An der Wurzel aller Auseinandersetzungen: Wo ist die Kirche?

(Ein Text von Bischof Donald J. Sanborn aus dem Jahr 1991:)

Unter denjenigen, die den Reformen des II. Vatikanums widerstanden haben, wird am stärksten beklagt, daß sie selbst miteinander nicht auskommen können. Obwohl sie alle sich über die grundsätzliche Notwendigkeit einig sind, daß den Reformen des II. Vatikanums widerstanden werden muß, streiten sie unablässig um andere Dinge. Heute streiten die Traditionalisten am meisten untereinander, und nicht gegen die Modernisten. Dieser Zustand dürfte den Teufel entzücken, da das Gerangel unweigerlich den notwendigen Widerstand gegen den Modernismus schwächt.

An der Wurzel des Streits steht die Frage nach der Kirche. Wo ist die Kirche? Stimmt der katholische Glaube mit der Novus Ordo Religion überein? Diese Frage ist heikel, denn wenn man Sie affirmativ beantwortet, daß also die Novus Ordo Religion der katholische Glaube sei, dann wird der Widerstand dagegen schismatisch und vielleicht gar ketzerisch. Wenn die Antwort andererseits negativ ist, dann entsteht das Problem der katholischen Kirche ohne sichtbare Hierarchie.

So ist der Hauptstreit in den verschiedenen Lagern der Traditionalisten die Frage nach der Kirche. Und weil der Papst das sichtbare Haupt der Kirche ist, entbrennt diese Meinungsverschiedenheit natürlich um das Papsttum von Johannes Paul II.

Der Grund, warum so viele Traditionalisten ihn als Papst sehen und darauf bestehen, daß er Papst ist, ist nicht, daß sie sich mit seiner Theologie identifizieren. Eher ist es so, daß sie die Identifizierung der Novus Ordo Religion mit der Römisch-katholischen Kirche als theologische Notwendigkeit sehen. Und dies wegen der Unzerstörbarkeit der Kirche, die bis zum Ende der Zeit eine sichtbare Hierarchie aufweisen muß. Aus diesem Postulat schließen sie, daß – Ketzer oder nicht – Johannes Paul II. und das Kollegium seiner Bischöfe die Hierarchie der katholischen Kirche sein müssen, da sie ordnungsgemäß gewählt und auf den Sitz ihrer katholischen Vorgänger berufen worden sind. Wer das bestreitet, leugnet die Kirche, sagen sie. Wer diese Hierarchie leugnet, der ist schismatisch, da er sich von der katholischen Hierarchie abschneidet.

Im anderen Lager wird hingegen aus der Unzerstörbarkeit der Kirche der genau entgegengesetzte Schluß gezogen: Das II. Vatikanum ist ketzerisch, Johannes Paul II. ist ketzerisch, die Bischöfe sind ketzerisch. Die neuen Sakramente sind nicht katholisch und entweder zweifelhaft gültig oder gänzlich ungültig. Im Namen der Unzerstörbarkeit der Kirche erklären diese Traditionalisten, daß es theologisch gesichert ist, daß die Novus Ordo Religion nicht der katholische Glaube ist und folglich die Novus Ordo Hierarchie nicht die katholische Hierarchie sein kann.

Diese bittere Unstimmigkeit, die ironischerweise aus demselben Grundsatz der Unzerstörbarkeit der Kirche entsteht, ist das Ergebnis der Tatsache, daß jene Päpste und Bischöfe, die, durch die gewöhnlichen Mittel der Nachfolge auf die Plätze der vorkonziliaren katholischen Päpste und Bischöfe gerückt sind, durch das II. Vatikanum und die nachfolgenden Reformen eine Religion erzeugt haben, die mit dem katholischen Glauben von zweitausend Jahren nicht identifizieret werden kann. Folglich ist die Frage: Wo ist nun die Unzerstörbarkeit? Betrifft sie den Glauben? Oder betrifft sie die sichtbare apostolische Sukzession?

Die richtige Antwort lautet, daß die Unzerstörbarkeit der katholischen Kirche beide betrifft, und das eine oder das andere zu bestreiten wäre ein „schwerwiegender und schädlicher Fehler”, um die Worte von Papst Leo XIII. zu benutzen:

„Der Hauptzweck der Kirche und die Ursachen der Erlösung sind zweifellos geistig; aber hinsichtlich derjenigen, die dies konstituieren und die Werke einsetzen, die zu diesen geistigen Geschenken führen, ist er äußerlich und notwendigerweise sichtbar.

Aus diesem Grunde wird die Kirche in der Heiligen Schrift oft als Leib, und auch als Leib Christi bezeichnet: Ihr aber seid der Leib Christi (1. Kor. 12, 27). Gerade weil die Kirche ein Leib ist, ist sie mit den Augen wahrnehmbar; weil sie aber der Leib Christi ist, so ist sie ein lebendiger, selbsttätiger und wachsender Leib, denn Jesus Christus schützt und erhält ihn durch seine Kraft; ähnlich wie der Weinstock die mit ihm verbundenen Rebzweige nährt und fruchtbar macht. Und wie bei den Lebewesen das Lebensprinzip zwar unsichtbar und durchaus verborgen ist, sich aber deutlich offenbart in der Bewegung und Tätigkeit ihrer Glieder, so tritt auch in der Kirche das Prinzip des übernatürlichen Lebens klar in Erscheinung durch die Werke, die sie vollbringt.

Daraus ergibt sich, daß jene in einem großen und gefährlichen Irrtum befangen sind, die sich nach Willkür eine verborgene und ganz unsichtbare Kirche ausdenken; genau wie jene, die in ihr irgendeine menschliche Anstalt sehen wollen mit einer Art äußerer Disziplin und einem äußeren Kultus, aber ohne immerwährende Vermittlung göttlicher Gnaden, ohne jene Zeichen, die täglich offenkundig dartun, daß die Kirche ihr Leben aus Gott empfängt.

Die Kirche kann nämlich nicht eins ohne das andere sein; das wäre ebenso widersinnig wie die Behauptung, der Mensch sei nur Leib oder nur Seele. Die Vereinigung und Zusammengehörigkeit dieser zwei Bestandteile ist zum Wesen der wahren Kirche ebenso notwendig, wie etwa die innige Vereinigung von Seele und Leib für die menschliche Natur.“ (Papst Leo XIII, Enzyklika Satis Cognitum, am 29. Juni 1896)