DAS LEHRAMT JOHANNES PAULS II. IN SEINEN 14 ENZYKLIKEN

140425-pope-john-paul-ii-02-1355_7cd0c4863b4c7c1729b5e4465e807a29

PÄPSTLICHE LATERAN-UNIVERSITÄT
SYMPOSIUM: „JOHANNES PAUL II. – 25 JAHRE PONTIFIKAT“

DAS LEHRAMT JOHANNES PAULS II. IN SEINEN 14 ENZYKLIKEN

ANSPRACHE VON KARD. JOSEPH RATZINGER

Freitag, 9. Mai 2003

Über die 14 Enzykliken unseres Heiligen Vaters in einer halben Stunde sprechen zu wollen, ist absurd. Jede einzelne müßte ausführlich bedacht werden, damit man dann versuchen könnte, das Gefüge des Ganzen zu verstehen, die thematischen Schwerpunkte und die Richtung ihrer Weisung zu sehen. In einer halben Stunde ist nur ein ganz grober und oberflächlicher Blick möglich; die Auswahl der Akzente bleibt notwendig einseitig und könnte auch durchaus anders erfolgen. Überdies müßte man bei einer Gesamtwürdigung auch die verschiedenen anderen Lehrschreiben des Papstes einbeziehen, die oft von nicht geringem Gewicht sind und zur Ganzheit der Lehraussagen des Heiligen Vaters unbedingt hinzugehören.

Dies alles vorausgeschickt, sind nun zunächst die Enzykliken in Gruppen verwandter Thematik einzuteilen. Da ist zunächst das in den Jahren 1979–1986 gewachsene trinitarische Triptychon zu nennen, das aus den Enzykliken Redemptor hominis, Dives in misericordia und Dominum et vivificantem besteht. Über die Zeitspanne von zehn Jahren (1981–1991) zieht sich das Werden der drei Sozial-Enzykliken – Laborem exercens, Sollicitudo rei socialis, Centesimus annus – hin. Dann gibt es Enzykliken mit ekklesiologischer Thematik: Slavorum apostoli (1985), Redemptoris missio (1990), Ut unum sint (1995). Dem ekklesiologischen Bereich darf man auch die bisher letzte Enzyklika des Papstes Ecclesia de Eucharistia (2003) zurechnen und in gewisser Hinsicht auch die marianische Enzyklika Redemptoris Mater (1987): Schon in seiner ersten Enzyklika hatte der Papst die Themen Mutter Kirche und Mutter der Kirche eng miteinander verknüpft und zugleich ins Geschichtstheologische und Pneumatologische ausgeweitet: »Ich bitte vor allem Maria, die himmlische Mutter der Kirche, sie möchte während dieses Gebetes im neuen Advent der Menschheit bei uns bleiben, die wir die Kirche bilden, den Mystischen Leib ihres eingeborenen Sohnes. Ich möchte, daß wir dank eines solchen Gebetes den Heiligen Geist aus der Höhe empfangen können und so Zeugen Christi werden ›bis ans Ende der Erde‹…« (Nr. 22). In der Mariologie treffen für den Papst alle großen Themen des Glaubens zusammen; keine Enzyklika schließt ohne einen Hinblick auf die Mutter des Herrn. Schließlich bleiben da drei große Lehrtexte, die wir dem anthropologischen Bereich zuordnen dürfen: Veritatis splendor (1993), Evangelium vitae (1995) und Fides et ratio (1998).

Die erste Enzyklika Redemptor hominis ist die persönlichste, der Ausgangspunkt aller weiteren Enzykliken. Es wäre leicht zu zeigen, daß alle künftigen Themen hier schon angeschlagen sind: Das Thema Wahrheit, der Zusammenhang von Wahrheit und Freiheit, wird in seinem ganzen Ernst angesprochen inmitten einer Welt, die Freiheit will, aber Wahrheit als Anmaßung und Gegensatz zur Freiheit betrachtet. Die ökumenische Leidenschaft des Papstes meldet sich schon in diesem ersten großen Lehrtext zu Worte. Die großen Akzente der Eucharistie-Enzyklika – Eucharistie und Opfer, Opfer und Erlösung, Eucharistie und Buße: All das wird hier schon in großen Linien dargestellt. Der Imperativ »tötet nicht« – das große Thema von Evangelium vitae – wird laut in die Welt hineingerufen. Mit dem marianischen Thema ist die für den Papst kennzeichnende Orientierung auf die Zukunft des Christentums hin verknüpft, wie wir schon sahen. Die Bindung der Kirche an Christus ist für den Heiligen Vater nicht Bindung an Vergangenheit, Orientierung nach rückwärts, sondern gerade Verbindung mit dem, der Zukunft ist und Zukunft gibt und die Kirche auffordert, sich einer neuen Periode des Glaubens zu öffnen. Man spürt die persönliche Betroffenheit, die Hoffnung, aber auch das innere Drängen des Papstes, daß der Herr uns doch neu Gegenwart des Glaubens und des erfüllten Lebens, ein neues Pfingsten, schenken möge, wenn aus ihm die Bitte geradezu explosiv hervorbricht: »Die Kirche unserer Zeit scheint mit immer größerem Eifer inständig und beharrlich zu wiederholen ›Komm, Heiliger Geist!‹ Komm! Komm!« (Nr. 18).

All diese Themen, die – wie schon gesagt – das ganze Lehrwerk des Papstes vorwegnehmen, sind von einer Vision zusammengehalten, die wir wenigstens in ihrer wesentlichen Richtung versuchen müssen, zu erkennen. In den Exerzitien, die der Krakauer Kardinal 1976 für Paul VI. und die Römische Kurie gehalten hatte, erzählt er, wie die katholischen Intellektuellen Polens in den ersten Nachkriegsjahren zunächst dem nun offiziell gewordenen marxistischen Materialismus entgegen den Absolutheitscharakter der Materie zu widerlegen versuchten. Aber sehr bald verlagerte sich das Zentrum des Disputs: Es ging nicht mehr um die philosophischen Grundlagen der Naturwissenschaft (auch wenn das Thema immer seine Bedeutung behält), sondern um die Anthropologie: Wer ist der Mensch? – das war die Frage. Diese Anthropologie ist nicht einfach eine philosophische Theorie des Menschen, sondern sie hat existentiellen Charakter. Ihr verborgenes Thema ist die Frage der Erlösung. Wie kann der Mensch leben? Wer hat die Antwort auf die Frage nach dem Menschen – diese ganz praktische Frage: Kann der Materialismus, der Marxismus uns das Leben lehren oder das Christentum? So ist die anthropologische Frage eine wissenschaftliche und rationale, aber zugleich eine ganz pastorale Frage: Wie können wir den Menschen den Weg zum Leben zeigen und auch den Nichtglaubenden sichtbar machen, daß wir seine Fragen teilen und daß Petrus angesichts des menschlichen Dilemmas von heute wie von damals Recht hat, wenn er zum Herrn sagt: »Herr, zu wem sollen wir gehen? Du allein hast Worte des ewigen Lebens« (Joh 6,68). Philosophie, Pastoral und Glaube der Kirche verschmelzen in diesem anthropologischen Ringen.

Johannes Paul II. hat in seiner ersten Enzyklika sozusagen den Ertrag seines bisherigen Weges als Hirte der Kirche und als Denker unserer Zeit zusammengefaßt. Seine erste Enzyklika kreist um die Frage nach dem Menschen. Beinahe zum Schlagwort geworden ist der Satz: Der Mensch »ist der erste und grundlegende Weg der Kirche« (Nr. 14). Aber man hat beim Zitieren dieses Wortes allzu häufig vergessen, daß der Papst kurz vorher formuliert hatte: »Jesus Christus ist der Hauptweg der Kirche. Er ist unser Weg zum ›Haus des Vaters‹ (vgl. Joh 14,1 ff.), und er ist auch der Zugang zu jedem Menschen« (Nr. 13). Demgemäß fährt auch die Formel vom Menschen als ersten Weg der Kirche sofort weiter: »…ein Weg, der von Christus selbst vorgezeichnet ist und unabänderlich durch das Geheimnis der Menschwerdung und der Erlösung führt« (Nr. 14). Anthropologie und Christologie sind für den Papst untrennbar. Wer der Mensch ist und wohin er gehen muß, um das Leben zu finden – das eben ist in Christus erschienen. Dieser Christus ist nicht bloß ein Schaubild menschlicher Existenz – ein Beispiel, wie man leben soll –, sondern er ist »jedem Menschen in gewisser Weise geeint« (Nr. 13). Er rührt uns an der Wurzel unserer Existenz von innen her an und wird so dem Menschen von innen her zum Weg. Er bricht die Isolation des Ich auf; er ist die Garantie der unzerstörbaren Würde jedes einzelnen und zugleich der Überwinder der Vereinzelung in eine Kommunikation, nach der das ganze Wesen des Menschen Ausschau hält.

Anthropozentrik ist beim Papst zugleich Christozentrik und umgekehrt. Gegenüber der Meinung, was der Mensch sei, könne nur aus den primitiven Formen des Menschseins sozusagen von unten her erklärt werden, ist der Papst der Überzeugung, daß das, was der Mensch ist, nur vom vollkommenen Menschen her erfaßt werden kann und daß von dort her der Weg des Menschseins zu erkennen ist. Er hätte sich dafür auf Teilhard de Chardin berufen können, der einmal so formuliert hat: »Die wissenschaftliche Lösung des menschlichen Problems bietet keineswegs ausschließlich das ausschließliche Studium der Fossilien, sondern eine aufmerksame Betrachtung der Eigenschaften und Möglichkeiten des Menschen von heute, die den Menschen von morgen bestimmen werden.« Johannes Paul II. geht freilich über diese Diagnose hinaus: Wer der Mensch ist, können wir letztlich nur an dem ablesen, der ganz das Wesen des Menschseins erfüllt: Gottes Ebenbild zu sein, ja, der Gottes eigener Sohn ist, Gott von Gott und Licht vom Licht. So entspricht es der inneren Richtung der ersten Enzyklika, daß sie im Fortgang des päpstlichen Lehramtes mit zwei anderen Enzykliken zu einem trinitarischen Triptychon zusammengewachsen ist. Die Frage nach dem Menschen ist von der Frage nach Gott nicht zu trennen. Die These Guardinis, daß den Menschen nur kennt, wer Gott kennt, findet in dieser Einschmelzung der Anthropologie in die Gottesfrage eine klare Bestätigung.

Werfen wir noch einen kurzen Blick auf die beiden anderen Tafeln des trinitarischen Triptychons! Das Thema Gott-Vater erscheint zunächst sozusagen verhüllt unter dem Titel Dives in misericordia. Man darf wohl annehmen, daß der Papst den Impuls zu dieser Thematik aus der Frömmigkeit der Krakauer Nonne Faustyna Kowalska empfangen hat, die er später zur Ehre der Altäre erhoben hat: Das Erbarmen Gottes in die Mitte christlichen Glaubens und Lebens zu stellen war das große Anliegen dieser heiligen Frau gewesen. Sie hat damit die Neuheit des Christlichen auf eine gerade für unsere Zeit mit der Erbarmungslosigkeit ihrer Ideologien aus der Kraft ihres geistlichen Lebens neu zum Leuchten gebracht. Man braucht sich dabei nur daran zu erinnern, daß Seneca – ein dem Christentum in mancher Hinsicht recht nahekommender Denker der römischen Welt – einmal formuliert hat: »Mitleid ist eine Schwäche, eine Krankheit.« 1000 Jahre später hat Bernhard von Clairvaux aus dem Geist der Väter heraus die wunderbare Formel gefunden: »Gott kann nicht leiden, aber er kann mit-leiden.« Ich finde es wunderbar, daß der Papst seine Enzyklika über Gott den Vater unter das Thema des göttlichen Erbarmens gestellt hat. Die erste Überschrift der Enzyklika lautet: Wer mich sieht, sieht den Vater (Joh 14,9). Christus sehen heißt den erbarmenden Gott sehen. Großartig ist an dieser Enzyklika die über drei Seiten sich hinziehende Anmerkung über die biblische Terminologie des göttlichen Erbarmens im Alten Testament, in der auch das Wort rahamin erläutert wird, das von dem Wort rehem (Mutterschoß) herkommt und dem Erbarmen Gottes die Züge der mütterlichen Liebe einzeichnet. Der andere Höhepunkt der Enzyklika ist ihre tiefsinnige Auslegung des Gleichnisses vom verlorenen Sohn, in der das Bild des Vaters in seiner ganzen Größe und Schönheit aufleuchtet.

Nur noch ein kurzes Wort zur Enzyklika über den Heiligen Geist, in der sich das Thema Wahrheit und Gewissen ausdrücklich zu Wort meldet. Als die eigentliche Gabe des Heiligen Geistes sieht der Papst »das Geschenk der Wahrheit des Gewissens und das Geschenk der Gewißheit der Erlösung« (Nr. 31) an. Demgemäß steht an der Wurzel der Sünde die Lüge, die Zurückweisung der Wahrheit: »Der ›Ungehorsam‹ als ursprüngliche Dimension der Sünde bedeutet die Zurückweisung dieser Quelle wegen des Anspruchs des Menschen, selbst autonome und alleinige Quelle für die Bestimmung von Gut und Böse zu werden « (Nr. 36) Die grundlegende Vision von Veritatis splendor erscheint hier schon mit aller Deutlichkeit. Es ist klar, daß der Papst gerade in der Enzyklika über den Heiligen Geist nicht bei der Diagnose unserer Gefährdungen stehen bleibt, sondern sie stellt, um den Weg zur Heilung zu öffnen. In der Bekehrung wandelt sich die Mühsal des Gewissens in heilende Liebe, die zu leiden weiß: »Der verborgene Ausspender dieser heilenden Kraft ist der Heilige Geist …« (Nr. 45).

Ich habe mich lang – wohl zu lange – beim trinitarischen Triptychon aufgehalten, weil es das ganze Programm der weiteren Enzykliken in sich trägt und es an den Glauben an Gott zurückbindet. Wohl oder übel müssen nun für die folgenden Enzykliken ein paar ganz schematische Hinweise genügen. Die drei großen Sozial-Enzykliken wenden die Anthropologie des Papstes auf die soziale Problematik unseres Jahrhunderts an. Er betont den Vorrang des Menschen gegenüber den Produktionsmitteln, den Vorrang der Arbeit gegenüber dem Kapital, den Vorrang der Ethik gegenüber der Technik. Im Brennpunkt steht die Würde des Menschen, der immer selbst ein Zweck und nie ein Mittel ist; von da her werden die großen Zeitfragen der sozialen Problematik in kritischer Auseinandersetzung mit dem Marxismus wie mit dem Liberalismus geklärt.

Die ekklesiologischen Enzykliken würden eine ausführliche Würdigung verdienen, auf die ich hier verzichten muß. Wenn Ecclesia de Eucharistia die Kirche von innen und oben und gerade so in ihrer gemeinschaftsstiftenden Kraft betrachtet, wenn Redemptoris Mater die Urgestalt der Kirche in Maria und ihr mütterliches Geheimnis behandelt, so stellen die drei weiteren Enzykliken dieser Gruppe die beiden großen Beziehungsfelder dar, in denen Kirche lebt: Der ökumenische Dialog als Suche nach der Einheit der Getauften gemäß dem Auftrag des Herrn, gemäß der inneren Logik des Glaubens, der als Kraft der Einheit von Gott in die Welt gesandt ist, ist der eine Beziehungsbereich, den der Papst in Ut unum sint mit der ganzen Leidenschaft seines ökumenischen Wollens ins Bewußtsein der Kirche rückt. Auch Slavorum apostoli ist ein ökumenischer Text von besonderer Schönheit: Er ist zum einen im Beziehungsfeld von Ost und West angesiedelt, zum anderen zeigt er den Zusammenhang von Glaube und Kultur, die kulturschöpferische Kraft des Glaubens, der in der Begegnung der Kulturen seine eigene Tiefe auslotet und zugleich neue Dimensionen der Einheit erfährt. Das andere Beziehungsfeld ist die Zuwendung zu den Menschen, die in nichtchristlichen Religionen oder ohne Religion leben, um ihnen Jesus zu verkünden, von dem Petrus zu den versammelten Pharisäern des jüdischen Volkes gesagt hatte: »In keinem anderen ist das Heil zu finden. Denn es ist uns Menschen kein anderer Name unter dem Himmel gegeben, durch den wir gerettet werden sollen« (Apg 4,12). Der Papst klärt in diesem Text die Beziehung von Dialog und Verkündigung. Er zeigt, daß Mission, die Verkündigung Christi an alle, die Christus nicht kennen, immer geboten bleibt, weil jeder Mensch von innen auf den wartet, in dem Gott und Mensch geeint sind – auf den »Erlöser der Menschen«.

Kommen wir zum Schluß zu den drei großen Enzykliken, in denen die anthropologische Thematik von verschiedenen Seiten her aufgerollt wird. Veritatis splendor spricht nicht nur in die innerkirchliche Krise der Moraltheologie hinein, sondern gehört zum weltweiten Disput um das Ethos, der heute eine Überlebensfrage der Menschheit geworden ist. Gegenüber einer Moraltheologie, die sich im 19. Jahrhundert immer gefährlicher auf Kasuistik verengt hatte, war schon in den Jahrzehnten vor dem Konzil eine deutliche Gegenbewegung in Gang gekommen: Die ethische Weisung des Christentums sollte wieder in ihrer großen positiven Vision aus dem Innern des Glaubens her und nicht als Katalog von Verboten gesehen werden. Die Idee der Nachfolge Christi und das Prinzip Liebe wurden als die grundlegenden Leitideen entfaltet, aus denen sich dann die einzelnen Weisungen organisch ergeben. Der Wille, sich vom Glauben als dem neuen Licht inspirieren zu lassen, das die ethische Weisung durchsichtig macht, hatte zugleich eine Abwendung von der naturrechtlichen Fassung der Moral zugunsten einer heilsgeschichtlich- biblischen Konstruktion eingeleitet. Das II. Vaticanum hatte diese Ansätze bestätigt und verstärkt.

Aber der Versuch, eine rein biblische Moral aufzubauen, erwies sich angesichts der konkreten Fragestellungen der Zeit als undurchführbar. Der bloße Biblizismus ist gerade in der Moraltheologie kein möglicher Weg. So ist überraschend schnell nach einer kurzen Phase des Mühens um eine biblische Inspiration der Moraltheologie der Umschlag in den Versuch einer rein rationalen Begründung des Ethos erfolgt, aber die Rückkehr zum Naturrechtsgedanken schien nun verbaut: Die antimetaphysische Strömung, die vielleicht schon im versuchten Biblizismus mitgewirkt hatte, ließ das Naturrecht als veraltetes und nicht mehr aktualisierbares Modell erscheinen. So blieb man einer positivistischen Rationalität ausgeliefert, die das Gute als solches nicht mehr kennt. »Gut ist«, so sagte damals ein Moraltheologe, »immer nur besser als«.

Der Maßstab, der nun blieb, war das Kalkül der Folgen. Moralisch ist dann, was von den voraussehbaren Folgen her am meisten positiv erscheint. Nicht immer ist der Konsequenzialismus so radikal durchgeführt worden. Aber im Letzten läuft er auf eine solche Konstruktion hinaus, bei der das eigentlich Moralische abgedankt ist, weil es das Gute als solches nicht gibt. Für einen solchen Typus von Rationalität hat auch die Bibel nichts mehr zu sagen. Sie kann Motivationen liefern, für die Inhalte bedeutet sie nichts. Wenn es aber so ist, ist das Christentum als »Weg«, der es doch sein sollte und wollte, am Ende. Und wenn man zuvor von der Orthodoxie in die Orthopraxie geflüchtet war, so wird damit Orthopraxie zu einer tragischen Ironie: Es gibt sie ja eigentlich gar nicht.

Der Papst hat demgegenüber mit großer Entschiedenheit wieder die metaphysische Sicht ins Recht gesetzt, die einfach eine Folge des Schöpfungsglaubens ist. Wieder gelingt es ihm, Anthropozentrik und Theozentrik vom Schöpfungsglauben her ineinander zu binden und miteinander zu verschmelzen: »…schöpft die Vernunft ihre Wahrheit und ihre Autorität aus dem ewigen Gesetz, das nichts anderes als die göttliche Weisheit ist… Das Naturgesetz ist nämlich… nichts anderes als das von Gott uns eingegebene Licht des Verstandes« (Nr. 40). Gerade weil der Papst vom Schöpfungsglauben her zur Metaphysik steht, kann er auch die Bibel als gegenwärtiges Wort verstehen – metaphysische und biblische Konstruktion des Ethos verbinden. Ein Herzstück der Enzyklika, philosophisch wie theologisch gleich bedeutsam, ist der große Passus über das Martyrium (Nr. 90–94).

Wenn es nichts mehr gibt, wofür zu sterben sich lohnt, ist auch das Leben leer geworden. Nur wenn es das unbedingt Gute gibt, für das zu sterben sich lohnt, und das immer Schlechte, das nie gut wird, ist der Mensch in seiner Würde bestätigt und sind wir geschützt vor der Diktatur der Ideologien.

Dieser Punkt ist grundlegend auch für die Enzyklika Evangelium vitae, die der Papst auf dringenden Wunsch des Weltepiskopats geschrieben hat, die aber zugleich auch Ausdruck seines eigenen leidenschaftlichen Kampfes für den unbedingten Respekt vor der Würde menschlichen Lebens ist. Wo menschliches Leben als bloß biologische Realität behandelt wird, wird es zum Gegenstand des Kalküls der Folgen. Aber der Papst sieht mit dem Glauben der Kirche im Menschen – in jedem Menschen –, wie klein oder groß, wie schwach oder wie stark, wie funktionstüchtig oder unnütz er erscheinen mag, das Bild Gottes; für jeden Menschen ist Christus gestorben, der menschgewordene Sohn Gottes selbst. Das gibt jedem einzelnen Menschen eine unendliche Kostbarkeit, eine schlechthin unantastbare Würde. Gerade weil im Menschen mehr ist als bloßer Bios, wird auch sein biologisches Leben unendlich wertvoll. Es steht niemandem zur Disposition, weil es von Gottes Würde umkleidet ist. Es gibt keine noch so noblen Folgen, die das Experiment mit dem Menschen rechtfertigen könnten. Nach all den grausamen Erfahrungen des Mißbrauchs des Menschen mit scheinbar hoch moralischen Motivationen, war und ist dies ein notwendiges Wort. Es wird sichtbar, daß der Glaube die Zuflucht der Menschlichkeit ist. In der Situation metaphysischer Verdummung, in der wir stehen und die zugleich zur moralischen Verkümmerung wird, zeigt sich der Glaube als das rettend Menschliche. Der Papst als Wortführer des Glaubens verteidigt den Menschen gegen die Scheinmoral, die ihn zu zertreten droht.

Schließlich ist am Ende noch die große Enzyklika Fides et ratio – Über Glaube und Philosophie – zu bedenken. Das Thema Wahrheit, das das ganze Lehrwerk des Heiligen Vaters durchzieht, wird in seiner vollen Dramatik entfaltet. Die Erkennbarkeit von Wahrheit zu behaupten, gar die christliche Botschaft als erkannte Wahrheit zu verkündigen, wird heute weithin als Angriff auf Toleranz und Pluralismus angesehen; Wahrheit wird geradezu zu einem verbotenen Wort. Aber gerade hier steht noch einmal die Würde des Menschen zur Debatte. Wenn der Mensch der Wahrheit unfähig ist, dann ist alles, was er denkt und tut, zufällige Konvention, bloße »Tradition«. Dann bleibt ihm nur – wie wir vorhin sahen – das jeweilige Kalkül der Folgen. Aber wer kann wirklich die Folgen menschlichen Handelns überblicken? Dann sind alle Religionen nur Traditionen, und dann ist natürlich auch Verkündigung des christlichen Glaubens eine kolonialistische oder imperialistische Anmaßung. Mit der Menschenwürde vereinbar ist sie nur, wenn der Glaube Wahrheit ist, denn die verletzt niemanden; sie ist im Gegenteil das Gut, das wir einander schulden. Durch die großen Erfolge im Bereich von Naturwissenschaft und Technik ist die Vernunft den Menschheitsfragen nach Gott, nach Tod und Ewigkeit, nach dem rechten Leben gegenüber mutlos geworden. Der Positivismus legt sich wie ein grauer Star über das innere Auge des Menschen. Aber wenn diese letztlich für unser Leben entscheidenden Fragen in den Bereich des bloß Subjektiven und damit letztlich des Beliebigen verwiesen sind, sind wir im Eigentlichen des Menschseins erblindet. Vom Glauben her fordert der Papst die Vernunft zum Mut des Erkennens der wesentlichen Wirklichkeiten auf. Wenn der Glaube nicht im Licht der Vernunft steht, dann ist er zur bloßen Tradition abgesunken und damit eben auch im Tiefsten für beliebig erklärt.

Der Glaube braucht den Mut der Vernunft zu sich selbst. Er steht nicht gegen sie, sondern fordert sie heraus, sich das Große zuzutrauen, zu dem sie geschaffen ist. Sapere aude – mit diesem Imperativ hatte Kant das Wesen von Aufklärung umschrieben. Man könnte sagen, daß der Papst auf eine neue Weise einer metaphysisch mutlos gewordenen Vernunft zuruft: Sapere aude! Trau dir das Große zu! Dafür bist du bestimmt. Der Glaube, so zeigt uns der Papst, will die Vernunft nicht zum Schweigen bringen, sondern sie von dem Schleier des Stars befreien, der angesichts der großen Fragen der Menschheit weithin auf ihr liegt. Wiederum zeigt sich, daß der Glaube den Menschen in seinem Menschsein verteidigt. Josef Pieper hat einmal den Gedanken geäußert, daß in der »letzten Epoche der Geschichte, unter der Herrschaft von Sophistik und korrupter Pseudophilosophie, die wahre Philosophie sich in die uranfängliche Einheit mit der Theologie zurückbegeben könnte«, daß also am Ende der Geschichte »die Wurzel aller Dinge und die äußerste Bedeutung der Existenz – das heißt doch: der spezifische Gegenstand des Philosophierens – nur noch von denen in den Blick genommen und bedacht wird, welche glauben«. Nun, wir stehen – so weit wir sehen können – nicht am Ende der Geschichte. Aber wir stehen in der Versuchung, der Vernunft ihre wahre Größe zu verweigern. Und da sieht es der Papst mit Recht als Aufgabe des Glaubens an, die Vernunft neu zum Mut zur Wahrheit zu ermutigen. Ohne Vernunft verfällt der Glaube; ohne Glaube droht die Vernunft zu verkümmern. Es geht um den Menschen. Aber damit der Mensch erlöst werde, brauchen wir den Erlöser – brauchen wir Christus, den Menschen, der Mensch und Gott in einer einzigen Person ist – »unvermischt und ungetrennt«.

_______

Quelle

 

Johannes Paul II.: Wozu glauben?

Viele Menschen, die sich an einer Art von Pragmatismus oder Utilitarismus ausrichten — oder davon fehlgeleitet werden —, scheinen heute zu fragen: Wozu dient der Glaube letztlich? Welche Vorteile bringt er? Kann man denn kein ehrliches, rechtschaffenes Leben führen, ohne sich ernsthaft mit dem Evangelium zu befassen?

Auf eine solche Frage könnte man sehr knapp antwor­ten: Der Nutzen des Glaubens läßt sich an keinem Gut messen, auch nicht an moralischen Gütern. Die Kirche hat nämlich noch nie geleugnet, daß auch ein Nichtgläu­biger rechtschaffen und edel handeln kann. Davon kann sich im übrigen jeder sehr leicht selbst überzeugen, weil man nicht erklären kann — obwohl es oft versucht wird —, worin der Nutzen des Glaubens besteht, indem man auf die daraus für die menschliche Moral ableitbaren Vor­teile verweist. Demgegenüber kann man sagen, daß der grundlegende Nutzen des Glaubens in der Tatsache an sich besteht, geglaubt und vertraut zu haben. Wenn wir glauben und vertrauen, so antworten wir nämlich auf Gottes Wort, über das im Buch des Propheten Jesaja auf besonders eindrucksvolle Weise gesagt wird, daß es nicht leer zurückkehrt, sondern bewirkt, was er will, und all das erreicht, wozu er es ausgesandt hat (vgl. 55,11). Den­noch will Gott uns absolut nicht zu einer solchen Ant­wort zwingen.

Unter diesem Aspekt nimmt das Lehramt des letzten Konzils und vor allem die Erklärung über die Religions­freiheit »Dignitatis humane« eine ganz besondere Bedeutung an. Es wäre der Mühe wert, die ganze Erklärung wiederzugeben und zu analysieren. Doch vielleicht reicht es, einige Sätze zu zitieren: »Alle Men­schen sind ihrerseits verpflichtet«, so lesen wir, »die Wahrheit, besonders in dem, was Gott und seine Kirche angeht, zu suchen und die erkannte Wahrheit aufzuneh­men und zu bewahren« (Nr. 1).

Das, was das Konzil hervorhebt, ist vor allem die Würde des Menschen, im Text heißt es daher weiter: »Weil die Menschen Personen sind, d. h. mit Vernunft und freiem Willen begabt und damit auch zu persönlicher Verant­wortung erhoben, werden alle — ihrer Würde gemäß ­von ihrem eigenen Gewissen gedrängt und zugleich durch eine moralische Pflicht gehalten, die Wahrheit zu suchen, vor allem jene Wahrheit, welche die Religion betrifft. Sie sind auch dazu verpflichtet, an der erkann­ten Wahrheit festzuhalten und ihr ganzes Leben nach den Forderungen der Wahrheit zu ordnen« (Nr. 2). »Die Wahrheit muß aber auf eine Weise gesucht werden, die der Würde der menschlichen Person und ihrer Sozialna­tur eigen ist, d. h. auf dem Wege der freien Forschung, mit Hilfe des Lehramtes oder der Unterweisung, des Gedankenaustauschs und des Dialogs . . .« (Nr. 3).

Wie man sieht, geht das Konzil sehr ernsthaft auf die menschliche Freiheit ein und beruft sich auf das innere Gebot des Gewissens, um aufzuzeigen, daß die vom Menschen an Gott und sein Wort gegebene Antwort eng an seine persönliche Würde gebunden ist. Der Mensch darf nicht zur Annahme der Wahrheit gezwungen wer­den. Seine ganze Natur, d. h. seine eigene Freiheit, drängt ihn dazu, sie ernsthaft zu suchen und, wenn er sie gefunden hat, mit seiner Überzeugung und seinem Ver­halten an ihr teilzuhaben.

Das ist seit jeher die Lehre der Kirche; doch zuvor hat Christus selbst sie mit seinen Taten bestätigt. Aus dieser Perspektive muß auch der zweite Teil von »Dignitatis humanae« erneut gelesen werden. Hier finden wir viel­leicht auch die Antwort auf Ihre Fragen.

Eine Antwort, die im übrigen die Lehre der Kirchen­väter und die theologische Tradition wiedergibt — an­gefangen beim hl. Thomas von Aquin bis hin zu John H. Newman. Das Konzil bestätigt nichts anderes als die seit jeher bestehende Überzeugung der Kirche. Es ist bekannt, wie konsequent der hl. Thomas an der Befolgung des Gewissens festhält: So erachtet er es als nicht zulässig, wenn sich jemand zu Christus bekennt und ihm sein Gewissen dabei sagt, daß er — absurde Annahme! — damit etwas Schlechtes tue (vgl. Summa Theologiae, 1-2, q.19, a.5). Wenn ein Mensch einen ihm unumstößlich scheinenden Ruf des Gewissens ver­nimmt, so muß er, selbst wenn dieser abwegig sein sollte, unbedingt und ausnahmslos auf ihn hören. Dem Men­schen ist nicht gestattet, sich aus eigener Schuld dem Irrtum hinzugeben, ohne zu versuchen, zur Wahrheit zu gelangen.

Wenn Newman das Gewissen über die Autorität stellt, so verkündet er im Vergleich zum ständigen Lehramt der Kirche nichts Neues: Das Gewissen, so lehrt das Konzil, »ist die verborgenste Mitte und das Heiligtum im Menschen, wo er allein ist mit Gott, dessen Stimme in diesem seinem Innersten zu hören ist . . . Durch die Treue zum Gewissen sind die Christen mit den übrigen Menschen verbunden im Suchen nach der Wahrheit und zur wahrheitsgemäßen Lösung all der vielen morali­schen Probleme, die im Leben der Einzelnen wie im gesellschaftlichen Zusammenleben entstehen. Je mehr also das rechte Gewissen sich durchsetzt, desto mehr las­sen die Personen und Gruppen von der blinden Willkür ab und suchen sich nach den objektiven Normen der Sittlichkeit zu richten. Nicht selten jedoch geschieht es, daß das Gewissen aus unüberwindlicher Unkenntnis irrt, ohne daß es dadurch seine Würde verliert. Das kann man aber nicht sagen, wenn der Mensch sich zuwenig darum müht, nach dem Wahren und Guten zu suchen, und das Gewissen durch Gewöhnung an die Sünde all­mählich fast blind wird« (Gaudium et spes, Nr. 16).

Hierbei wird man sich unweigerlich der tiefen inneren Kohärenz der konziliaren Erklärung über die religiöse Freiheit bewußt. Im Lichte dieser Lehre können wir daher sagen: Der wesentliche Nutzen des Glaubens besteht in der Tatsache, daß der Mensch das Gut seiner naturgemäßen Vernunft verwirklicht. Er verwirklicht es, indem er Gott aus Pflichtbewußtsein antwortet. Aus einer Pflicht nicht nur Gott, sondern auch sich selbst gegenüber.

Christus hat alles getan, um uns von der Bedeutung die­ser Antwort zu überzeugen, die der Mensch zur Erlan­gung der inneren Freiheit geben muß, damit in ihr jener für die menschliche Würde so wesentliche veritatis splen­dor aufleuchtet. Er hat die Kirche zu diesem Handeln verpflichtet: Deshalb sind in ihrer Geschichte so viele Proteste gegen all jene laut geworden, die versucht haben, den Glauben unter Zwang zu verändern. In die­sem Zusammenhang muß daran erinnert werden, daß die spanische katholische Schule von Salamanca ange­sichts der Gewalt, die den amerikanischen Ureinwoh­nern, den Indios, unter dem Vorwand der Bekehrung zum Christentum angetan wurde, eine eindeutig gegensätzliche Position einnahm. Und auch daran, daß zuvor noch die Akademie von Krakau 1414 beim Konzil von Konstanz die Gewalt verurteilt hatte, mit der man unter demselben Vorwand gegen die baltischen Völker vorgegangen war.

Zweifellos verlangt Christus den Glauben. Er verlangt ihn vom Menschen und für den Menschen. Denen, die wollten, daß er ein Wunder für sie bewirkte, sagte er: »Dein Glaube hat dir geholfen« (Mk 10,52). Ganz besonders ergreifend ist der Fall der kanaanäischen Frau. Zunächst scheint Jesus ihrer Bitte um Hilfe für die Tochter kein Gehör schenken zu wollen, gerade so als sei es seine Absicht, sie zu dem rührenden Bekenntnis zu bewegen: »Aber selbst die Hunde bekommen von den Brotresten, die vom Tische ihrer Herren fallen« (Mt 15,27). Er stellt diese fremde Frau auf die Probe, um nachher sagen zu können: »Frau, dein Glaube ist groß! Was du willst, soll geschehen« (Mt 15,28).

Jesus möchte in den Menschen den Glauben wecken. Er verlangt, daß sie auf das Wort des Vaters antworten. Er hat dabei stets die menschliche Würde im Blick, denn die Suche nach dem Glauben selbst ist eine implizite Form des Glaubens, wodurch die notwendige Vorausset­zung für das Heil bereits erfüllt ist.

Vermutlich kann die Konzilskonstitution über die Kir­che Ihre Frage erschöpfend beantworten. Dieser Text verdient es, noch einmal gelesen zu werden. »Wer näm­lich das Evangelium Christi und seine Kirche ohne Schuld nicht kennt, Gott aber aus ehrlichem Herzen sucht, seinen im Anruf des Gewissens erkannten Willen unter dem Einfluß der Gnade in der Tat zu erfüllen trachtet, kann das ewige Heil erlangen. Die göttliche Vorsehung verweigert auch denen das zum Heil Not­wendige nicht, die ohne Schuld noch nicht zur ausdrück­lichen Anerkennung Gottes gekommen sind, jedoch, nicht ohne göttliche Gnade, ein rechtes Leben zu führen sich bemühen« (LG Nr. 16).

Ihre Frage spricht von einem Leben, das auch ohne Evangelium ehrlich und rechtschaffen sein kann. Darauf würde ich gern folgendermaßen antworten: Da, wo ein Leben wirklich rechtschaffen ist, wirkt das unbekannte oder aber bewußt abgelehnte Evangelium bereits im Unterbewußtsein desjenigen, der unter ehrlichem Ein­satz die Wahrheit sucht und bereit ist, sie anzunehmen, sobald er sie kennt. Eine solche Bereitschaft ist nämlich die Offenbarung der Gnade, die in der Seele wirkt. Denn der Geist weht da, wo er will und wie er will (vgl. Joh 3,8). Die Freiheit des Geistes trifft sich mit der Freiheit des Menschen und bestätigt sie bis zuletzt.

Diese Präzisierung war notwendig, um die Gefahr einer pelagianischen Auslegung zu vermeiden. Diese Gefahr bestand bereits zu Zeiten des hl. Augustinus, und heute scheint sie neuerlich aufzutauchen. Pelagius gab vor, daß der Mensch auch ohne göttliche Gnade ein rechtschaf­fenes und glückliches Leben führen könne. Die göttliche Gnade sei somit nicht nötig für ihn. Die Wahrheit ist jedoch, daß der Mensch tatsächlich zum Heil aufgerufen ist, daß ein rechtschaffenes Leben die Voraussetzung für dieses Heil ist und daß das Heil nicht ohne den Beistand der Gnade erreicht werden kann.

Letztendlich kann nur Gott, der auf die Mitwirkung des Menschen wartet, den Menschen retten. Die Tatsache, daß der Mensch mit Gott gemeinsam wirken kann, ist aus­schlaggebend für seine authentische Größe. Die Wahr­heit, nach der der Mensch aufgrund des Endzwecks sei­nes Lebens, d. h. des Heils und der Vergöttlichung, dazu aufgerufen ist, an allem mitzuwirken, hat in der östlichen Tradition des sogenannten Synergismus Ausdruck gefunden. Der Mensch »erschafft« mit Gott die Welt, der Mensch »schafft« mit Gott sein persönliches Heil. Die Vergöttlichung des Menschen kommt von Gott. Aber auch hier ist das Ja des Menschen zum Zusammenwir­ken mit Gott erforderlich.

_______

Quelle: Johannes Paul II – Die Schwelle der Hoffnung überschreiten – herausgegeben von Vittorio Messori – Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg

»Seid gewiß: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt« (Mt 28, 20)

25. Das Gespräch Jesu mit dem reichen Jüngling wird gewissermaßen in jeder Epoche der Geschichte, auch heute, weitergeführt. Die Frage: »Meister, was muß ich Gutes tun, um das ewige Leben zu gewinnen?« bricht im Herzen jedes Menschen auf, und es ist immer und allein Christus, der die volle und entscheidende Antwort anbietet. Der Meister, der die Gebote Gottes lehrt, der zur Nachfolge einlädt und die Gnade für ein neues Leben schenkt, ist immer unter uns gegenwärtig und tätig, gemäß der Verheißung: »Seid gewiß: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt« (Mt28, 20). Das gleichzeitige Gegenwärtigsein Christi mit dem Menschen jeder Zeit verwirklicht sich im lebendigen Leib der Kirche. Darum hat der Herr seinen Jüngern den Heiligen Geist verheißen: er würde sie an seine Gebote »erinnern« und sie ihnen verständlich machen (vgl. Joh 14, 26) und würde der Anfang und Quell eines neuen Lebens in der Welt sein (vgl. Joh 3, 5-8; Röm 8, 1-13).

Die von Gott im Alten Bund auferlegten und im Neuen und Ewigen Bund in der Person des menschgewordenen Gottessohnes erfüllten sittlichen Gebote müssen treu bewahrt und in den verschiedenen Kulturen im Laufe der Geschichte immer wieder aktualisiert werden. Die Aufgabe ihrer Interpretation war von Jesus den Aposteln und ihren Nachfolgern mit dem besonderen Beistand des Geistes der Wahrheit übertragen worden: »Wer euch hört, der hört mich« (Lk 10, 16). Mit dem Licht und der Kraft dieses Geistes haben die Apostel den Auftrag erfüllt, das Evangelium zu verkünden und »im Weg« des Herrn zu unterweisen (vgl. Apg 18, 25), indem sie vor allem die Nachfolge und Nachahmung Christi lehren: »Für mich ist Christus das Leben« (Phil 1, 21).

26. In der Moralkatechese der Apostel gibt es neben Ermahnungen und an den kulturellen Kontext gebundenen Weisungen eine ethische Unterweisung mit genauen Verhaltensnormen. Das geht aus ihren Briefen hervor, die vom Heiligen Geist geleitete Interpretation der Gebote des Herrn enthalten, die unter den verschiedenen kulturellen Gegebenheiten gelebt werden sollen (vgl. Röm 12-15; 1 Kor11-14; Gal 5-6; Eph 4-6; Kol 3-4; 1 Petr und Jak ). Die Apostel, die mit der Verkündigung des Evangeliums beauftragt waren, haben seit den Anfängen der Kirche kraft ihrer pastoralen Verantwortung über die Rechtschaffenheit des Verhaltens der Christen gewacht, 35 ebenso wie sie über die Reinheit des Glaubens und über die Weitergabe der göttlichen Gaben durch die Sakramente wachten. 36 Die ersten Christen, die sowohl aus dem jüdischen Volk wie aus den anderen Völkern stammten, unterschieden sich von den Heiden nicht nur durch ihren Glauben und ihre Liturgie, sondern auch durch das Zeugnis ihres am Neuen Gesetz inspirierten sittlichen Verhaltens. 37 Die Kirche ist nämlich zugleich Glaubens- und Lebensgemeinschaft; ihre Norm ist »der Glaube, der in der Liebe wirksam ist« (Gal 5, 6).

Kein Riß darf die Harmonie zwischen Glaube und Leben gefährden: die Einheit der Kirche wird nicht nur von den Christen verletzt, die die Glaubenswahrheiten ablehnen oder verzerren, sondern auch von jenen, die die sittlichen Verpflichtungen verkennen, zu denen sie das Evangelium aufruft (vgl.1 Kor 5, 9-13). Die Apostel haben jede Trennung zwischen dem Anliegen des Herzens und den Gesten, die es zum Ausdruck bringen und kontrollieren, entschieden abgelehnt (vgl. 1 Joh 2, 3-6). Und seit der apostolischen Zeit haben die Bischöfe der Kirche die Vorgehensweisen derjenigen mit aller Klarheit angezeigt, die mit ihren Lehren oder mit ihrem Verhalten Spaltungen Vorschub leisteten. 38

27. Die Förderung und Bewahrung des Glaubens und des sittlichen Lebens in der Einheit der Kirche ist die von Jesus den Aposteln anvertraute Aufgabe (vgl. Mt 28, 19-20), die auf das Amt ihrer Nachfolger übergeht. Das alles findet sich in der lebendigen Überlieferung, durch die – wie das II. Vatikanische Konzil lehrt – »die Kirche in Lehre, Leben und Kult alles, was sie selber ist, alles, was sie glaubt durch die Zeiten weiterführt und allen Geschlechtern übermittelt. Diese apostolische Überlieferung kennt in der Kirche unter dem Beistand des Heiligen Geistes einen Fortschritt«. 39 Im Geist empfängt die Kirche die Schrift und gibt sie weiter als Zeugnis für »das Große«, das Gott in der Geschichte bewirkt (vgl. Lk 1, 49), durch den Mund der Kirchenväter und -lehrer bekennt sie die Wahrheit des fleischgewordenen Wortes, setzt dessen Gebote und die Liebe im Leben der Heiligen und im Opfer der Märtyrer in die Praxis um, feiert deren Hoffnung in der Liturgie: durch die Überlieferung empfangen die Christen »die lebendige Stimme des Evangeliums« 40 als gläubigen Ausdruck der göttlichen Weisheit und des göttlichen Willens.

Innerhalb der Überlieferung entwickelt sich mit dem Beistand des Heiligen Geistes die authentische Interpretation des Gesetzes des Herrn. Der Geist selbst, der am Beginn der Offenbarung der Gebote und der Lehren Jesu steht, gewährleistet, daß sie heiligmäßig bewahrt, getreu dargelegt und im Wechsel der Zeiten und Umstände korrekt angewandt werden. Diese »Aktualisierung« der Gebote ist Zeichen und Frucht eines tieferen Eindringens in die Offenbarung und eines Verstehens neuer historischer und kultureller Situationen im Lichte des Glaubens. Sie kann jedoch nur die bleibende Gültigkeit der Offenbarung bestätigen und sich in den Traditionsstrom der Auslegung einfügen, den die große Lehr- und Lebensüberlieferung der Kirche bildet und dessen Zeugen die Lehre der Kirchenväter, das Leben der Heiligen, die Liturgie der Kirche und das Lehramt sind.

Insbesondere ist – wie das Konzil sagt – »die Aufgabe, das geschriebene oder überlieferte Wort Gottes verbindlich zu erklären, nur dem lebendigen Lehramt der Kirche anvertraut, dessen Vollmacht im Namen Jesu Christi ausgeübt wird«. 41 Auf diese Weise erscheint die Kirche in ihrem Leben und in ihrer Lehre als »die Säule und das Fundament der Wahrheit« (1 Tim 3, 15), auch der Wahrheit über das sittliche Handeln. In der Tat »kommt es der Kirche zu, immer und überall die sittlichen Grundsätze auch über die soziale Ordnung zu verkündigen wie auch über menschliche Dinge jedweder Art zu urteilen, insoweit die Grundrechte der menschlichen Person oder das Heil der Seelen dies erfordern«. 42

Gerade was die Fragestellungen anbelangt, die für die Diskussion von Fragen der Moral heute kennzeichnend sind und in deren Umfeld sich neue Tendenzen und Theorien entwickelt haben, empfindet es das Lehramt in Treue zu Jesus Christus und in der Kontinuität der Tradition der Kirche als sehr dringende Pflicht, sein eigenes Urteil und seine Lehre anzubieten, um dem Menschen auf seinem Weg zur Wahrheit und zur Freiheit behilflich zu sein.

_______

Quelle: Veritatis splendor

Zitate aus der Enzyklika „GLANZ DER WAHRHEIT“ (2)

DER GLANZ DER WAHRHEIT erstrahlt in den Werken des Schöpfers und in besonderer Weise in dem nach dem Abbild und Gleichnis Gottes geschaffenen Menschen (vgl. Gen 1, 26): die Wahrheit erleuchtet den Verstand und formt die Freiheit des Menschen, der auf diese Weise angeleitet wird, den Herrn zu erkennen und zu lieben. Darum betet der Psalmist: »Herr, laß dein Angesicht über uns leuchten!« (Ps 4, 7).

3. In diesem Bemühen [der Suche nach dem Sinn des Lebens] sind die Bischöfe der Kirche in Gemeinschaft mit dem Nachfolger Petri den Gläubigen nahe, sie begleiten und lenken sie mit ihrem Lehramt, wobei sie immer neue Akzente für Liebe und Barmherzigkeit finden, um sich nicht nur an die Gläubigen, sondern an alle Menschen guten Willens zu wenden. Das II. Vatikanische Konzil bleibt ein hervorragendes Zeugnis für diese Haltung der Kirche, die sich, »erfahren in den Fragen, die den Menschen betreffen«, 5 in den Dienst jedes Menschen und des ganzen Menschen stellt. 6

Die Kirche weiß, daß der moralische Anspruch jeden Menschen im Innersten erreicht, daß er alle miteinbezieht, auch jene, die Christus und sein Evangelium nicht kennen und nicht einmal etwas von Gott wissen. Sie weiß, daß eben auf dem Weg des sittlichen Lebens allen der Weg zum Heil offensteht, woran das II. Vatikanische Konzil mit aller Klarheit erinnert, wenn es schreibt: »Wer nämlich das Evangelium Christi und seine Kirche ohne Schuld nicht kennt, Gott aber aus ehrlichem Herzen sucht, seinen im Anruf des Gewissens erkannten Willen unter dem Einfluß der Gnade in der Tat zu erfüllen trachtet, kann das ewige Heil erlangen«. Und es fügt hinzu: »Die göttliche Vorsehung verweigert auch denen das zum Heil Notwendige nicht, die ohne Schuld noch nicht zur ausdrücklichen Anerkennung Gottes gekommen sind, jedoch, nicht ohne die göttliche Gnade, ein rechtes Leben zu führen sich bemühen. Was sich nämlich an Gutem und Wahrem bei ihnen findet, wird von der Kirche als Vorbereitung für die Frohbotschaft und als Gabe dessen geschätzt, der jeden Menschen erleuchtet, damit er schließlich das Leben habe«. 7

4. Seit jeher, aber vor allem im Lauf der beiden letzten Jahrhunderte haben die Päpste sowohl persönlich wie gemeinsam mit dem Bischofskollegium eine Sittenlehre entwickelt und vorgelegt, die die vielfältigen und verschiedenen Bereiche des menschlichen Lebens berücksichtigt. Im Namen und mit der Autorität Jesu Christi haben sie ermahnt, verkündet, erklärt; in Treue zu ihrer Sendung, im Ringen für den Menschen haben sie bestärkt, aufgerichtet und getröstet; mit der Garantie des Beistands des Geistes der Wahrheit haben sie zu einem besseren Verständnis der sittlichen Ansprüche im Bereich der menschlichen Sexualität, der Familie, des sozialen, wirtschaftlichen und politischen Lebens beigetragen. Ihre Lehre stellt sowohl innerhalb der Überlieferung der Kirche wie der Menschheitsgeschichte eine ständige Vertiefung der sittlichen Erkenntnis dar. 8

_______

Quelle: Veritatis splendor

Zitate aus der Enzyklika „GLANZ DER WAHRHEIT“ (1)

Jesus Christus, das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet

1. Durch den Glauben an Jesus Christus, »das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet« (Joh 1, 9), zum Heil berufen, werden die Menschen »Licht durch den Herrn« und »Kinder des Lichts« (Eph5, 8) und heiligen sich durch den »Gehorsam gegenüber der Wahrheit« (1 Petr 1, 22).

Dieser Gehorsam ist nicht immer leicht. In der Folge der geheimnisvollen Ursünde, begangen auf Anstiftung Satans, der »ein Lügner und der Vater der Lüge ist« (Joh 8, 44), ist der Mensch immerfort versucht, seinen Blick vom lebendigen und wahren Gott ab- und den Götzen zuzuwenden (vgl. 1 Thess 1, 9), während er »die Wahrheit Gottes mit der Lüge« vertauscht (Röm 1, 25); damit wird auch seine Fähigkeit, die Wahrheit zu erkennen, beeinträchtigt und sein Wille, sich ihr zu unterwerfen, geschwächt. Und so geht er, während er sich dem Relativismus und Skeptizismus überläßt (vgl. Joh18, 38), auf die Suche nach einer trügerischen Freiheit außerhalb dieser Wahrheit.

Aber keine Finsternis des Irrtums und der Sünde vermag das Licht des Schöpfergottes im Menschen völlig auszulöschen. In der Tiefe seines Herzens besteht immer weiter die Sehnsucht nach der absoluten Wahrheit und das Verlangen, in den Vollbesitz ihrer Erkenntnis zu gelangen. Davon gibt das unermüdliche menschliche Suchen und Forschen auf jedem Gebiet ein beredtes Zeugnis. Das beweist noch mehr die Suche nach dem Sinn des Lebens. Die Entwicklung von Wissenschaft und Technik ist zwar ein großartiges Zeugnis der Fähigkeit des Verstandes und der Ausdauer der Menschen, befreit aber die Menschheit nicht davon, sich letzte religiöse Fragen zu stellen, sie spornt sie vielmehr dazu an, die schmerzlichsten und entscheidendsten Kämpfe, jene im Herzen und im Gewissen, auszutragen.

2. Jeder Mensch muß sich den grundlegenden Fragen stellen: Was soll ich tun? Wie ist das Gute vom Bösen zu unterscheiden? Die Antwort ist, wie der Psalmist bezeugt, nur möglich dank des Glanzes der Wahrheit, die im Innersten des menschlichen Geistes erstrahlt: »Viele sagen: ‚Wer macht uns das Gute sehen?‘ Herr, laß dein Angesicht über uns leuchten!« (Ps 4, 7).

Gott läßt sein Angesicht in seiner ganzen Schönheit leuchten über dem Angesicht Jesu Christi, »Ebenbild des unsichtbaren Gottes« (Kol 1, 15), »Abglanz seiner Herrlichkeit« (Hebr 1, 3), »voll Gnade und Wahrheit« (Joh 1, 14): Er ist »der Weg, die Wahrheit und das Leben« (Joh 14, 6). Darum wird die entscheidende Antwort auf jede Frage des Menschen, insbesondere auf seine religiösen und moralischen Fragen, von Jesus Christus gegeben, ja ist Jesus Christus selbst die Antwort, wie das II. Vatikanische Konzil in Erinnerung bringt: »Tatsächlich klärt sich nur im Geheimnis des fleischgewordenen Wortes das Geheimnis des Menschen wahrhaft auf: Denn Adam, der erste Mensch, war das Vorausbild des zukünftigen, nämlich Christi des Herrn. Christus, der neue Adam, macht eben in der Offenbarung des Geheimnisses des Vaters und seiner Liebe dem Menschen den Menschen selbst voll kund und erschließt ihm seine höchste Berufung«. 1


 

Gewiß, der Mensch muß, um ein »gutes Gewissen« (1 Tim 1, 5) zu haben, nach der Wahrheit suchen und gemäß dieser Wahrheit urteilen. Das Gewissen muß, wie der Apostel Paulus sagt, »vom Heiligen Geist erleuchtet« sein (Röm 9,1), es muß »rein« sein (2 Tim 1, 3), es darf »das Wort Gottes nicht verfälschen«, sondern muß »offen die Wahrheit lehren« (2 Kor 4, 2). Andererseits ermahnt derselbe Apostel die Christen mit den Worten: »Gleicht euch nicht dieser Welt an, sondern wandelt euch und erneuert euer Denken, damit ihr prüfen und erkennen könnt, was der Wille Gottes ist: was ihm gefällt, was gut und vollkommen ist« (Röm 12, 2).

Die Mahnung des Paulus hält uns zur Wachsamkeit an mit dem warnenden Hinweis, daß sich in den Urteilen unseres Gewissens immer auch die Möglichkeit des Irrtums einnistet. Das Gewissensurteil ist kein unfehlbares Urteil: es kann irren. Nichtsdestoweniger kann der Irrtum des Gewissens das Ergebnis einer unüberwindbaren Unwissenheit sein, das heißt einer Unkenntnis, derer sich der Mensch nicht bewußt ist und aus der er allein nicht herausgelangen kann.

In dem Fall, wo diese unüberwindliche Unkenntnis nicht schuldhaft ist, verliert das Gewissen – so erinnert uns das Konzil – nicht seine Würde, weil es, auch wenn es uns tatsächlich in einer von der objektiven sittlichen Ordnung abweichenden Weise anleitet, dennoch nicht aufhört im Namen jener Wahrheit vom Guten zu reden, zu deren aufrichtiger Suche der Mensch aufgerufen ist.

63. Auf jeden Fall beruht die Würde des Gewissens immer auf der Wahrheit: Im Falle des rechten Gewissens handelt es sich um die vom Menschen angenommene objektive Wahrheit, im Falle des irrenden Gewissens handelt es sich um das, was der Mensch ohne Schuld subjektiv für wahr hält. Auf der anderen Seite ist es niemals zulässig, einen »subjektiven« Irrtum hinsichtlich des sittlich Guten mit der »objektiven«, dem Menschen auf Grund seines Endzieles rational einsehbaren Wahrheit zu vermengen oder zu verwechseln, noch den sittlichen Wert der mit wahrem und lauterem Gewissen vollzogenen Handlung mit jener gleichzusetzen, die in Befolgung des Urteils eines irrenden Gewissens ausgeführt wurde. 108 Das aufgrund einer unüberwindbaren Unwissenheit oder eines nicht schuldhaften Fehlurteils begangene Übel kann zwar der Person, die es begeht, nicht als Schuld anzurechnen sein; doch auch in diesem Fall bleibt es ein Übel, eine Unordnung in bezug auf die Wahrheit des Guten. Zudem trägt das nicht erkannte Gute nicht zu sittlicher Reifung des betreffenden Menschen bei: Es vervollkommnet ihn nicht und hilft ihm nicht, ihn geneigt zu machen für das höchste Gut. Bevor wir uns so leichtfertigerweise im Namen unseres Gewissens gerechtfertigt fühlen, sollten wir über den Psalm nachdenken: »Wer bemerkt seine eigenen Fehler? Sprich mich frei von Schuld, die mir nicht bewußt ist!« (Ps 19, 13). Es gibt Schuld, die wir nicht zu erkennen vermögen und die dennoch Schuld bleibt, weil wir uns geweigert haben, auf das Licht zuzugehen (vgl. Joh 9, 39-41).

Das Gewissen als letztes konkretes Urteil setzt seine Würde dann aufs Spiel, wenn es schuldhaft irrt, das heißt, »wenn sich der Mensch nicht müht, das Wahre und Gute zu suchen, und wenn das Gewissen infolge der Gewöhnung an die Sünde gleichsam blind wird«. 109 Auf die Gefahren der Verformung des Gewissens spielt Jesus an, wenn er mahnt: »Das Auge gibt dem Körper Licht. Wenn dein Auge gesund ist, dann wird dein Körper hell sein. Wenn aber dein Auge krank ist, dann wird dein ganzer Körper finster sein. Wenn nun das Licht in dir Finsternis ist, wie groß muß dann die Finsternis sein!« (Mt 6, 22-23).

64. In den oben wiedergegebenen Worten Jesu finden wir auch den Aufruf, das Gewissen zu bilden,es zum Gegenstand ständiger Bekehrung zum Wahren und Guten zu machen. Analog dazu ist die Aufforderung des Apostels zu verstehen, uns nicht dieser Welt anzugleichen, sondern »uns zu wandeln und unser Denken zu erneuern« (vgl. Röm 12, 2). In Wirklichkeit ist das zum Herrn und zur Liebe des Guten bekehrte »Herz« die Quelle der wahren Urteile des Gewissens. Denn »damit ihr prüfen und erkennen könnt, was der Wille Gottes ist: was ihm gefällt, was gut und vollkommen ist« (Röm 12, 2), ist zwar die Kenntnis des Gesetzes Gottes im allgemeinen notwendig, aber sie genügt nicht: eine Art von »Konnaturalität« zwischen dem Menschen und dem wahrhaft Guten ist unabdingbar. 110 Eine solche Konnaturalität schlägt Wurzel und entfaltet sich in den tugendhaften Haltungen des Menschen selbst: der Klugheit und den anderen Kardinaltugenden und, grundlegender noch, in den göttlichen Tugenden des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe. In diesem Sinne hat Jesus gesagt: »Wer aber die Wahrheit tut, kommt zum Licht » (Joh 3, 21).

Eine große Hilfe für die Gewissensbildung haben die Christen in der Kirche und ihrem Lehramt, wie das Konzil ausführt: »Bei ihrer Gewissensbildung müssen jedoch die Christgläubigen die heilige und sichere Lehre der Kirche sorgfältig vor Augen haben. Denn nach dem Willen Christi ist die katholische Kirche die Lehrerin der Wahrheit; ihre Aufgabe ist es, die Wahrheit, die Christus ist, zu verkündigen und authentisch zu lehren, zugleich auch die Prinzipien der sittlichen Ordnung, die aus dem Wesen des Menschen selbst hervorgehen, autoritativ zu erklären und zu bestätigen«. 111

Die Autorität der Kirche, die sich zu moralischen Fragen äußert, tut also der Gewissensfreiheit der Christen keinerlei Abbruch: nicht nur, weil die Freiheit des Gewissens niemals Freiheit »von« der Wahrheit, sondern immer und nur Freiheit »in« der Wahrheit ist; sondern auch weil das Lehramt an das christliche Gewissen nicht ihm fremde Wahrheiten heranträgt, wohl aber ihm die Wahrheiten aufzeigt, die es bereits besitzen sollte, indem es sie, ausgehend vom ursprünglichen Glaubensakt, zur Entfaltung bringt. Die Kirche stellt sich immer nur in den Dienst des Gewissens, indem sie ihm hilft, nicht hin- und hergetrieben zu werden von jedem Windstoß der Lehrmeinungen, dem Betrug der Menschen ausgeliefert (vgl. Eph 4, 14), und nicht von der Wahrheit über das Gute des Menschen abzukommen, sondern, besonders in den schwierigeren Fragen, mit Sicherheit die Wahrheit zu erlangen und in ihr zu bleiben.

_______

Quelle: Veritatis splendor