
Das Kreuz tragen, was bedeutet das? Wir tragen es symbolisch während des Kreuzweges und bei vielen liturgischen Feiern. Es gibt viele Personen, die Christus — wie auf dem Schauplatz des Evangeliums — nachfolgen; die von ihm einige Worte hören, einige seiner wunderbaren Werke bestaunen, die in Augenblicken des Wohlbehagens und einer guten Eingebung mit ihm sympathisieren und zum Herrn sagen: »Sequar te quocumque ieris — Ich werde dir folgen, wo immer du hingehst.« Von gleicher Art waren die Versprechungen der Apostel wenige Stunden vorher: »Etiam si oportuerit me mori tecum, non te negabo — Wenn es nötig sein wird, mit dir zu sterben, werde ich dich nicht verleugnen.« Aber dann: »relicto eum fugerunt — verlassen sie ihn, fliehen sie alle.«
Die Apostel, die treuesten, die belehrtesten Gläubigen, sie, die Treue geschworen hatten, waren, als es sich darum handelte, Jesus zum Prozeß zu folgen, als es darum ging, ihm auf diesem schmachvollen Kreuzweg zu folgen, allesamt abwesend. Dem Herrn bis zum Kreuze zu folgen ist ein Privileg, ist ein besonderer Akt, der sich einzig und allein mit demjenigen verbindet, der auf dem Kalvarienberg ankam, »quem diligebat Jesus — den Jesus liebte«, Johannes. Er war vielleicht der jüngste unter den Aposteln. Johannes langte an: Er stieg bis auf den Kalvarienberg empor. Er schämte, er fürchtete sich nicht, er stand unter dem Kreuz, stand neben Ihm, um das Weinen der Betrübten und der heiligsten Maria zu teilen und die Schande mitverantwortlich zu erleiden, die Qual der ebenso grausamen wie schandbaren Szene mitzuempfinden: die Kreuzigung.
Und da eröffnet sich ein viel tieferer, intimerer, ein viel realerer Sinn der Kreuztragung: Sie ist in Wirklichkeit ein Bekenntnis des Glaubens, so als wollten wir sagen, ja wir glauben, daß sich aus diesem Drama nicht nur eine Szene des Schmerzes und der Unehre entwickelt, sondern daß sich hier etwas Tieferes vollendet hat. Es scheint, daß gerade dort, wo die Balken des Kreuzes einander berühren, sie uns zu Wegweisern werden, zu den großen Grundlinien aller menschlichen Schicksale. Da ist das Gesetz der Gerechtigkeit, das sich aus den Tiefen Gottes auf dieses Opfer stürzt, und da ist die Verurteilung; die aus den Abgründen des Bösen heraus einen Tod fordert; und diese beiden Gesetze kreuzen sich, und anstatt einander aufzuheben, werfen sie sich miteinander auf Christus und machen ihn zum Opferlamm, das geschlachtet wird für die Sünden der Welt. Und das Lamm, der gekreuzigte Christus, hat seine Hände geöffnet, weil sich nicht nur die Gerechtigkeit und die Sünde auf dem Kreuz treffen, sondern dort auch die Liebe anwesend ist. »Propter nos et propter nostram salutem descendit de coelis — für uns Menschen und um unseres Heiles willen ist er vom Himmel herabgestiegen.« Es ist das Sich-Auftun des Himmels, der die Welt mit Blitzen der Liebe durchzuckt, sie liebend umfängt und zu ihr kommt.
Das Kreuz ist die Ankunftsstation der unbegrenzten Liebe Gottes zu den Menschen. Für uns ist er gestorben — »dilexit me et tradidit semetipsum pro me — er liebte mich und gab sich selbst für mich hin« —, und es geht vom Kreuz für alle Menschen eine Welle der Güte aus, die zu allen Seelen geht, um sie zu erretten; mit anderen Worten, im Kreuz hat sich das Mysterium der Erlösung vollendet
Die Erlösung umschließt das Geheimnis der großen menschliche Schicksale; ohne das Kreuz ist das Menschengeschlecht verloren, mit dem Kreuz kann es gerettet werden. »Salve, spes unica — Sei gegrüßt, einzige Hoffnung«, ich grüße dich, o Kreuz, von dem das Heil der Welt abhängt. »Salus mundi pependit — Von dir hängt das Heil der Welt ab!« Und wir sagen es beinahe verwirrt durch die Größe des Geheimnisses, das zu ermessen uns nicht gelingt; in gewaltiger Tiefe und Höhe dehnt es sich durch die Schicksale der Seelen, durch die Zielsetzungen der Geschichte hin und durchzieht die Gedanken Gottes.
Alle sind wir daran beteiligt, alle sind wir davon betroffen, alle werden wir von Christus aus der Höhe des Kreuzes herab beobachtet. Er beobachtet uns, er ruft uns, er liebt uns; wir glauben, daß unsere Schicksale im Kreuz Christi zusammenlaufen.
Und noch etwas: Wie hat sich das Epos, das Drama der Erlösung vollzogen? Es hat sich erfüllt im Opfer, in der Duldung des Schmerzes, in der Herausforderung des Schmerzes, der Demütigung und des Todes. Es hat sich um der Werte, Ziele und Ideale willen vollzogen, die höher stehen als das Leben selbst: Das Opfer ist eine Art Bilanz, eine Art Bewertung, es ist Auswählen: Was ist mehr wert? Ist mein Leben, das menschliche Leben, mehr wert, oder ist das Heil der anderen mehr wert, die Gerechtigkeit, das Ausströmen der Barmherzigkeit, der Beweis der Liebe? Die wahre Liebe bestätigt sich im Opfer, in der Treue, die in den Schmerz mündet, in das Geschenk seiner selbst; man begegnet diesem in einem äußersten, einem paradoxen Maß, das der Herr für sich bestimmte, indem er für die anderen, für das Heil anderer, starb.
Und dann müssen auch wir das Gesetz des »Sterbens, um zu leben«, das Gesetz des Opfers auf uns nehmen, müssen es neuerlich überdenken. Aber wir vergessen das Opfer immer wieder: Wir möchten es wohl gerne beständig vor Augen haben, aber es entweicht uns; wir trachten, anderen Gutes zu tun, lassen es aber auf halbem Wege sein und tun das Gute für uns selbst; der Egoismus verfolgt uns und läßt uns fast immer aus den idealen, guten, heiligen und ehrlichen Absichten, die unsere Schritte zu Anfang beflügelt haben, in die verschiedensten eigensüchtigen Zielsetzungen hineingeraten.
Das Kreuz muß mit seinem Gesetz des Opfers unsere egoistische, hedonistische, interessierte und zeitliche Konzeption umkehren, und die Gestaltung unseres moralischen Lebens möge gerade von diesem Prinzip des Glaubens ausgehen.
Es ist gesagt worden, daß man eine Askese braucht, die von der Mystik ausgeht. Wir sagen einfacher: Unser Leben muß, um christlich zu sein, auf der Bereitschaft zum Opfer, auf der Heiligung des Schmerzes, auf dem Bekenntnis zum Schmerz, auf der Fähigkeit begründet sein, anderen das zu geben, was sie vielleicht nicht verdienen, wessen sie aber bedürfen.
Es ist nötig, daß das Opfer zum Grundgesetz meiner inneren Haltung werde, meines Lebensprogramms; wir müssen, wie am Tag der Taufe, für immer vom Zeichen des Kreuzes gezeichnet sein.
Zuletzt, wenn man das Kreuz durch die Straßen der profanen Stadt trägt, rastend den Lauf der zeitlichen Dinge unterbricht und auf den großen Wegen der Stadt den vielen irdischen Angelegenheiten begegnet, setzt man fast einen Gewaltakt, gibt man eine Erklärung ab; man sagt gleichsam zum Leben: Bleib einen Augenblick stehen, das Kreuz geht vorüber. Es ist eine öffentliche Proklamation, ein Bekenntnis ohne menschliche Rücksicht, ohne Maß, fast ungehörig, nur um zu sagen: »Non erubesco evangelium — Ich schäme mich des Evangeliums nicht«, und ich verkünde gegenüber meiner Gesellschaft, meinen Mitbürgern, meinen Nächsten und im Angesicht der Affären dieser Welt: Das Evangelium hat das Recht, sich auch unter diesem Aspekt des menschlichen Lebens zu behaupten, hat ein Recht, so bejaht zu werden, gleichsam um seine Prinzipien durch die Adern seiner Blutzirkulation und seines lebendigen Daseins kreisen zu lassen.
Wir werden immer so handeln; wir werden trachten, uns des Glaubens, den wir empfangen haben, und des Kreuzes, das wir bekennen, nie zu schämen. »Non erubesco evangelium — Ich schäme mich des Evangeliums nicht.«
Wenn wir unser Leben an dieses heilige, trockene und nackte Holz binden, binden wir es nicht an einen toten Baum. Wir binden es an den Baum des Lebens, an den Baum, der über sich das Prinzip des Lebens trägt, Jesus Christus.
Auf einem der schrecklichsten, umkämpftesten Schlachtfelder des Krieges, wo zwanzigtausend junge Alpini gefallen sind — auf der Ortigara —, hat eines Tages jemand auf einen großen Felsstein ein Kreuz hingesetzt; er fügte zwei astfreie, dürre Pinienstämme zusammen; sie waren von den Bomben zerstückelt, die den unglücklichen Boden gequält hatten. Die Worte, die darauf angebracht wurden, stammen aus der Hymne des Venantius Fortunatus: »Nulla silva talem profert frondem florem germine — Kein Wald hat je so schöne Frucht und Blüte getragen wie dieser.«
Auch wir können es voll Vertrauen sagen: Aus menschlichen Quellen quillt kein höheres Leben hervor als aus jenem dürren Holz des Kreuzes, weil aus ihm der Glaube hervorgeht, die Aussöhnung mit Gott, die moralische Energie, die Verzeihung unserer Sünden und unsere und Christi Auferstehung.
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Quelle: Papst Paul VI. – Christus und der Mensch von heute – Ansprachen und Aufsätze, Wilhelm Goldmann Verlag, München