Die ENTFALTUNG und ENTWICKLUNG der LITURGIE

Aus der Enzyklika MEDIATOR DEI Papst Pius‘ XII. vom 20.11.1947:

4. Entfaltung und Entwicklung der Liturgie:
a) Göttlicher und menschlicher Anteil

49 Die kirchliche Hierarchie hat jederzeit von ihrem Recht in liturgischen Dingen Gebrauch gemacht; sie hat den Gottesdienst eingeführt, geregelt und mit immer neuer Pracht und Würde zur Ehre Gottes und zur Erbauung der Gläubigen bereichert. Sie hat auch kein Bedenken getragen – immer unter strenger Wahrung der wesentlichen Eigenart des eucharistischen Opfers und der Sakramente – zu ändern, was sie nicht für angebracht hielt; hinzuzufügen, was geeignet schien zur größeren Verherrlichung Jesu Christi und der Heiligsten Dreifaltigkeit, wie zur Belehrung und heilsamen Aneiferung des christlichen Volkes[47].

50 Die heilige Liturgie besteht nämlich aus menschlichen und göttlichen Bestandteilen; die letzteren lassen, da sie vom göttlichen Erlöser festgesetzt sind, natürlich in keiner Weise Änderungen durch Menschenhand zu; die ersteren hingegen können, den Forderungen der Zeiten, Verhältnisse und Seelen entsprechend, mannigfache Umgestaltungen erfahren, so wie sie die kirchliche Hierarchie unter dem Beistand des Heiligen Geistes gutheißt. Daher jene staunenswerte Vielfalt der morgen- und abendländischen Riten; daher die allmählich voranschreitende Entwicklung einzelner religiöser Bräuche und frommer Werke, von denen frühere Zeiten nur schwache Spuren aufweisen; daher aber auch die Erscheinung, dass bisweilen fromme Gepflogenheiten, die im Laufe der Zeit außer Übung gekommen waren, von neuem aufleben und wieder zu Ehren kommen. Das alles zeugt von der durch die vielen Jahrhunderte anhaltenden Lebenskraft der unversehrten Braut Jesu Christi; es ist das heilige Gespräch, das sie im Laufe der Zeiten mit ihrem göttlichen Bräutigam führte, um ihm ihren Glauben und den Glauben der ihr anvertrauten Völker, sowie ihre nicht zu erschöpfende Liebe zum Ausdruck zu bringen; es zeigt aber auch die Erziehungsweisheit, womit sie den „Geist Christi“ in den Gläubigen weckt und täglich wirksamer macht.

b) Ursachen der fortschreitenden Umgestaltung

51 Nicht gering an Zahl waren die Ursachen, aus denen die Entfaltung und Entwicklung der heiligen Liturgie in den langen und ruhmvollen Jahrhunderten der Kirche vor sich gingen.

52 So sind, um Beispiele anzuführen, mit der bestimmteren und klareren Erfassung der katholischen Lehre von der Menschwerdung des Göttlichen Wortes, von der Eucharistie als Sakrament und Opfer, von der Jungfrau und Gottesmutter Maria rituelle Neuerungen getroffen worden, durch welche die gottesdienstlichen Handlungen das aus den Erklärungen des kirchlichen Lehramtes heller erstrahlende Licht vollständiger und anschaulicher wiedergaben, ja gleichsam widerspiegelten, damit es leichter in Geist und Herz des christlichen Volkes Eingang finde.

53 Die Weiterentwicklung der kirchlichen Ordnung in der Spendung der Sakramente, wie z. B. in der Verwaltung des Bußsakramentes, die Einführung des Katechumenates und dessen spätere Aufhebung, und dann die heilige Kommunion unter einer einzigen Gestalt in der Lateinischen Kirche: das alles hat zweifellos nicht wenig dazu beigetragen, dass uralte Riten im Laufe der Zeit abgeändert und allmählich neue eingeführt wurden, die zu den diesbezüglichen Neubestimmungen besser zu passen schienen.

54 Zu dieser schrittweisen Umgestaltung trugen die nicht streng liturgischen Andachtsformen und Übungen der Frömmigkeit nicht wenig bei; nach Gottes wunderbarem Ratschluß sind sie im Laufe der Zeiten aufgekommen und wurden bald heimisch im Volk; so z. B. die zunehmende und täglich innigere Verehrung der heiligen Eucharistie, des bitteren Leidens unseres Erlösers, des heiligsten Herzens Jesu, der jungfräulichen Gottesmutter und ihres keuschen Bräutigams.

55 Einen zeitbedingten Beitrag lieferten ferner die in gläubiger Gesinnung veranstalteten Volkswallfahrten zu den Gräbern der Märtyrer, besondere Fastenübungen in gleicher Absicht, endlich die Bußprozessionen zu den Stationskirchen in Unserer Ewigen Stadt, an denen nicht selten die Päpste selbst teilnahmen.

56 Natürlich wirkte sich auch die fortschreitende Vervollkommnung der schönen Künste, insbesondere der Baukunst, Malerei und Musik, in nicht geringem Maße auf die Festlegung und Anpassung von äußeren liturgischen Formen aus.

c) Gründung der Ritenkongregation

57 Des gleichen Vorrechtes in liturgischen Dingen hat sich die Kirche bedient, um die Heiligkeit des Gottesdienstes vor Mißbräuchen zu schützen, die von einzelnen Gläubigen oder Einzelkirchen ohne vorsichtige Überlegung eingeführt worden waren. Als daher im 16. Jahrhundert derlei Gewohnheiten und Bräuche zu sehr überhand genommen hatten und als Neuerungen auf diesem Gebiet vonseiten Unberufener die Reinheit des Glaubens- und Andachtslebens gefährdeten, übrigens sehr zum Vorteil der Irrgläubigen und zur Ausbreitung ihrer verfänglichen Lehre, gründete Unser Vorgänger unsterblichen Andenkens Sixtus V. zum Schutz der rechtmäßigen kirchlichen Riten und zu ihrer Säuberung von jenen ungehörigen Einschlägen im Jahre 1588 die Heilige Ritenkongregation[48], deren Aufgabe es auch heute noch ist, in wachsamer Obsorge Anordnungen und Bestimmungen auf dem Gebiet der Liturgie zu treffen[49].

d) Oberste Autorität in liturgischen Belangen

58 Deshalb steht nur dem Papst das Recht zu, eine gottesdienstliche Praxis anzuerkennen oder festzulegen, neue Riten einzuführen und gutzuheißen, sowie auch jene zu ändern, die er für änderungsbedürftig hält[50]. Die Bischöfe aber haben das Recht und die Pflicht, sorgfältig darüber zu wachen, dass die kirchenrechtlichen Vorschriften betreffs des Gottesdienstes genau eingehalten werden[51]. Es ist also nicht erlaubt, dem Gutdünken von Privatpersonen, auch wenn sie zum Klerus zählen, all das Heilige und Verehrungswürdige zu überlassen, das zum religiösen Leben der christlichen Gemeinschaft, zur Ausübung des Priestertums Jesu Christi und zum Gottesdienst, zur würdigen Verehrung der Heiligsten Dreifaltigkeit, des Menschgewordenen Wortes, seiner gebenedeiten Mutter und der anderen Heiligen, sowie zur seelsorglichen Tätigkeit gehört; und ebenso ist kein Privater irgendwie befugt, auf diesem Gebiet äußere Handlungen anzuordnen, die mit der kirchlichen Disziplin, mit dem Aufbau, der Einheit und Eintracht des Mystischen Leibes Christi, ja nicht selten auch mit der Reinheit des katholischen Glaubens in engster Beziehung stehen.

59 Die Kirche ist ohne Zweifel ein lebendiger Organismus; deshalb wächst sie und entfaltet sie sich auch im Bereich ihrer heiligen Liturgie und paßt sich den zeitbedingten Notwendigkeiten und Umständen an, immer jedoch unter Wahrung der Unversehrtheit ihrer Lehre. Ganz zu verurteilen ist aber das vermessene Unterfangen jener, die mit Absicht neue liturgische Bräuche einführen, oder überlebte, mit den geltenden Gesetzen und Rubriken nicht mehr übereinstimmende Gepflogenheiten wiederaufleben lassen. Dass dies vorkommt, geliebte Söhne und ehrwürdige Brüder, und zwar nicht nur in unbedeutenden Dingen, sondern auch in solchen von sehr großer Tragweite, haben Wir nicht ohne bitteren Schmerz erfahren. Es gibt tatsächlich Leute, die bei der Darbringung des hochheiligen eucharistischen Opfers sich der Volkssprache bedienen; die bestimmte, aus reiflich erwogenen Gründen schon genau festgelegte Feste auf andere Termine verlegen; die schließlich aus den amtlichen Gebetbüchern die Schrifttexte des Alten Testamentes ausmerzen, weil sie nach ihrem Dafürhalten unserer heutigen Zeit wenig entsprechen und nicht recht zu ihr passen.

e) Liturgische Sprache

60 Der Gebrauch der lateinischen Sprache, wie er in einem großen Teil der Kirche Geltung hat, ist ein allen erkennbares und schönes Zeichen der Einheit und eine mächtige Schutzwehr gegen jegliche Verderbnis der wahren Lehre. Bei manchen kirchlichen Zeremonien kann indes die Verwendung der Landessprache dem Volke sehr nützlich sein; nichtsdestoweniger ist es ausschließliche Sache des Apostolischen Stuhles, dies zu gestatten. Deshalb darf ohne seine Befragung und Billigung nichts Derartiges geschehen, weil eben, wie Wir schon sagten, die Regelung der Liturgie ganz von seinem Entscheid und seinem Willen abhängt.

f) Alte und neue Formen

61 Gleich zu beurteilen sind die Versuche und Bestrebungen, alle möglichen alten Riten und Zeremonien wieder in Gebrauch zu bringen. Ganz gewiß, die Liturgie der alten Zeit ist zweifelsohne verehrungswürdig. Aber ein alter Brauch ist nicht allein schon deshalb, weil er Altertum ausstrahlt, in sich oder für spätere Zeiten und neue Verhältnisse als geeigneter und besser zu betrachten. Auch die neueren liturgischen Riten sind ehrfürchtiger Beobachtung würdig, weil sie unter Eingebung des Heiligen Geistes entstanden sind, der immerdar der Kirche beisteht bis zur Vollendung der Zeiten[52]; und auch sie sind gleichberechtigte Werte, mit deren Hilfe die ruhmreiche Braut Christi die Menschen zur Heiligkeit anspornt und zur Vollkommenheit führt.

62 Mit Geist und Herz zu den Quellen der heiligen Liturgie zurückzukehren, ist sicher weise und sehr lobenswert, da das Studium dieses Wissenszweiges durch Zurückgreifen auf dessen Anfänge nicht wenig dazu beiträgt, die Bedeutung der Feste und den Sinn der verwendeten heiligen Texte und Zeremonien tiefer und genauer zu erforschen; dagegen ist es nicht weise und nicht lobenswert, alles um jeden Preis auf das Altertum zurückzuführen. So würde z. B. vom rechten Weg abweichen, wer dem Altar die alte Form der Mensa, des Tisches, wiedergeben wollte; wer die liturgischen Gewänder nie in Schwarz haben wollte; wer die Heiligenbilder und Statuen aus den Kirchen entfernen wollte; wer die Nachbildung des gekreuzigten Erlösers so machen ließe, dass sein Leib die bitteren Qualen, die er erduldete, nicht zum Ausdruck brächte; wer endlich den polyphonen (mehrstimmigen) Gesang mißbilligte und ablehnte, auch wenn er den vom Heiligen Stuhl gegebenen Weisungen entspräche.

63 Denn wie kein vernünftiger Katholik in der Absicht, zu den alten, von den früheren Konzilien gebrauchten Formeln zurückzukehren, die Fassungen der christlichen Lehre ablehnen kann, welche die Kirche unter der Leitung des Heiligen Geistes in der neueren Zeit zum größten Nutzen der Seelen vorgelegt und als verbindlich erklärt hat, oder wie kein vernünftiger Katholik die geltenden Gesetze ablehnen kann, um zu den aus den ältesten Quellen des kanonischen Rechtes geschöpften Bestimmungen zurückzugreifen, so ist gleichermaßen, wenn es sich um die heilige Liturgie handelt, offensichtlich von keinem weisen und gesunden Eifer getrieben, wer zu den alten Riten und Bräuchen zurückkehren und die neuen ablehnen wollte, die doch unter dem Walten der göttlichen Vorsehung mit Rücksicht auf die veränderten Verhältnisse eingeführt worden sind.

64 Diese Denk- und Handlungsweise läßt jene übertriebene und ungesunde Altertumssucht wiederaufleben, der die unrechtmäßige Synode von Pistoja Auftrieb gegeben hat, und ebenso trachtet sie, die vielfachen Irrtümer wieder auf den Plan zu rufen, welche die Ursache zur Einberufung jener Synode waren und zum großen Schaden der Seelen sich aus ihr ergaben, und welche die Kirche, die immer treue Hüterin des ihr von ihrem Stifter anvertrauten Glaubensgutes, mit vollem Recht verworfen hat[53]. Denn solch verkehrtes Beginnen geht nur darauf aus, die heiligmachende Tätigkeit zu beeinträchtigen und zu schwächen, durch welche die Liturgie Gottes Gnadenkinder auf dem Wege des Heils dem himmlischen Vater zuführt.

65 Alles möge daher so geschehen, dass die gehörige Verbindung mit der kirchlichen Hierarchie gewahrt bleibe. Niemand nehme sich heraus, sich selbst Gesetze zu geben und sie dann eigenmächtig anderen aufzuzwingen. Der Papst als Nachfolger des heiligen Petrus, dem der göttliche Erlöser die Sorge anvertraut hat, die gesamte Herde zu weiden[54], und mit ihm die Bischöfe, die in Unterordnung unter den Apostolischen Stuhl vom Heiligen Geiste bestellt sind . . . , die Kirche Gottes zu regieren[55], sind allein im Besitz des Rechtes und der Pflicht, das christliche Volk zu lenken und zu leiten. Sooft ihr deshalb, ehrwürdige Brüder, eure Autorität wahrt, wenn nötig auch mit Strenge, erfüllt ihr nicht nur eure Amtspflicht, sondern nehmt auch den Willen des Stifters der Kirche in sicheren Schutz.

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Quelle: Mediator Dei et hominum – Kathpedia