so dringlicher, als die Autonomie vieler Bereiche des menschlichen Lebens – und zwar mit vollem Recht – sehr gewachsen ist, wenngleich dieses Wachstum bisweilen mit einer gewissen Entfremdung von der ethischen und religiösen Ordnung und mit einer schweren Krise des christlichen Lebens verbunden ist. Zudem könnte die Kirche in vielen Gebieten, in denen es nur ganz wenige Priester gibt oder diese, wie es öfters der Fall ist, der für ihren Dienst notwendigen Freiheit beraubt sind, ohne die Arbeit der Laien kaum präsent und wirksam sein.“

Vor dem Hintergrund dieses Textes erscheint Antonie Rädler geradezu als das Idealbild eines Laienapostels. Sie hat Menschen erreicht, die Priester nicht oder nicht genügend erreichen konnten, ja sie dürfte manchen Geistlichen, z.B. ihren eigenen Ortspfarrer Hermann Rädler mit seiner verblendeten und fanatischen Treue zu Adolf Hitler, durch ihre Treue zur Lehre und zum Geist des Evangeliums korrigiert und dadurch manche Seelen gerettet haben. Als Leiterin der Filiale ihres Vaters in Lindau hat sie das Vertrauen vieler Frauen gewinnen können, diesen nicht nur praktische Ratschläge gegeben, sondern den Samen des Glaubens in ihre Seelen gesenkt. Erst das Konzil hat die Augen vieler Bischöfe und vieler Priester für dieses ungenutzte Potential in der Kirche geschärft.

Natürlich ist es nicht so, als ob vor dem Konzil selbstherrlich herrschende Würdenträger die Energien, die in diesem Stande für die Kirche schlummern, völlig ignoriert hätten. Zu allen Jahrhunderten haben große Persönlichkeiten unter den Laien Einfluss auf das Leben der Kirche gehabt. Aber Zeitgeist, Routine und Überängstlichkeit haben diese Möglichkeit nicht zum Zuge kommen lassen. Darin lag ein Teil der Tragik von Antonie Rädler, die ein Vierteljahrhundert unter dieser mangelnden Weitsicht bitter gelitten hat.

Das Charisma

Die dritte Hürde, die zu nehmen war, war das Charisma. Auch dafür hat das volle Verständnis erst nach dem Zweiten Vaticanum an Boden gewinnen können. Charismen haben schon in der Urkirche eine große Rolle gespielt, wenn auch der Apostel Paulus sie anders genannt hat. Was ist ein Charisma? Früher sprach man von einer „gratia gratis data“ – ein frei gewährtes Geschenk. Heute beschreiben wir es etwas anders. Ein Charisma ist eine von Gott (meist plötzlich) einzelnen Gläubigen gewährte Gnade beziehungsweise Befähigung zum Dienst am Menschen, zum Aufbau der christlichen Gemeinde. Dies geschieht meist unerwartet und es kann auch, aus welchen Gründen auch immer, von Gott zurückgenommen werden. Es muss also nicht unbedingt etwas Dauerhaftes sein. Ein Charisma ist auf Bekenntnis und Zeugnis angelegt, der Charismatiker fühlt sich gedrängt, mitzuteilen.

Ein Charisma ist nicht mit einem Naturtalent zu verwechseln. In den letzten Jahrzehnten hat sich die säkulare Sprache, das säkulare Denken dieses christlichen Begriffes bemächtigt – wie so oft, etwa in der Politik. Es ist eigentlich ein Missbrauch. Dadurch kann die eigentliche Bedeutung im religiösen Bereich Schaden nehmen. Bundeskanzler Willy Brandt wurde in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts so ein politisches „Charisma“ zugesprochen, ab dem Jahre 2008 Barack Obama in den USA.

Charismen gehören zum Wesen der katholischen Kirche. Sie ergänzen das Amt, können es aber nicht ersetzen. Umgekehrt kann eine von Gott gewährte Gnade, Befähigung, nicht vom Amt verfügbar gemacht werden. Bisweilen kommt es zu Spannungen zwischen Charisma und Amt, in Wigratzbad zu beobachten zwischen Antonie Rädler und den beiden Bischöfen J. Kumpfmüller und später J. Freundorfer. Dass es auch anders sein kann, ja sein sollte, hat dann der Nachfolger im Amt, Bischof J. Stimpfle, gezeigt. Charismen sind auf Prüfung durch das Amt angewiesen — eventuell auf Korrektur.

Auf Charismen sollte man mit Dankbarkeit reagieren, nicht mit Missachtung nach dem Motto: „Ich brauche keine Erscheinungen“, wie manche Priester gelegentlich von der Kanzel behaupten. Das Charismatische gehört genauso zur Kirche wie die Sakramente und wie die Bischöfe und Priester. Das Charisma geht auf die aktuellen Bedürfnisse der Kirche ein, deshalb treten zu verschiedenen Zeiten verschiedene Charismen auf. Der große Theologe Karl Rahner nannte sie „Imperative“, „Befehle“ Gottes, wie in der jeweiligen Zeit das Evangelium umzusetzen ist.

Seit einigen Jahrzehnten ist zu beobachten, dass bestimmte Charismen, die in der Urkirche eine große Rolle gespielt haben, wieder auftreten. Die Zeiten scheinen einander ähnlich zu sein, heute wie vor 2000 Jahren. Charismen ergänzen einander, sie wirken zusammen. Wo sie einander bekämpfen oder abwerten, sind sie unecht. Oberstes Ziel der Charismen ist das Heil des Menschen.

Es ist die Ursünde unserer Zeit geworden, dass man meint, alles lasse sich erklären, wenn nicht heute, dann morgen und wenn nicht morgen, dann übermorgen. So etwas wie Übernatur existiere nicht und Gott sei nur eine Vermutung. Dieses Denken findet schleichend Eingang auch bei Christen.

Die Wurzeln des verhängnisvollen Irrtums liegen in der Meinung, Gott lasse sich wie die Natur erklären oder wie die Natur erforschen. Der Mensch möchte Gott zum Gefangenen von Zeit und Raum machen, wie er einer ist. Aber Gott ist der ganz Andere. Und nur ein Mensch, der versucht, die Welt mit diesen Augen Gottes von einer anderen Ebene zu betrachten, bekommt ein Gespür für das Wirken Gottes, ja er ist in der Lage, dieses Handeln zu erkennen. Gnade, ein Charisma sind nicht nach mathematischen Formeln zu entschlüsseln, sie sind nicht greifbar, sie folgen anderen Gesetzen. Es sind Impulse des Heiligen Geistes.

Was nun war das Charisma bei Antonie? Es war vor allem und zuallererst die Gnade des immerwährenden Gebetes. Schon der Apostel Paulus schreibt in seinem ersten Brief an die Thessalonicher: „Betet ohne Unterlass“ (5,17). Und nur zwei Zeilen weiter schreibt er: „Löscht den Geist nicht aus“ (5,19), als wolle er einen Zusammenhang herstellen. Bei Antonie ist er da. Als junge Frau hat sie in Lindau ganze Nächte durchgebetet, von niemandem gedrängt, von niemandem eingeladen, aus innerem Impuls. Das unter anderem wurde für die damaligen Machthaber zum Ärgernis, weshalb man sie umbringen wollte. Im 20. Jahrhundert wurde immer weniger gebetet, ein Grund, warum auch die Gottesmutter in ihren Erscheinungen immer wieder dringend und nachhaltig zum Gebet aufruft.

Opfertod auf Golgotha

Zu diesem Charisma gehört auch die Bereitschaft zur Sühne für eigene Vergehen, für die Fehlleistungen anderer und für die Sünden der ganzen Welt. In dieser Hinsicht bestand eine große Seelenverwandtschaft mit der kleinen Thérèse von Lisieux, weshalb es sie instinktiv auf ihrer Reise durch Frankreich dort hingezogen hat. Der Opfertod Jesu am Kreuze war das vollkommene Sühneopfer, das Christus stellvertretend für die ganze Menschheit dargebracht hat. In Ihm hat Gott die Welt mit sich selbst versöhnt.

Sühne hat etwas mit Ungleichgewicht zu tun. Wir wissen aus der Medizin, wie verhängnisvoll Gleichgewichtsstörungen sind. Sie können ein normales Leben unmöglich machen. Störungen des Gleichgewichtes in der Natur können verhängnisvolle Folgen haben, im Kosmos würden sie das Chaos zur Folge haben. Das gilt auch für die Welt des Übernatürlichen.

Diese Offenbarung ist im 20. Jahrhundert auf immer weniger Verständnis gestoßen. Und immer wieder trifft man auf Versuche, den Tod Jesu anders zu deuten, etwa als vollkommene Hingabe oder als Beispiel für eine Welt, die nur für sich selbst lebt. Den Sinn der Sühne versteht nur der, der eine Ahnung von der Unendlichkeit Gottes hat, von der Unendlichkeit seiner Liebe zum Menschen. Gott ist ewige Harmonie. Liebe ist Harmonie, Liebe will Gegenliebe; je größer sie ist, umso größer die Sehnsucht nach einer Antwort nach den gleichen Maßstäben. Sühne ist eine „Erfindung“ der ewigen Liebe, um dem Geschöpf die Möglichkeit zu geben, alles wieder ins Lot zu bringen. Sie ist etwas Urgöttliches.

Das gehörte über Jahrhunderte, ja über zwei Jahrtausende für Christen zum ganz selbstverständlichen Glaubensgut, wie es in einem Lied zum Ausdruck kommt: „Preis Dir, Du Sieger auf Golgotha, Sieger auf ewig, halleluja.“ Golgotha, das Sühneopfer gilt als Sieg. In der Liturgie wird es festgehalten. Worauf es jedoch ankommt ist, dass es im praktischen Leben des gläubigen Menschen verinnerlicht wird, dass es als Aufruf zur Nachfolge Jesu akzeptiert wird.

Aus eben diesem Grunde sind Kreuzzüge für die christliche Botschaft etwas absolut Unerträgliches. Das Christentum ist eine Religion des Kreuzes, der Islam – wie viele politische Bewegungen – eine Religion des Schwertes. Es hat das römische Imperium in den ersten drei Jahrhunderten nicht durch Gewalt, nicht durch Terroranschläge erobert, sondern durch das Beispiel seiner Märtyrer und den Opfergeist seiner Familien.
Das beständige und intensive Gebetsleben ist ein Hinweis dafür, dass es im Herzen von Antonie brannte, Gott aus den Tiefen der eigenen Seele heraus zu antworten. Und der größte Beweis für eine große Liebe ist die Bereitschaft zur Sühne für die unendlichen Enttäuschungen, die der Mensch Gott bereitet hat.

Von den frühesten Jahren bis zum Bau der eindrucksvollen Sühnekirche in Wigratzbad zieht sich diese Einstellung wie ein roter Faden durch ihr Leben. Die Mystik von Wigratzbad ist Sühnemystik.

Eng damit verbunden ist die Pflege des Gewissens. Seit 200 Jahren erleben wir eine Demontage des Gewissens. Ganz zynisch hat es Adolf Hitler betrieben, als er sich als das „Gewissen der Nation“ bezeichnet hat. Die anderen brauchten nur zu gehorchen. Diese Erosion des Gewissens geht weiter, sie hat horrende Ausmaße angenommen. Über raffinierte Sprachregelung wurden Urbegriffe wie Sünde, Familie, Ehe, Vater, Mutter, Keuschheit, Liebe verfremdet, es wird ihnen ein anderer Inhalt unterstellt. Aus dem Gewissen wurde z.B. das Über-Ich mit negativem Beigeschmack.

Antonie ist – im Gegensatz zu diesem Trend – unter großen Opfern ihrem Gewissen treu geblieben, selbst wenn sie der Familie widersprechen musste. An ihr demonstriert der Himmel die große Verantwortung des einzelnen Menschen für sich und die Welt. Die Sühnekirche von Wigratzbad ist ein Monument des Gewissens, der Stimme Gottes im Menschen. Noch Paulus konnte sich vor fast 2000 und der große Augustinus vor 1600 Jahren darauf berufen, dass auch die Heiden ein Gewissen haben. Heute ist es bei vielen Christen verkümmert oder ausgelöscht. Glaube wird nach eigenem Gutdünken gelebt.

Am Schluss der charismatischen Befähigungen sei bei Antonie noch die Seelenschau genannt, eine Gabe, die heiligmäßigen Personen gegeben wird, um sie sicher durch den Dschungel menschlicher Verirrungen, Versuchungen und Fallen zu leiten. Inzwischen setzt man mehr auf die Psychologie und die Psychiatrie, mit meist zweifelhaftem Ergebnis, wie sich leicht aus dem allernächsten Umfeld belegen ließe. Bei Johannes lesen wir: „Jesus aber vertraute sich ihnen nicht an, denn er kannte sie alle und brauchte von keinem ein Zeugnis über den Menschen, denn er wusste, was im Menschen ist“ (Joh 2,24-25). Und in den Schriften der Visionärin Maria Valtorta sagt Jesus zu Petrus: „Traue nie der Zukunft eines Menschen.“ Etwas von diesem Wissen über den Menschen schenkt der Himmel auch mystischen Naturen. Gelegentlich wurde es bei Antonie beobachtet.
Dass Bischof Josef Stimpfle das Charisma Antonies erkannte, obwohl er der weitaus jüngste unter den drei Bischöfen war, die mit ihr zu tun hatten, legt die Vermutung nahe, diese Dimension des menschlichen Daseins müsse ihm aus eigener Erfahrung vertraut gewesen sein.

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Quelle: Eigener Scan aus meinem persönlichen Exemplar des im Titel genannten (neu nicht mehr erhältlichen) Buches

Siehe weiter:

Aus: Alfons Sarrach: SIEG DER SÜHNE – Wigratzbad: Marias Botschaft an den Menschen

Kapitel VII

Gejagd und versteckt

Erstes Messopfer

Am 1. September 1939 brach der verhängnisvolle Zweite Weltkrieg aus. Ein Volk, katholisch geprägt wie kein anderes in Europa, wurde überfallen. Es sollte knapp 40 Jahre später nach mehreren Jahrhunderten den ersten Papst stellen, der kein Italiener war. Bis dahin werden jedoch noch viele Leiden den ganzen Kontinent überfluten.

Einen Monat später, im Oktober, erteilten die Behörden die schriftliche Erlaubnis zur Öffnung der Kapelle und zu ih­rem Ausbau. In Wigratzbad ließ man keine Zeit verstreichen. Es wurde mit Hochdruck an der Vollendung gearbeitet. An­fang Dezember konnte ein Türmchen aufgerichtet werden. Die Glocke erhielt den Namen Bernadette. Sie wurde von G.R. Frommknecht geweiht und aufgezogen. Eingraviert wurde der Spruch: „Maria siegt, siegt immer!“ Die Turmspitze sollte eine Statue der Gottesmutter aus Bronze krönen. Antonie hol­te sie aus Kisslegg. Sie zierte einst die Brunnensäule vor der dortigen Pfarrkirche. In einer Nacht war sie von Gegnern he­runtergerissen und in Stücke geschlagen worden. Antonie er­bat sich vom Pfarrer die Trümmer, ließ die Teile zusammen­schweißen und auf die Spitze des Turms stellen. Worauf man allerdings noch warten musste, das war die Weihe und die Erlaubnis, in der Kapelle die hl. Messe zu feiern.

Diese Möglichkeit eröffnete sich einige Monate später. Und es sollte ein Geistlicher aus Sibratshofen sein, Pfarrer Ernst Ritter, ein Priester mit Leib und Seele, der zu den Verfolgten des Regimes gehörte. Zweimal schon war er von der Gehei­men Staatspolizei eingekerkert worden. Nach einjähriger Haft wurde er jetzt von einem Sondergericht zum Konzentrations­lager Dachau verurteilt. Es gelang ihm, seinen Schwestern eine Mitteilung zukommen zu lassen mit der Bitte, für ihn in Wi­gratzbad zu beten. Das taten sie zwei Tage und zwei Nächte hindurch. Am dritten, am Feste des hl. Josef, wurde der Ver­urteilte plötzlich aus der Haft entlassen. Noch in der Kleidung eines Sträflings fuhr er nach Wigratzbad. Vor der „Unbefleckt empfangenen Mutter vom Sieg“ betete er den ganzen Nach­mittag und die Nacht hindurch. Am Morgen fuhr er zu sei­nem Oberhirten nach Augsburg und bat um die Erlaubnis, in Wigratzbad aus Dankbarkeit das hl. Messopfer feiern zu dürfen. Die Bitte wurde ihm gewährt.

Es war selbst ein Verfolgter und Gedemütigter, der in der Sühnenacht vom 24. auf den 25. März 1940 die Kapelle ein­weihte. Eine große Schar von Betern war dabei. Und ausge­rechnet an einem der größten Marienfeste, Mariä Verkündi­gung, wurde in der Kapelle zum ersten Mal das hl. Messopfer gefeiert. Das alles war von einer großen, nicht zu übersehen­den Symbolik.

Auf die zweite hl. Messe musste man allerdings anderthalb Jahre warten. Das war anlässlich der Hochzeit von Antonies Bruder Andreas. Er hatte darum im Ordinariat gebeten und die Erlaubnis erhalten. Auch diese Feier wurde zu einem be­sonderen Erlebnis für die zahlreich Mitfeiernden.

Der größer werdende Zustrom an Pilgern wurde für An­tonie allerdings zu einem Damoklesschwert, das ständig über ihrem Haupte schwebte. Ihre Gegner ruhten nicht, und zu ihnen gehörte vor allem der eigene Ortspfarrer. Das ist ohne Zweifel eines der bittersten Kapitel im Leben der charisma­tisch begnadeten Frau. Und man würde der Kirche, die sich seit den letzten Päpsten mehr denn je der Wahrheit über die eigene Geschichte verpflichtet fühlt, in unserer Zeit keinen Dienst erweisen, wollte man das verschweigen.

Tödliche Anklagen

Zwei Jahre waren in Wigratzbad seit der Einweihung vergan­gen. Da versammelten sich im Hause des Bürgermeisters von Hergatz ein paar Gleichgesinnte, unter ihnen der Ortspfarrer und sein Küster, der auch Fleischbeschauer in der Gemeinde war, um darüber zu beraten, wie man Antonie aus dem Wege räumen und ihr Werk auslöschen könnte. Man kam auf die Idee, sie der Schwarzschlachtung zu bezichtigen. Darauf stand die Todesstrafe. Ausgerechnet der Küster, in seiner Eigenschaft als Fleischbeschauer, sollte die Anzeige erstatten. Die Familie Rädler wurde beschuldigt, in drei Kriegsjahren 50 Stück Vieh unter der Hand geschlachtet zu haben. Antonie trage dabei die Hauptverantwortung. Dem Küster wurde versichert, dass ihm nichts geschehen werde, falls herauskäme, dass an den Vorwür­fen nichts dran sei. Von der Sitzung erfuhren die Rädlers über eine Frau, die im Nachbargebäude des Bürgermeisters wohnte und Gelegenheit hatte, unauffällig mitzuhören, was in der Sit­zung beschlossen wurde. Nach dem Kriege hat der Mann seine Beschuldigungen widerrufen. Aber für die große Beterin von Wigratzbad hätten diese der sichere Tod sein können oder die Entsendung in das berüchtigte Konzentrationslager Auschwitz, in dem die bekannte Mystikerin Edith Stein vergast wurde.

Die Anzeige hatte zur Folge, dass zwei Tage vor dem Palm­sonntag, dem sog. Schmerzensfreitag, im Jahre 1942, ein Po­lizeibeamter auftauchte, Antonie verhaftete und zum Amts­gericht in Lindau brachte. Sie wurde in einer Einzelzelle un­tergebracht. Man wusste von Augsburg her um ihren Einfluss auf Mitgefangene. Sie durfte niemanden empfangen, nieman­dem schreiben, sie durfte nie an die frische Luft.

Die zermürbenden Verhöre aus dem Jahre 1938 in Augs­burg wiederholten sich. Sie dauerten von 8 bis 17 Uhr. Die Tobsuchtsanfälle des vernehmenden Zollfahnders zeigten, wie fanatisch ergeben viele Menschen dem unmenschlichen Sys­tem waren. Die Torturen hatten zur Folge, dass Antonie bis­weilen zusammenbrach.

In der Nacht ließ man gefangene Soldaten in ihre Zelle, in der Erwartung, sie würden sich auf sie stürzen, sich an ihr vergehen. Man hätte sie dann der Prostitution beschuldigt. Sie betete zwanzig Rosenkränze am Tag. Die Soldaten vermochten nicht, sich ihr zu nähern, eine geheimnisvolle Macht hielt sie zurück. Außerdem musste die Gefangene die Zellen der Häft­linge putzen, deren Boden mit den Sekreten der Geschlechts­kranken verunreinigt war. Man hoffte, sie würde sich anste­cken. Grauenvoll waren die großen Feste, besonders Pfingsten. An diesen Tagen wurden die Gefangenen sich selbst überlas­sen, die sich dann sexuellen Ausschweifungen hingaben. Von ihrer Zelle aus musste sie alles mitanhören.

Am meisten litt Antonie darunter, dass sie auf die hl. Kom­munion verzichten musste. Ihre Bitte an einen Wächter, ihr einen Priester zu besorgen, beantwortete dieser mit Spott. Als ein Amtsgerichtsrat in ihre Zelle kam, ein Protestant, trug sie ihm ihre Bitte vor. Der zeigte Verständnis und versprach, et­was für sie zu tun. Tatsächlich kam der Kaplan der Stadtpfarr­kirche zu ihr. Dieser behandelte sie jedoch von oben herab, spendete ihr aber doch die heiligen Sakramente.

Die qualvolle Haft dauerte vom 25. März bis zum 2. Juli, dem Fest Mariä Heimsuchung, also dreieinhalb Monate. In der Nacht zum 2. Juli hatte Antonie einen Traum. Die Gottesmut­ter stand vor ihr, nahm sie an der Hand und sagte: „Komm!“ Während sie den Rosenkranz betete, fragte Antonie immer wieder: „Wohin soll ich denn mit dir gehen? Wirke ein Wun­der. Nimm mich heim zur Grotte!“ Und es trat ein. Noch am gleichen Tage wurde sie ins Amtsgericht nach Wangen gerufen. Der Richter händigte ihr ein Telegramm aus, das aus Mün­chen eingetroffen war. Es war vom Sondergericht und lautete: „Antonie Rädler ist sofort zu entlassen!“ Der Richter erklärte ihr die Hintergründe, die zeigen, dass es in diesem System im­mer wieder Beamte gegeben hat, die von der Unschuld Anto­nies überzeugt waren: „Ihr Verteidiger, ein Oberamtsrichter, hat sich telefonisch an das Sondergericht in München gewandt und verlangt, dass ihm nach fünf Monaten endlich die Akten zum Fall Antonie Rädler zugestellt werden. Daraufhin hat München die Entlassung veranlasst. Bei einer Person, die sich eines Kriegsverbrechens schuldig gemacht hat, geschieht so etwas außerordentlich selten. Ich gratuliere Ihnen.“

Kurzes Atemholen

Am Nachmittag war Antonie wieder daheim. Es sollte für sie nur ein kurzes Atemholen sein. Sie ging zur Grotte und stellte fest, dass sie schön geschmückt und das Ziel vieler Beter geblieben war. Man hatte viel für die Gefangene gebetet.

Zwei Tage später kam ein Polizist und brachte ihr die Schlüs­sel zur Kapelle. Er hatte die Anweisung, dafür zu sorgen, dass das Harmonium aus der Kapelle entfernt wurde, damit es kei­nen Schaden nehme. Antonie und ihre Brüder nahmen die Gelegenheit wahr, auch den „Herrn im Elend“, die Gnaden­statue der Unbefleckten Empfängnis und den hl. Josef in Si­cherheit zu bringen. Umsonst protestierte der Beamte. Die Statuen wurden in Antonies Zimmer gebracht und zur Ver­ehrung aufgestellt.

Was noch ausstand, war die Gerichtsverhandlung. Der Va­ter wurde aus Altersgründen vom Erscheinen entbunden, An­tonie stand allein vor dem Richter. Vergeblich versuchte man ihr etwas nachzuweisen, nicht einmal auf Indizien konnte man sich stützen. Nur aufgrund des Verdachtes wurde sie zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, angerechnet wurden nur zwei Monate Haft, „weil sie sich nicht zu ihrer Schuld bekannt ha­be“. Bis zum Antritt der Haft durfte sie heimkehren. Ihr Ver­teidiger hoffte auf Strafaufschub, aber Anträge dieser Art wur­den zurückgewiesen.

Vor dem Antritt der Strafe musste sie noch einmal nach München, um einer Gerichtsverhandlung wegen Schwarz­schlachtung beizuwohnen. Es war Psychoterror reinsten Was­sers. Aber der Freund des Vaters, ein Ministerialrat, ließ ihr eine heimliche Nachricht zukommen, auf keinen Fall nach Hause zurückzukehren. Er hatte erfahren, dass Antonie nach Auschwitz gebracht und dort umgebracht werden sollte. So begann eine moderne Odyssee, die ihresgleichen sucht.

Antonie tauchte erst einmal bei ihrem Vetter, Pfarrer von Hindelang, unter. Nach einer Woche musste sie weiterziehen, um den Geistlichen nicht zu gefährden. Sie konnte sich bei einem Freund des Vaters in Heimenkirch verstecken. Dieser brachte sie in einem Dachstübchen unter und versorgte sie. Er konnte den Spiritual des Herz-Jesu-Heims, Pater Pius von Weingarten, bewegen, ihr die hl. Kommunion zu bringen. Aber der Geistliche bekam kalte Füße und redete mit goldener Zunge auf sie ein, sich den Behörden zu stellen und die Strafe anzutreten. Ein Fluchtversuch sei unmöglich, alle Straßen be­wacht, die Familie gefährdet, man würde zwei Personen an ih­rer statt einsperren und hinrichten. In allen Polizeizeitungen sei sie mit Lichtbild ausgeschrieben. Ohne Anmeldung be­komme sie außerdem auch keine Lebensmittelkarten.

Es kam der letzte Abend, an dem sie Abschied nehmen soll­te. Während sie vor einem Herz-Jesu-Bild den schmerzhaften Rosenkranz betete, wurde es plötzlich in der kleinen Stube taghell, sie sah den Erzengel Michael und hörte vom Bild her die Stimme Jesu: „Bleibe ruhig! Dir passiert gar nichts. Du brauchst nicht ins Gefängnis zu gehen. Kein Haar wird dir gekrümmt wer­den. Deinen Angehörigen geschieht auch nichts. Du wirst ab­geholt. Folge! Die Engel begleiten dich. Vertraue! Vertraue!“

Antonie betete den Rosenkranz zu Ende. Da kam Pater Pius und brachte ihr die hl. Kommunion, „die letzte ihres Lebens“ – wie er sagte –, und erteilte ihr den Sterbeablass. Und es entwickelte sich ein kurzer Dialog zwischen dem Priester und einer „ungebildeten“ Laiin, der dennoch Geschichte machen sollte. „Sie täuschen sich, Herr Pater! Mir geschieht gar nichts und auch meiner Familie nicht!“ Dann erzählte sie dem Be­nediktinermönch von der Erscheinung des Erzengels. Dieser blieb skeptisch und meinte selbstsicher: „Sie irren sich. Die Angst verwirrt Sie. Sie haben sich das nur eingebildet, Satan verblendet Sie. Es nützt Ihnen nichts, die Augen vor der Wirk­lichkeit zu verschließen.“ – „Nein, Herr Pater“, widersprach Antonie, „die Mutter Gottes hat mich noch nie in die Irre ge­führt. Auch diesmal nicht. Ich glaube, dass der liebe Gott auf die Fürbitte Mariens, der Mutter vom Sieg, ein Wunder wirkt. Maria ist die Siegerin und macht alle Machenschaften des Teufels zunichte.“ – „Möchte es so sein“, meinte der Pater zum Abschluss und versprach noch einmal zu kommen. „Um 14 Uhr müssen Sie den harten Weg antreten“ (das heißt sich stellen). Dann gab er ihr den Reisesegen. Er hatte sich geirrt, denn es kam anders.

Im Bregenzer Wald

Kurz vor Mittag, gegen 11 Uhr, betrat der Hausherr uner­wartet mit einem Mann das Zimmer. Was dieser ihr erzählte, passt in die von Geheimnissen umgebene Geschichte von Wi­gratzbad. Er komme aus dem Bregenzerwald, aus einem ganz verlassenen Winkel. Seiner Frau sei Antonie von Wigratzbad her bekannt. Sie seien kinderlos und wohnten dort allein, ein Anwesen, von Wald umgeben, kein Weg führe dorthin. In der letzten Nacht seien beide, er und seine Frau, geweckt wor­den. Jedem wurde getrennt gesagt: „Holt sofort Antonie Räd­ler zu euch!“ Der Frau wurde zusätzlich eingeschärft: „Drän­ge deinen Mann, er soll sofort die Antonie ins Haus aufneh­men!“ Dem Mann dagegen: „Fürchte nichts! Hole die Antonie in dein Haus, aber sofort. Vertraue!“

Wie aber die Antonie holen, wenn niemand wusste, wo sie sich aufhielt. Also machte der Mann sich in den frühen Mor­genstunden auf den Weg, um das Haus der Familie Rädler aufzusuchen. Dort war man sehr überrascht, denn seit vier Wochen hatte man keine Nachricht von ihr. Den Eltern war der Aufenthaltsort wegen der vielen Verhöre durch die Ge­stapo nicht genannt worden, aus Furcht, sie könnten überlis­tet werden. Nur die Schwiegertochter, die Frau von Martin, wusste um den Ort. So konnte sie dem Mann aus dem Bre­genzerwald den Weg weisen.

Dieser bestellte nun Antonie für den anderen Morgen vor eine bestimmte Ortschaft und gab ihr eine Skizze in die Hand. An Ort und Stelle werde er ihr ein Zeichen mit der Hand geben und einen Jauchzer tun. Im Abstand von 20 Metern sollte sie ihm folgen. Der Weg werde steinig sein, Schluchten hinunter und Höhenwege hinauf führen. Nachdem alles er­klärt worden war, nahm er ihre Wäsche und Kleider mit und machte sich auf den Heimweg.

Es war bereits dunkel, als Antonie sich am Feste des hl. Erzengels Michael auf den Weg machte, verschleiert und als alte Frau verkleidet. Aber das Überwachungsnetz des Polizeistaates war dicht gesponnen. Plötzlich wurde sie angehalten. Eine Taschenlampe leuchtete auf, zwei Männer verlangten ihre Ausweispapiere. Antonie erschrak zu Tode. Sollte alles umsonst gewesen sein? Der Schweiß kam ihr aus allen Po­ren. Und wieder trat etwas Eigenartiges ein. Einer der Män­ner klopfte seinem Kameraden auf die Schulter und sagte: „Lass sie laufen! Das ist sie nicht.“ Ohne weitere Kontrollen kam Antonie durch den Sperrgürtel. So viel Aufwand um ei­ne Frau, die nichts anderes im Sinne hatte, als die Verehrung der Gottesmutter zu verkünden und zu beten.

Am frühen Morgen traf sie dann wie verabredet den Mann und folgte ihm in die entlegene Hütte in den Bregenzerwald. Trotz der Abgeschiedenheit kamen ab und zu doch befreun­dete Jäger ins Haus. Und sie tauchten plötzlich auf. Aus die­sem Grunde blieb sie ständig eingeschlossen und durfte kein Licht anzünden. Sie nutzte die Zeit, um die junge Geschichte der Gebetsstätte niederzuschreiben.

Ende Oktober wurde Antonie plötzlich von einer inneren Unruhe erfasst. Sie spürte, dass Gefahr im Verzuge war und dass sie das Haus sofort verlassen musste. Mitten in der Nacht brach sie auf, die Hausfrau konnte ihr nur noch den Weg zur Landstraße zeigen. Dann musste sie die einsame Beterin ih­rem Schicksal überlassen.

Antonie fand Zuflucht bei treuen Bekannten, aber immer nur für ein paar Tage. Die Gefahr, entdeckt zu werden, war zu groß. Schließlich drängte es sie innerlich mit aller Gewalt nach Hause. Aber was für ein Zuhause war es jetzt geworden! Sie versteckte sich zunächst im Holzstadel und wurde dort von ihrer Schwägerin entdeckt. Ohne lange zu zögern, bas­telte man an einem Versteck. Man verbarg sie in früheren Taubenschlägen unmittelbar unter dem Dach. Dann wurde die Scheidewand zwischen Haus und Heustadel durchbro­chen, die Öffnung durch Bretter so geschlossen, dass sie von innen gut verschlossen werden konnte. Das erwies sich auch als notwendig, denn schon zwei Tage später wurde das ganze Haus von der Polizei durchsucht.

Sie wurde nie von jemandem entdeckt, obwohl im Hause eine siebenköpfige Flüchtlingsfamilie untergebracht worden war. Außerdem hatte man Serben und Polen als Hilfen im Haus und in der Landwirtschaft eingewiesen. Für Antonie war der enge, dunkle Unterschlupf ein Martyrium. Sie konnte nie aufrecht sitzen. Im Winter war es unmittelbar unter den Dachziegeln unerträglich kalt und im Sommer unerträglich heiß. Ab und zu konnte sie in die Küche im obersten Stock­werk ausweichen.

Von Ende 1943 bis April 1945 lebte sie und die ganze Fa­milie in Todesangst. Alle wussten, was sie erwartete, für den Fall, dass man sie entdecken würde. An dieser Gefahr kam sie zweimal haarscharf vorbei. Einmal stürmte die Geheime Staatspolizei unerwartet das Haus. Antonie schaffte es nicht, ihr Versteck aufzusuchen. Sie war bei den kranken Kindern ihres Bruders, konnte nur noch unter die Bettdecke der Kin­der kriechen und diese schreien lassen, als ein Beamter das Zimmer betreten wollte. Er zog sich zurück, ohne Antonie entdeckt zu haben. Er muss mit Blindheit geschlagen gewesen sein. Erstaunlich in dieser Situation, dass die beiden Kinder, ein achtjähriges Mädchen und ein vierjähriger Junge, die täg­lich mit der Tante zusammen waren, sich auch sonst gegen­über anderen Kindern nie verraten haben und das Geheim­nis zu hüten wussten.

Ein zweites Mal, es war schon gegen Kriegsende, im März/ April 1945, betrat überraschend ein Polizeibeamter aus Op­fenbach das Haus und stürmte die Treppe hinauf. Er gab vor, einen gefangenen Polen zu suchen. Schon hatte er die Klinke in der Hand, da rief die Mutter von unten, er sei an der fal­schen Tür, er müsste die nächste hinein.

Langsam und qualvoll neigte sich das „tausendjährige Reich“ seinem Ende zu. Blinder Fanatismus hatte sich sein eigenes Grab gegraben. Aber ein wildes Tier ist noch im Todeskampf gefährlich. Das bekam Martin, Antonies Bruder, zu spüren. Obwohl klar war, dass das Ende nicht mehr aufzuhalten war, wurde er noch in den letzten Tagen bei der Partei verleumdet. Das zeigt den erschreckenden Verlust des Gewissens bei den verführten Menschen. Er trachte angeblich einem Feldwe­bel, dem die Überwachung der Brücke über die Laiblach ob­lag, nach dem Leben. Eine absurde Behauptung. Sie hatte je­doch zur Folge, dass 200 Soldaten aus Konstanz nach Wigratz­bad abkommandiert wurden. 80 SS-Männer und 45 Gestapobeamte wurden im Hause der Familie Rädler einquartiert. Die Besatzung blieb vier Wochen und demolierte, was zu de­molieren war.

Dass bei dieser Menschenmenge im Hause Antonie nie ent­deckt wurde, kann als Wunder besonderer Art bezeichnet werden. Der Schutz des Himmels war offensichtlich. Zwei Geistliche, die aus dem KZ befreit zurückkehrten, feierten das hl. Messopfer in der Kapelle und brachten Antonie heimlich in einer Kapsel das Allerheiligste für den Fall, dass man sie doch noch ergreifen und zum Tode führen würde. Damit war man in den letzten Tagen besonders schnell bei der Hand.

Unterhalb des Hauses, der Kapelle und in der Umgebung wurden Schützengräben ausgehoben und auf die anrücken­den Franzosen geschossen. Das machte die Gebäude zur be­sonderen Zielscheibe für die andere Seite, die nicht mehr aufzuhalten war.

„Um dieser hohen Frau willen“

Immer mehr flüchtende deutsche Soldaten durchzogen Wigratzbad und die umliegenden Gemeinden. Sie hatten die Sinnlosigkeit des Kampfes vor Augen. Da ließ der Bürger­meister von Hergatz ein Gemeindeblatt mit der Aufforderung verteilen, man solle keinen deutschen Soldaten in den Häu­sern aufnehmen, sie seien dessen nicht würdig: „Schickt sie in die Wälder.“ Das war jener Mann, der an der Sitzung teil­genommen hatte, auf der beschlossen worden war, Antonie der Schwarzschlachtung zu bezichtigen und damit dem siche­ren Tode auszuliefern. Jetzt ereilte ihn genau dieses Schick­sal. Die Blätter kamen in die Hände des SS-Kommandanten. Der geriet in Wut, ließ den Bürgermeister ergreifen, verhör­te ihn drei Stunden im Hause der Familie Rädler und verur­teilte ihn schließlich zum Tode durch Erhängen.

Von einem Nebenzimmer aus konnte die Familie alles mit­hören. Sie hatten ihrem Todfeind verziehen und beteten jetzt für ihn, dass doch seine Seele gerettet werde. Vor dem Hause des Bürgermeisters stand einmal ein Kreuz, es wurde als an­gebliches Verkehrshindernis entfernt, auf seine Anweisung hin. Jetzt wurde an dieser Stelle ein Galgen errichtet. Der erste Versuch einer Hinrichtung ging daneben. Daraufhin musste er sich selbst den Strick um den Hals legen. Es waren Gesin­nungsgenossen, die ihn umbrachten.

Noch in der Nacht kam seine Frau zur Familie Rädler und bat diese inständig, sich beim SS-Kommandanten dafür zu verwenden, dass man den Toten vom Galgen nehmen dürfe, damit den eigenen Kindern der schreckliche Anblick erspart bliebe. Es war schwer, ihn umzustimmen, aber schließlich gab er nach. Der Tote wurde auf einem Schubkarren nach Wohmbrechts gefahren und verscharrt.

Übrigens haben die größten Feinde Antonies einen tragi­schen Tod gefunden. Zu ihnen gehörte auch der Kreisleiter der Partei aus Lindenberg. Er wurde von befreiten Polen aus dem Auto geholt, zu Tode getrampelt und unter die Erde ge­bracht.

Der letzte entscheidende Tag brach an. Es war der 29. April, ein Sonntag. Die SS schickte alle Bewohner in die Wälder. Die Brücke über die Laiblach wurde gesprengt, ein französischer Panzer in Brand geschossen und dessen Besatzung getötet. Bei Einbruch der Nacht verließ dann der größte Teil der Besatzung den Ort. Nur eine kleine Abteilung schoss noch nach Mitter­nacht aus den Schützengräben. Dann verschwanden auch sie.

Antonie hatte niemand von der Familie fliehen lassen. In der Dämmerung schlichen sie zur Kapelle hinauf und bete­ten in der Unterkirche die ganze Nacht hindurch. Wenn die Gottesmutter es zulasse, dass sie alle sterben, dann wollten sie ihr Leben aufopfern, damit später eine noch größere Ka­pelle entstehen möge zur Verherrlichung der Siegerin in allen Schlachten Gottes, meinte sie.

Die heranrollenden französischen Panzer eröffneten ein ohrenbetäubendes Feuer auf Wigratzbad. Martin befand sich gerade noch unten im Elternhaus, da durchschlug eine Gra­nate die Hauswand und entzündete einen Holzstoß. Mit nas­sen Tüchern konnte der Sohn das Feuer löschen. Gegen 2 Uhr suchte er das Haus noch einmal auf und traf dort zu seiner großen Überraschung auf den SS-Kommandanten, zwei Sol­daten und eine Sekretärin. Mit vorgehaltener Pistole jagte er Martin aus dem Hause, worauf dieser in die Unterkirche zu­rückkehrte. Der ganze Weg war mit Granaten übersät, die nicht krepiert waren.

Von innerer Unruhe gedrängt verließ Martin im Morgen­grauen noch einmal die Unterkirche, nahm eine Stange und ein weißes Tuch mit und stieg zur zerstörten Brücke hinun­ter, wobei er jeden Augenblick damit rechnen musste, von einer Kugel getroffen zu werden.

Unten erwartete er den ersten französischen Panzer. Ihm entstieg ein Offizier, der fließend deutsch sprach. Er staunte über den Mut des Mannes und fragte, ob noch deutsche Sol­daten im Ort seien. Martin verneinte. „Ihr habt die Brücke über die Laiblach gesprengt. Ich habe den Befehl, zur Strafe den Ort und die ganze Umgebung dem Erdboden gleich zu machen“, sagte der Offizier. Martin beteuerte, dass es die SS gewesen sei. Sie selber hätten über Jahre unter dem schreckli­chen Regime gelitten. Trotz der Auseinandersetzung mit die­sem gottlosen Reich hätten sie dort oben die Kapelle erbaut zu Ehren der Gottesmutter vom Siege, unzählige Nächte da­rin gebetet um den Sieg über ihre Feinde.

Und dann kam zwischen dem Deutschen und dem Fran­zosen ein Gedankenaustausch zustande, der nur in der Welt Gottes möglich ist. ,Verschonen Sie uns und diesen Ort, wie Sie in gleicher Lage Lourdes verschonen würden. Schauen Sie die Madonna dort oben auf dem Türmchen. Ihr zuliebe, verschonen Sie uns!“ Der Offizier blieb hart: „Aber ihr habt die Brücke zerstört!“ Martin schlug einen Ausweg vor. Er woll­te dem Offizier eine Brücke über den Fluss zeigen. Wenn man sie verstärken würde, könnten Panzer darüber rollen und der Vormarsch wäre gesichert. Der Franzose ließ sich die Brücke zeigen und ordnete dann an, sie den Erfordernissen anzu­passen. Etwa fünfzehn Minuten ging er, mit sich selbst rin­gend, auf und ab. Martin startete einen neuen Versuch: „Tun Sie es der hohen Frau zuliebe. Sie wird Sie dafür beschützen bei Tag und bei Nacht!“ Der Offizier schaute zum Türmchen: „Um dieser hohen Frau willen verschone ich diese Kapelle und diesen Ort!“ Dann gab er den Befehl zur Feuereinstellung.

Maria hatte Verständigung bewirkt zwischen einem Deut­schen und einem Franzosen und Leben gerettet. Sie war zur Brücke geworden. Ein Gegenpol zum SS-Kommandanten und dem Bürgermeister, beide auf Hitler eingeschworen. Dies wurde beiden zum Verhängnis. Am Ende zerstört das Böse sich selbst.

Wigratzbad war gerettet. Kein Schuss fiel mehr. Die einrü­ckende französische Einheit konnte es nicht fassen, dass die Geschosse nicht explodiert waren, alle Häuser standen und kein Mensch ums Leben gekommen war.

Die Bewohner kamen aus den Wäldern zurück, weinten vor Freude. Die Heimat war ihnen erhalten geblieben. Anto­nie schlug vor, neunmal neun Tage jeden Abend in der Ka­pelle einen Psalter, d.h. drei Rosenkränze zu beten.

Am darauf folgenden Sonntag hörten die Menschen in der Kirche von Opfenbach aus dem Munde ihres Pfarrers Mans­netter von der Kanzel ein klares Bekenntnis. Wenn ihnen die Heimat erhalten geblieben sei, dann verdanke man es der Unbefleckt empfangenen Mutter vom Sieg in Wigratzbad. Dort sei viele Stunden bei Tag und bei Nacht gebetet worden, „mehr gebetet als im ganzen Land“.

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Quelle: Eigener Scan aus meinem persönlichen Exemplar des im Titel genannten (neu nicht mehr erhältlichen) Buches

Siehe weiter:

Aus: Alfons Sarrach: SIEG DER SÜHNE – Wigratzbad: Marias Botschaft an den Menschen

Kapitel VI

Gefängnis und Terror

 

„Theater muss aufhören”

Zwei Tage nach dem schockierenden Gespräch mit ihrem Pfarrer hielt ein Wagen vor dem Haus der Familie Rädler. Ihm entstiegen vier Männer der berüchtigten Geheimen Staatspoli­zei und verlangten in barschem Ton, mit Antonie zu sprechen. Sie war gerade erst von einer Beerdigung zurückgekommen und hatte noch nichts gegessen. Sie durfte es auch jetzt nicht. Im Gegenteil. Man begann sofort mit einem Verhör, durch das sie erst einmal eingeschüchtert werden sollte.

Es sei eine große Anzahl von Anzeigen bei ihnen über sie eingegangen, behaupteten sie. Sie hätte für den Bau der Kapel­le ohne Genehmigung gesammelt. Antonie blieb ruhig. Sie sei­en falsch unterrichtet, antwortete sie. Das Geld für die Kapelle stamme von ihrem Vater und von ihrer Taufpatin, außerdem hätte sie ein Darlehen aufgenommen und werde es verzinst zu gegebener Zeit zurückzahlen. Für ihre Behauptungen einer unerlaubten Sammlung sollten sie Beweise erbringen.

Daraufhin wurde das Haus vom Dach bis zum Keller durch­sucht, das Büro des Vaters durchwühlt, Böden aufgerissen, Dokumente beschlagnahmt. Vergeblich. Belastendes Material fanden sie nicht. Die Kapelle wurde mit der Bemerkung ge­schlossen: „Dieses Theater muss aufhören!“ Gegen 21 Uhr be­fahlen sie Antonie, ins Auto zu steigen. Sie durfte nicht ein­mal die Kleidung wechseln. In großer Ungewissheit über ihr Schicksal blieb die Familie zurück.

Trotz der vorgerückten Stunde fuhren sie zur bereits er­wähnten Cäcilia Geyer, die einen wichtigen Anstoß für die Erweiterung der Grotte gegeben hatte und holten sie aus dem Bett. Antonie blieb unter Bewachung im Wagen zurück. Der aus dem Schlaf gerissenen Frau warfen die Beamten vor, sie hätte Antonie Rädler 10 000 Mark für den Bau der Kapelle in Wigratzbad gegeben. Aber diese sei eine Schwindlerin und sie, Frau Geyer, habe sich mitschuldig gemacht. Sie werde al­les bezahlen müssen, bettelarm werden und ins Armenhaus kommen.

Erstaunlicherweise ließ sich die einfache Bäuerin nicht ein­schüchtern. Wenn jemand als Schwindler bezeichnet werden müsste, dann seien sie es, nicht die Antonie. Diese habe gear­beitet und gebetet, sie sei eine ehrbare Frau. Zwar habe sie ihr 2000 Mark für den Bau geschenkt, aber das sei der Wunsch ihres Mannes gewesen. Und was die Erscheinung der Gottes­mutter angehe, so habe sie, Cäcilia Geyer, diese tatsächlich ge­habt. Und sie hätte ihr gesagt: „Ich werde der höllischen Schlan­ge den Kopf zertreten. Ich kann alle zerschmettern, die gegen die Sache sind.“ Ein Schwindel liege hier nicht vor. Im Übri­gen verbiete sie sich in ihrem Hause solche Bemerkungen. Und wenn Gott ein Opfer von ihr fordere, so sei sie dazu be­reit. Die Kapelle, zu Ehren der Gottesmutter erbaut, sei es wert. Drei Stunden haben die Männer die Frau in der Mangel ge­habt, verhört und bedrängt. Aber sie hat sich zur Wehr ge­setzt und ist zuweilen so laut geworden, dass man es im Auto hören konnte. Als die Beamten schließlich gingen, machten sie ihr zur Auflage, am nächsten Tag eine Bescheinigung der Bank vorzulegen, dass die Summe tatsächlich die gewesen sei, die sie, Cäcilia Geyer, angegeben hatte.

Wie bewundernswert der Mut dieser Frauen war, kann je­mand ermessen, der diese Zeit nicht nur erlebt hat, sondern mit seiner Familie selber Opfer jenes Regimes gewesen war und noch heute, in reifem Alter, unter den zugefügten seeli­schen Wunden leidet.

Nach dem unerfreulichen Abstecher ins Haus Geyer brach­ten die Männer der Geheimen Staatspolizei Antonie in das Rathaus von Wangen und steckten sie in eine der Gefängniszellen, die es dort gab. Zu essen erhielt sie nichts. Sie war be­reits den ganzen Tag ohne Nahrung geblieben. Hinzu kam, dass sie die vorausgegangenen Tage schwer gearbeitet hatte, um die Einweihung der Kapelle am 8. Dezember, wie sie ge­hofft hatte, vorzubereiten. Eines konnte sie noch, schlafen.

Zwei Tage vergingen. Danach brachten dieselben Männer sie ins Polizeipräsidium nach Augsburg. Die Zelle, in die man sie sperrte, war ohne Tageslicht. Auf einem dürftigen Bretter­gestell konnte sie sich etwas niederlegen. In dieser Dunkel­heit, von aller Welt isoliert und verlassen, dankte sie der Got­tesmutter, dass sie nun tatsächlich teilhaben durfte am Leiden Christi. Sie war ungebrochen und legte ihr Schicksal in die Hände der „Jungfrau, mächtig bei Gott“.

Hier ist ein kleines Detail bemerkenswert. Da man ihr auch die Handtasche abgenommen hatte, bat sie zwischendurch einen der Beamten, ihr aus der Tasche den Rosenkranz zu bringen. Und wider Erwarten erfüllte der ihr diesen beschei­denen Wunsch, nicht ahnend, welche „Waffe“ er ihr damit in die Hand gab. Für einen kurzen Augenblick zeigte einer der Männer ein menschliches Gesicht.

Im „Katzenstadel“

Am nächsten Tag, es war ein Samstag, wurde Antonie in das gefürchtete Gefängnis „Katzenstadel“ gebracht. Dort kam sie zunächst in eine Zelle mit zwei Frauen, die den letzten Rest an Würde verloren hatten. Es war sehr kalt und Antonie fror bis auf die Knochen. Am Montag wurde sie dann einer Grup­pe von 16 Frauen zugeteilt, die Weihnachtstüten klebten. Die meisten von ihnen waren Prostituierte. Antonie wurde mit Spott empfangen. Nun bekam sie zu Gesicht, wie tief Men­schen fallen können. Es wurde geflucht, gestritten, sich ge­prügelt. Antonie blieb schweigsam, auf Fragen antwortete sie nicht. Im Raum herrschte ein fürchterlicher Gestank, denn alle mussten ihre Notdurft in einen offenen Kübel verrichten. Gelüftet wurde nicht.

Zur Mittagszeit wurde unter einer Türklappe das Essen hi­neingeschoben. Alle füllten ihre Blechschüsseln. Da ging An­tonie zur Initiative über. Sie betete laut das Tischgebet. Ge­lächter war die Antwort. Sie blieb jedoch ruhig und sagte: „Wir sind doch Menschen, wir sind keine Tiere, die ihren Schöp­fer nicht kennen. Betet mit oder schweigt wenigstens!“ Einige schwiegen, andere wurden noch ausfälliger. Antonie zeigte Würde auch unter diesen unmenschlichen Bedingungen. Das musste Wirkung zeigen bei Menschen, denen man jede Würde absprechen wollte.

In der Freizeit forderte sie die Mitgefangenen auf, mit ihr den Rosenkranz zu beten. Wer mitmachen wollte, dem ver­sprach sie ein Stück von ihrer Brotration. Zwei bis drei erklär­ten sich bereit, aber sie kannten weder das Vaterunser noch das Ave Maria. Antonie schrieb sie ihnen auf einem Stück Papier auf. Dann sprach sie ihnen Mut zu und versicherte ihnen, sie würden bald die Auswirkungen des Betens spüren, sie würden andere Menschen werden, aus ihrer Not herauskommen.

Antonies Haltung flößte den Gefangenen Vertrauen ein. Eine nach der anderen kam auf sie zu, offenbarten ihr ihre in­nere Not, baten um einen Rat. Streitigkeiten wurden geschlich­tet. Eine ganz andere Atmosphäre machte sich unter den Häft­lingen breit. Es vergingen keine zwei Wochen, da äußerten alle, bis auf eine Protestantin, den Wunsch, zu beichten. Im Hause gab es eine Kapelle, in der alle zwei Wochen eine hl. Messe ge­feiert wurde. Daher erbat Antonie bei der Gefängniswärterin einen Priester. Es kam ein sehr gütiger und einfühlsamer Pater.

Antonie selbst bereitete alle auf das Sakrament der Buße vor. Sie stand als Letzte in der Reihe. Als sie dran kam, verriet ihr der Geistliche, wie beeindruckt er sei. „Sie mussten in dieses Gefängnis kommen“, bekannte er, „Sie haben große Bekeh­rungen erreicht.“ Kurze Zeit darauf wurde der Geistliche ver­setzt und die Gefängnisseelsorge abgeschafft.

Als auch Antonie von ihnen Abschied nehmen musste, weinten alle. Sie versprachen, jeden Tag den Rosenkranz zu be­ten, sie seien ganz andere Menschen geworden, eine große in­nere Ruhe sei in ihnen eingekehrt. Sie wäre für sie zum Schutz­engel geworden.

Danach wurde sie wieder ins Polizeipräsidium gebracht, von morgens bis abends verhört. Während dieser Verhöre ließ man sie bis zu zehn Stunden ohne Unterbrechung stehen, sie bekam weder zu essen noch zu trinken. Vorher hatte man ihr einige Kartoffeln in der Schale und etwas Kraut gegeben. Jetzt nahmen die Beamten vor ihren Augen Wurst- und Schinken­brötchen zu sich. Man wollte sie zermürben und eine Aussage erpressen, die eine Verurteilung erleichtert hätte. Es ging ih­nen vor allem um eine Liste der Wohltäter. Antonie blieb im Vertrauen auf den Beistand des Heiligen Geistes ruhig, zeigte sogar einen Hauch von Humor. Die Wohltäter seien im Her­zen Jesu und Mariens eingetragen. Dort sollten sie nachfor­schen. Sie zeigte Stehvermögen, hörte auf eine innere Stimme, die ihr sagte: Ich werde an deiner Seite bleiben. Alle Fragen wirst du ohne nachzudenken richtig beantworten.

Aber eine schwere Krise blieb ihr dennoch nicht erspart. Es war am 7. Dezember, am Vorabend des Festes der Unbe­fleckten Empfängnis. Der Psychoterror, die physischen Be­lastungen hatten an ihrer Substanz gezehrt. Die Nerven ver­sagten. Den ganzen Tag über musste sie weinen. Eine innere Nacht brach über sie herein, eine tiefe Gottverlassenheit, sie hatte den Eindruck, der Himmel habe sie vergessen. Sie sah keine Zukunft mehr, die erschien ihr schwarz und ohne Hoff­nung. Man hatte ihr mit dem Konzentrationslager gedroht, die Eltern glaubte sie in höchster Gefahr. Je tiefer die Nacht, umso tiefer ihre innere Not.

Da schlug um Mitternacht vom Kirchturm die Glocke. Beim zwölften Schlag wurde es hell in der Zelle. Aus einer Wolke trat die Unbefleckte Empfängnis heraus und sagte: „Fürchte dich nicht! Ich habe alles in den Händen. Du wirst bald aus dem Gefängnis entlassen werden.

Bete täglich zum Jesuskind:

gnadenreiches Jesuskind, sei hochgepriesen und segne uns! Durch deine heilige Mutter bitten wir dich: Aus aller Not und Bedrängnis errette uns! Zum vollkommenen Sieg und wahren Glück und Frieden führe uns mit deiner Allmacht, Weisheit und Güte. Um die Verdienste deines ersten (zweiten, dritten … zwölften) Lebensjahres willen bitten wir dich: Eile uns zu Hilfe auch durch die Schar all deiner Engel und Heiligen!“

Was wollte Maria, die Mutter Jesu, mit diesem Gebet er­reichen? Bei ihr hat jede Geste, jede Aussage eine tiefe Dimen­sion. Das Leiden Jesu ist für jeden Christen ein Begriff. Da­runter verstehen wir, was Menschen ihm am letzten Tag sei­nes irdischen Lebens angetan haben, den grauenvollen Tod am Kreuze, und was diesem vorausgegangen war an seelischer und körperlicher Folter. Weniger gegenwärtig sind den gläu­bigen Menschen, was er bereits während der Jahre der Ver­kündigung auf sich genommen hatte, den Hass der Mächtigen, der Theologen und der Priesterkaste im Tempel zu Jerusalem. Wenig, ja fast kaum wird bedacht, welche Leiden bereits die Jahre seiner Kindheit durchzogen haben. Die Mordabsicht des Königs Herodes, die mühsame Flucht nach Ägypten, Jahre der Heimatlosigkeit als Flüchtlingskind in Ägypten. Später die Jahre in Nazareth, das Zusammenleben mit Menschen, die keine Engel waren, sondern voller Fehler, Laster und Neid, die ihm, dem Sündenlosen, oft ein Gräuel gewesen sein müssen.

Es ist eine Gefangene, die gerade die Niederungen des Menschlichen ausleben musste, der Maria dieses Gebet, das heißt diese Betrachtung anempfiehlt.

Antonie begann damit sofort. Sie betete zwölf Vaterunser und zwölf Ave Maria. Nach dem Namen Jesu fügte sie jeweils das empfohlene Gebet hinzu. Dann machte sie drei Kniebeu­gen mit den Worten „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt“. Die Kniebeugen sollten eine Sühne sein für jene, die nicht mehr bereit sind, vor dem sich demü­tigenden Gott im Stall das Knie zu beugen. Es ist kein niedli­ches Kindlein-Jesu-Gebet. Dahinter steckt die Offenbarung, was es für den ewigen, unendlich seligen Gott bedeuten muss­te, in Raum und Zeit einzutauchen und als Mensch alles auf sich zu nehmen, was Menschen auf dieser Erde an Qualen und Leiden zugemutet wird, oft schon als Kind.

Neue Register

Den ganzen 8. Dezember hindurch weinte Antonie, dies­mal erfüllt von innerem Glück. Auf diese Weise gestärkt, stell­te sie sich mit erhobenem Haupt wieder ihren Folterknech­ten. Nun zogen sie neue Register. Der Bischof sei über sie in­formiert. Auch er habe zugegeben, dass es auf der ganzen Welt nicht üblich sei, so lange und so viel zu beten. Er billige es nicht. Aber die Frau aus Wigratzbad blieb unbeeindruckt. Sie machte zunächst ein Fragezeichen hinter diese Behauptung des Oberhirten. Dann erläuterte sie ihre eigene Überzeugung. Jedes Gebet, jedes Ave Maria habe einen großen zeitlichen und ewigen Wert, mit jedem Ave komme Gnade und Segen auf die Erde. Deshalb bete sie länger und ausdauernder als viele andere und werde es auch weiterhin tun.

Es war der 9. Dezember. Da erinnerten die Beamten An­tonie daran, dass sie doch am 8. Dezember die Kapelle habe weihen lassen wollen. Daraus sei ja nun nichts geworden. Wo bleibe da der Sieg der Maria vom Sieg? Aber es konnte sie nicht aus der Ruhe bringen. Die Antwort musste selbst ihre zynischen Gegner verblüffen. „Und sie wird doch siegen. Sie siegt immer! Aber sie hat Zeit. Die Kapelle wird eingeweiht werden, wenn sie es bestimmt. Niemand vermag sich ihr zu widersetzen. Sie ist Herrin über Himmel, Erde und Hölle. Sie kann alle zerschmettern, die ihr widerstehen.“

Die Beamten wussten nicht mehr weiter. Sie zeigte eine Intel­ligenz, eine Schlagfertigkeit, die schon die Gegner von Lour­des im 19. Jahrhundert bei der Seherin Bernadette, einem ganz einfachen Mädchen, beobachten konnten. Dahinter steht ei­ne Intelligenz nicht von dieser Welt. Sie machte die Beamten auf Widersprüche aufmerksam, zog ihre Behauptungen ins Lächerliche. Am Ende gingen die Männer wieder zu Beschimp­fungen über. Predigen könne sie besser als ein Pfarrer. Sie sei eine Hexe, sie gehöre auf den Scheiterhaufen. Ein Pfarrer solle sie einsegnen und dann herunterbrennen.

Antonie tat erstaunt. Im 20. Jahrhundert glaubten die Her­ren noch an Hexen! Sie sollten Acht geben, nicht selber auf einem Scheiterhaufen zu landen. Denkt man an das Feuer, das ein paar Jahre später als Bombenhagel viele Städte Deutsch­lands in Wüsten verwandelte, so könnte die Anspielung An­tonies gegenüber dem einen oder anderen Gegner sogar ei­ne Prophezeiung gewesen sein. Wohl noch am selben Abend erschien ihr der „Herr im Elend“ und sagte: „Ich erlöse dich bald!“

Beim letzten Verhör forderte man von ihr das Versprechen, nie mehr zur Grotte zu gehen und dort zu beten. Dann würde man sie sofort entlassen. Antonie wies das Ansinnen zurück. Sie bete nicht um irgendwelcher Sensationen willen, sondern sei felsenfest überzeugt, dass gerade das gemeinsame Gebet zur Gottesmutter ihr und allen nütze, für die sie bete, übrigens auch dem deutschen Volk. Sollte sie heimkommen, würde ihr erster Gang zur Grotte sein. Eine Welle von Wut war die Reak­tion. Man werde sie dorthin bringen, wo ihr Hören und Sehen vergehen könnte. ‚Wir werden sehen, ob Maria siegt oder wir.“ Sie sei bereit, eher den Tod zu wählen, als nicht mehr zur himmlischen Mutter zu gehen, versicherte sie ihren Peinigern.

Dann kam ein letzter Versuch. Ihr Bruder sei bei ihnen ge­wesen und hätte schriftlich versprochen, er werde dafür sor­gen, dass sie nicht mehr vor der Grotte beten werde. Auch diese Behauptung stellte Antonie in Frage. Sie sei volljährig und lasse sich von ihm nichts befehlen. Sie werde wieder be­ten und vorbeten. Ihre Gegner waren vorerst am Ende ihres Lateins. Man brachte sie ins Gefängnis zurück. Diesmal nur für einige Stunden. Dann öffneten sich die Tore. Sie hörte das befreiende „Sie sind entlassen!“

Es war der 18. Dezember 1938, das Fest Mariä Erwartung. Es waren 27 Tage, die sie als Gefangene erlebt hatte, um der Madonna willen, aber, was sie nicht wissen konnte, es sollte noch lange nicht das Ende sein. Ihr erster Gang war, wie hätte es anders sein können, in eine Kirche. Dann suchte sie eine Verwandte auf, bei der sie nach vier Wochen erstmals wieder eine normale Mahlzeit einnehmen konnte. Die Familie wurde benachrichtigt. Um 16 Uhr wollte sie mit dem Schnell­zug kommen, jedoch nicht im nahen Hergatz aussteigen, um nicht auf sich aufmerksam zu machen. Man holte sie in Rö­thenbach ab. Daheim weinten alle vor Freude.

Für Cäcilia Geyer, die bei der Verhaftung Antonies knapp einem solchen Schicksal entgangen war, sollte sich bald der Himmel öffnen. Ein paar Wochen später, es war im Februar 1939, beaufsichtigte sie die Kinder einer Nachbarsfamilie. Plötzlich wurde ihr unwohl, sie stand auf und ging heim, traf dort eine Krankenschwester an und bat diese, den Pfarrer zu holen. Nach dem Empfang der Sterbesakramente rief sie aus: „Dass doch alle Menschen einen so schönen Tod sterben könn­ten!“ Dann schlief sie ein. Am darauf folgenden Morgen klopf­ten vier Beamte der Geheimen Staatspolizei an ihre Türe. Sie wollten sie ins „Irrenhaus“ (wie man es damals nannte) brin­gen. Zu Gesicht bekamen sie eine Tote. Gott hatte ihr vieles erspart. Für das zukünftige erhabene Bild von Wigratzbad stand ein weiteres Mosaiksteinchen zur Verfügung.

Über Verhöre, Isolation, physische Belastungen wie Hun­ger und Kälte versuchte man in Augsburg Antonie zu zermür­ben. Gleichzeitig wurde über die Presse eine Kampagne ge­startet, die ihr Ansehen in der Öffentlichkeit ruinieren soll­te. Die Presse befand sich in jenen Jahren vollständig in der Hand der Partei, sie hatte nicht unparteiisch zu informieren, sondern parteiisch zu propagieren. Wer in ihre Mühlen ge­riet, dem konnte kaum mehr jemand helfen.

Reliquien beschlagnahmt

In der Öffentlichkeit wagte man noch nicht, die Gottes­mutter zu verunglimpfen, also versuchte man es auf Umwe­gen. Antonie wurde Reliquienschwindel vorgeworfen, in Ver­bindung mit einer vorgetäuschten Marienerscheinung. So et­was kommt immer an. Was aber war wirklich geschehen? Der Benediktinerpater Athanasius Miller OSB, ansässig in Rom, bekannt durch eine Psalmenübersetzung, erholte sich in je­dem Jahr einige Zeit in Wangen. Regelmäßig besuchte er auch die Familie Rädler. Bei einem dieser Aufenthalte schenkte er Antonie zwei große versiegelte Kapseln mit kleinen Reliquien von Märtyrern und Heiligen. Die entsprechenden kirchlichen Echtheitserklärungen waren dabei.

Glücklich über so ein Geschenk zeigte sie es einfältig aus­gerechnet dem Ortspfarrer Rädler, von dessen tragischer theo­logischer und politischer Verirrung sie noch nichts ahnte. Er verriet bei dieser Gelegenheit eine große Verachtung der Hei­ligenverehrung: „Ich gehe gleich zu Gott Vater. Ich brauche keine Vermittlung.“

Kurz darauf erschien im „Völkischen Beobachter“, der füh­renden Zeitung des Regimes, ein Artikel über Antonie, Wi­gratzbad und die Reliquien, wie er ordinärer und zynischer nicht hätte ausfallen können. Es entsprach dem Stil der Heraus­geber und des Propagandaministeriums. Die Zeitung schrieb, Antonie hätte behauptet, in den Kapseln befinde sich das Herz eines Heiligen, in Wirklichkeit hätte die Polizei dort nur einen Lumpen gefunden. Der Schwindel hätte ihr 40 000 Mark ein­gebracht. In einer großen Versammlung wurde die Bevölke­rung von Wangen „aufgeklärt“ — so jedenfalls nannte man es.

Die Geheime Staatspolizei beschlagnahmte die Reliquien und ließ sie im Ordinariat von Augsburg überprüfen. Dort wurde die Echtheit festgestellt. Die kirchlichen Siegel waren nicht aufgebrochen. Auf eine Korrektur in der „Westallgäuer Nationalsozialistischen Zeitung“ in Lindau, die den irrefüh­renden Bericht gebracht hatte, wartete man vergebens. Im Ge­genteil. Im Februar 1939 setzte die Presse noch nach. Der „Stuttgarter Kurier“ und das „Münchener Tagblatt“ berichte­ten, Antonie hätte ihre betagte Mutter durch Öffnen des Gas­hahnes getötet und dann sich selbst. Unverständlicherweise haben damals sogar Kirchenblätter diese Horrorgeschichten übernommen. Auch Zeitungen im Ausland wie in der Schweiz, in Frankreich, Italien und Amerika ließen sich in diese Kam­pagne hineinziehen und wiederholten die Berichte.

Die Verleumdete blieb unbeirrt. Kaum daheim, drängte es sie am Nachmittag zur Kapelle, trotz beschwörender Bitten der Familie, die neue Schikanen befürchtete. Aber sie stand vor einem verschlossenen Tor. Bei ihrer Verhaftung waren die Schlüssel mitgenommen worden. Da rief sie durch ein an­gelehntes Fenster in den Raum: „Herr im Elend! Lass doch als allmächtiger Gott die Kapelle öffnen, damit ich zu euch hinein kann.“ Am anderen Tag wurde Antonie zur Polizei­station nach Opfenbach gerufen. Man habe per Express ein Päckchen mit dem Vermerk erhalten: Sofort auszuhändigen! Es waren die Schlüssel zur Kapelle.

Diffamierungen, Beschuldigungen, öffentlicher und indi­vidueller Psychoterror hatten zur Folge, dass jetzt noch mehr Beter bei Tage und in der Nacht zur Kapelle strömten. Man steht heute, nach weit über einem halben Jahrhundert, fas­sungslos vor dem ungleichen Kampf einer schwachen Frau mit einer der brutalsten Staatsmaschinerien des 20. Jahrhun­derts, die sich außerdem noch in einem Siegesrausch befand. Einer solchen Auseinandersetzung ist nur jemand gewachsen, hinter dem eine Macht nicht von dieser Welt steht. Und bei Antonie war es eine Frau, die Frau nach den Träumen Gottes, die in Wigratzbad als „Unbefleckt empfangene Mutter vom Sieg“ angerufen werden möchte, nicht ihretwillen, sondern um des Menschen willen, die uns dazu auffordert, über die Sprache Gottes nachzudenken, die nicht die unsere ist, in die wir aber mit seiner Hilfe hineinwachsen sollen.

Der abermalige Ansturm der Beter stachelte die Gegner erneut an. Sie wollten eine Gerichtsverhandlung, und die wurde dann endlich auf den 27. Juni 1939 festgesetzt. Sie fand in Weiler statt. Die Anklage lautete: Verstoß gegen das Sammel­verbot, illegaler Opferstock in der Kapelle. Was heute noch überrascht: Der Oberstaatsanwalt Dr. Helmer war ihr wohl­gesonnen. Er kam zu einem Verhör selbst nach Wigratzbad, um der Familie die Angst vor einer neuen Untersuchungs­haft zu nehmen.

In seiner Schlussrede stellte er ihr ein gutes Zeugnis aus. „Sie steht vor uns als ein absolut ehrbares, tadelloses und durchaus zuverlässiges Mädchen.“ Dann warf er ihr allerdings vor – sicherlich ein Zugeständnis an das Regime, in dessen Diensten er stand –, „in ihrer übertriebenen Religiosität im Zeitalter der Aufklärung eine Stätte der Volksverdummung errichtet zu haben. Sie selbst gibt zu gesagt zu haben, Wer immer zur Verherrlichung Mariens beiträgt, wird den Segen und den Lohn des Himmels erlangen. Aus diesem Grunde muss die Beschuldigte bestraft werden. Sie hat diese Strafe bereits in einer zu Unrecht auferlegten Haft in den Monaten November/Dezember im Jahre 1938 abgebüßt. Es sind von ihr 31 Mark für die Kosten der Verhandlung zu entrichten.“

Ungeachtet dieses glücklichen Ausgangs gingen die An­griffe auf Antonie und die Gebetsstätte weiter. Der Weg der Sühne, den sie eingeschlagen hatte, war für sie noch lange nicht zu Ende. Welt- und Kirchenpresse wetteiferten miteinander, die Menschen durch Falschberichte von Wigratzbad fernzu­halten. Von den Kanzeln wurde sie verdächtigt, die Wallfahrt zur Grotte verboten. Erst die Einweihung der Sühnekirche im Jahre 1976 durch Bischof Josef Stimpfle setzte diesen Kam­pagnen ein Ende. Aber bis dahin waren es noch 37 lange Jahre. Für das kurze menschliche Leben fast eine Ewigkeit.

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Quelle: Eigener Scan aus meinem persönlichen Exemplar des im Titel genannten (neu nicht mehr erhältlichen) Buches

Siehe weiter:

Aus: Alfons Sarrach: SIEG DER SÜHNE – Wigratzbad: Marias Botschaft an den Menschen

Kapitel V

Die Kapelle

 

Werden in Massen kommen

Nicht zum ersten Mal sollte von außen eine Anregung an Antonie herangetragen werden. In diesem Fall war es eine verwitwete Bäuerin aus Wangen, Cäcilia Geyer. Sie genoss in ihrem Umfeld den Ruf einer nüchternen und doch sehr frommen Frau. Auch sie gehörte zu den Betern vor der Lourdesgrotte in Wigratzbad. Am Allerseelentag 1937 kam sie auf Antonie zu und meinte, man müsste vor der Grotte eine gedeckte Halle errichten, um die Beter vor den Launen der Witterung zu schützen. Sie selber wolle einen ansehnlichen Beitrag dazu leisten. Weder sie noch Antonie ahnten, dass es ein bitterer Weg werden und dass am Ende sogar eine Kapelle das Ergebnis sein würde.

Antonie reagierte zunächst zögernd. Aber die Frau ließ nicht locker und sprach noch zweimal bei ihr vor. Daraufhin rang sich Antonie dazu durch, beim Bauamt in Lindau um eine Genehmigung vorzusprechen. Es wurde ein hartes Ringen. Erst beim zweiten Mal zeigten sich die Beamten ein wenig aufgeschlossen, nicht ohne sie mit herben Vorwürfen zu überschütten. Die Grotte sei ohne behördliche Genehmigung erbaut worden. In der Gegend existierten genug Kapellen. Das Dritte Reich habe für solche Vorhaben kein Verständnis.

„Aber wenn Sie wollen“, meinte der Beamte, „erstellen Sie einen Plan.“ Das ließ sich Antonie nicht zweimal sagen. Sie besorgte einen entsprechenden Entwurf mit dem Ergebnis, dass er abgewiesen wurde. Das sei bereits ein kultureller Bau, für den das Landesbauamt in Kempten zuständig sei. Man wollte sie offensichtlich abwimmeln. Für Antonie war es jedoch eine neue Herausforderung.

An dieser Stelle muss noch einmal auf die einfache Bäuerin Cäcilia Geyer zurückgegriffen werden. In einem Brief, den sie an die Familie Rädler in schlichten, zum Teil unbeholfenen Worten geschrieben hat, berichtet sie dieser von einem Erlebnis, das Licht auf die Entstehung des späteren Kapellenbaus wirft.

Es war am 22. Februar 1938. Sie stand früh auf, um in der Stadtpfarrkirche an der hl. Messe teilzunehmen. Nach einem kurzen Gebet zur Gottesmutter glaubte sie ein leises Rauschen zu hören. Vor ihren Augen bildete sich eine Lichtwolke. Aus dieser trat die Unbefleckte Empfängnis heraus, wie sie in Wigratzbad verehrt wurde. Die Frau sah sich plötzlich in die Grotte versetzt. Die „Erscheinung“ trat bis an den Betschemel Antonies heraus. Da fragte die ungebildete Bäuerin mehrmals, ob die Gottesmutter wolle, dass man hier baue. Die Antwort war jedes Mal „Ja“. Die schlichte Frau fasste nach. Ob sie in Wigratzbad bleiben wolle. Daraufhin zeigte Maria auf einen Platz, auf dem später die Gnadenkapelle stehen sollte und sagte: „Baut mir hier eine Kapelle! Sage es den Leuten!“ Frau Geyer äußerte Bedenken. Antonie dürfe ja nicht einmal einen Vorbau vor der Grotte errichten. Die Antwort war: „Die Kapelle kommt zustande. Ich führe dem, der die Erlaubnis zu geben hat, selbst die Hand und schreibe das ‚Ja‘ selbst hin. Lass alles seinen Weg gehen! Ich werde der höllischen Schlange den Kopf zertreten. Ich kann die zerschmettern, die gegen diese Sache sind. Die Menschen werden in Massen kommen und ich werde die Gnaden in Strömen über sie ausgießen. Betet viel, betet noch viel mehr! Der hl. Josef der hl. Antonius und die Armen Seelen werden helfen!“

Bei diesen Worten hätten sich die Statuen der beiden Heiligen zustimmend durch eine Drehung der Madonna zugewandt. Diese befahl nun der Frau: „Gehe jetzt hin und bete meinen göttlichen Sohn an im heiligen Sakrament! Bete ihn fromm und gläubig an!“ Verstört meinte die Bäuerin, wo sie denn hingehen solle. Zu dieser Zeit sei nirgendwo das Allerheiligste zur Anbetung ausgesetzt. Da habe die „Erscheinung“ auf jene Stelle verwiesen, die sie vorher für den Bau auserwählt hatte. Nun stand dort eine Kapelle so groß wie eine Kirche. Sie sei eingetreten und habe auf dem Hochaltar eine Monstranz gesehen, heller leuchtend als die Sonne. Die Strahlen hätten das ganze Land überflutet, so weit das Auge reichte, über ein Meer von weißen, roten und gelben Rosen.

Die Frau kniete nieder, betete ein Vaterunser und kehrte in die Grotte zurück. Aber die „Erscheinung“ habe ihr ein zweites und ein drittes Mal befohlen, ihren göttlichen Sohn auf dem Altar anzubeten. Dann die abschließenden Worte: „Danke für die besondere Gnade, die du heute empfangen hast. Du musst besonders viel beten. Bete viel, bete gut! Bete besonders viel für die Armen Seelen. Sie haben eine große Macht.“

Daraufhin sei sie verschwunden, die Wolke habe sich aufgelöst, nur die Grotte hätte sie noch gesehen, ganz mit Schmutz beworfen. Dann sei alles vorbei gewesen.

Von welcher Qualität dieses Erlebnis war, soll hier nicht beurteilt werden. Erstaunlich ist nur, dass sich die ,Yision“ voll erfüllt hat. Vier Tage nach dem Erlebnis der Cäcilia Geyer tauchte plötzlich in Wigratzbad ein Beamter vom Landesbauamt in Kempten auf, Regierungsassessor Wölfl, ein Protestant. Er sollte alles überprüfen und lehnte das Gesuch ab. Aber zu Antonies großem Erstaunen meinte er, sie solle doch eine schöne Kapelle bauen und zeigte auf den Platz, den vier Tage vorher die „Erscheinung“ gegenüber der einfachen Bäuerin für den Bau bestimmt hatte. Auf die geäußerten Zweifel, ob das von der Behörde genehmigt werde, antwortete er: „Die Behörde, die zu bestimmen hat, sind wir.“ Und ging auf den spontanen Vorschlag Antonies ein, selber den Plan zu entwerfen. Der Weg aber, der noch zu gehen war, blieb dornenreich.

Herr im Elend

Zwei Wochen nach dem Besuch des Beamten aus Kempten betete Antonie mit vielen Menschen vor der Grotte. Da erlebte sie in ihrem Inneren die Gegenwart Mariens und hörte klar die Worte: „Hole den Herrn im Elend in Matrei. Ich will, dass Jesus in seinem Leiden auch hier geliebt und verherrlicht wird. Jesus im Elend wird aus dem Elend retten.“ Antonie blieb keine Zeit, Fragen zu stellen. Die Gottesmutter hatte sich zurückgezogen.

Mit dem Wort Matrei konnte sie nichts anfangen, so sehr sie auch darüber nachdachte. Sie betete bis zum Abend weiter. Als danach alle Beter den Heimweg angetreten hatten, kam ein Mädchen aus Opfenbach auf sie zu. Wie zufällig zeigte sie ihr ein Pilgerbüchlein vom Gnadenort Matrei am Brenner, wo seit Jahrhunderten ein Gnadenbild des „Herrn im Elend“ verehrt wird. Man staunt über das feine und zielstrebige Wirken Mariens. Es scheint, als ob sie möglichst viele Menschen einbezogen haben wollte für das, was sie vorhatte. Antonie strahlte. Sie schlug dem Mädchen vor, sofort eine Wallfahrt zum angegebenen Ort zu machen. Es war der Botin jedoch nicht möglich, mitzufahren.

In diesem Augenblick hörten sie vor der Grotte einen gewaltigen Lärm, als würde dort ein schwerer Lastwagen vor-beirollen, aber nichts war zu sehen. Nur das Mädchen entdeckte mit Entsetzen, dass ihr Fahrrad völlig zertrümmert und nicht mehr zu gebrauchen war. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Antonie ahnte den Urheber: „Es war die Hölle!“ sagte sie.

Was in dieser Zeit in Wigratzbad abgelaufen ist, ist von großer Bedeutung für ein volles Verständnis dieser Stätte. Es ist eine Botschaft an die ganze Welt. Maria verbindet ihren Titel vom „Sieg“ mit dem sühnenden Leiden ihres Sohnes. Ganz gezielt. Das kann gar nicht ernst genug genommen werden.

Antonie spürte das. Mit dem Nachteilzug fuhr sie nach Innsbruck und weiter nach Matrei. In der dortigen Pfarrkir-che entdeckte sie auf dem Hochaltar das Gnadenbild. Sie betete lange davor. Dann suchte sie den Pfarrer auf und erzählte ihm, was sie in der Grotte von Wigratzbad erlebt hatte. Das Standbild konnte er ihr natürlich nicht geben, aber er nannte ihr einen Künstler, der ihr eine genaue Kopie anfertigen würde. Aber der war mit Aufträgen eingedeckt.

Wie schon oft, schaltete Antonie erst einmal einen neuen heroischen Akt davor: das Opfer. In dem Schwesternhaus, in dem sie übernachtete, erfuhr sie von der kleinen Wallfahrtskirche „Maria Waldrast“ hoch oben auf dem Berg in 2000 Meter Höhe. Sie hätte gern die Nacht vor dem leidenden Jesus in der Kirche verbracht, aber man erlaubte es ihr nicht. Dafür wollte sie am nächsten Tag auf den Berg pilgern, obwohl der Geistliche und die Schwestern ihr dringend davon abrieten, weil die Absturzgefahr wegen des vielen Schnees noch groß sei. Antonie ließ sich dennoch nicht entmutigen. Sie wagte den Aufstieg, aber sie brauchte eine Führung. Und wer bot sich an? Ein elfjähriger Junge.

Der Weg war voller Gefahren. Aber sie kamen oben heil an, beteten in der Kirche den Rosenkranz. Dann jedoch war der Junge, ein Kind noch, am Ende seiner Kräfte. Antonie gab ihm etwas Geld, damit er sich im Gasthaus bei einer warmen Mahlzeit erholen konnte. Sie aber blieb bei der eisigen Kälte noch oben, betete, bis die Zeit sie zwang, den Heimweg anzutreten, um noch vor der Dunkelheit unten zu sein. Sie kam mit leerem Magen an, aber überglücklich. Sie setzte auf die Gottesmutter.

Wieder in Bregenz angekommen, suchte sie das Kloster der Kapuziner auf, um ein Almosen abzugeben. Dort erfuhr sie von dem Bildschnitzer Franz Albertani. Dieser hatte durch die neue Zeit des Nationalsozialismus, die angebrochen war, alle Aufträge verloren. Für seine sechsköpfige Familie erwies sich Antonie als Rettungsanker. Seine Arbeiten gefielen ihr weit besser als die des Künstlers in Matrei. Sie luden wirklich zum Beten ein. Der Mann erwies sich als eigentliches Geschenk der Wallfahrt, die Antonie unternommen hatte. Zunächst aber brauchte sie etwa tausend Mark. Und wieder staunt man über das Eingreifen der göttlichen Vorsehung.

Daheim warteten nämlich zwei Frauen auf sie. Sie hatten mit einem schweren Anliegen im Herzen die Grotte besucht und verrieten, dass sie bereit seien, zu Ehren der Gottesmutter ein größeres Werk zu stiften. Antonie erzählte von ihrer Reise nach Matrei. Sofort erklärte sich eine der Damen bereit, die Kosten für die Statue zu übernehmen. Am nächsten Morgen händigte der Ehemann ihr die ersten 400 Mark aus, die Antonie sofort nach Bregenz brachte.

Das Standbild, in das Albertani seine ganze Seele hineingearbeitet hatte, wurde zunächst im Schuppen der Familie aufgestellt und verehrt. Ganze Nächte wurde davor gebetet. In der späteren Kapelle fand es seinen Platz in der Unterkirche.

Neues Denken

In diesem Zusammenhang ist die Geschichte der Statue des „Herrn im Elend“ nicht unwichtig. Um das Jahr 1210 lebte auf dem Schloss Aufenstein Ritter Heinrich III. Er war nicht nur das Vorbild eines ritterlichen Menschen, sondern hatte dazu auch noch eine tiefe Beziehung zum Leiden und Sterben Jesu. Deshalb brach er eines Tages ins Heilige Land auf, um in der Kirche des heiligen Grabes zu beten. Dort sah er ein Standbild des leidenden Erlösers. Es zeigte Ihn nicht in aufrechter, sondern in liegender Haltung und war deshalb besonders eindrucksvoll. Der Ritter war davon sehr betroffen. Er ließ ein möglichst getreues Abbild machen und nahm es mit auf das Schiff. Unterwegs erhob sich ein gewaltiger Sturm und brachte alle in Gefahr. Ritter und Mannschaft flehten vor dem Standbild. Und alsbald legte sich der Sturm. Sie kamen glücklich im Hafen an.

In der Schlosskapelle von Aufenstein fand es bald breite Verehrung. Deshalb bat er die geistliche Obrigkeit, ob es nicht in der Pfarrkirche aufgestellt werden könnte, um es noch breiteren Schichten zugänglich zu machen. Die Kirche wurde zum Wallfahrtsort. Ein Dorn im Auge eines Ritters, der eine entgegengesetzte Einstellung hatte. Er hasste Standbilder und Wallfahrten. So ließ er es über Druck und Bestechung vom Küster der Kirche nachts in den Fluss werfen. Aber am anderen Morgen befand es sich wieder unversehrt an seiner Stelle in der Kirche. Ein zweiter Versuch endete ebenso. Beim dritten wollte der Ritter von Raspenbühl selber dabei sein. Aber am Morgen befand sich das Standbild abermals an seinem Platz in der Kirche. Beide Männer erschraken zutiefst und der Ritter wurde vom Gegner zum Verehrer des Bildes.

Antonie, in langen Gebeten erleuchtet, hat die Bedeutung des Bildes für Wigratzbad so verstanden:

„Als Jesus vor seinem Leiden am Ölberg betete, hat ihm der Vater alle Sünden der Welt gezeigt, die er zu sühnen hatte, aber auch alle Leiden, die er, um der Gerechtigkeit willen, als Genugtuung erdulden sollte. Jesus sah sich selbst, wie er mit seinen Augen die Sünden der Augen, mit seinen Ohren die Sünden der Ohren, mit seinem Munde die Sünden der Zunge und Unmäßigkeit, mit seinem dornengekrönten Haupt alle Sünden des Eigensinns, des Eigenwillens, der Selbstherrlichkeit, mit seinen Händen die Sünden der Hände, mit seinen Füßen alle sündigen Schritte, mit seinem Herzen allen Mangel an Liebe und alle ungeordneten Leidenschaften, mit den Wunden, verursacht durch die Geißelung, die Sünden des Leibes, mit den schrecklichen inneren Leiden die Sünden des Geistes sühnen sollte. Er sah sich – wie die Statue es darstellt – versenkt in die tiefsten Tiefen aller Leiden und bot sich dem Vater in seinem Elend als Sühne an, um uns aus unserem Elend zu erretten. Darum ist er nicht als Toter, sondern als Lebender dargestellt.

Durch seinen Tod am Kreuze hat Jesus in Maria den Satan besiegt, sie vorwegnehmend vor der Erbsünde bewahrt, damit sie als Makellose im Namen der Menschheit ganz eins mit ihm leidend ihn und sich selbst in ihm und mit ihm und durch ihn dem Vater opfernd den Satan in der Menschheit besiegen konnte. Der Sieg ist errungen, aber er muss von jedem Einzelnen für sich und für andere gewollt werden durch Gebet, Empfang der Sakramente und durch Werke der Liebe.“

Die Betrachtung kurz zusammengefasst könnte heißen: Sieg der Sühne. Das ernst genommen, müsste ein neues Denken unter Christen einleiten, die in 2000 Jahren nicht der Versuchung widerstanden haben, ihren höchsten Werten und Idealen oft weltliche Inhalte zu geben oder sie sich aufdrängen zu lassen, wie es seit dem Jahre 1968 im Übermaß geschehen ist. Wir erleben es Tag für Tag. Die Auswirkungen sind verheerend – für Milliarden von Menschen. Der „Sieg der Sühne“ ist die Wurzel der christlichen Verkündigung und das, was das Christentum – neben der Feindesliebe – von allen anderen Religionen haushoch unterscheidet. Den Feind zu lieben erfordert oft schon einen heroischen Akt, für ihn zu sühnen übersteigt alles menschliche Vorstellungsvermögen – es kann nur göttlichen Ursprungs sein.

Gottes große Wege sind mit Opfern und mit Leiden gepflastert. Das sollte Antonie in des Wortes wahrster Bedeutung erfahren. Zunächst schien alles recht glücklich zu laufen. Der protestantische Regierungsassessor machte sich mit Sorgfalt an die Arbeit. Aber dann stand die Bewilligung durch die Behörden aus.

Die Bewilligung

In Wigratzbad wurde derweil wie vor jeder Hürde viel gebetet. Antonie ging mit gutem Beispiel voran. Sie fastete oft drei Tage bei Brot und Wasser oder aß überhaupt nichts. Sie pilgerte von Bregenz barfuß nach Maria Bildstein und verbrachte dort die Nacht in der Kirche. Ein andermal fuhr sie nach Bregenz ins Kloster Mehrerau, um dort die ganze Nacht zu beten und von 3 Uhr früh an den hl. Messen beizuwohnen. Um 7 Uhr kehrte sie heim, um den ganzen Tag hindurch schwer zu arbeiten. Sie machte sogar eine Pilgerfahrt zu ihrem Namenspatron, zur Kirche in Egg im Kanton Zürich.

32mal musste sie im Bauamt in Lindau vorsprechen und wurde immer wieder abgewiesen. Beim 33. Mal endlich klappte es. Man ließ sie zwar den ganzen Vormittag vor der Türe stehen, weil sie sich weigerte, mit „Heil Hitler“ zu grüßen. Gegen Mittag durfte sie jedoch eintreten und konnte die Baubewilligung in Empfang nehmen. Voll innerer Freude eilte sie damit in die Pfarrkirche, um sich vor dem Marienaltar zu bedanken. Aber dann geschah etwas, was mit menschlicher Logik kaum zu verstehen war. Sie erhielt den inneren Befehl, den Plan sofort zu zerreißen. Er sei ungeeignet, die Kapelle zu klein. Alles, so schien es, war umsonst gewesen, alle Gebete, alle Bußübungen, alle Mühen, alle Arbeit.

Antonie gehorchte. Die Welt der Mystik hat ihre eigenen Gesetze. In einer inneren Schau bekam sie jedoch jene Kapelle zu sehen, die später erbaut wurde. Der eigentliche Kreuzweg, den sie in Verbindung mit der Entstehung eines Heiligtums gehen sollte, der sollte erst beginnen. Und der Widersacher Gottes ihr auf diesem Wege sein hässliches Gesicht zeigen.

Daheim machte sie sich an die Zeichnung der Kapelle, wie sie ihr in der inneren Schau gezeigt worden war. Mit der Skizze fuhr sie sofort in das Landesbauamt in Kempten und bat um Entschuldigung, dass sie den Herren so viel Arbeit zugemutet hatte. Die Reaktion war verständlich. Der Assessor war außer sich. Antonie ließ alle Vorwürfe über sich ergehen. Im Gedächtnis hatte sie die Verheißung der Gottesmutter, sie würde demjenigen, der den Bau zu genehmigen hätte, selber die Hand führen.

Nach und nach beruhigten sich die Männer und Assessor Wölfl zeigte sich bereit, den neuen Entwurf zu überprüfen, den er recht brauchbar fand. Aber der neue Plan musste den ganzen Behördenweg durchlaufen. Als erster ging der Bürgermeister von Opfenbach auf die Barrikaden. Als Antonie ihm den Plan übergab, wäre er um ein Haar ihr gegenüber handgreiflich geworden. Zunächst einmal ließ er sich Zeit, dann rief er den Gemeinderat zusammen, schwor diesen auf seine Linie ein und bekam ein vollzähliges „Nein“ gegen das Projekt.

Dabei ließ er es nicht bewenden. Er wandte sich in einem Brief an die höhere Instanz, das Bezirksamt, stellte Antonie als fanatische Gegnerin des Nationalsozialismus dar, die in Wigratzbad ein Zentrum gegen die neue Zeit aufbaue und mit ihrer religiösen Grundeinstellung weite Teile der Bevölkerung infiziere. In Opfenbach existierten bereits drei Kapellen, es bestehe kein Bedürfnis für eine weitere. Neben den Behörden stachelte er auch die höheren Parteiinstanzen gegen den Bau auf.

Die bitterste Erfahrung jedoch sollte Antonie mit ihrem eigenen Seelsorger machen. Er hieß Hermann Rädler und war ein Jahr zuvor Pfarrer der Gemeinde Wohmbrechts geworden. Bei seiner Einführung hatte er sich von der Sturmabteilung (SA) begleiten lassen. Bei seiner ersten Ansprache sagte er: „Ich nehme Besitz von dieser Pfarrei im Namen des gottbegnadeten Führers Adolf Hitler!“ Er wurde ein tödlicher Feind Antonies und der Kapelle.

Diese Gegner erreichten, dass Vertreter der Behörden und der Partei vor Ort eine Sitzung einberiefen, um sich dem Bau in den Weg zu stellen. Alle Bemühungen um eine Bewilligung schienen fortan aussichtslos. Gegen solche Mächte als hilflose Frau anzugehen, musste bedeuten, dem eigenen tragischen Untergang den Weg zu ebnen.

Aber das sind rein menschliche Überlegungen. Antonie hatte längst in einer anderen Welt Wurzeln geschlagen. Auf die setzte sie. Der beim Künstler Albertani in Bregenz in Auftrag gegebene „Herr im Elend“ war noch nicht ganz fertig. Antonie störte das nicht. Sie wagte die erste Wallfahrt zum Herrn, ließ vor Ort einen Pater aus Mehrerau kommen, das Standbild zu segnen, schmückte es mit Blumen und Kerzen. Mit ausgespannten Armen betete sie einen Psalter, die Familie schloss sich an. Beim Abschied bat sie alle, dies neun Tage fortzusetzen. Sie selbst wollte es in der Grotte tun.

Acht Tage später, es war der 17. Juni 1938, wurde Antonie ins Bauamt nach Lindau gerufen und ihr gegen 12 Uhr, beim Ave-Läuten, die Bewilligung zum Bau der Kapelle von einem gewissen Regierungsrat Dr. Widmann ausgehändigt. Der Bürgermeister von Opfenbach wurde übergangen. Das schien sehr entgegenkommend, aber es stand eine perfide Absicht dahinter. Denn die Bewilligung wurde mit der Auflage verknüpft, das Geld für den Rohbau und eine Notbausumme, insgesamt 14 500 Mark, innerhalb von drei Tagen auf einer Bank zu hinterlegen und den Depotschein auf dem Amt vorzuzeigen.

Voll innerer Dankbarkeit brachte Antonie das Geld tatsächlich zusammen, trug es zur Grotte und legte es der Got-tesmutter zu Füßen. Sie betete bis in die tiefe Nacht hinein. Da kroch zu ihrem Entsetzen eine dicke schwarze Schlange, etwa anderthalb Meter lang, auf die Altardecke, züngelte und schien nach dem Geld schnappen zu wollen.

Die Beterin sah darin ein Zeichen. Sie durchschaute den Plan ihrer Gegner. Hätte sie das Geld bei der Bank hinterlegt, es wäre verloren gewesen. Also suchte sie in der Frühe den Baumeister (Ruß) direkt auf und übergab ihm die Summe mit der Bitte, sofort das notwendige Material einzukaufen und ihr die Quittungen zu geben. Diese brachte sie zum Amt.

Die Reaktion der Beamten war die übliche. Man beschimpfte sie und verbot ihr, mit dem Bau zu beginnen. Aber der Baumeister und jene Männer, die die Pläne erarbeitet hatten, setzten sich durch. Sie kamen persönlich nach Wigratzbad, um den Platz zu bestimmen. Eltern und Geschwister willigten ein, den väterlichen Grundbesitz für die Kapelle abzutreten. Antonie nahm die Gelegenheit wahr, eine weitere Idee durchzusetzen. Unter der Kapelle schwebte ihr eine Art Krypta vor. Das war im Plan nicht vorgesehen. Da der Vorgesetzte in Urlaub war, konnten die Herren in eigener Vollmacht entscheiden und schickten den Plan für die Unterkirche nach. Am 1. Juli 1938 wurde mit dem Erdaushub begonnen. Eine Bitte an den Ortspfarrer, bei der Grundsteinlegung die Weihe vorzunehmen, schlug dieser aus. Er wolle damit nichts zu tun haben. Er sei gegen den Bau.

Schwarz gekleidet

Manch eine hier geschilderte Einzelheit mag überflüssig oder gar ermüdend erscheinen. Es wird dennoch über sie berichtet, um darzulegen, dass Gottes große Werke nicht im Scheinwerferlicht irdischer Stars entstehen, sondern in mühsamer, teils qualvoller Kleinarbeit. Die Menschwerdung Gottes erfolgte in einem Stall, in bitterer Kälte, setzte sich fort in der Flucht durch Wüstensand nach Ägypten. Gott war auf dieser Erde als Mensch von Anfang an ein Verfolgter. Und hat seine große Mission unscheinbar in einer Werkstatt vorbereitet. Warum soll es einer Jüngerin besser ergehen als dem Meister. Am eigenen Leibe musste sie es erfahren, mehrere leidvolle Jahre standen ihr bevor, meistens am Rande des Todes stehend.

Am Ringen um die Entstehung einer Kapelle in Wigratzbad zeigt sich, wie unablässig hier auf Erden Himmel und Hölle miteinander kämpfen. Es geht immer um den Menschen, am Ende um das Heil von Milliarden von Menschen. Und es ist der graue Alltag, in dem Gott sich immer wieder offenbart, nicht in Triumphzügen und unter Fanfarenklängen.

Als in Wigratzbad die Fundamente für eine Anbetungsstätte gelegt wurden, ließ Hitler unter großen Opfern den sog. Westwall bauen, der Deutschland angeblich gegen Frankreich schützen sollte. Ein Täuschungsmanöver. Es war Hitler, der Frankreich überrollte, sich ganz Europa unterwarf und die Herrschaft über den ganzen Erdball im Auge hatte.

Um jeden Baustein musste Antonie kämpfen, um jede Arbeitskraft werben und fand oft unerwartet Helfer, wie jenen Offizier, der einen Waggon mit Zement nach Wigratzbad abkommandierte. Nicht selten wusste man am Abend nicht, wie es am nächsten Tag weitergehen sollte. Dann hat Antonie durchgebetet. Am nächsten Tag konnte es weitergehen.

Während der Arbeiten wollten Architekten den Plan so umfunktionieren, dass die Kapelle schnell in ein Heim für die Hitlerjugend umgestaltet werden konnte. Es sollten keine Altäre hinein. Aber die schwache Frau erwies sich als starke Frau. Sie setzte sich durch – zwei Altäre in der Krypta, drei Marmoraltäre und Kommunionbank aus schlesischem Marmor, Kirchenfenster mit Bildern von La Salette, vom Pfarrer v. Ars und von Bruder Konrad aus Altötting. Antonie stellte ihre Gegner oft vor vollendete Tatsachen. Ende November stand der Bau.

Die materiellen Sorgen entpuppten sich als nichts im Vergleich zu den geistigen Schwierigkeiten, die jetzt auf sie warteten. Und es waren wohl die bittersten. Es ging um den Segen der Kirche.

Sie fuhr nach Augsburg, um dem Bischof ihr Anliegen vorzutragen. Der Oberhirte konnte sie nicht empfangen. Dann reiste sie ihm nach Kempten nach, wo er sie anlässlich einer Firmung empfangen wollte. Das Gespräch dauerte kaum vier Minuten. Sie versuchte es ein drittes Mal. Weihbischof Dr. Franz Xaver Eberle entließ sie mit seinem Segen. Inzwischen war die Krypta fertig geworden. Noch einmal bat sie schriftlich um die kirchliche Weihe. Sie wurde an den Ortspfarrer von Wohmbrechts verwiesen, sollte sich seinen Anordnungen fügen. Dieser weigerte sich und verwies sie an den zuständigen Dekan. Der versprach die Weihe für den 8. Dezember.

Jedoch die Gegner schliefen nicht. Unter ihnen waren auch Seelsorger der Umgebung, die das Pilgern ihrer Gläubigen zur Grotte nach Wigratzbad mit gemischten Gefühlen beobachteten. Einige gingen zu offenen Angriffen über. Der Stadtpfarrer von Wangen kam am Fest Allerheiligen in allen Gottesdiensten auf sie zu sprechen, nannte den Bau Einfall eines hysterischen, überspannten Menschen, Ausgeburt einer überhitzten Fantasie. Das Projekt habe keine Zukunft. Antonie war bei diesen Predigten auch noch anwesend. Sie schwieg. Ihr Hauptfeind, der Pfarrer von Wohmbrechts, erreichte unterdessen, gestützt auf unwahrhaftige Darstellungen, dass das Ordinariat in Augsburg seine Zusage zurücknahm. Die große Beterin von Wigratzbad ahnte davon nichts.

Ahnungslos suchte sie Ende November den Dekan auf, der teilte ihr mit, dass Ortspfarrer Rädler nun doch die Weihe selbst vornehmen wolle. Der empfing sie mit Beschimpfungen und stellte den Sinn des Betens überhaupt in Frage: „Hätte es eine Wirkung, wäre die Welt längst eine andere, wo doch Männer und Frauen in den Klöstern so viel und ständig beten.“ An die Weihe sei vorerst nicht zu denken. Antonie mit einer inzwischen vom Geist des Gebetes durchdrungenen Seele war es, als würde man ihr das Herz aus dem Leibe reißen.

Der Himmel ließ sie jedoch nicht allein. Während des Gebetes in der Grotte erschien ihr die Mutter des Herrn, ganz in Schwarz gekleidet. Tränen rollten über ihre Wangen. Verstört fragte Antonie nach dem Grund, verstand jedoch die Antwort nicht. Doch dann erhellte sich das Gesicht Marias. Ihre Augen leuchteten. Sie wirkte mütterlich gütig, war aber von himmlischer Majestät. Sie trat ganz nahe an Antonie heran. „Leg‘ deine Hand in meine“, sagte sie, „und bete: Jungfrau, mächtig bei Gott, bitte für mich!“ Dann zog sie sich in die Ewigkeit zurück. Mit diesen Worten flößte sie der so umstrittenen Frau aus Wigratzbad eine große Zuversicht ein. Die brauchte sie. Denn die Leiden, die bereits wie eine dunkle Wolke heraufzogen, waren unvorstellbar. Sie sollten sich über sechs Jahre hinziehen.

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Quelle: Eigener Scan aus meinem persönlichen Exemplar des im Titel genannten (neu nicht mehr erhältlichen) Buches

Siehe weiter:

Aus: Alfons Sarrach: SIEG DER SÜHNE – Wigratzbad: Marias Botschaft an den Menschen

Kapitel IV

Geheimnisvolle Reise

 

Frau aus Bregenz

Etwa ein Jahr nach der Einweihung der Stätte betete An­tonie mit einer größeren Volksmenge vor der Grotte. Da er­schien ihr die Gottesmutter lächelnd, mit einem Ausdruck großer Güte und sagte ihr mit einer leichten Handbewegung: „Antonie komm! Nächsten Sonntag will ich dich in Lourdes sehen!“ Erschrocken sträubte sie sich, es sei nicht möglich, sie bekomme keinen Pass, habe keine Devisen, spreche kein Fran­zösisch. Aber Maria blieb hart: „Komm! Auf Wiedersehen in Lourdes.“

Damit begann eine Pilgerfahrt voller Merkwürdigkeiten und geheimnisvoller Zeichen. Ein Jahr zuvor war sie schon einmal in Lourdes gewesen, kurz vor ihrem überstürzten Ab­bruch als Leiterin der Filiale ihres Vaters in Lindau. Damals hatte sie sich einem österreichischen Pilgerzug angeschlossen. Der Anstoß kam von einer Frau Gasser, Gattin eines Ober­lehrers in Bregenz, die schon dreizehnmal in Lourdes gewe­sen war.

In Lourdes eröffnete die Frau ihr etwas, das wiederum zeigt, wie sehr Wigratzbad keineswegs das Werk einer einzelnen Person ist, sondern dass viele Menschen mit einbezogen wa­ren bei der Entstehung eines Heiligtums, das zur Botschaft werden sollte. Die Frau eröffnete ihr, dass Maria ihr geoffen­bart habe, Antonie würde die Gnade erhalten, nach ihrem Tode eine Kapelle zu Ehren der Unbefleckten Empfängnis zu bauen. Sie selber dürfe mit ihrem Leben einen ersten Beitrag dazu leisten, sie werde bald sterben. Mit dieser Kapelle wür­den reiche Gnaden verbunden sein, vor allem für Bayern, das ihr besonders am Herzen liege. Antonie reagierte skeptisch, der Gesundheitszustand der Frau deutete keineswegs auf ei­nen baldigen Tod hin.

Einen Monat später kam Frau Gasser barfuß von Bregenz nach Lindau, um sich von Antonie zu verabschieden, sprach ihr Mut zu und teilte ihr mit, am kommenden Freitag (es war der Herz-Jesu-Freitag im Juli 1936) dürfe sie ihr Blut vergie­ßen. Sie opfere ihr Leben für Bayern, seine christliche Aufer­stehung und für die Kapelle. „Auf Wiedersehen im Himmel!“ Tief erschüttert verabschiedete sich Antonie von ihr.

Acht Tage später, am vorausgesagten Freitag, klingelte das Telefon. Frau Gasser war tödlich verunglückt. Sie war auf dem Heimweg von der Kirche, wo sie die hl. Kommunion emp­fangen hatte. In der einen Hand hielt sie den Rosenkranz, in der anderen einen Blumentopf. Den wollte sie zur Seekapelle bringen, die der Gottesmutter geweiht war. Beim Überque­ren der Straße kam von der Seite ein Auto. Die Frau wollte ihm ausweichen. In diesem Augenblick raste von der ande­ren Seite ein zweites heran und stieß sie so unglücklich nie­der, dass sie auf der Stelle tot war. Ihr Blut rötete die Straße. Sie war vielen als Mensch bekannt, dessen Leben im Opfer für den anderen bestand.

An diesen Tod wurde Antonie erinnert, als sie jetzt, ein Jahr danach, vor einer schweren Entscheidung stand. Am nächs­ten Tag erhielt sie Besuch von einer Frau aus der Schweiz. Diese hatte Antonie einmal beobachtet, wie sie in Einsiedeln über Stunden einer Menge in und außerhalb der Gnadenka­pelle vorbetete. Ihre innere Glaubenskraft hatte sie so beein­druckt, dass sie ihre Anschrift erbat. Jetzt war sie mit folgen­dem Anliegen zu ihr gekommen.

Sie sollte für eine Schwerkranke eine Pilgerfahrt nach Lour­des machen. Es sei aber für sie unmöglich, deshalb hätte sie sich an Antonie erinnert. Sie wolle sie bitten, an ihrer Stelle die Fahrt anzutreten. Für die Karte nach Lourdes, für eine Rundfahrt und alle anderen Kosten wolle sie aufkommen.

Antonie weihte den Familienrat ein, erzählte von ihrem Er­lebnis in der Grotte. Aber sie stieß auf Ablehnung. Man be­zeichnete sie als Abenteurerin. Beim Mittagessen meinte ihr Bruder Martin jedoch, dass ein holländischer Viehtransport vielleicht die Gelegenheit bieten könnte, in die Schweiz zu kommen. Am Nachmittag stiegen zwei mit Antonie bekannte Damen aus dem Auto. Die Sprache kam auf den Transport. Sie wussten Abhilfe und innerhalb von zwei Stunden war die Sache erledigt. Antonie durfte in die Schweiz. Noch am glei­chen Abend trat sie die Reise an. Die erwähnte Bittstellerin fuhr mit ihr nach Basel, besorgte die Karten durch Frankreich, brachte Antonies Gepäck mit einem Eilzug nach St. Louis, der ersten Station jenseits der Grenze. Antonie aber schickte sie unter Umgehung der Zollstation zu Fuß über Felder und Wie­sen über die grüne Grenze. Zweimal wurde sie angehalten, aber als harmlose Spaziergängerin laufen gelassen. So traf sie rechtzeitig auf dem Bahnhof ein, mit zehn Mark in der Ta­sche, die sie in französische Franken umtauschte. Zehn Minu­ten später setzte sich der Zug in Richtung Paris in Bewegung.

Paris und Lisieux

Und dort ereigneten sich bei ihrer Ankunft Dinge, die zei­gen, was der Himmel im Leben eines Menschen bewirken kann, der bedingungslos aus dem Glauben lebt. Es war Mit­ternacht, als sie in Paris ankam. Der Bahnhof wurde geschlos­sen, verlassen stand sie in der Weltstadt auf der Straße. Sie schaute sich um und ihr Blick fiel auf ein Plakat, das zur Ein­weihung der Basilika der kleinen hl. Theresia von Lisieux ein­lud, verbunden mit dem Eucharistischen Kongress vom 8.­ – 15. Juli. „Da muss ich hin“, ging es Antonie durch den Kopf. Dann wandte sie sich in einem kurzen, lauten Gebet an den hl. Josef: „Hilf du weiter. Jetzt brauche ich erst einmal ein Nachtquartier!“

Da sprach sie ein Mann an, der hinter ihr herkam. Sie ver­riet ihm, dass sie eine Übernachtungsmöglichkeit suche. „Ge­hen Sie geradeaus bis zum Hotel ,London-New York‘ „, sagte der hilfsbereite Unbekannte, „dort finden Sie einen Portier, einen Schweizer, der deutsch spricht.“ Der Mann im Hotel zeigte sich sehr erstaunt. Er sei gerade erst vor fünf Minuten aus dem Bett geholt worden, weil der Kollege erkrankt sei. Woher habe der unbekannte Helfer wissen können, dass er da sei. Das Hotel sei überfüllt, aber er wolle ihr ein Privatquar­tier suchen.

Antonie trat derweil ins Freie. Plötzlich hielt ein Auto vor ihr an. Der Fahrer stieg aus und fragte sie in Deutsch, was sie suche. Sie erklärte, dass sie auf den Portier warte, der ihr ein Quartier besorgen wolle, morgen wolle sie nach Lisieux. Der Mann wies sich als Deutscher aus und schlug vor, sie zum Bahnhof zu fahren und ihr in der Nähe ein Hotel zu besorgen. Antonie zögerte, aber eine innere Stimme riet ihr: „Fahr mit!“ Er fuhr sie dann zum Bahnhof; sie stieg aus und suchte nach ihrem Geldbeutel. Da waren Mann und Auto plötzlich ver­schwunden. Sie konnte kaum darüber nachdenken, da wur­de sie wieder von einem Mann angesprochen. Als dieser von ihrem Anliegen und ihrem Reiseziel erfuhr, brachte er sie in ein nahe gelegenes Hotel. Mehr noch: Er gab dem Kellner ein Trinkgeld, dann wies er ihn an, dafür zu sorgen, dass Anto­nie um 4 Uhr den Zug nach Lisieux erreiche. Das tat dieser auch und gab ihr am frühen Morgen noch jemand mit, der sie bis zum Zug begleitete.

Eine Million Pilger aus aller Welt waren in Lisieux zusam­mengekommen. Rom hatte Kardinal Eugenio Pacelli als seinen Vertreter geschickt, der zwei Jahre später als Papst Pius XII. Nachfolger Petri werden sollte. Aus Deutschland, in dem in jenen Jahren Pläne für eine ganz andere Welt geschmiedet wurden, war sie offensichtlich die einzige Verehrerin der jun­gen, beliebten Heiligen. Darin kam bereits symbolisch zum Ausdruck, wie sehr Gott auf das Verantwortungsbewusstsein und die Opferbereitschaft des einzelnen Menschen setzt, eine der großen Botschaften von Wigratzbad: Einer stellvertretend für viele.

Der erste Gang führte sie in die Basilika, von der erst der untere Teil ausgebaut war. Die ganze Nacht verbrachte sie in stiller Anbetung vor dem Allerheiligsten. Am nächsten Mor­gen suchte sie alle Orte auf, die an das Leben, die Gebete und die Leiden der kleinen Thérèse erinnern. Über ihre inneren Erlebnisse in Lisieux hat Antonie immer geschwiegen.

Gegen Mittag überfiel sie eine große Müdigkeit, sie hatte ja in der Nacht kaum geschlafen. Eine Kellnerin erbarmte sich schließlich ihrer, besorgte ihr eine Ecke, wo sie sich auf einer Bank ausruhen konnte. Nach einer halben Stunde Schlaf fühl­te sie sich erfrischt, als habe sie die ganze Nacht ausgeruht. Insgesamt drei Tage verbrachte sie in Lisieux, die Nächte vor dem ausgesetzten Allerheiligsten.

Bei dieser Menschenmenge entstand bei der Abfahrt ein großes Gedränge. Als sie stürzte, kam ihr ein französischer Priester zu Hilfe und fragte nach ihrem Ziel. Er verstand so viel, dass sie nach Lourdes wollte. Daraufhin nahm er ihre Koffer und begleitete sie bis Paris. Dort angekommen, fuhr er mit ihr in aller Eile auf den Montmartre, um ihr die Sühne­kirche Sacré Coeur zu zeigen, dann zur Rue du Bac, zur Stätte, wo die Unbefleckte Empfängnis 1830 der Katharina Labouré erschienen ist. Es waren nur kurze Besuche, aber sie müssen einen prägenden Eindruck in Antonies Seele hinterlassen haben. Am Ende mussten sie sich beeilen. Der Priester schob den Koffer in den Zug und verschwand. Es war Samstag. Der Zug rollte in Richtung Lourdes. Die Hilfsbereitschaft, die sie in den letzten Tagen erfahren hatte, schrieb sie dem hl. Josef zu, um dessen Hilfe sie am Anfang gebeten hatte.

Lourdes und Ars

In Lourdes traf sie in der Frühe ein. Ihre ersten Schritte führten sie zur Grotte, wo sie der hl. Messe beiwohnen konn­te. Zwei Wochen blieb sie und lebte nur von Brot und Wasser. Die Nächte durchwachte sie an der Grotte, und wenn diese geräumt wurde, betete sie auf dem Berg den Kreuzweg. Um 5 Uhr nahm sie an der ersten hl. Messe teil. Jeden Tag badete sie im kalten Lourdeswasser. Dadurch fiel alle Müdigkeit von ihr ab. Obwohl der berühmte Wallfahrtsort Hauptziel ihrer Reise war, hat sie relativ wenig über ihre Tage dort berichtet. Es waren Tage der Askese, das in der zweiten Hälfte des 20. Jahr­hunderts zu einem Fremdwort in der Kirche werden sollte. Wohlbefinden ist gefragt, nicht Askese. Aber große Lebenswe­ge führen immer über die Selbstabtötung. Erst wenn der Leib sich dem Geist ganz unterordnet, kann die Mission des Aus­erwählten ausstrahlen und Früchte tragen. Als sie die Heim­reise antreten wollte, hörte sie eine innere Stimme sagen: „Du bist für die Priester gekommen und gehst jetzt zuerst nach Ars!“

Keineswegs begeistert bestieg sie den Zug nach Lyon. Dort angekommen, stand sie hilflos auf dem Bahnsteig. Man ver­wies sie an einen Bahnbeamten, der nahm ihr Gepäck, steu­erte auf einen Zug zu, schob sie und den Koffer hinein und schlug die Türe zu. Bei der Fahrkartenkontrolle gab sie zu ver­stehen, dass sie nach Ars wolle. Man versuchte ihr zu erläutern, dass sie offensichtlich den falschen Zug erwischt habe. Da griff ein Mitreisender ein, der sich auskannte, nannte die Station, an der sie aussteigen musste, dann gab er ihr einen Zettel mit dem Hinweis, wohin sie wolle, und als er hörte, dass sie kein Geld habe, fügte er noch ein Geldstück hinzu. Der Anschlusszug an der genannten Station wartete bereits. Sicher landete sie in Ars.

Das Geld, das sie bei sich hatte, reichte gerade noch für drei Kerzen. Sie gab es dem Küster. Eine Verständigung war nicht möglich, aber er begriff, was Antonie wollte, öffnete den Schrein mit dem unverwesten Körper des heiligen Priesters, so dass sie eine lange Bittschrift unter sein Kopfkissen schie­ben konnte. Dann betete sie lange und innig um heiligmäßige Priester. Schließlich kam sie mit einem kanadischen Geistli­chen ins Gespräch, der sie anschließend nach Lyon begleiten konnte.

Askese und Sühne

Man staunt, wie lückenlos die Reihe der Menschen war, die stets auftauchten, wenn sie Hilfe brauchte. So war es auch in Lyon. Auf der Brust trug sie eine Medaille vom Eucharisti­schen Kongress in Lisieux. Eine Dame bemerkte es und sprach sie an. Auch sie eine Pilgerin zur hl. Thérèse. Sie nahm An­tonie unter den Arm, führte sie ins Restaurant und bezahl­te ihr ein gutes Abendessen. Gestärkt konnte sie den Zug in Richtung Basel besteigen.

Vor der Grenze stieg sie in St. Louis aus. Sie hatte 20 Liter Lourdeswasser bei sich. Damit konnte sie kaum über Wiesen und Felder marschieren. Deshalb versuchte sie den Übergang an der Zollstation. Ohne Pass ein schwieriges Unterfangen.

Zur Rettung wurde für sie das viele Wasser aus Lourdes. Man hielt sie für eine Spinnerin und ließ sie durch, auch auf der Seite der Schweiz.

In Basel steuerte sie auf die Heilig-Geist-Kirche zu, stieß dort während der hl. Messe auf eine Schwester Luise, die sie kannte. Diese nahm sie auf die Krankenstation mit und fragte sie über alles aus. Dabei kam sie aus dem Staunen nicht mehr heraus. Sie lud die ermüdete Pilgerin zum Mittagessen ein, zwang sie, sich auszuschlafen, danach schenkte sie ihr das Geld für die Heimfahrt. Daheim wurde sie allerdings mit bitters­ten Vorwürfen empfangen, als Landstreicherin bezeichnet, aber man freute sich doch, sie wieder bei sich zu haben, nach­dem man Todesängste über ihr langes Fortbleiben ausgestan­den hatte.

Worin lag der tiefere Sinn dieser Reise, die scheinbar vol­ler Ungereimtheiten schien, auf der Antonie dennoch wichti­ge Stationen hinter sich gebracht hatte. Es war immerhin eine schwierige Zeit, der blutige Zweite Weltkrieg hing in der Luft, eine verhängnisvolle Ideologie zog immer mehr Massen in ih­ren Bann. Und ausgerechnet in dieser Zeit wird die Frau aus Wigratzbad nach Lisieux geführt. Die kleine Thérèse (1873 – ­1897) steht für die große Bedeutung des Individuums, für den Gedanken der Sühne, des Gebetes für andere. Johannes Paul II. hat sie 1997 zur Kirchenlehrerin erklärt. Eine blutjunge, 24­jährige Frau als Kirchenlehrerin! Nicht das irdisch Große ist es, was zählt, sondern das Kleine, über das Kleine setzt Gott das Neue in Bewegung. Das muss Antonie in Lisieux bewusst geworden sein.

In Paris führt sie ein unbekannter Geistlicher zur Sühne­kirche auf den Montmartre. Dass in Wigratzbad auch einmal ein Sühneheiligtum entstehen würde, davon wagte sie damals sicherlich nicht einmal zu träumen. Aber sie wurde vom Himmel bereits darauf vorbereitet. In der Rue du Bac hat Maria begonnen, in die neuzeitliche Geschichte der Menschen ein­zugreifen, nachdem diese im Begriff waren, einen verhäng­nisvollen Weg einzuschlagen, den Weg der Selbstvergottung. Und Antonie war vom Himmel in dieser Auseinandersetzung mit den Verirrungen der Zeit eine Rolle zugedacht. Die Tage in Lourdes waren Tage der Askese, der härtesten Läuterung. Und in Ars wurde ihr abermals vor Augen geführt, dass es ein unscheinbarer, vollkommen missverstandener und falsch eingeschätzter Priester war, der durch seinen tiefen, vorbehalt­losen Glauben Menschen von weit her anzog und zum Vor­bild für neue Priestergenerationen geworden ist. Das Kleine und Unscheinbare, das sind die Trumpfkarten Gottes.

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Quelle: Eigener Scan aus meinem persönlichen Exemplar des im Titel genannten (neu nicht mehr erhältlichen) Buches

Siehe weiter:

Aus: Alfons Sarrach: SIEG DER SÜHNE – Wigratzbad: Marias Botschaft an den Menschen

Kapitel I

Sternstunde

 

Ungewöhnliche Begegnung

Es gibt im Leben eines jeden verantwortungsbewussten Journalisten Begegnungen, Ereignisse, die er erlebt, Berichte, die er schreibt, von denen er im Nachhinein sagen kann, dass es für ihn eine Sternstunde war. Persönlich habe ich Gelegen­heit gehabt, Bundespräsidenten, Bundeskanzler, Minister, Po­litiker aller Couleur, Wissenschaftler und Künstler jedweden Grades zu befragen.

Vier Tage vor dem berüchtigten 11. September 2001 haben sich bei einer Begegnung mit dem US-Armeeminister Thomas White in Fulda die Rollen auf seltsame Weise verkehrt. Ich war nicht, wie für einen Journalisten üblich, Fragender, sondern plötzlich Warnender geworden. Auf rätselhafte Weise konnte ich ihm den Terroranschlag auf Washington und New York ankündigen, die Gruppe benennen und das Land, von dem der Angriff ausgehen würde, und die neuartige Art der Waffe, die zum Einsatz kommen könnte. Meine Frage, ob sein Land darauf vorbereitet sei, beantwortete der Minister positiv und nannte es die asymmetrischen Gefahren. Aber es zeigte sich, die Supermacht Amerika war keineswegs vorbereitet.

Als mich jemand, der bei dem Gespräch dabei war, am 11. September am Vormittag anrief und empfahl, den Fernsehsen­der einzuschalten, war ich selber tief betroffen. Meine Ankün­digung gegenüber der US-Administration war überraschend schnell bittere Wirklichkeit geworden. Für die Weltmacht USA war es ein Schock. Für den Journalisten wurde diese Vorah­nung zu einer Sternstunde.

Mehr als zwanzig Jahre vorher, im September 1977 hatte Dr. Josef Stimpfle, seit 1963 Bischof von Augsburg, einflussreiche Persönlichkeiten zu einem Kongress nach Ottobeuren einge­laden, um der damals sich abzeichnenden Europamüdigkeit zu begegnen. Das weckte meine publizistische Neugier. Keine po­litische Partei, ein Oberhirte war es, der dem Gedanken an die Einheit Europas neue Impulse geben wollte. Deshalb bat ich ihn als leitender politischer Redakteur der „Esslinger Zeitung“ im März 1978 um ein Gespräch, um ihn zu seinen Motiven für diese Initiative zu befragen. Es wurde für den leidenschaftlich engagierten Publizisten eine ganz ungewöhnliche Begegnung, denn aus diesem Pressegespräch entwickelte sich eine per­sönliche Freundschaft, die bis zu seinem Tode anhielt.

Zu jener Zeit, als in Ottobeuren der Europakongress ab­lief, hatten meine Frau und ich aus Indien gerade unsere erste indische Tochter geholt und waren im Begriff, eine zweite und dritte hinzuzufügen. Wir hatten uns etwas dabei gedacht, als wir uns entschlossen, gerade indischen Mädchen ein Zuhau­se zu geben, Geborgenheit und Liebe, und ihnen ihre Iden­tität zu bewahren, ja zu pflegen.

1964 hatte ich mit einem kleinen Filmteam die Reise Pauls VI. zum Eucharistischen Kongress nach Bombay begleitet, der ersten Reise eines Papstes nach Übersee. Das Team nahm die Gelegenheit wahr, am Rande auch andere Eindrücke zu sam­meln, die ansonsten Kameraleuten kaum zugänglich waren. Dabei waren unserem Wagen eines Tages drei hungernde Kin­der nachgelaufen. Ich konnte ihre Gesichter nie vergessen. Sie verfolgten mich bis in die Träume hinein und wurden drei­zehn Jahre später zum Anstoß, drei Kinder aus diesem Lande zu adoptieren und ihnen ein Familienleben zu schenken.

Diese Haltung berührte den Bischof sehr. Sie bildete eine ge­meinsame Basis, auf der wir uns verstanden. Unseren Haupt­wohnsitz hatten wir in Fulda. Das nahm der Oberhirte wahr, um uns am Rande der Fuldaer Bischofskonferenz jedes Jahr zu besuchen und dabei das Wachstum der Mädchen zu verfolgen. Das tat er sogar noch nach seinem Rückzug in den Ruhestand.

Prophetische Mahnung

In dem umfangreichen Interview, das der Bischof mir sei­nerzeit gab, meinte er zur Situation unseres Kontinentes, die entscheidende Ursache für die gegenwärtige Krise Europas bestehe im Verlust seiner geistig-sittlichen Identität. Zu den Wurzeln des europäischen Selbstverständnisses gehöre vor al­lem der christliche Glaube, der allein eine umfassende, trag­fähige Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens und der Welt sowie deren Gestaltung geben könne.

Zu den wichtigsten Diensten, die das Abendland gegen­über der ganzen Welt geleistet habe, gehöre die Einsicht in das Wesen des Menschen, seine ursprünglichen Rechte, seine ihm von Gott geschenkte Freiheit und Verantwortung. Wegen dieser Personalität sei der Mensch „Ursprung, Träger und Ziel des gesellschaftlichen Lebens“. Kurz danach machte der neu gewählte amerikanische Präsident Jimmy Carter (1977-1981) in seiner Außenpolitik die Einhaltung der Menschenrechte zum Maßstab. Ein Hinweis, wie überreif dieses Problem ge­worden war, dem der Bischof von Augsburg einen Kongress gewidmet hatte.

Die Anfälligkeit junger Menschen für kollektive Leitbilder sei größtenteils – so meinte Dr. J. Stimpfle – eine Reaktion auf eine übertriebene Ichbezogenheit. Und diese habe ihre Wurzeln in der neuzeitlichen Forderung nach einer möglichst absoluten Unabhängigkeit für die Person. Dabei würden die Beziehungen zu und die Verantwortung für die Mitmenschen verkümmern.

Das ganze Interview war eine prophetische Mahnung, die sich heute mehr und mehr bestätigt. Es wurde später, zum 25. Bischofsjubiläum Stimpfles, in dem umfangreichen Band „Im Dienst am Evangelium“ übernommen.

In diesem befindet sich auch ein Kapitel zur Krise des Mari­anischen in der Gegenwart. „Die Erwartungen, die das Konzil mit dem marianischen Kapitel in der ,Dogmatischen Konstitu­tion über die Kirche‘ verband“, meinte der Augsburger Bischof, „haben sich nicht in befriedigender Weise erfüllt. Neben der Rücksicht auf das ökumenische Gespräch kamen Tendenzen zum Durchbruch, die nicht durchwegs mit dem katholischen Glaubensgut und einer gesunden Überlieferung in Überein­stimmung stehen, wie etwa die radikale Entmythologisierung des Neuen Testamentes und neuere Theorien über die Erbsün­de und die Auferstehung der Toten. Dabei sind die Glaubens­wahrheiten über Maria mitbetroffen, ja zum Teil restlos in Fra­ge gestellt. Es muss darauf hingewiesen werden, dass die ge­nannten Tendenzen und Theorien auch die Verehrung der Got­tesmutter in Glaube und Frömmigkeit bedrohen, denn in der sog. ,Zweiten Aufklärung‘ werden heutzutage nicht nur die Ge­lehrtenstuben, sondern mittels der Massenmedien auch das kleinste Dorf und jedes Haus von den Neuerungen erfasst.“

Die Sichtweise zu beiden Themen, einmal zu den christli­chen Wurzeln der Menschenrechte, wie sie zunehmend in der Politik herausgestellt werden und an Bedeutung gewinnen, und zum anderen das Gewicht der Lehre über Maria für den geistigen Fortschritt der Menschheit erklären die innere An­teilnahme Stimpfles an den Ereignissen in Wigratzbad zwi­schen den beiden Weltkriegen und danach. Verständlich, dass die Gespräche mit dem Bischof in unserem Hause sich oft um diese Problematik bewegten, insbesondere nachdem meine Bücher über den prophetischen Aufbruch von Medjugorje er­schienen waren, die er sorgfältig studiert hatte. Gelegentlich erwähnte er dabei Wigratzbad und die dortige Charismati­kerin Antonie Rädler. Er habe darüber auch vor Bischöfen in Rom gesprochen.

Begeistert verfolgte er den Werdegang unserer indischen Töchter, die bemüht waren, ihn jedes Mal zu überraschen. Einmal empfing ihn die jüngste Tochter, von der ältesten, die ein humanistisches Gymnasium besuchte, eingeübt, mit den ersten Versen des Prologs des Johannesevangeliums in Grie­chisch: „En arche en ho logos …“ (Am Anfang war das Wort …). Als sie mit ihren Zeilen zu Ende war, griff er die Stelle auf und führte den Text lückenlos auswendig zu Ende.

Ein anderes Mal rezitierte eine Tochter für ihn das Gedicht des großen Mystikers Johannes vom Kreuz „Das Lied der Lie­be“: „Wohin – Geliebter schwangst du? – Verlassen hab ich Seufzer nur gefunden. – Gleich einem Hirsch entsprangst du – und durftest mich verwunden, ich drang dir nach, ich rief – du bliebst entschwunden.“ Dies alles blieb nicht ohne tie­fen Eindruck auf ihn.

Dringende Bitte

Dennoch war ich überrascht, als er mich einige Monate vor seinem Tode schriftlich dringend bat, mich in besonderer Wei­se der Geschichte und Berufung von Wigratzbad zuzuwen­den und darüber ein Buch zu verfassen. Er glaube, so hieß es, meine literarische Art und die Richtung meines Denkens wür­den mich den Geist der Stätte erfassen lassen. Er lud mich nach Augsburg ein, um den Plan ausführlich zu besprechen. Beim Mittagessen wiederholte er noch einmal dieses sein Her­zensanliegen, dabei begannen ihm die Hände zu zittern, so sehr, dass ich erschrocken meine Hand beruhigend auf sei­nen Arm legen musste.

In diesem Augenblick hatte ich den Eindruck, dass er ins­geheim befürchtete, ich würde die Dringlichkeit seines Anliegens nicht ganz erfassen, weil ich zu sehr auf die Botschaf­ten von Medjugorje eingeschworen war. Er versprach, mich persönlich zur Gebetsstätte zu begleiten und mich in alles einzuführen. Leider kam es nicht mehr dazu. Vierzehn Tage später erlitt er in der Schweiz einen Schlaganfall und verstarb plötzlich. Erschüttert fragte ich bei seiner Schwester an, ob sie irgendwelche Unterlagen habe, aber in der Trauer um den Tod ihres Bruders ließ sie nichts von sich hören.

Nach vielen Jahren traf ich – scheinbar zufällig – Pfarrer Erich Maria Fink, einen der Herausgeber der Monatsschrift „KIRCHE heute“ und Seelsorger in Russland. Er versuchte mich ebenfalls für Wigratzbad zu interessieren. Dabei kam so ganz nebenbei das Vermächtnis des verstorbenen Bischofs von Augsburg zur Sprache. Von nun an ließ mich das Anliegen nicht mehr los. Der verstorbene, ganz ungewöhnliche Ober­hirte besaß ein feines Gespür für die Bedeutung des Charis­mas in unserer Zeit. Kaum im Amt, versagte er Antonie Rädler, der Begründerin der Stätte, nach eingehender Prüfung sei­ne Unterstützung nicht, was ihm bei der Zurückhaltung, ja Ab­lehnung seiner beiden Vorgänger und eines Teiles der Geist­lichkeit nicht wenig Mut abforderte. Offensichtlich war hier ein großes Charisma einem anderen großen begegnet.

Im Laufe des Jahres 2007 erreichte mich die Einladung von Thomas Maria Rimmel, Direktor der Gebetsstätte, auf dem Rosenkranzkongress 2008 in Wigratzbad ein paar Referate unter dem Titel „Mit Maria gegen die Irrlehren der Zeit“ zu übernehmen. Eine geistige Welt, die mich seit mehreren Jahr­zehnten beschäftigte.

Dem vorausgegangen war, dass bei mir im Jahre 2005 ein verschleppter bösartiger Blutkrebs festgestellt wurde. Die Ärz­te, allen voran Prof. H.G. Höffkes vom Klinikum in Fulda, machten mir gegenüber kein Geheimnis aus dem ernsten Zustand. Mit anderen Worten, ich stand an der Schwelle zur Ewigkeit, was mich, als es mir voll bewusst wurde, mit tiefer Freude erfüllte. Dieser Freude machte einige Wochen später eine Spontanheilung einen Strich durch die Rechnung. Sie ging auf den berühmten Ort Medjugorje in der Herzegowina zurück, den Menschen aus der ganzen Welt aufsuchen, aber auch viele – selbst in der Kirche – unversöhnlich ablehnen. Um meine Gesundung hatten dort Menschen gebetet. Inzwi­schen lag über die Heilung auch das von mir verfasste Buch vor, unter dem Titel „Jenseits des Scheins“.

In Wigratzbad sollte ich meine Gesundung vom Blutkrebs in einem weiteren Licht sehen, einige Tage den Puls dieses vom Gebet geprägten Ortes erleben. Alles seelische und kör­perliche Leid dieser Erde schien hier – wie in Lourdes – zu­sammenzukommen, sich mit den Strömen von Schmerz an­derer Länder zu vereinen. Auch mit der Architektur des Got­teshauses musste man erst vertraut werden, ihren Geist er­gründen, die Dimension ihrer Aussage erfassen.

Tiefster Sinn des Kreuzes

Beklommen betrat ich das Gotteshaus und kniete vor dem Allerheiligsten nieder. Dahinter ein gewaltiges Kreuz, von dem mein Blick sich nicht lösen konnte. Bischof Stimpfle hatte ver­sprochen, an meiner Seite zu sein, wenn ich den Fuß über die Schwelle dieser Kirche setzen sollte. Nun war ich allein, al­lein mit einer mir auferlegten schweren Bürde. Sein Nachfol­ger im Amt, Dr. Walter Mixa, einer der furchtlosen Mahner unter den Oberhirten Deutschlands, hatte mich ermuntert, die Arbeit in Angriff zu nehmen, als er erfuhr, auf wen diese Ini­tiative zurückging. Das konnte ein Gefühl innerer Verlassenheit nicht aufheben. Warum hat dieser große Oberhirte mich allein gelassen bei einer Aufgabe, die ihm so dringend am Her­zen lag? Diese Frage bohrte in mir. Dennoch war mir, als wür­de der verstorbene Bischof mir jetzt über die Schulter schauen und sagen: „Lange haben wir auf dich gewartet, endlich bist du da, aber wir sind mit dir, du bist keineswegs allein“.

Draußen war die Nacht hereingebrochen, es wurde kühl. Drinnen beteten Menschen aus allen Himmelsrichtungen. Hier und da konnte man sogar ein bekanntes Gesicht erken­nen, von weither gekommen. Jeder einer geheimnisvollen Stimme folgend. Was ich nicht ahnen konnte war, unter wel­chen schmerzdurchtränkten Begleitumständen ich meine Ar­beit durchführen sollte. Die Kirche war dem Gedanken der Sühne gewidmet, das ließ einiges erahnen, auch für mich. Ich wusste es von meinen anderen Büchern her. Sühne, ein unter den sich modern wähnenden Menschen unbeliebt geworde­nes Wort. Sühne, ein Akt, ohne den die Beziehungen zwi­schen Gott und den mit Schuld beladenen Menschen ein aussichtsloses Unterfangen bleiben müssten. Sühne, die es für die Menschheit, vor allem aber für die Kirche Jesu, neu zu entdecken gilt.

Es war eine Frau, auf die dieser Impuls zurückging. Es ist nicht das Große, das Eindrucksvolle, bei dem Gott ansetzt, sondern das Kleine, das Unscheinbare, von nichts anderem geführt als von der Gnade allein. Und diese unscheinbare Frau hat einen der gewaltigsten Gedanken in den Beziehungen zwi­schen Gott und den Menschen aufgegriffen, den Gedanken der Sühne, der im 20. Jahrhundert immer mehr und immer unverhohlener verdrängt und gar verhöhnt wird. Der sühnen­de Gott am Kreuze, Ausdruck unfassbarer Liebe, ist für viele sich selbst anbetende Menschen – und oft auch für Christen – unverständlich, ja geradezu eine Peinlichkeit geworden.

Aber Sühne ist die Wiederherstellung des Gleichgewichtes im Kosmos. Schon im sichtbaren Universum erkennen wir die Bedeutung des Gleichgewichtes, durch das ein gewaltiges Universum nicht im Chaos versinkt, sondern eine wunderbare Ausgewogenheit aufweist, die immer mehr aufrichtige Natur­wissenschaftler in Staunen versetzt. Diesen komplexen, sen­siblen Aufbau des Kosmos hat der Architekt Professor Gott­fried Böhm – bewusst oder unbewusst – in der Struktur des Gotteshauses von Wigratzbad wiedergeben wollen, in der nun schon seit Jahrzehnten Sühne geleistet wird für die gestörte Ordnung in der Welt des Menschen, in der Welt des Geistes.

Vergleichbares gilt für die für uns unsichtbare Welt jenseits der Materie. Luzifer, der Engel des Lichtes, ein großer Intellekt, lehnte sich einst gegen Gott auf, wollte es besser wissen als sein Schöpfer, versagte Ihm mit seinem „Non serviam“, „Ich werde nicht dienen“, die Gefolgschaft. Aber Michael, der Erzengel, stellte sich der Auflehnung entgegen und somit das Gleich­gewicht wieder her. „Keiner kann sein wie Gott!“ schleuderte er dem rebellierenden Engel entgegen und stürzte ihn in den Abgrund der Hölle, das heißt in die ewige Gottferne, ausge­schlossen vom Mitwirken am Heilswillen Gottes gegenüber der Schöpfung, in ewiger Selbstentfremdung von der Liebe.

Papst Benedikt XVI. hat am 12. September 2008 in Paris, auf seinem Weg nach Lourdes, in einer Ansprache einen fein­sinnigen Vergleich unserer Zeit mit den Zuständen im grie­chischen Korinth der Antike zur Zeit des Apostels Paulus ge­wagt, einer Stadt, die von moralischer Verkommenheit und materialistischem Sumpf geprägt war.

Es dürfte daher nicht abwegig sein, den Hochmut, die Selbstsicherheit unserer Zeit mit der großen Auseinanderset­zung unter den größten Geistern vor dem Angesichte Gottes zu vergleichen. Wer Ohren hat zu hören, dem wird in seiner Umgebung oft das „Non serviam“, das „Ich werde nicht die­nen“, das „Ohne mich“ gegenüber Gott, im Ohr klingen, fein und zart oder offen und brutal, zynisch bis zur Unerträglich­keit. Nicht nur bei sehr gebildeten Gehirnen, sondern über­raschenderweise bei ganz einfachen Gemütern.

Antonie Rädler, der jungen, einsamen Frau aus Wigratz­bad, ging es nicht, das schält sich bei eingehendem Studium ihres Lebens heraus, um neue Formen der Frömmigkeit, nicht einmal um Wiederbelebung vergessener Kulte. Sie hatte in­stinktiv, oder von der Gnade her erleuchtet, eine ganzheitliche Sicht der Dinge. Es ging um den Sieg der „demütigen Magd“, Mariens, über alle geistige Unordnung, über alle Häresien, über alle ideologischen Verirrungen der Gegenwart.

Aber im Gegensatz zum säkularen Denken gibt es im über­natürlichen Bereich keinen Sieg ohne Sühne. Das hat Maria bei allen Erscheinungen klargestellt, von der Rue du Bac über Lourdes und Fatima. Siegen im diesseitigen Denken heißt niederringen, in der Mentalität des Jenseits „sich hingeben“, „sich aufopfern“. Darin liegt der tiefste Sinn des Kreuzes, der Sieg des Kreuzes, der Sieg der Liebe.

Noch am Anfang der 70er Jahre glaubte ein hoher Wür­denträger, es handle sich bei der Charismatikerin Antonie um „Befriedigung ungesunder religiöser Bedürfnisse“. Aber reli­giöse Überspanntheit ist leicht daran zu erkennen, dass ein Hysteriker große Opfer scheut. In Wigratzbad haben wir es dagegen mit einem Opfergeist über mehrere Jahrzehnte zu tun, der tief beeindruckt. Wer war dieser Mensch, dieses Mäd­chen, diese Frau, der die Gnade zuteil wurde, ein Gespür für das Wesentliche der Entfremdung des Menschen von Gott in unserer Zeit zu entwickeln? Dem soll in dieser Arbeit nach­gegangen werden.

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Quelle: Eigener Scan aus meinem persönlichen Exemplar des im Titel genannten (neu nicht mehr erhältlichen) Buches

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