Globalisierung soll uns wachsen lassen und zum Frieden führen

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Begegnung zur Religionsfreiheit

mit der hispanischen Gemeinde und anderen Immigranten
in der Independence Hall, Philadelphia

Ansprache von Papst Franziskus am 26. September 2015

Liebe Freunde, guten Abend!

Einer der Höhepunkte meines Besuches ist es, hier vor der »Independence Hall«, dem Geburtsort der Vereinigten Staaten von Amerika, zu stehen. Hier wurden die Freiheiten, die dieses Land charakterisieren, erstmalig ausgerufen. Die Unabhängigkeitserklärung proklamierte, dass »alle Menschen gleich erschaffen« worden sind, dass sie »von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt« wurden und dass die Regierungen existieren, um diese Rechte zu schützen und zu verteidigen. Diese Worte klingen immer noch nach und ermutigen uns heute ebenso wie sie Menschen aus aller Welt ermutigt haben, für die Freiheit zu kämpfen, ein Leben zu führen, das ihrer Würde entspricht.

Die Geschichte zeigt auch, dass diese und andere Wahrheiten ständig neu bekräftigt, neu angeeignet und verteidigt werden müssen. Die Geschichte dieser Nation ist auch die Geschichte eines bis in unsere Tage reichenden ständigen Bemühens, diese erhabenen Prinzipien im gesellschaftlichen und politischen Leben zu verkörpern. Denken wir an die großen Kämpfe, die zur Abschaffung der Sklaverei, zur Ausweitung des Wahlrechts, zum Wachstum der Arbeiterbewegung und zum schrittweisen Bemühen geführt haben, jede Art von Rassismus und Vorurteil gegenüber späteren Einwanderungswellen zu beseitigen. Dies zeigt, dass ein Land erstarkt und sich erneuert, wenn es entschlossen ist, seinen Prinzipien, diesen auf der Achtung der Menschenwürde beruhenden Gründungsprinzipien, treu zu bleiben. Wenn ein Land die Erinnerung an seine Wurzeln bewahrt, wächst es weiter, erneuert es sich und fährt fort, neue Völker und neue Menschen, die zu ihm kommen, in seinen Schoß aufzunehmen.

Es hilft uns sehr, wenn wir uns auf unsere Vergangenheit besinnen. Ein Volk, das die Erinnerung wachhält, wiederholt nicht die Fehler der Vergangenheit, sondern stellt sich voll Zuversicht den Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft. Die Erinnerung bewahrt die Seele eines Volkes vor allem oder allen, die es beherrschen oder für ihre eigenen Interessen gebrauchen wollen. Wenn den Einzelnen und den Gemeinschaften die tatsächliche Ausübung ihrer Rechte garantiert wird, sind sie nicht nur frei, ihre eigenen Fähigkeiten zu entfalten, sondern tragen mit diesen Fähigkeiten, mit ihrer Arbeit auch zum Wohl und zur Bereicherung der gesamten Gesellschaft bei.

An diesem für den »American Way« so symbolträchtigen Ort möchte ich mit Ihnen über das Recht auf Religionsfreiheit nachdenken. Es ist ein grundlegendes Recht, das die Art unseres gesellschaftlichen und persönlichen Umgangs mit unseren Mitmenschen prägt, deren religiöse Ansichten sich von unseren eigenen unterscheiden. Das Ideal des interreligiösen Dialogs, wo alle Männer und Frauen unterschiedlicher religiöser Traditionen miteinander sprechen können, ohne zu streiten – das ist ein Ergebnis der Religionsfreiheit.

Religionsfreiheit schließt zweifellos das Recht ein, Gott persönlich und in Gemeinschaft zu verehren, wie es dem eigenen Gewissen entspricht. Andererseits liegt es aber im Wesen der Religionsfreiheit, dass sie die Kultorte und den Privatbereich der Einzelnen und der Familien überschreitet, denn die religiöse Praxis, die religiöse Dimension ist nicht etwa eine Subkultur, sie ist ein Teil der Kultur jedes beliebigen Volkes und jeder beliebigen Nation.

Unsere verschiedenen religiösen Traditionen dienen der Gesellschaft vor allem durch die Botschaft, die sie verkünden. Sie rufen die Einzelnen und die Gemeinschaften dazu auf, Gott, die Quelle des Lebens, der Freiheit und des Glücks zu verehren. Sie erinnern uns an die transzendente Dimension des Menschseins und an unsere uneingeschränkte Freiheit gegenüber dem Anspruch jeglicher absoluten Macht. Wir brauchen nur auf die Geschichte zu schauen – es tut uns gut, uns die Geschichte vor Augen zu halten –, besonders auf die des letzten Jahrhunderts, um die Grausamkeiten zu sehen, die von Systemen verübt wurden, die behaupteten, irgendein »irdisches Paradies« zu errichten, indem sie Völker beherrschten, sie scheinbar unanfechtbaren Prinzipien unterwarfen und ihnen jede Art von Recht aberkannten. Unsere reichen religiösen Traditionen versuchen Sinn und Führung anzubieten. Sie »besitzen eine motivierende Kraft, die immer neue Horizonte öffnet, das Denken anregt, den Geist weitet und das Feingefühl erhöht« (Evangelii gaudium, 256). Sie rufen zu Umkehr und Versöhnung, zur Sorge für die Zukunft der Gesellschaft, zu Uneigennützigkeit im Dienst am Gemeinwohl und zu Mitleid mit den Bedürftigen auf. Im Zentrum ihrer geistlichen Sendung steht die Verkündigung der Wahrheit und der Würde der menschlichen Person sowie aller Menschenrechte.

Unsere religiösen Traditionen erinnern uns daran, dass wir als Menschen aufgerufen sind, den Anderen anzuerkennen, der unsere relationale Identität offenbart, gegenüber allen Bestrebungen, eine »Uniformität« durchzusetzen, »die der Egoismus des Starken, der Konformismus des Schwachen oder die Ideologie des Utopisten uns aufzwingen möchten« (vgl. Michel de Certeau, L’Étranger ou l’union dans la différence, Paris 1991, S. 27-30).

In einer Welt, in der verschiedene Formen moderner Tyrannei versuchen, die Religionsfreiheit zu unterdrücken oder – wie ich vorhin sagte – sie auf eine Subkultur ohne Mitsprache- und Stimmrecht in der Öffentlichkeit herabzusetzen oder die Religion als Vorwand für Hass und Brutalität zu gebrauchen, ist es notwendig, dass die Anhänger der verschiedenen religiösen Traditionen ihre Stimmen vereinen, um Frieden, Toleranz sowie die Achtung der Würde und der Rechte der anderen zu fordern.

Wir leben in einer Zeit, die der »Globalisierung des technokratischen Paradigmas« (Enzyklika Laudato si’, 106) unterworfen ist, die bewusst auf eine eindimensionale Uniformität abzielt und versucht, alle Unterschiede und Traditionen in einem oberflächlichen Streben nach Einheit zu beseitigen. Die Religionen haben somit das Recht und die Pflicht, deutlich zu zeigen, dass es möglich ist, eine Gesellschaft zu errichten, in der »ein gesunder Pluralismus, der die anderen und die Werte als solche wirklich respektiert« (Evangelii gaudium, 255), ein wertvoller Verbündeter ist »im Einsatz zur Verteidigung der Menschenwürde … ein Weg des Friedens für unsere verwundete Welt« (ebd., 257), unsere durch die Kriege so verwundete Welt.

Die Quäker, die Philadelphia gegründet haben, waren von einem tiefen, auf dem Evangelium beruhenden Empfinden für die Würde jedes Einzelnen und vom Ideal einer in geschwisterlicher Liebe geeinten Gemeinschaft beseelt. Diese Überzeugung veranlasste sie, eine Kolonie zu gründen, die ein Zufluchtsort der Religionsfreiheit und der Toleranz sein sollte. Der Geist mitbrüderlicher Sorge um die Würde aller, besonders der Schwachen und Verwundbaren, wurde ein wesentlicher Bestandteil des »American Spirit«. Während seines Besuchs in den Vereinigten Staaten im Jahr 1987 brachte der heilige Johannes Paul II. mit bewegenden Worten seine diesbezügliche Hochachtung zum Ausdruck, als er Amerika ins Gedächtnis rief: »Der entscheidende Test deiner Größe ist die Art, wie du jedes menschliche Wesen behandelst, zumal die Schwächsten und Schutzlosesten« (Abschiedszeremonie, Detroit, 19. September 1987).

Ich nutze diese Gelegenheit, um allen – unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit – zu danken, die sich bemüht haben, Gott, dem Gott des Friedens zu dienen, und Städte brüderlicher Liebe errichteten, indem sie für den notleidenden Nächsten sorgten, die Würde des göttlichen Geschenks des Lebens in allen seinen Phasen verteidigten und für die Anliegen der Armen und der Einwanderer eintraten. Allzu oft können sich jene, die am meisten der Hilfe bedürfen, nirgendwo Gehör verschaffen. Sie sind ihre Stimme, und viele von Ihnen – religiöse Männer und Frauen – haben erreicht, dass deren Schrei gehört wurde. Mit diesem Zeugnis, das häufig auf starken Widerstand stößt, erinnern Sie die nord­amerikanische Demokratie an die Ideale, auf die sie gegründet wurde, und daran, dass die Gesellschaft jedes Mal geschwächt wird, wenn dort und wo auch immer Ungerechtigkeit die Oberhand gewinnt.

Ich sprach eben über die Tendenz zu einer Globalisierung. Die Globalisierung ist nichts Schlechtes. Im Gegenteil, der Trend, uns zu globalisieren, ist gut, er führt uns zusammen. Was schlecht sein kann, ist die Weise, dies zu tun. Wenn eine Globalisierung anstrebt, alle gleichzumachen, als entspräche sie dem Bild einer Kugel, dann zerstört diese Globalisierung den Reichtum und die Besonderheit jedes Einzelnen und jedes Volkes. Wenn eine Globalisierung versucht, alle zusammenzuführen, dabei aber jeden einzelnen Menschen, seine Persönlichkeit, seinen Reichtum, seine Besonderheit respektiert und jedes Volk, jeden Reichtum, seine Besonderheit respektiert, dann ist diese Globalisierung gut, lässt uns alle wachsen und führt zum Frieden. Es gefällt mir, hier ein wenig auf die Geometrie zurückzugreifen. Wenn die Globalisierung wie eine Kugel ist, wo ein Punkt wie der andere ist und alle gleich weit vom Zentrum entfernt sind, dann unterjocht sie, dann ist sie nicht gut. Wenn die Globalisierung wie ein Polyeder ist, wo alle vereint sind, jeder aber die eigene Identität bewahrt, dann ist sie gut; sie lässt ein Volk wachsen, verleiht allen Menschen Würde und gesteht ihnen ihre Rechte zu.

Unter uns sind heute Mitglieder der großen spanisch sprechenden Bevölkerung der USA wie auch Vertreter der erst kürzlich in den Vereinigten Staaten eingetroffenen Einwanderer. Danke, dass sie offene Türen fanden! Viele von Ihnen – ich grüße sie sehr herzlich – viele von Ihnen sind unter großen persönlichen Opfern in dieses Land eingewandert, aber mit der Hoffnung, ein neues Leben aufzubauen. Lassen Sie sich durch die Schwierigkeiten, die Sie bewältigen müssen, nicht entmutigen! Ich bitte Sie, nicht zu vergessen, dass Sie wie jene, die vor Ihnen hierher kamen, dieser Nation viele Gaben mitbringen. Bitte schämen Sie sich nie Ihrer Traditionen. Vergessen Sie nicht, was Sie von Ihren Vorfahren gelernt haben; es kann das Leben dieses amerikanischen Landes bereichern! Ich wiederhole es: Schämen Sie sich nicht dessen, was wesentlich zu Ihnen gehört. Auch Sie sind aufgerufen, verantwortungsvolle Bürger zu sein und – gleich denen, die vor Ihnen kamen und sich kraftvoll einsetzten – einen fruchtbaren Beitrag zum Leben der Gemeinschaften zu leisten, in denen Sie leben. Ich denke besonders an den lebendigen Glauben, den viele von Ihnen besitzen, an den tiefen Sinn für das Familienleben und an die anderen Werte, die Teil Ihres Erbes sind. Wenn Sie Ihre Gaben mit einbringen, werden Sie nicht nur Ihren Platz hier finden, sondern Sie werden helfen, die Gesellschaft von innen her zu erneuern. Vergessen Sie nicht, was hier vor über zweihundert Jahren geschah! Verlieren Sie jene Erklärung nicht aus dem Gedächtnis, die proklamierte, dass alle Menschen gleich erschaffen und von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden sind und dass die Regierungen existieren, um diese Rechte zu schützen und zu verteidigen.

Liebe Freunde, ich danke Ihnen für Ihren herzlichen Empfang und für Ihre Gesellschaft heute hier. Bewahren wir die Freiheit. Pflegen wir die Freiheit. Die Gewissensfreiheit, die Religionsfreiheit, die Freiheit jeder Person, jeder Familie, jedes Volkes, die darin besteht, den Rechten Raum zu geben. Möge dieses Land und jede bzw. jeder von Ihnen fortwährend Dank sagen für den reichen Segen und die vielen Freiheiten, die Sie genießen. Und verteidigen Sie diese Rechte, besonders die Religionsfreiheit, die Gott Ihnen gegeben hat. Er segne Sie alle. Und ich bitte Sie herzlich, ein wenig für mich zu beten. Danke.

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Quelle: Osservatore Romano 41/2015

Jede Schädigung der Umwelt ist eine Schädigung der Menschheit

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Besuch bei den Vereinten Nationen im Hauptsitz der UNO, New York

Ansprache von Papst Franziskus am 25. September 2015

Herr Präsident,

meine Damen und Herren, guten Tag.

Einer Tradition folgend, durch die ich mich geehrt fühle, hat der Generalsekretär der Vereinten Nationen wieder einmal den Papst eingeladen, vor dieser ehrenwerten Versammlung der Nationen zu sprechen. Ganz persönlich wie auch im Namen der gesamten katholischen Gemeinschaft möchte ich Ihnen, Herr Ban Ki-moon, meinen aufrichtigsten und herzlichsten Dank zum Ausdruck bringen. Ich danke auch für Ihre freundlichen Worte. Zudem grüße ich die hier anwesenden Staats- und Regierungschefs, die Botschafter, die Diplomaten, die Beamten und die Fachleute, die sie begleiten, das Personal der Vereinten Nationen, das in dieser siebzigsten Sitzung der Vollversammlung beschäftigt ist, das Personal aller Programme und Einrichtungen der UNO für die Familie sowie alle, die in der einen oder anderen Weise an dieser Versammlung teilnehmen. Durch Sie grüße ich auch die Bürger aller bei dieser Begegnung vertretenen Nationen. Danke für die Bemühungen aller und jedes bzw. jeder Einzelnen für das Wohl der Menschheit.

Dies ist das fünfte Mal, dass ein Papst die Vereinten Nationen besucht. Es kamen meine Vorgänger Paul VI. im Jahr 1965, Johannes Paul II. 1979 und 1995 und mein letzter Vorgänger, der jetzt emeritierte Papst Benedikt XVI., im Jahr 2008. Sie alle sparten nicht mit Ausdrücken der Anerkennung für diese Organisation, die sie als die angemessene juristische und politische Antwort auf den historischen Moment betrachteten, der gekennzeichnet ist durch die technologische Überwindung der Entfernungen und Grenzen und – wie es scheint – jeglicher natürlicher Begrenzungen der Machtbehauptung. Eine unentbehrliche Antwort, da die technologische Macht in den Händen nationalistischer oder pseudo-universalistischer Ideologien imstande ist, schreckliche Gräueltaten hervorzubringen. So kann ich mich nur der Hochschätzung meiner Vorgänger anschließen und erneut die Bedeutung bestätigen, welche die katholische Kirche dieser Institution beimisst, sowie die Hoffnungen bekräftigen, die sie auf ihre Aktivitäten setzt.

Die Geschichte der von den Staaten organisierten und durch die Vereinten Nationen vertretenen Gemeinschaft, die in diesen Tagen ihr siebzigjähriges Bestehen feiert, ist eine Geschichte bedeutender gemeinsamer Erfolge in einer Zeit ungewöhnlicher Beschleunigung der Ereignisse. Ohne eine erschöpfende Darstellung zu beanspruchen, kann man die Kodifizierung und Entwicklung des internationalen Rechtes, die Aufstellung des internationalen Menschenrechtskatalogs, die Vervollkommnung des humanitären Rechts, die Lösung vieler Konflikte sowie Einsätze für Frieden und Versöhnung und viele andere Leistungen auf allen Gebieten internationaler Planung menschlichen Handelns erwähnen.

Alle diese Ergebnisse sind Lichter, die sich gegen das Dunkel der Unordnung abheben, die durch die Formen unkontrollierten Ehrgeizes und durch kollektiven Egoismus verursacht wird. Es stimmt, dass es noch viele ernste Probleme gibt, die nicht gelöst sind, doch es ist auch klar, dass die Menschheit, wenn all diese internationale Aktivität ausgeblieben wäre, den unkontrollierten Gebrauch der eigenen Möglichkeiten eventuell nicht überlebt hätte. Jeder dieser politischen, juristischen und technischen Fortschritte ist Teil eines Weges der Konkretisierung des Ideals der menschlichen Brüderlichkeit und ein Mittel zu seiner besseren Verwirklichung.

Daher möchte ich allen Männern und Frauen, die in diesen siebzig Jahren der ganzen Menschheit treu und opferbereit gedient haben, meine Achtung zollen. Besonders möchte ich heute die erwähnen, die für den Frieden und die Versöhnung der Völker ihr Leben hingegeben haben, von Dag Hammarskjöld bis zu den vielen Funktionären aller Ebenen, die bei den humanitären Missionen für Frieden und Versöhnung umgekommen sind.

Die Erfahrung dieser siebzig Jahre zeigt über alles Erreichte hinaus, dass die Reform und die Anpassung an die Zeiten immer notwendig ist, indem man auf das letzte Ziel zugeht, ausnahmslos allen Ländern eine Beteiligung und einen realen und gerechten Einfluss auf die Entscheidungen zu gewähren. Diese Notwendigkeit einer größeren Gerechtigkeit gilt besonders für die Exekutiv­organe wie im Fall des Sicherheitsrates, der

Finanzbehörden und der Gruppen und Mechanismen, die speziell für die Bewältigung der Wirtschaftskrisen geschaffen wurden. Das wird hilfreich sein, um alle Art von Missbrauch oder Zinswucher besonders gegenüber den Entwicklungsländern zu begrenzen. Die internationalen Finanzbehörden müssen über die nachhaltige Entwicklung der Länder wachen und diese vor einer erstickenden Unterwerfung durch Kredit­systeme schützen, die – weit davon entfernt, den Fortschritt zu fördern – die Bevölkerung unter das Joch von Mechanismen zwingen, die zu noch größerer Armut, Ausschließung und Abhängigkeit führen.

Das Werk der Vereinten Nationen kann – angefangen von den Postulaten der Präambel und der ersten Artikel ihrer Charta – als die Entwicklung und Förderung der Souveränität des Rechtes angesehen werden, da die Gerechtigkeit bekanntlich eine unerlässliche Voraussetzung ist, um das Ideal der universalen Brüderlichkeit zu erreichen. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass die Idee von der Begrenzung der Macht implizit in der Rechtsauffassung enthalten ist. Jedem das Seine zu geben – gemäß der klassischen Definition von Gerechtigkeit – bedeutet, dass weder eine Einzelperson noch eine Menschengruppe sich als allmächtig betrachten darf, dazu berechtigt, über die Würde und die Rechte der anderen Einzelpersonen oder ihrer gesellschaftlichen Gruppierungen hinwegzugehen. Die faktische Verteilung der Macht (auf dem Gebiet von Politik, Wirtschaft, Verteidigung, Technologie u.?a.?m.) unter vielen verschiedenen Personen und die Schaffung eines rechtlichen Systems zur Regelung der Ansprüche und Interessen konkretisiert die Begrenzung der Macht. Ein weltweiter Überblick zeigt uns jedoch heute viele Scheinrechte und zugleich große schutzlose Bereiche, die vielmehr Opfer einer schlechten Ausübung der Macht sind: die natürliche Umwelt und die weite Welt der ausgeschlossenen Frauen und Männer. Zwei eng miteinander verbundene Bereiche, die durch die vorherrschenden politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu schwachen, anfälligen Teilen der Wirklichkeit gemacht worden sind. Darum müssen ihre Rechte mit Nachdruck behauptet werden, indem man den Umweltschutz verstärkt und der Ausschließung ein Ende bereitet.

Vor allem ist zu bekräftigen, dass es ein wirkliches »Recht der Umwelt« gibt, und zwar aus zweifachem Grund. Erstens, weil wir Menschen Teil der Umwelt sind. Wir leben in Gemeinschaft mit ihr, denn die Umwelt selbst schließt ethische Grenzen mit ein, die das menschliche Handeln anerkennen und respektieren muss. Wenn auch der Mensch »völlig neue Fähigkeiten« besitzt, welche »eine Besonderheit [zeigen], die den physischen und biologischen Bereich überschreitet« (Enzyklika Laudato si’, 81), ist er doch zugleich ein Teil dieser Umwelt. Er hat einen Körper, der aus physischen, chemischen und biologischen Elementen gebildet ist, und kann nur überleben und sich entwickeln, wenn die ökologische Umgebung dafür günstig ist. Daher ist jede Schädigung der Umwelt eine Schädigung der Menschheit.

Der zweite Grund besteht darin, dass jedes Geschöpf – besonders die Lebewesen – einen Eigenwert hat, einen Wert des Daseins, des Lebens, der Schönheit und der gegenseitigen Abhängigkeit mit den anderen Geschöpfen. Gemeinsam mit den anderen monotheistischen Religionen glauben wir Christen, dass das Universum aus einer Entscheidung der Liebe des Schöpfers hervorgegangen ist (vgl. ebd., 81), der dem Menschen erlaubt, sich respektvoll der Schöpfung zu bedienen zum Wohl seiner Mitmenschen und zur Ehre des Schöpfers. Er darf sie aber nicht miss­brauchen und noch viel weniger ist er berechtigt, sie zu zerstören. Für alle religiösen Überzeugungen ist die Umwelt ein grundlegendes Gut.

Der Missbrauch und die Zerstörung der Umwelt gehen zugleich mit einem unaufhaltsamen Prozess der Ausschließung einher. Tatsächlich führt ein egoistisches und grenzenloses Streben nach Macht und materiellem Wohlstand dazu, sowohl die verfügbaren materiellen Ressourcen ungebührlich auszunutzen als auch die auszuschließen, die schwach und weniger tüchtig sind, sei es weil sie in anderen Befindlichkeiten leben (Menschen mit Behinderungen), sei es weil ihnen die geeigneten technischen Kenntnisse und Instrumente fehlen oder weil ihre politische Entscheidungsfähigkeit nicht ausreicht. Die wirtschaftliche und soziale Ausschließung ist eine völlige Verweigerung der menschlichen Brüderlichkeit und ein äußerst schwerer Angriff auf die Menschenrechte und auf die Umwelt. Die Ärmsten sind diejenigen, die am meisten unter diesen Angriffen leiden, und zwar aus dreifachem schwerem Grund: Sie sind von der Gesellschaft »weggeworfen«, sind zugleich gezwungen, von Weggeworfenem zu leben, und müssen zu Unrecht die Folgen des Missbrauchs der Umwelt erleiden. Diese Phänomene bilden die heute so verbreitete und unbewusst gefestigte »Wegwerfkultur«.

Das Dramatische dieser ganzen Situation von Ausschließung und sozialer Ungleichheit mit ihren deutlichen Folgen führt mich gemeinsam mit der gesamten Christenheit und vielen anderen dazu, mir auch meiner eigenen diesbezüglichen schweren Verantwortung bewusst zu werden. Deshalb erhebe ich zusammen mit allen, die in sehnlicher Erwartung nach schnellen und wirksamen Lösungen rufen, meine Stimme. Die Annahme der »2030-Agenda für Nachhaltige Entwicklung« auf dem Gipfeltreffen, das noch heute beginnen wird, ist ein wichtiges Zeichen der Hoffnung. Ich vertraue auch darauf, dass die UN-Klimakonferenz von Paris zu grundlegenden und wirksamen Vereinbarungen gelangt.

Es reichen jedoch nicht die feierlich übernommenen Verpflichtungen, auch wenn sie mit Sicherheit einen notwendigen Schritt auf dem Weg zu den Lösungen darstellen. Die klassische Definition der Gerechtigkeit, auf die ich vorhin anspielte, enthält als wesentliches Element einen beständigen und fortwährenden Willen: Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi. Die Welt verlangt von allen Regierenden einen wirklichen, praktischen, beständigen Willen zu konkreten Schritten und unverzüglichen Maßnahmen, um die natürliche Umwelt zu bewahren und zu verbessern und das Phänomen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ausschließung mit seinen traurigen Folgen wie Menschenhandel, Handel von menschlichen Organen und Geweben, sexuelle Ausbeutung von Knaben und Mädchen, Sklavenarbeit einschließlich Prostitution, Drogen- und Waffenhandel, Terrorismus und internationale organisierte Kriminalität so schnell wie möglich zu überwinden. Diese Situationen und die Anzahl der unschuldigen Leben, die sie fordern, sind von solchem Ausmaß, dass wir jede Versuchung meiden müssen, einem Nominalismus zu verfallen, der sich in Deklarationen erschöpft und einen Beruhigungseffekt auf das Gewissen ausübt. Wir müssen dafür sorgen, dass unsere Institutionen wirklich effektiv sind im Kampf gegen all diese Plagen.

Aufgrund der Vielfalt und der Vielschichtigkeit der Probleme muss man sich zu ihrer Erfassung technischer Mittel bedienen. Das bringt aber eine doppelte Gefahr mit sich: dass man sich auf die bürokratische Übung der Erstellung langer Auflistungen guter Vorsätze – Ziele, Zwecke und statistische Angaben – beschränkt oder dass man glaubt, eine einzige theoretische und aprioristische Lösung werde die Antwort auf alle Herausforderungen geben. Man darf in keinem Moment aus den Augen verlieren, dass die politische und wirtschaftliche Aktion nur wirksam ist, wenn sie als eine angemessene Tätigkeit begriffen wird, die von einem immerwährenden Gerechtigkeitsverständnis geleitet ist und zu keinem Zeitpunkt übersieht, dass es vor allen Plänen und Programmen und jenseits davon konkrete Frauen und Männer gibt – Menschen wie die Regierenden –, die leben, ringen und leiden und die sich oft gezwungen sehen, elend und bar aller Rechte zu leben.

Damit diese konkreten Männer und Frauen der extremen Armut entkommen können, muss man ihnen ermöglichen, ihr eigenes Schicksal in würdiger Weise selbst in die Hand zu nehmen. Die ganzheitliche menschliche Entwicklung und die volle Geltendmachung der Menschenwürde können nicht aufgezwungen werden. Sie müssen für jeden Einzelnen, für jede Familie aufgebaut und entfaltet werden, in Gemeinschaft mit den anderen Menschen und in einer richtigen Beziehung zu all den Kreisen, in denen sich die menschliche Solidarität entwickelt – Freunde, Gemeinschaften, Dörfer und Gemeinden, Schulen, Unternehmen und Gewerkschaften, Provinzen, Nationen usw. Eine unerlässliche Voraussetzung dafür ist das Recht auf Bildung – auch für Mädchen (die in einigen Teilen davon ausgeschlossen sind) –, das an erster Stelle dadurch sichergestellt wird, dass man das vorrangige Erziehungsrecht der Familie und das Recht der Kirchen und der sozialen Gruppierungen, die Familien bei der Ausbildung ihrer Kinder zu unterstützen und mit ihnen zusammenzuarbeiten, respektiert und stärkt. Die so verstandene Volksbildung ist die Grundlage für die Verwirklichung der 2030-Agenda und für die Erholung der Umwelt.

Zugleich müssen die Regierenden alles tun, was möglich ist, damit alle die minimale materielle und geistige Grundlage haben, um menschenwürdig zu leben und eine Familie zu gründen und zu unterhalten; die Familie ist ja die Urzelle jeder sozialen Entwicklung. Dieses absolute Minimum hat auf materiellem Gebiet drei Namen – Wohnung, Arbeit und Land – und auf geistigem Gebiet einen: geistige Freiheit, welche die Religionsfreiheit, das Recht auf Bildung und alle anderen Bürgerrechte umfasst.

Aus allen diesen Gründen werden das Mittel und der einfachste und geeignetste Indikator für die Erfüllung der neuen Entwicklungs-Agenda der effektive, praktische und unverzügliche Zugang aller zu den unentbehrlichen materiellen und geistigen Gütern sein: eigene Wohnung, würdige und ordnungsgemäß vergütete Arbeit, geeignete Ernährung und Trinkwasser; Religionsfreiheit und allgemeiner: geistige Freiheit und Bildungsfreiheit. Diese Säulen der ganzheitlichen menschlichen Entwicklung haben zugleich ein gemeinsames Fundament, nämlich das Recht auf Leben und noch allgemeiner gesagt: das, was wir als das Existenzrecht der menschlichen Natur selbst bezeichnen könnten.

Die ökologische Krise könnte zusammen mit der Zerstörung eines großen Teils der biologischen Vielfalt die Existenz der Spezies Mensch selbst in Gefahr bringen. Die unheilvollen Auswirkungen einer unverantwortlichen Zügellosigkeit der allein von Gewinn- und Machtstreben geleiteten Weltwirtschaft müssen ein Aufruf zu einer ernsten Reflexion über den Menschen sein: »Der Mensch ist nicht nur sich selbst machende Freiheit. Der Mensch macht sich nicht selbst. Er ist Geist und Wille, aber er ist auch Natur« (Benedikt XVI., Ansprache an den Deutschen Bundestag, 22. Sept. 2011; zitiert in Enzyklika Laudato si’, 6). Die Natur wird geschädigt, »wo wir selbst die letzten Instanzen sind […] Der Verbrauch der Schöpfung setzt dort ein, wo wir keine Instanz mehr über uns haben, sondern nur noch uns selber wollen« (Ders., Ansprache an den Klerus der Diözese Bozen-Brixen, 6. August 2008; zitiert ebd.). Darum verlangen der Umweltschutz und der Kampf gegen die Ausschließung die Anerkennung eines Sittengesetzes, das in die menschliche Natur selbst eingeschrieben ist; dieses Gesetz schließt die natürliche Unterscheidung zwischen Mann und Frau ein (vgl. Enzyklika Laudato si’, 155) sowie die uneingeschränkte Achtung vor dem Leben in allen seinen Stadien und Dimensionen (vgl. ebd., 123; 136).

Ohne die Anerkennung einiger unüberwindlicher natürlicher ethischer Grenzen und ohne ein unverzügliches Handeln im Sinne jener Grundpfeiler der ganzheitlichen menschlichen Entwicklung läuft das Ideal, »künftige Generationen vor der Geißel des Krieges zu bewahren« (Charta der Vereinten Nationen, Präambel) und »den sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit zu fördern« (ebd.) Gefahr, sich in eine unerreichbare Illusion zu verwandeln oder – noch schlimmer – in leere Worte, die als Ausrede für jede Art von Übergriff und Korruption dienen oder dazu, eine ideologische Kolonialisierung zu fördern, indem man abnorme Lebensmodelle und -stile durchsetzt, die der Identität der Völker fremd und letztlich unverantwortlich sind.

Der Krieg ist die Negierung aller Rechte und ein dramatischer Angriff auf die Umwelt. Wenn man eine wirkliche ganzheitliche menschliche Entwicklung für alle anstrebt, muss man weiter unermüdlich der Aufgabe nachgehen, den Krieg zwischen den Nationen und den Völkern zu vermeiden.

Zu diesem Zweck muss die unangefochtene Herrschaft des Rechtes sichergestellt werden sowie der unermüdliche Rückgriff auf die Verhandlung, die guten Dienste und auf das Schiedsverfahren, wie es in der Charta der Vereinten Nationen, einer wirklich grundlegenden Rechtsnorm, vorgeschlagen wird. Die Erfahrung aus den siebzig Jahren des Bestehens der Vereinten Nationen ganz allgemein und im Besonderen die Erfahrung aus den ersten fünfzehn Jahren des dritten Jahrtausends zeigen ebenso die Wirksamkeit der vollen Anwendung der internationalen Normen wie auch ihre Wirkungslosigkeit, wenn sie nicht eingehalten werden. Wenn man die Charta der Vereinten Nationen mit Transparenz und Aufrichtigkeit und ohne Nebenabsichten als obligatorischen rechtlichen Bezugspunkt beachtet und anwendet und nicht als ein Mittel, um unlautere Absichten zu tarnen, erreicht man Ergebnisse des Friedens. Wenn man hingegen die Maßgabe mit einem einfachen Mittel verwechselt, das man gebraucht, wenn es sich als günstig erweist, und umgeht, wenn es das nicht ist, öffnet sich eine wahre »Büchse der Pandora« voller unkontrollierbarer Kräfte, die den wehrlosen Bevölkerungsschichten, der kulturellen Umwelt und sogar der biologischen Umwelt schweren Schaden zufügen.

Die Präambel und der erste Artikel der Charta der Vereinten Nationen weisen auf die Grundsteine des internationalen Rechtsgebäudes hin: Friede, friedliche Lösung der Kontroversen und Entwicklung von freundschaftlichen Beziehungen zwischen den Nationen. Zu diesen Aussagen steht die immer gegenwärtige Tendenz zur Verbreitung von Waffen – besonders solcher zur Massenvernichtung wie es die Atomwaffen sein können – in starkem Kontrast und verleugnet sie in der Praxis. Eine Ethik und ein Recht, die auf der Bedrohung gegenseitiger Zerstörung – und möglicherweise einer Zerstörung der gesamten Menschheit – beruhen, sind widersprüchlich und stellen einen Betrug am gesamten Gefüge der Vereinten Nationen dar, die zu einer »Vereinigung von Nationen aufgrund von Furcht und Misstrauen« würden. Man muss sich für eine Welt ohne Atomwaffen einsetzen, indem man den Nichtverbreitungsvertrag dem Buchstaben und dem Geist nach gänzlich zur Anwendung bringt bis zu einem völligen Verbot dieser Instrumente.

Die jüngste Vereinbarung über die Nuklearfrage in einer sensiblen Region Asiens und des Mittleren Ostens ist ein Beweis für die Möglichkeiten des politischen guten Willens und des Rechtes, wenn sie mit Aufrichtigkeit, Geduld und Ausdauer eingesetzt werden. Ich wünsche mir, dass diese Vereinbarung dauerhaft und wirkungsvoll sei und dass sie dank der Zusammenarbeit aller Beteiligten die ersehnten Ergebnisse erziele.

In diesem Sinn fehlt es nicht an herben Beispielen für die negativen Folgen politischer und militärischer Interventionen, die unter den Mitgliedern der Internationalen Gemeinschaft nicht abgestimmt wurden. Deshalb kann ich – auch wenn es mir lieber wäre, es nicht tun zu müssen – nicht aufhören, meine ständigen Aufrufe in Bezug auf die schmerzliche Situation des gesamten Nahen Ostens, Nordafrikas und anderer afrikanischer Länder zu wiederholen, wo die Christen gemeinsam mit anderen kulturellen und ethnischen Gruppen und sogar gemeinsam mit jenem Teil der Mitglieder der Mehrheitsreligion, die sich nicht in Hass und Wahnsinn verwickeln lassen wollen, gezwungenermaßen Zeugen der Zerstörung ihrer Kultstätten, ihres kulturellen und religiösen Erbes, ihrer Häuser und ihrer Habe geworden sind und vor die Wahl gestellt wurden, zu fliehen oder ihr Festhalten am Guten und am Frieden mit dem Leben oder der Sklaverei zu bezahlen.

Diese Realitäten müssen ein ernster Aufruf zu einer Gewissenserforschung derer sein, die für die Lenkung der internationalen Angelegenheiten zuständig sind. Nicht nur in den Fällen religiöser oder kultureller Verfolgung, sondern in jeder Konfliktsituation wie in der Ukraine, in Syrien, im Irak, in Libyen, im Südsudan und im Gebiet der großen afrikanischen Seen haben konkrete Personen den Vorrang vor Parteiinteressen, so legitim sie auch sein mögen. In den Kriegen und Konflikten gibt es den einzelnen Menschen, unseren Bruder und unsere Schwester – Männer und Frauen, Jugendliche und Alte, Knaben und Mädchen, die weinen, leiden und sterben –, Menschen, die zu Material werden, wenn man sich nur damit beschäftigt, Probleme und Strategien anzuführen und sich in Diskussionen zu ergehen – zu Material, das man wegwerfen kann.

In meinem Brief vom 9. August 2014 schrieb ich an den Generalsekretär der Vereinten Nationen, dass »das elementarste Verständnis der Menschenwürde die Internationale Gemeinschaft [verpflichtet], alles zu tun, was möglich ist, um – besonders durch die Maßgaben und die Mechanismen des internationalen Rechtes – weitere systematische Gewalttaten gegen die ethnischen und religiösen Minderheiten aufzuhalten und zu verhüten« und um die unschuldige Bevölkerung zu schützen.

Auf derselben Linie möchte ich eine andere Art von Konfliktsituation erwähnen, die nicht immer so deutlich in Erscheinung tritt, die aber lautlos den Tod von Millionen von Menschen fordert. Eine andere Art von Krieg, den viele unserer Gesellschaften mit dem Phänomen des Drogenhandels erleben. Ein »in Kauf genommener« und ärmlich bekämpfter Krieg. Aufgrund seiner Eigendynamik geht der Drogenhandel einher mit Menschenhandel, Geldwäsche, Waffenhandel, Ausbeutung von Kindern und anderen Formen der Korruption. Einer Korruption, die in die verschiedenen Ebenen des gesellschaftlichen, politischen militärischen, künstlerischen und religiösen Lebens eingedrungen ist und in vielen Fällen eine Parallelstruktur hervorbringt, welche die Glaubwürdigkeit unserer Institutionen in Gefahr bringt.

Ich habe diese Ausführungen begonnen, indem ich an die Besuche meiner Vorgänger erinnerte. Nun möchte ich, dass meine Worte in besonderer Weise wie eine Fortsetzung der Schlussworte der Ansprache Pauls VI. seien – Worte, die vor fast genau fünfzig Jahren ausgesprochen wurden, aber bleibende Gültigkeit besitzen. Ich zitiere: »Die Stunde ist gekommen, in der eine Pause, ein Moment der Sammlung, der Reflexion, gleichsam des Gebetes geboten ist: wieder an unseren gemeinsamen Ursprung zu denken, an unsere Geschichte, an unsere gemeinsame Bestimmung. Nie war der Appell an das sittliche Gewissen des Menschen so notwendig wie heute […] Denn die Gefahr kommt weder vom Fortschritt, noch von der Wissenschaft; diese können, wenn sie in rechter Weise genutzt werden, viele schwere Probleme lösen, die die Menschheit bedrängen« (Ansprache an die Vertreter der Staaten, 4. Oktober 1965). Unter anderem wird die gut angewendete menschliche Genialität zweifellos dazu beitragen, die ernsten Herausforderungen der Umweltzerstörung und der Ausschließung zu lösen. Ich fahre fort mit den Worten Pauls VI.: »Die wahre Gefahr liegt im Menschen, der über immer mächtigere Mittel verfügt, die fähig sind, sowohl in den Ruin als auch zu größten Errungenschaften zu führen« (ebd.). So weit Paul VI.

Das gemeinsame Haus aller Menschen muss sich weiterhin über dem Fundament eines rechten Verständnisses der universalen Brüderlichkeit und der Achtung der Unantastbarkeit jedes menschlichen Lebens erheben – jedes Mannes und jeder Frau; der Armen, der Alten, der Kinder, der Kranken, der Ungeborenen, der Arbeitslosen, der Verlassenen und derer, die man meint »wegwerfen« zu können, weil man sie nur als Nummern der einen oder anderen Statistik betrachtet. Das gemeinsame Haus aller Menschen muss auch auf dem Verständnis einer gewissen Unantastbarkeit der erschaffenen Natur errichtet werden.

Dieses Verständnis und diese Achtung erfordern eine höhere Stufe der Weisheit, welche die Transzendenz – die eigene – akzeptiert, auf die Bildung einer allmächtigen Elite verzichtet und begreift, dass der vollkommene Sinn des einzelnen wie des kollektiven Lebens im selbstlosen Dienst an den anderen und in der klugen und respektvollen Nutzung der Schöpfung für das Gemeinwohl liegt. Um die Worte Pauls VI. zu wiederholen: »Das Gebäude der modernen Zivilisation muss auf geistigen Prinzipien errichtet werden, den einzigen, die nicht nur fähig sind, es zu stützen, sondern auch es zu erleuchten« (ebd.).

Der Gaucho Martin Fierro, ein Klassiker der Literatur meines Heimatlandes, singt: »Die Brüder sollen vereint sein, denn das ist das erste Gesetz. Sie sollen eine wahrhaftige Einheit wahren in guten wie in schwierigen Zeiten. Denn wenn sie untereinander streiten, werden die Feinde von draußen sie verschlingen.«

Die heutige Welt, die dem Augenschein nach so verbunden ist, erlebt eine zunehmende und beständige soziale Zersplitterung, welche die gesamte »Grundlage des Gesellschaftslebens« gefährdet und »uns schließlich um der Wahrung der jeweils eigenen Interessen willen gegeneinander aufbringt« (Enzyklika Laudato si’, 229).

Die gegenwärtige Zeit lädt uns ein, Handlungen zu fördern, die neue Dynamiken in der Gesellschaft erzeugen, bis sie in wichtigen und positiven historischen Ereignissen Frucht bringen (vgl. Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 223). Wir können es uns nicht leisten, »einige Zeitpläne« auf die Zukunft zu verschieben. Die Zukunft verlangt von uns kritische und globale Entscheidungen im Hinblick auf die weltweiten Konflikte, die die Anzahl der Ausgeschlossenen und Bedürftigen erhöhen.

Das anerkennenswerte internationale Rechtsgebäude der Organisation der Vereinten Nationen und aller ihrer Aktivitäten, das noch verbesserungsfähig ist wie jedes menschliche Werk und das zugleich notwendig ist, kann Unterpfand einer sicheren und glücklichen Zukunft für die kommenden Generationen sein. Und das wird es sein, wenn die Vertreter der Staaten verstehen, sektorale Interessen und Ideologien auszublenden, und aufrichtig nach dem suchen, was dem Gemeinwohl dienlich ist.

Ich bitte den allmächtigen Gott, dass es so sei, und ich versichere Sie meiner Unterstützung und meines Gebetes sowie der Unterstützung und der Gebete aller Gläubigen der katholischen Kirche, damit diese Institution, alle ihre Mitgliedstaaten und jeder bzw. jede Einzelne ihrer Funktionäre einen wirkungsvollen Dienst an der Menschheit leisten mögen – einen Dienst, der die Verschiedenheit respektiert und das Beste jedes Volkes und jedes Bürgers zum Wohl aller zu stärken weiß.

Gott segne Sie alle.

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Quelle: Osservatore Romano 41/2015

Kuba: Papst Franziskus: Predigt auf dem Platz der Revolution

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Papst Franziskus auf dem Platz der Revolution in Havanna. – AFP

Papstmesse auf der Plaza de la Revolución in Havanna

Wir dokumentieren hier die offizielle deutsche Übersetzung:

Das Evangelium zeigt uns Jesus, wie er seinen Jüngern eine scheinbar indiskrete Frage stellt: „Worüber habt ihr unterwegs gesprochen?“ (Mk 9,33). Eine Frage, die er auch uns heute stellen kann. Worüber sprecht ihr täglich? Was sind eure Bestrebungen? „Sie schwiegen“, sagt das Evangelium, „denn sie hatten unterwegs miteinander darüber gesprochen, wer [von ihnen] der Größte sei“ (Mk 9,34). Die Jünger schämten sich, Jesus zu sagen, worüber sie gesprochen hatten. Wie bei den Jüngern von damals, so kann auch uns heute dieselbe Diskussion begleiten: Wer ist der Größte?Jesus besteht nicht auf der Frage, er zwingt sie nicht, ihm zu antworten, worüber sie unterwegs gesprochen haben, doch seine Frage bleibt nicht nur im Gedächtnis, sondern auch im Herzen der Jünger bestehen.Wer ist der Größte? – Eine Frage, die uns das ganze Leben hindurch begleiten wird, und in den verschiedenen Lebensphasen werden wir herausgefordert sein, sie zu beantworten. Wir können dieser Frage nicht ausweichen; sie ist ins Herz eingraviert. Ich erinnere mich, wie mehr als einmal in Familienzusammenkünften die Kinder gefragt wurden: Wen hast du mehr lieb, Papa oder Mamma? Das ist, als fragte man sie: Wer ist wichtiger für euch? Ist diese Frage so nur ein einfaches Kinderspiel? Die Geschichte der Menschheit ist durch die Art und Weise, auf diese Frage zu antworten, geprägt worden.

Jesus fürchtet die Fragen der Menschen nicht; er fürchtet weder die Menschheit noch das unterschiedliche Suchen, das diese anstellt. Im Gegenteil, er kennt die „Schlupfwinkel“ des menschlichen Herzens, und als guter Pädagoge ist er bereit, uns immer zu begleiten. Wie es seiner Art entspricht, nimmt er unser Suchen, unsere Bestrebungen an und gibt ihnen einen neuen Horizont. Wie es seiner Art entspricht, gelingt es ihm, eine Antwort zu geben, die fähig ist, eine neue Herausforderung zu stellen, indem er „die erwarteten Antworten“ oder das scheinbar Feststehende aus den Angeln hebt. Wie es seiner Art entspricht, stellt Jesus immer die Logik der Liebe auf. Eine Logik, die von allen gelebt werden kann, weil sie für alle ist.

Weit entfernt von jeglichem Elitismus, umfasst der Horizont Jesu nicht nur einige wenige Privilegierte, die fähig sind, zur „ersehnten Erkenntnis“ oder zu verschiedenen Ebenen der Spiritualität zu gelangen. Der Horizont Jesu ist immer ein Angebot für das tägliche Leben, auch hier auf „unserer Insel“; ein Angebot, das dem Alltag immer den Geschmack der Ewigkeit verleiht.

Wer ist der Größte? Jesus ist in seiner Antwort ganz einfach: „Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein“ (Mk 9,35). Wer groß sein will, soll den anderen dienen und nicht sich der anderen bedienen.

Hier liegt die große Paradoxie Jesu. Die Jünger diskutierten darüber, wer den wichtigsten Platz einnehmen werde, wer als Privilegierter auserwählt werden würde, wer vom allgemeinen Recht, von der generellen Norm entbunden sein werde, um sich in einem Streben nach Überlegenheit von den anderen abzuheben. Wer schneller aufsteigen werde, um die Ämter zu besetzen, die gewisse Vorteile mit sich brächten.

Jesus bringt ihre Logik durcheinander, indem er ihnen einfach sagt, dass das authentische Leben im konkreten Engagement für den Nächsten gelebt wird.

Die Einladung zum Dienst beinhaltet eine Besonderheit, die wir beachten müssen. Dienen bedeutet großenteils, Schwäche und Gebrechlichkeit zu beschützen, für die Schwachen in unseren Familien, in unserer Gesellschaft, in unserem Volk zu sorgen. Die leidenden, schutzlosen, verängstigten Gesichter sind es, auf die zu schauen und die konkret zu lieben Jesus uns einlädt. Eine Liebe, die in Taten und Entscheidungen Form annimmt. Eine Liebe, die sich in den verschiedenen Aufgaben zeigt, die wir als Bürger entfalten sollen. Wir sind von Jesus aufgefordert, für die Menschen in ihrer Leiblichkeit mit ihrem Leben, ihrer Geschichte und besonders mit ihrer Gebrechlichkeit einzutreten, für sie zu sorgen und ihnen zu dienen. Denn Christ zu sein schließt ein, der Würde der Mitmenschen zu dienen, für die Würde der Mitmenschen zu kämpfen und für die Würde der Mitmenschen zu leben. Darum sind die Christen immer aufgefordert, im konkreten Blick auf die Schwächsten ihr Suchen, ihr Streben und ihre Sehnsucht nach Allmacht auszublenden.

Es gibt einen Dienst, der dienlich ist; doch wir müssen uns hüten vor dem anderen „Dienst“, vor der Versuchung des „Dienstes“, der sich bedient. Es gibt eine Form, den Dienst auszuüben, deren Interesse darin besteht, die „Meinen“ zu begünstigen im Namen des „Unsrigen“. Dieser Dienst lässt die „Deinen“ immer draußen und schafft eine Dynamik der Ausschließung.

Alle sind wir aufgrund der christlichen Berufung zu dem Dienst aufgefordert, der dienlich ist, und dazu, einander zu helfen, nicht den Versuchungen zum „Dienst, der sich bedient“ zu erliegen. Alle sind wir von Jesus eingeladen und angeregt, uns aus Liebe wechselseitig umeinander zu kümmern. Und das, ohne zur Seite zu blicken, um zu sehen, was der Nachbar tut oder zu tun unterlassen hat. Jesus sagt uns: „ Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein“ (Mk 9,35). Er sagt nicht: Wenn dein Nachbar der Erste sein will, soll er dienen. Wir müssen uns vor dem beurteilenden Blick hüten und uns entschließen, an den verwandelnden Blick zu glauben, zu dem Jesus uns einlädt.

Diese Haltung, uns aus Liebe umeinander zu kümmern, läuft nicht auf Servilität und Unterwürfigkeit hinaus, sondern stellt im Gegenteil in den Mittelpunkt der Frage den Mitmenschen und Bruder: Der Dienst schaut immer auf das Gesicht des Bruders oder der Schwester, berührt seine Leiblichkeit, spürt seine Nähe und in manchen Fällen sogar das „Kranke“ und sucht, ihn zu fördern. Darum ist der Dienst niemals ideologisch, denn man dient nicht Ideen, sondern man dient den Menschen.

Das heilige gläubige Gottesvolk, das seinen Weg in Kuba geht, ist ein Volk, das Freude hat am Fest, an der Freundschaft und am Schönen. Es ist ein Volk, das singend und lobpreisend vorangeht. Es ist ein Volk, das Wunden hat wie jedes Volk, das aber versteht, mit offenen Armen da zu sein, ein Volk, das voller Hoffnung voranschreitet, denn es ist zu Großem berufen. Heute lade ich euch ein, diese Berufung zu pflegen, diese Gaben zu pflegen, die Gott euch geschenkt hat, aber ich möchte euch auffordern, euch in besonderer Weise der Schwäche eurer Brüder und Schwestern anzunehmen und ihnen zu dienen. Vernachlässigt sie nicht aufgrund von Vorhaben, die sich als verführerisch erweisen können, aber das Gesicht dessen, der neben euch steht, nicht beachten. Wir kennen und bezeugen die „unvergleichliche Kraft“ der Auferstehung, die „überall Keime dieser neuen Welt hervorbringt“ (vgl. Evangelii gaudium, 276.278).

Vergessen wir nicht die Frohe Botschaft von heute: Die Größe und Bedeutung eines Volkes, einer Nation, die Größe einer Person beruht immer auf der Art, wie man der Schwäche und Gebrechlichkeit der Mitmenschen dient. Darin begegnen wir einer der Früchte einer wahren Menschlichkeit.

„Wer nicht lebt, um zu dienen, versteht nicht zu leben.“

(rv 20.09.2015 no)

Ergänzend hierzu:

Die Tagespost: „Die Kirche ist sichtbar geworden“

Die Grafik bietet eine Übersicht über die Reise von Papst Franziskus nach Kuba und in die USA vom 19. bis 27. September 2015.

Die Grafik bietet eine Übersicht über die Reise von Papst Franziskus nach Kuba und in die USA vom 19. bis 27. September 2015.

Mit gestärktem Selbstbewusstsein empfangen Kubas Katholiken den Heiligen Vater als „Missionar der Barmherzigkeit“.

Von Oliver Maksan

11 Cuba - Havana Vedado - Plaza de la Revolucion - Ministerio del Interior Che Guevara muralHavanna (DT) Überlebensgroß schaut das Bildnis des Revolutionärs Che Guevara über den Platz der Revolution in Havanna, das Herz der Millionenmetropole. „Immer dem Sieg entgegen“, steht unter dem Bild des Mannes, der zur weltweit bekannten Pop-Ikone des revolutionären Kuba geworden ist. Die kulturellen und politischen Institutionen der kommunistischen Insel umstehen den Platz. Da ist die Parteizentrale oder der Sitz der kommunistischen Zeitung Granma. Neuerdings hängt an einem der Gebäude ein anderes Bild, das nicht unbedingt aus dem marxistischen Ikonen-Fundus stammt – das des barmherzigen Jesus. „Kommt zu mir“, steht darunter. Kubas Revolutionär und der Erlöser der Welt in Sichtweite: Deutlicher lässt sich der Wandel nicht veranschaulichen, den die Stellung der Kirche im öffentlichen Leben Kubas in den letzten Jahren durchgemacht hat.

„Noch in meiner Jugend wäre das undenkbar gewesen“, meint der 41-jährige Antonoine Sedeno. Der Mann bereitet für die Erzdiözese Havanna, die am heutigen Samstag bereits den dritten Papst in nur 17 Jahren begrüßen kann, den Papstbesuch mit vor. „Vor dem Besuch Johannes Pauls II. 1998 hatten wir Angst, uns zum Glauben zu bekennen. Seither hat sich viel zum Besseren gewendet. Die Kirche ist sichtbar geworden. Sie ist aus der Sakristei gekrochen.“ Etwa eine Million Menschen erwartet die Kirche am Sonntag zur Messfeier auf dem Platz der Revolution, auf dem auch Johannes Paul II. und Benedikt XVI. schon die Messe feierten. „Ob es wirklich so viele werden, hängt natürlich auch vom Wetter ab“, meint Antoine. „Wenn es sehr heiß ist oder regnet, dann können es auch weniger Menschen sein. Aber in jedem Fall wird es ein gewaltiges Ereignis.“

Seit Wochen bereits ist der Papst allgegenwärtig auf der Insel. Poster und Plakate heißen den Stellvertreter Christi willkommen. Neben die am Straßenrand allgegenwärtigen kommunistischen Plakatparolen – „Vereint im Aufbau des Sozialismus“, „Mit Mut in die Zukunft“, „Wir verwirklichen unsere Träume“ – sind Willkommensgrüße an den „Missionar der Barmherzigkeit“ getreten. Diesen Titel hat Kubas Kirche dem Papst verliehen. Seit Wochen sendet das Staatsfernsehen Dokumentationen über Papst Franziskus, die von der Kirche erarbeitet wurden. Und erstmals in ihrer Geschichte hat die Parteizeitung Granma eine Botschaft der Bischöfe Kubas anlässlich des Papstbesuchs veröffentlicht.

Als Geste guten Willens vor dem Besuch hat der Staat vergangene Woche zudem die Freilassung von über 3 500 Häftlingen bekannt gegeben. Ausgenommen sind neben Schwerverbrechern allerdings auch solche, die die „Staatssicherheit“ gefährdet hätten – ein Hinweis auf die politischen Häftlinge des Regimes. Raúl Castro hatte in einer ähnlichen Geste bereits zum Besuch Benedikts 2012 2 900 Häftlinge amnestiert. Sein Bruder Fidel ließ zum Besuch Johannes Pauls II. 1998 immerhin 300 frei.

„Für uns ist der Besuch eine wunderbare pastorale Möglichkeit“, meint der Jesuit Juan Miguel Arregui Echeverria, der die kubanische Ordenskonferenz leitet. „Dieser Besuch, so hoffen wir, ist ein wichtiger Schritt, um die Situation der Kirche auf Kuba zu normalisieren. Bis vor gar nicht langer Zeit konnte die Kirche nur innerhalb des Kirchengebäudes wirken.“

Normal ist die Lage der Kirche trotz der allgemeinen Papstbegeisterung und dem Wandel der letzten Jahre aber noch immer nicht. Der Kirchenbau ist praktisch noch immer unmöglich. Die praktizierenden Katholiken sind dort, wo es keine Kirchen gibt, die vor der Revolution gebaut wurden, auf Messfeiern und Versammlungen in Privatwohnungen angewiesen. Nur manchmal gewährt der Staat eine Baugenehmigung wie etwa in Guiteras, einem Vorort Havannas. Dort überließ Staatschef Raúl Castro der Kirche nach dem Besuch Benedikts ein Grundstück. Doch der Bau der dem heiligen Johannes Paul II. geweihten Kirche stockt wegen des Mangels an Baugerät und Material. Katholische Schulen gibt es auf Kuba ebenfalls keine mehr. Fidel Castro, einst selbst Schüler einer kirchlichen Schule, verbot sie nach der Revolution und ließ viele Gebäude beschlagnahmen.

„Von den Ereignissen der sechziger Jahre hat sich die Kirche nur langsam erholt“, meint ein kubanischer Geistlicher, der seinen Namen nicht in der Zeitung sehen will. „Die Revolution hat damals wirklich gewütet. Wer beruflich etwas werden wollte, wer wollte, dass seine Kinder studieren und etwas werden können, der konnte nicht in der Kirche sein. Viele Priester und Bischöfe wurden ins Gefängnis gesteckt. Zahlreiche Orden mussten die Insel verlassen. Es war wirklich eine schwere Zeit.“ Der Besuch Johannes Pauls II. habe dann eine große Änderung gebracht. Weihnachten wurde wieder ein Feiertag, nachdem Fidel ihn in den sechziger Jahren abgeschafft hatte. Der Besuch Benedikts 2012 hatte weniger spürbare Effekte, das hatte der Besuch von 1998 schon besorgt. Aber immerhin wurde damals der Karfreitag wieder zum Feiertag. „Und anlässlich der 400-Jahr-Feier der Nationalheiligen, der Gottesmutter von El Cobre, bejubelten Millionen Kubaner eine durch das Land tourende Replik der hochverehrten Figur. Auch das hatte es seit 1959 nicht gegeben“, so der Geistliche.

„Heute versucht die Kirche, einerseits ihr neu gewonnenes pastorales Selbstbewusstsein zu leben, gleichzeitig aber nicht die roten Linien des Staates zu übertreten und sich direkt politisch zu betätigen“, fasst der Priester die pastorale Strategie der Kirche zusammen. Denn der Staat wache im Bereich Bildung und Medien misstrauisch über sein Monopol. Die Kirche wolle vor allem über soziale und Bildungsprojekte das Vertrauen der Kubaner gewinnen, an denen trotz einer natürlichen Religiosität fünfzig Jahre kommunistische Erziehung nicht spurlos vorbeigegangen seien. „Das öffentliche Schulwesen ist lausig. Wir bieten deshalb Nachhilfekurse, Englisch- und Computerkurse an. Viele junge Leute nehmen das dankbar an. Sie sagen, dass ihre Vorurteile der Kirche gegenüber verschwunden seien.“ Tatsächlich nehmen Beobachter der Situation auf Kuba eine verstärkte Hinwendung zum Glauben wahr. Viele lassen sich oder ihre Kinder taufen. Von einem kleinen Glaubensfrühling sprechen manche deshalb. Den soll Papst Franziskus jetzt mit seinem Besuch richtig zum Blühen bringen.

„Natürlich weiß nur Gott, welche Früchte dieser Besuch haben wird“, meint Pater Sergio Cabrera vom Vorbereitungskomitee für den Papstbesuch. „Aber es ist wichtig, dass der Papst Kuba eine Botschaft der Barmherzigkeit bringt, die uns hier so oft fehlt.“ Spurlos, da ist er sich mit Blick auf den Besuch Johannes Pauls II. sicher, wird der Besuch von Franziskus an Kubas Kirche jedenfalls nicht vorübergehen. „Ich stand 1998 auf diesem Platz als junger Mann, der sich mit der Idee auseinandersetzte, Priester zu werden. Ich war mir aber nicht sicher. Nach der Messe mit Johannes Paul aber gab es für mich keine Zweifel mehr. Insofern hat der Besuch mein Leben verändert, aber auch das der Kirche auf Kuba. Das wird diesmal nicht anders sein.“

Auf dem Platz der Revolution üben sie noch am Donnerstagabend. Ein Orchester junger kubanischer Talente wird die Papstmesse begleiten. Dirigent Jose Antonio Mendez leitet die Musiker an. „Ich bin selbst kein Katholik und glaube nicht. Aber dass ich hier bin, zeigt, dass wir in Frieden zusammen leben können.“ An Kubas Kirche jedenfalls dürfte das zuletzt scheitern.

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Quelle: Die Tagespost

Siehe des weiteren:

Die bevorstehende Apostolische Reise Papst Franzikus‘ nach Kuba, in die USA und zur UNO

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APOSTOLISCHE REISE VON PAPST FRANZISKUS
NACH KUBA, IN DIE VEREINIGTEN STAATEN VON AMERIKA
UND BESUCH DER VEREINTEN NATIONEN

aus Anlass der Teilnahme am 8. Weltfamilientreffen in Philadelphia

(19.-28. SEPTEMBER 2015)