BISCHOF DR. RUDOLF GRABER: AM VORABEND DES KONZILS (01)

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1917

DAS ENTSCHEIDUNGSJAHR
IN DER ERSTEN HÄLFTE DES 20. JAHRHUNDERTS

Anläßlich des 40. Jahrestages der Erscheinungen von Fatima lohnt es sich, einen Blick in dieses sturmbewegte Jahr auf der Scheitelhöhe des Ersten Weltkrieges zu werfen. In der historischen Zeitschrift „Saeculum“ ist nämlich ein bedeutsamer Artikel erschienen von Erwin Hölzle unter dem Titel „Formverwandlung der Geschichte – das Jahr 1917″ (Bd. VI [1955] 329-444). Hier wird dieses entscheidende Jahr rein unter dem welt- bzw. geistesgeschicht­lichen Gesichtspunkt gewertet und als der Anfang eines „Zeitalters der Weltideologien“ (S. 336) betrachtet. Denn in diesem Jahr schalten sich von Westen her die Vereinigten Staaten von Amerika durch ihre Kriegserklärung an Deutschland vom 6. April in die Geschichte Europas ein, während im Osten der Ausbruch der bolschewistischen Revolution in Rußland (7. Novem­ber 1917) jene zweite ideologische Macht auf den Plan ruft, die seitdem nicht bloß unseren Kontinent, sondern die ganze Welt in ständige Unruhe versetzt. Zwischen diesen beiden die weitere Geschichte wesentlich bestimmenden Ereignissen liegen nun die Erscheinungen Mariens in Fatima vom 13. Mai bis 13. Oktober, die sich – rein historisch gesehen – zunächst einmal auf diesem rein natürlichen Hintergrund als eine Art „dritte Kraft“ präsentieren gegen­über der westlichen freimaurerischen Ideologie und dem russischen Bolsche­wismus. Gott will durch die Erscheinungen Mariens uns zeigen, daß er auch jetzt und gerade jetzt der Herr der Geschichte ist und daß wir in dem nun anhebenden Zeitalter der „Glaubenskämpfe“ (Hölzle a. a. 0. S. 337) nicht verlassen sind, sondern uns des stärksten Schutzes erfreuen dürfen, derer nämlich, die von jeher die Hilfe der Christen ist – wenn wir das Unsere tun.

Die westliche Gefahr

Es ist soeben das Wort „freimaurerisch“ gefallen. Vielleicht wendet jemand ein, daß die Botschaft von Fatima doch nichts mit diesem Freimaurertum zu tun hat. Man sollte indessen nicht übersehen, daß das ganze Ereignis von Fatima sich zunächst sogar gerade gegen diesen kirchenfeindlichen Geist der portugiesischen Regierung richtete und daß die Bezugnahme auf Rußland erst einer späteren Zeit vorbehalten blieb. Die Loge jedoch hat frühzeitig Fatima den Kampf angesagt, und es ist ja hinlänglich bekannt, wie der frei­maurerische Bezirksvorsteher Arturo Santos im August 1917 gegen die Seher­kinder vorging, um die für den 13. dieses Monats vorgesehene Erscheinung unmöglich zu machen. Und schließlich ist die Wiederverchristlichung Portu­gals und die Zurückdämmung des Logeneinflusses auf das öffentliche Leben des Landes sicherlich nicht das geringste Wunder, das die Erscheinungen von Fatima auslösten.

Die bolschewistische Gefahr

Trotzdem ist und bleibt Fatima eine Kampfansage vor allem gegen den Bolschewismus. Es berührt uns ganz seltsam, wenn man heute z.B. in den früheren Jahrgängen der „Augsburger Postzeitung“ blättert und dort am 5. April 1917 liest: „Eine Meldung aus Zürich besagt, daß der in der Schweiz ansässige Sozialistenführer Linin (!) heftig Kerenski angreift, und daß Rußland am Vorabend einer zweiten Revolution stehe“, oder wenn am 16. April aus Berlin gemeldet wird, daß „fünf Führer der Leninschen Sozialistengruppe mit diesem an der Spitze laut Vossischer Zeitung in Stockholm eingetroffen seien und nach Petersburg weiterreisen“. Fürwahr eine Reise von welt­geschichtlichem Ausmaß. Um die gleiche Zeit, als die Bolschewiki in Rußland immer mehr die Macht an sich reißen, spricht Maria in Fatima am 13. Juli von diesem fernen Rußland, von seinen Irrtümern und Kriegen, die es entfesseln wird, von dem Martyrium vieler Guter und den Leiden des Heiligen Vaters, schließlich auch von der Vernichtung mehrerer Nationen und freilich auch von der Bekehrung Rußlands, wenn man ihre Wünsche erfüllt. Schon allein dieses seltsame Zusammentreffen der Ereignisse, wie überhaupt die Tatsache, daß ungebildete Hirtenkinder hier den Namen eines Landes vernehmen, das ihnen völlig unbekannt ist, spricht für die Wahrheit und den Wundercharakter dieser ganzen Geschehnisse. Aber ist es nicht im höchsten Grade seltsam, daß, wie oben bemerkt, ein nüchterner Historiker ausgerechnet mit dem Jahr 1917 das Zeitalter der Weltideologien beginnen läßt, wobei er nicht im mindesten an Fatima dachte? Und wenn dieser Historiker von „Glaubenskämpfen“ spricht, so gewinnt dieses Wort im Lichte von Fatima erst seine tiefste Be­deutung; denn tatsächlich sind wir mit dem Jahr 1917, mit dem Jahr der bolschewistischen Revolution, in eine Ära der Glaubenskriege eingetreten. War doch auch der Zweite Weltkrieg schon ein solcher Kampf, in dem es nicht bloß um den Führungsanspruch in Europa ging, sondern um den Austrag von Weltanschauungen, so würde ein dritter Weltkrieg – was Gott verhüten wolle – noch mehr den Charakter eines Glaubenskrieges an sich tragen.

Die Botschaft des Friedens

Die Gottesmutter ist indessen zu Fatima nicht erschienen, um zu einem Kreuzzug aufzurufen, sondern gerade um der Menschheit den Frieden zu schenken. Und hier stehen wir wieder vor einer Reihe von seltsamen Ent­sprechungen auf der politischen Weltbühne, die den Wundercharakter Fatimas noch mehr unterstreichen. Bedenken wir doch folgendes: Während die Mutter Gottes vom nahen Kriegsende spricht und zugleich die Bedingungen angibt, unter denen ein dauernder Friede möglich ist, überschneiden sich die ver­schiedensten Friedensaktionen der Kabinette.

Am 29. Januar 1917 hatte Kaiser Karl von Österreich einen Friedensfühler ausgestreckt über die Person des Prinzen Sixtus von Bourbon-Parma; die Verhandlungen, die sich dann zerschlugen, zogen sich bis in den Sommer dieses Jahres hin. Bedeutsam aber war eine Note der päpstlichen Kurie vom 13. (!) Juni, in der die Kurie an die Reichsregierung das Ersuchen stellte, die deutschen Friedenswünsche mitzuteilen. Auf Grund der dadurch aus­gelösten Verhandlungen erließ dann Papst Benedikt XV. seine Friedensnote vom 1. August, in der er alle Völker und Regierungen zur Herbeiführung eines gerechten und dauerhaften Friedens aufforderte. Über das geschäftige Hin und Her, das daraufhin in allen Hauptstädten einsetzte, und über das unehr­liche Spiel, das da gespielt wurde, kann man sich überall in den einschlägigen historischen Werken orientieren. Als England, das bis zuletzt auf eine günstige Antwort der deutschen Reichsregierung betreffs seiner Kriegsziele gewartet hatte, seine Akten über dieser tragischen Episode schloß, geschah dies am 13. Oktober (!) 1917. Es war dies der Tag der letzten Erscheinung Mariens in Fatima. Wieder einmal hatte sich das Wort bewahrheitet: „Wenn du doch gerade an diesem deinem Tage erkannt hättest, was dir zum Frieden dient. Nun aber ist es vor deinen Augen verborgen“ (Lk 19, 42). Am 5. Mai 1917 hatte der Stellvertreter Jesu Christi auf jene hingewiesen, von deren Ver­mittlung er den Frieden erwartete, auf die Gottesmutter, und hatte verfügt, daß von nun an die Anrufung „Königin des Friedens – bitte für uns“ für immer in der Lauretanischen Litanei eingefügt bleibe.

Papst Pius XII. und Fatima

Im höchsten Grade auffallend ist es jedoch, daß derjenige, der diesen Friedens­schritt des Papstes verwirklichen sollte, am 13. Mai 1917, also am ersten Erscheinungstage Mariens, in der Sixtinischen Kapelle in Rom zum Bischof geweiht wurde. Es war der damals schon zum Nuntius in München bestimmte Msgr. Pacelli, unser heutiger Heiliger Vater. Nur mit tiefer Bewegung liest man in der „Augsburger Postzeitung“ vom 15. Mai 1917 die folgende Meldung, die natürlich nicht im mindesten die Bedeutung dieses Ereignisses und erst recht nicht die dieses Tages erkennen läßt: „Basel, 14. Mai. Die Agenzia Stefani berichtet unter dem 13. Mai aus Rom: Heute morgen erteilte der Papst dem zum Apostolischen Nuntius in Bayern ernannten Monsignore Pacelli die Bischofsweihe.“ So feiern wir heuer nicht bloß die Vierzigjahrfeier der Erscheinungen von Fatima, sondern auch die 40. Wiederkehr der Bischofsweihe unseres Heiligen Vaters, und zwar einer Bischofsweihe, die ganz im Dienste stand einer Friedensmission, die von München aus ihren Ausgang nehmen und dann später dem ganzen Pontifikat des späteren Papstes ihre besondere Note geben sollte.

Die Rettung des Abendlandes

So bedeutet denn der 13. Mai dieses weltgeschichtlich entscheidenden Jahres 1917 einen deutlich vernehmbaren Ruf Gottes. Was an diesem Tag in Fatima geschieht, erfährt am gleichen Tag in Rom gleichsam seine sakramentale Besiegelung in der Bischofsweihe unseres Heiligen Vaters mit dem Ziel einer Befriedung der Welt durch die Bekämpfung und Überwindung der christen­tumsfeindlichen Ideologien in Ost und West. Wie so oft in der Geschichte verschmelzen die Gottesmutter und das Papsttum zu einer Einheit; das liegt unausgesprochen, aber doch zum Greifen nahe in diesen beiden Ereignissen von Fatima und Rom. Daß diese beiden Orte, durch die Zeit geeint, im Abend­land liegen, gibt uns die frohe Hoffnung, daß wir noch nicht den Untergang des Abendlandes zu fürchten brauchen. Und um zum Schluß nochmals die Bedeutung dieses Schicksalsjahres der Geschichte voll und ganz abzurunden: Oswald Spengler, der Philosoph des Unterganges, hatte sein epochemachendes Werk „Der Untergang des Abendlandes“ im Frühjahr 1917 vollendet und mit dem Vorwort vom Dezember 1917 abgeschlossen. Er konnte nicht wissen, daß in den Monaten, in denen er die letzte Hand an sein Werk legte, vom Ufer des Jenseits her jene Macht sich geoffenbart hatte, die nicht bloß das Leben des Einzelmenschen gewährleistet, sondern auch das Leben der Völker, wenn sie nur auf den hören wollen, der allein „der Weg, die Wahrheit und das Leben“ ist. In den Lesungen der Kirche spricht Maria das Wort: „Wer mich findet, findet das Leben und schöpft das Heil vom Herrn.“ Wird das Abend­land ihren Mahnruf beherzigen? Das ist die große, bange Frage gerade heute nach 40 Jahren. Oder gilt von diesen 40 Jahren, was Gott im Psalm 94 täglich durch den Mund der Kirche uns sagen läßt, indem er auf die 40 Jahre der Wüstenwanderung Israels Bezug nimmt: „Vierzig Jahre hatte ich Verdruß mit diesem Geschlecht und sprach: Sie sind ein Volk mit irrem Geist. Sie achten nicht auf meine Wege. So schwur ich denn in meinem Zorn: Sie sollen nie zu meiner Ruhstatt kommen.“ Aber noch ist es nicht zu spät. Noch können wir die große Umkehr vollziehen, zu der uns Maria aufforderte und zu der uns der Völkerhirt am Tiberstrand mit eindringlichen, ja beschwörenden Worten beinahe täglich ermahnt. Mögen heute, 40 Jahre nach Fatima und seiner Bischofsweihe, vom Papst Unserer Lieben Frau von Fatima jene Worte gelten, die er selber am Heiligen Abend 1945 dem großen Kirchenlehrer Augustinus gewidmet hat: „Da er den anhebenden Untergang einer Welt sah, die er so liebte, stärkte ihn jenes Licht, und in seinem Aufdämmern begrüßte er wie in einer seherischen Schau das junge Morgenrot eines schöneren Tages.“

40 JAHRE
„KÖNIGIN DES FRIEDENS,
BITTE FÜR UNS !“

Das entscheidungsreiche Jahr 1917, das weltpolitisch den Ausbruch des Bolschewismus brachte und innerkirchlich durch die Erscheinungen Mariens zu Fatima gekennzeichnet ist, weist noch ein anderes marianisches Ereignis auf. Am 5. Mai 1917 verfügte Papst Benedikt XV. in einem Schreiben an den Kardinalstaatssekretär Pietro Gasparri, daß von nun in die Lauretanische Litanei die Anrufung eingefügt werde: „Königin des Friedens, bitte für uns“. Seitdem sind vierzig Jahre vergangen, und wenn auch nach außen hin die Waffen schweigen, so wissen wir doch alle, wie sehr der Frieden bedroht ist. Es ist darum angebracht, daß wir dieses geschichtliche Datum von damals zum Gegenstand einer eingehenden Betrachtung machen.

Wenn man das Kalendarium der Marienfeste in aller Welt durchblättert, findet man viele Feste zu Ehren „Maria vom Frieden“. Aber auch der Titel „Königin des Friedens“ ist schon älteren Ursprungs. P. Franziskus Maria Stratmann O.P. erwähnt in seinem Buch „Regina Pacis“ (Berlin 1927), daß zwar in einer alt-irischen Marienlitanei Maria als „Vorbotin des Friedens“ gefeiert wird, er zitiert auch ein Gebet aus dem Dreißigjährigen Krieg, in dem Maria „als erlauchteste Königin des Friedens“ gegrüßt wird, er gibt aber zu, daß es ihm bis jetzt nicht gelungen ist, den Ursprung des Titels „Friedens­königin“ klarzustellen. Weiterhin spricht er von einem Fest „Regina Pacis“ vom 9. Juli, das „mancherorts gefeiert wird oder gefeiert worden ist“. Dieses Fest bestand nun tatsächlich und wurde am 7. September 1658 für die vom hl. Johannes Eudes gegründete Kongregation der heiligsten Herzen Jesu und Maria approbiert. Über andere Feste zu Ehren der Königin des Friedens orientiert das von F. G. Holweck herausgegebene Kalendarium Liturgicum Festorum Dei et Dei Matris Mariae (Philadelphia 1925).

Wichtiger als diese geschichtlichen Notizen ist für uns die Tatsache, daß schon bald nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges eine Reihe von Bischöfen den Apostolischen Stuhl ersuchte, es möge in der Lauretanischen Litanei nach der Anrufung der Rosenkranzkönigin angefügt werden: „Königin des Friedens, bitte für uns“. Daraufhin gab der Papst am 16. November 1915 den Bischöfen dazu die Erlaubnis, aber nur für die Dauer des damaligen Krieges. Eineinhalb Jahre später machte er aber dann diese Einfügung für immer verpflichtend.

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Quelle: Bischof Dr. Rudolf Graber: Am Vorabend des Konzils (S. 014-018), 1973