DAS LEHRAMT JOHANNES PAULS II. IN SEINEN 14 ENZYKLIKEN

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PÄPSTLICHE LATERAN-UNIVERSITÄT
SYMPOSIUM: „JOHANNES PAUL II. – 25 JAHRE PONTIFIKAT“

DAS LEHRAMT JOHANNES PAULS II. IN SEINEN 14 ENZYKLIKEN

ANSPRACHE VON KARD. JOSEPH RATZINGER

Freitag, 9. Mai 2003

Über die 14 Enzykliken unseres Heiligen Vaters in einer halben Stunde sprechen zu wollen, ist absurd. Jede einzelne müßte ausführlich bedacht werden, damit man dann versuchen könnte, das Gefüge des Ganzen zu verstehen, die thematischen Schwerpunkte und die Richtung ihrer Weisung zu sehen. In einer halben Stunde ist nur ein ganz grober und oberflächlicher Blick möglich; die Auswahl der Akzente bleibt notwendig einseitig und könnte auch durchaus anders erfolgen. Überdies müßte man bei einer Gesamtwürdigung auch die verschiedenen anderen Lehrschreiben des Papstes einbeziehen, die oft von nicht geringem Gewicht sind und zur Ganzheit der Lehraussagen des Heiligen Vaters unbedingt hinzugehören.

Dies alles vorausgeschickt, sind nun zunächst die Enzykliken in Gruppen verwandter Thematik einzuteilen. Da ist zunächst das in den Jahren 1979–1986 gewachsene trinitarische Triptychon zu nennen, das aus den Enzykliken Redemptor hominis, Dives in misericordia und Dominum et vivificantem besteht. Über die Zeitspanne von zehn Jahren (1981–1991) zieht sich das Werden der drei Sozial-Enzykliken – Laborem exercens, Sollicitudo rei socialis, Centesimus annus – hin. Dann gibt es Enzykliken mit ekklesiologischer Thematik: Slavorum apostoli (1985), Redemptoris missio (1990), Ut unum sint (1995). Dem ekklesiologischen Bereich darf man auch die bisher letzte Enzyklika des Papstes Ecclesia de Eucharistia (2003) zurechnen und in gewisser Hinsicht auch die marianische Enzyklika Redemptoris Mater (1987): Schon in seiner ersten Enzyklika hatte der Papst die Themen Mutter Kirche und Mutter der Kirche eng miteinander verknüpft und zugleich ins Geschichtstheologische und Pneumatologische ausgeweitet: »Ich bitte vor allem Maria, die himmlische Mutter der Kirche, sie möchte während dieses Gebetes im neuen Advent der Menschheit bei uns bleiben, die wir die Kirche bilden, den Mystischen Leib ihres eingeborenen Sohnes. Ich möchte, daß wir dank eines solchen Gebetes den Heiligen Geist aus der Höhe empfangen können und so Zeugen Christi werden ›bis ans Ende der Erde‹…« (Nr. 22). In der Mariologie treffen für den Papst alle großen Themen des Glaubens zusammen; keine Enzyklika schließt ohne einen Hinblick auf die Mutter des Herrn. Schließlich bleiben da drei große Lehrtexte, die wir dem anthropologischen Bereich zuordnen dürfen: Veritatis splendor (1993), Evangelium vitae (1995) und Fides et ratio (1998).

Die erste Enzyklika Redemptor hominis ist die persönlichste, der Ausgangspunkt aller weiteren Enzykliken. Es wäre leicht zu zeigen, daß alle künftigen Themen hier schon angeschlagen sind: Das Thema Wahrheit, der Zusammenhang von Wahrheit und Freiheit, wird in seinem ganzen Ernst angesprochen inmitten einer Welt, die Freiheit will, aber Wahrheit als Anmaßung und Gegensatz zur Freiheit betrachtet. Die ökumenische Leidenschaft des Papstes meldet sich schon in diesem ersten großen Lehrtext zu Worte. Die großen Akzente der Eucharistie-Enzyklika – Eucharistie und Opfer, Opfer und Erlösung, Eucharistie und Buße: All das wird hier schon in großen Linien dargestellt. Der Imperativ »tötet nicht« – das große Thema von Evangelium vitae – wird laut in die Welt hineingerufen. Mit dem marianischen Thema ist die für den Papst kennzeichnende Orientierung auf die Zukunft des Christentums hin verknüpft, wie wir schon sahen. Die Bindung der Kirche an Christus ist für den Heiligen Vater nicht Bindung an Vergangenheit, Orientierung nach rückwärts, sondern gerade Verbindung mit dem, der Zukunft ist und Zukunft gibt und die Kirche auffordert, sich einer neuen Periode des Glaubens zu öffnen. Man spürt die persönliche Betroffenheit, die Hoffnung, aber auch das innere Drängen des Papstes, daß der Herr uns doch neu Gegenwart des Glaubens und des erfüllten Lebens, ein neues Pfingsten, schenken möge, wenn aus ihm die Bitte geradezu explosiv hervorbricht: »Die Kirche unserer Zeit scheint mit immer größerem Eifer inständig und beharrlich zu wiederholen ›Komm, Heiliger Geist!‹ Komm! Komm!« (Nr. 18).

All diese Themen, die – wie schon gesagt – das ganze Lehrwerk des Papstes vorwegnehmen, sind von einer Vision zusammengehalten, die wir wenigstens in ihrer wesentlichen Richtung versuchen müssen, zu erkennen. In den Exerzitien, die der Krakauer Kardinal 1976 für Paul VI. und die Römische Kurie gehalten hatte, erzählt er, wie die katholischen Intellektuellen Polens in den ersten Nachkriegsjahren zunächst dem nun offiziell gewordenen marxistischen Materialismus entgegen den Absolutheitscharakter der Materie zu widerlegen versuchten. Aber sehr bald verlagerte sich das Zentrum des Disputs: Es ging nicht mehr um die philosophischen Grundlagen der Naturwissenschaft (auch wenn das Thema immer seine Bedeutung behält), sondern um die Anthropologie: Wer ist der Mensch? – das war die Frage. Diese Anthropologie ist nicht einfach eine philosophische Theorie des Menschen, sondern sie hat existentiellen Charakter. Ihr verborgenes Thema ist die Frage der Erlösung. Wie kann der Mensch leben? Wer hat die Antwort auf die Frage nach dem Menschen – diese ganz praktische Frage: Kann der Materialismus, der Marxismus uns das Leben lehren oder das Christentum? So ist die anthropologische Frage eine wissenschaftliche und rationale, aber zugleich eine ganz pastorale Frage: Wie können wir den Menschen den Weg zum Leben zeigen und auch den Nichtglaubenden sichtbar machen, daß wir seine Fragen teilen und daß Petrus angesichts des menschlichen Dilemmas von heute wie von damals Recht hat, wenn er zum Herrn sagt: »Herr, zu wem sollen wir gehen? Du allein hast Worte des ewigen Lebens« (Joh 6,68). Philosophie, Pastoral und Glaube der Kirche verschmelzen in diesem anthropologischen Ringen.

Johannes Paul II. hat in seiner ersten Enzyklika sozusagen den Ertrag seines bisherigen Weges als Hirte der Kirche und als Denker unserer Zeit zusammengefaßt. Seine erste Enzyklika kreist um die Frage nach dem Menschen. Beinahe zum Schlagwort geworden ist der Satz: Der Mensch »ist der erste und grundlegende Weg der Kirche« (Nr. 14). Aber man hat beim Zitieren dieses Wortes allzu häufig vergessen, daß der Papst kurz vorher formuliert hatte: »Jesus Christus ist der Hauptweg der Kirche. Er ist unser Weg zum ›Haus des Vaters‹ (vgl. Joh 14,1 ff.), und er ist auch der Zugang zu jedem Menschen« (Nr. 13). Demgemäß fährt auch die Formel vom Menschen als ersten Weg der Kirche sofort weiter: »…ein Weg, der von Christus selbst vorgezeichnet ist und unabänderlich durch das Geheimnis der Menschwerdung und der Erlösung führt« (Nr. 14). Anthropologie und Christologie sind für den Papst untrennbar. Wer der Mensch ist und wohin er gehen muß, um das Leben zu finden – das eben ist in Christus erschienen. Dieser Christus ist nicht bloß ein Schaubild menschlicher Existenz – ein Beispiel, wie man leben soll –, sondern er ist »jedem Menschen in gewisser Weise geeint« (Nr. 13). Er rührt uns an der Wurzel unserer Existenz von innen her an und wird so dem Menschen von innen her zum Weg. Er bricht die Isolation des Ich auf; er ist die Garantie der unzerstörbaren Würde jedes einzelnen und zugleich der Überwinder der Vereinzelung in eine Kommunikation, nach der das ganze Wesen des Menschen Ausschau hält.

Anthropozentrik ist beim Papst zugleich Christozentrik und umgekehrt. Gegenüber der Meinung, was der Mensch sei, könne nur aus den primitiven Formen des Menschseins sozusagen von unten her erklärt werden, ist der Papst der Überzeugung, daß das, was der Mensch ist, nur vom vollkommenen Menschen her erfaßt werden kann und daß von dort her der Weg des Menschseins zu erkennen ist. Er hätte sich dafür auf Teilhard de Chardin berufen können, der einmal so formuliert hat: »Die wissenschaftliche Lösung des menschlichen Problems bietet keineswegs ausschließlich das ausschließliche Studium der Fossilien, sondern eine aufmerksame Betrachtung der Eigenschaften und Möglichkeiten des Menschen von heute, die den Menschen von morgen bestimmen werden.« Johannes Paul II. geht freilich über diese Diagnose hinaus: Wer der Mensch ist, können wir letztlich nur an dem ablesen, der ganz das Wesen des Menschseins erfüllt: Gottes Ebenbild zu sein, ja, der Gottes eigener Sohn ist, Gott von Gott und Licht vom Licht. So entspricht es der inneren Richtung der ersten Enzyklika, daß sie im Fortgang des päpstlichen Lehramtes mit zwei anderen Enzykliken zu einem trinitarischen Triptychon zusammengewachsen ist. Die Frage nach dem Menschen ist von der Frage nach Gott nicht zu trennen. Die These Guardinis, daß den Menschen nur kennt, wer Gott kennt, findet in dieser Einschmelzung der Anthropologie in die Gottesfrage eine klare Bestätigung.

Werfen wir noch einen kurzen Blick auf die beiden anderen Tafeln des trinitarischen Triptychons! Das Thema Gott-Vater erscheint zunächst sozusagen verhüllt unter dem Titel Dives in misericordia. Man darf wohl annehmen, daß der Papst den Impuls zu dieser Thematik aus der Frömmigkeit der Krakauer Nonne Faustyna Kowalska empfangen hat, die er später zur Ehre der Altäre erhoben hat: Das Erbarmen Gottes in die Mitte christlichen Glaubens und Lebens zu stellen war das große Anliegen dieser heiligen Frau gewesen. Sie hat damit die Neuheit des Christlichen auf eine gerade für unsere Zeit mit der Erbarmungslosigkeit ihrer Ideologien aus der Kraft ihres geistlichen Lebens neu zum Leuchten gebracht. Man braucht sich dabei nur daran zu erinnern, daß Seneca – ein dem Christentum in mancher Hinsicht recht nahekommender Denker der römischen Welt – einmal formuliert hat: »Mitleid ist eine Schwäche, eine Krankheit.« 1000 Jahre später hat Bernhard von Clairvaux aus dem Geist der Väter heraus die wunderbare Formel gefunden: »Gott kann nicht leiden, aber er kann mit-leiden.« Ich finde es wunderbar, daß der Papst seine Enzyklika über Gott den Vater unter das Thema des göttlichen Erbarmens gestellt hat. Die erste Überschrift der Enzyklika lautet: Wer mich sieht, sieht den Vater (Joh 14,9). Christus sehen heißt den erbarmenden Gott sehen. Großartig ist an dieser Enzyklika die über drei Seiten sich hinziehende Anmerkung über die biblische Terminologie des göttlichen Erbarmens im Alten Testament, in der auch das Wort rahamin erläutert wird, das von dem Wort rehem (Mutterschoß) herkommt und dem Erbarmen Gottes die Züge der mütterlichen Liebe einzeichnet. Der andere Höhepunkt der Enzyklika ist ihre tiefsinnige Auslegung des Gleichnisses vom verlorenen Sohn, in der das Bild des Vaters in seiner ganzen Größe und Schönheit aufleuchtet.

Nur noch ein kurzes Wort zur Enzyklika über den Heiligen Geist, in der sich das Thema Wahrheit und Gewissen ausdrücklich zu Wort meldet. Als die eigentliche Gabe des Heiligen Geistes sieht der Papst »das Geschenk der Wahrheit des Gewissens und das Geschenk der Gewißheit der Erlösung« (Nr. 31) an. Demgemäß steht an der Wurzel der Sünde die Lüge, die Zurückweisung der Wahrheit: »Der ›Ungehorsam‹ als ursprüngliche Dimension der Sünde bedeutet die Zurückweisung dieser Quelle wegen des Anspruchs des Menschen, selbst autonome und alleinige Quelle für die Bestimmung von Gut und Böse zu werden « (Nr. 36) Die grundlegende Vision von Veritatis splendor erscheint hier schon mit aller Deutlichkeit. Es ist klar, daß der Papst gerade in der Enzyklika über den Heiligen Geist nicht bei der Diagnose unserer Gefährdungen stehen bleibt, sondern sie stellt, um den Weg zur Heilung zu öffnen. In der Bekehrung wandelt sich die Mühsal des Gewissens in heilende Liebe, die zu leiden weiß: »Der verborgene Ausspender dieser heilenden Kraft ist der Heilige Geist …« (Nr. 45).

Ich habe mich lang – wohl zu lange – beim trinitarischen Triptychon aufgehalten, weil es das ganze Programm der weiteren Enzykliken in sich trägt und es an den Glauben an Gott zurückbindet. Wohl oder übel müssen nun für die folgenden Enzykliken ein paar ganz schematische Hinweise genügen. Die drei großen Sozial-Enzykliken wenden die Anthropologie des Papstes auf die soziale Problematik unseres Jahrhunderts an. Er betont den Vorrang des Menschen gegenüber den Produktionsmitteln, den Vorrang der Arbeit gegenüber dem Kapital, den Vorrang der Ethik gegenüber der Technik. Im Brennpunkt steht die Würde des Menschen, der immer selbst ein Zweck und nie ein Mittel ist; von da her werden die großen Zeitfragen der sozialen Problematik in kritischer Auseinandersetzung mit dem Marxismus wie mit dem Liberalismus geklärt.

Die ekklesiologischen Enzykliken würden eine ausführliche Würdigung verdienen, auf die ich hier verzichten muß. Wenn Ecclesia de Eucharistia die Kirche von innen und oben und gerade so in ihrer gemeinschaftsstiftenden Kraft betrachtet, wenn Redemptoris Mater die Urgestalt der Kirche in Maria und ihr mütterliches Geheimnis behandelt, so stellen die drei weiteren Enzykliken dieser Gruppe die beiden großen Beziehungsfelder dar, in denen Kirche lebt: Der ökumenische Dialog als Suche nach der Einheit der Getauften gemäß dem Auftrag des Herrn, gemäß der inneren Logik des Glaubens, der als Kraft der Einheit von Gott in die Welt gesandt ist, ist der eine Beziehungsbereich, den der Papst in Ut unum sint mit der ganzen Leidenschaft seines ökumenischen Wollens ins Bewußtsein der Kirche rückt. Auch Slavorum apostoli ist ein ökumenischer Text von besonderer Schönheit: Er ist zum einen im Beziehungsfeld von Ost und West angesiedelt, zum anderen zeigt er den Zusammenhang von Glaube und Kultur, die kulturschöpferische Kraft des Glaubens, der in der Begegnung der Kulturen seine eigene Tiefe auslotet und zugleich neue Dimensionen der Einheit erfährt. Das andere Beziehungsfeld ist die Zuwendung zu den Menschen, die in nichtchristlichen Religionen oder ohne Religion leben, um ihnen Jesus zu verkünden, von dem Petrus zu den versammelten Pharisäern des jüdischen Volkes gesagt hatte: »In keinem anderen ist das Heil zu finden. Denn es ist uns Menschen kein anderer Name unter dem Himmel gegeben, durch den wir gerettet werden sollen« (Apg 4,12). Der Papst klärt in diesem Text die Beziehung von Dialog und Verkündigung. Er zeigt, daß Mission, die Verkündigung Christi an alle, die Christus nicht kennen, immer geboten bleibt, weil jeder Mensch von innen auf den wartet, in dem Gott und Mensch geeint sind – auf den »Erlöser der Menschen«.

Kommen wir zum Schluß zu den drei großen Enzykliken, in denen die anthropologische Thematik von verschiedenen Seiten her aufgerollt wird. Veritatis splendor spricht nicht nur in die innerkirchliche Krise der Moraltheologie hinein, sondern gehört zum weltweiten Disput um das Ethos, der heute eine Überlebensfrage der Menschheit geworden ist. Gegenüber einer Moraltheologie, die sich im 19. Jahrhundert immer gefährlicher auf Kasuistik verengt hatte, war schon in den Jahrzehnten vor dem Konzil eine deutliche Gegenbewegung in Gang gekommen: Die ethische Weisung des Christentums sollte wieder in ihrer großen positiven Vision aus dem Innern des Glaubens her und nicht als Katalog von Verboten gesehen werden. Die Idee der Nachfolge Christi und das Prinzip Liebe wurden als die grundlegenden Leitideen entfaltet, aus denen sich dann die einzelnen Weisungen organisch ergeben. Der Wille, sich vom Glauben als dem neuen Licht inspirieren zu lassen, das die ethische Weisung durchsichtig macht, hatte zugleich eine Abwendung von der naturrechtlichen Fassung der Moral zugunsten einer heilsgeschichtlich- biblischen Konstruktion eingeleitet. Das II. Vaticanum hatte diese Ansätze bestätigt und verstärkt.

Aber der Versuch, eine rein biblische Moral aufzubauen, erwies sich angesichts der konkreten Fragestellungen der Zeit als undurchführbar. Der bloße Biblizismus ist gerade in der Moraltheologie kein möglicher Weg. So ist überraschend schnell nach einer kurzen Phase des Mühens um eine biblische Inspiration der Moraltheologie der Umschlag in den Versuch einer rein rationalen Begründung des Ethos erfolgt, aber die Rückkehr zum Naturrechtsgedanken schien nun verbaut: Die antimetaphysische Strömung, die vielleicht schon im versuchten Biblizismus mitgewirkt hatte, ließ das Naturrecht als veraltetes und nicht mehr aktualisierbares Modell erscheinen. So blieb man einer positivistischen Rationalität ausgeliefert, die das Gute als solches nicht mehr kennt. »Gut ist«, so sagte damals ein Moraltheologe, »immer nur besser als«.

Der Maßstab, der nun blieb, war das Kalkül der Folgen. Moralisch ist dann, was von den voraussehbaren Folgen her am meisten positiv erscheint. Nicht immer ist der Konsequenzialismus so radikal durchgeführt worden. Aber im Letzten läuft er auf eine solche Konstruktion hinaus, bei der das eigentlich Moralische abgedankt ist, weil es das Gute als solches nicht gibt. Für einen solchen Typus von Rationalität hat auch die Bibel nichts mehr zu sagen. Sie kann Motivationen liefern, für die Inhalte bedeutet sie nichts. Wenn es aber so ist, ist das Christentum als »Weg«, der es doch sein sollte und wollte, am Ende. Und wenn man zuvor von der Orthodoxie in die Orthopraxie geflüchtet war, so wird damit Orthopraxie zu einer tragischen Ironie: Es gibt sie ja eigentlich gar nicht.

Der Papst hat demgegenüber mit großer Entschiedenheit wieder die metaphysische Sicht ins Recht gesetzt, die einfach eine Folge des Schöpfungsglaubens ist. Wieder gelingt es ihm, Anthropozentrik und Theozentrik vom Schöpfungsglauben her ineinander zu binden und miteinander zu verschmelzen: »…schöpft die Vernunft ihre Wahrheit und ihre Autorität aus dem ewigen Gesetz, das nichts anderes als die göttliche Weisheit ist… Das Naturgesetz ist nämlich… nichts anderes als das von Gott uns eingegebene Licht des Verstandes« (Nr. 40). Gerade weil der Papst vom Schöpfungsglauben her zur Metaphysik steht, kann er auch die Bibel als gegenwärtiges Wort verstehen – metaphysische und biblische Konstruktion des Ethos verbinden. Ein Herzstück der Enzyklika, philosophisch wie theologisch gleich bedeutsam, ist der große Passus über das Martyrium (Nr. 90–94).

Wenn es nichts mehr gibt, wofür zu sterben sich lohnt, ist auch das Leben leer geworden. Nur wenn es das unbedingt Gute gibt, für das zu sterben sich lohnt, und das immer Schlechte, das nie gut wird, ist der Mensch in seiner Würde bestätigt und sind wir geschützt vor der Diktatur der Ideologien.

Dieser Punkt ist grundlegend auch für die Enzyklika Evangelium vitae, die der Papst auf dringenden Wunsch des Weltepiskopats geschrieben hat, die aber zugleich auch Ausdruck seines eigenen leidenschaftlichen Kampfes für den unbedingten Respekt vor der Würde menschlichen Lebens ist. Wo menschliches Leben als bloß biologische Realität behandelt wird, wird es zum Gegenstand des Kalküls der Folgen. Aber der Papst sieht mit dem Glauben der Kirche im Menschen – in jedem Menschen –, wie klein oder groß, wie schwach oder wie stark, wie funktionstüchtig oder unnütz er erscheinen mag, das Bild Gottes; für jeden Menschen ist Christus gestorben, der menschgewordene Sohn Gottes selbst. Das gibt jedem einzelnen Menschen eine unendliche Kostbarkeit, eine schlechthin unantastbare Würde. Gerade weil im Menschen mehr ist als bloßer Bios, wird auch sein biologisches Leben unendlich wertvoll. Es steht niemandem zur Disposition, weil es von Gottes Würde umkleidet ist. Es gibt keine noch so noblen Folgen, die das Experiment mit dem Menschen rechtfertigen könnten. Nach all den grausamen Erfahrungen des Mißbrauchs des Menschen mit scheinbar hoch moralischen Motivationen, war und ist dies ein notwendiges Wort. Es wird sichtbar, daß der Glaube die Zuflucht der Menschlichkeit ist. In der Situation metaphysischer Verdummung, in der wir stehen und die zugleich zur moralischen Verkümmerung wird, zeigt sich der Glaube als das rettend Menschliche. Der Papst als Wortführer des Glaubens verteidigt den Menschen gegen die Scheinmoral, die ihn zu zertreten droht.

Schließlich ist am Ende noch die große Enzyklika Fides et ratio – Über Glaube und Philosophie – zu bedenken. Das Thema Wahrheit, das das ganze Lehrwerk des Heiligen Vaters durchzieht, wird in seiner vollen Dramatik entfaltet. Die Erkennbarkeit von Wahrheit zu behaupten, gar die christliche Botschaft als erkannte Wahrheit zu verkündigen, wird heute weithin als Angriff auf Toleranz und Pluralismus angesehen; Wahrheit wird geradezu zu einem verbotenen Wort. Aber gerade hier steht noch einmal die Würde des Menschen zur Debatte. Wenn der Mensch der Wahrheit unfähig ist, dann ist alles, was er denkt und tut, zufällige Konvention, bloße »Tradition«. Dann bleibt ihm nur – wie wir vorhin sahen – das jeweilige Kalkül der Folgen. Aber wer kann wirklich die Folgen menschlichen Handelns überblicken? Dann sind alle Religionen nur Traditionen, und dann ist natürlich auch Verkündigung des christlichen Glaubens eine kolonialistische oder imperialistische Anmaßung. Mit der Menschenwürde vereinbar ist sie nur, wenn der Glaube Wahrheit ist, denn die verletzt niemanden; sie ist im Gegenteil das Gut, das wir einander schulden. Durch die großen Erfolge im Bereich von Naturwissenschaft und Technik ist die Vernunft den Menschheitsfragen nach Gott, nach Tod und Ewigkeit, nach dem rechten Leben gegenüber mutlos geworden. Der Positivismus legt sich wie ein grauer Star über das innere Auge des Menschen. Aber wenn diese letztlich für unser Leben entscheidenden Fragen in den Bereich des bloß Subjektiven und damit letztlich des Beliebigen verwiesen sind, sind wir im Eigentlichen des Menschseins erblindet. Vom Glauben her fordert der Papst die Vernunft zum Mut des Erkennens der wesentlichen Wirklichkeiten auf. Wenn der Glaube nicht im Licht der Vernunft steht, dann ist er zur bloßen Tradition abgesunken und damit eben auch im Tiefsten für beliebig erklärt.

Der Glaube braucht den Mut der Vernunft zu sich selbst. Er steht nicht gegen sie, sondern fordert sie heraus, sich das Große zuzutrauen, zu dem sie geschaffen ist. Sapere aude – mit diesem Imperativ hatte Kant das Wesen von Aufklärung umschrieben. Man könnte sagen, daß der Papst auf eine neue Weise einer metaphysisch mutlos gewordenen Vernunft zuruft: Sapere aude! Trau dir das Große zu! Dafür bist du bestimmt. Der Glaube, so zeigt uns der Papst, will die Vernunft nicht zum Schweigen bringen, sondern sie von dem Schleier des Stars befreien, der angesichts der großen Fragen der Menschheit weithin auf ihr liegt. Wiederum zeigt sich, daß der Glaube den Menschen in seinem Menschsein verteidigt. Josef Pieper hat einmal den Gedanken geäußert, daß in der »letzten Epoche der Geschichte, unter der Herrschaft von Sophistik und korrupter Pseudophilosophie, die wahre Philosophie sich in die uranfängliche Einheit mit der Theologie zurückbegeben könnte«, daß also am Ende der Geschichte »die Wurzel aller Dinge und die äußerste Bedeutung der Existenz – das heißt doch: der spezifische Gegenstand des Philosophierens – nur noch von denen in den Blick genommen und bedacht wird, welche glauben«. Nun, wir stehen – so weit wir sehen können – nicht am Ende der Geschichte. Aber wir stehen in der Versuchung, der Vernunft ihre wahre Größe zu verweigern. Und da sieht es der Papst mit Recht als Aufgabe des Glaubens an, die Vernunft neu zum Mut zur Wahrheit zu ermutigen. Ohne Vernunft verfällt der Glaube; ohne Glaube droht die Vernunft zu verkümmern. Es geht um den Menschen. Aber damit der Mensch erlöst werde, brauchen wir den Erlöser – brauchen wir Christus, den Menschen, der Mensch und Gott in einer einzigen Person ist – »unvermischt und ungetrennt«.

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Quelle

 

Das Dekret über den Ökumenismus – nach 40 Jahren neu gelesen

2013_04_07_Kasper

KONFERENZ ZUM 40. JAHRESTAG DER PROMULGATION
DES KONZILSDEKRETS „UNITATIS REDINTEGRATIO“
(ROCCA DI PAPA, 11.-13. NOVEMBER 2004)

VORTRAG VON KARD. WALTER KASPER,
PRÄSIDENT DES PÄPSTLICHEN RATES ZUR
FÖRDERUNG DER EINHEIT DER CHRISTEN

Rocca di Papa, Zentrum „Mondo Migliore“
Donnerstag, 11. November 2004

 

Das Dekret über den Ökumenismus – nach 40 Jahren neu gelesen

 

Am 21. November 1964 hat das II. Vatikanische Konzil das Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio feierlich verkündet. Bereits in der Einleitung findet sich die Aussage: Jesus »Christus der Herr hat eine einige und einzige Kirche gegründet«; Spaltungen widersprechen dem Willen Jesu; sie sind »ein Ärgernis für die Welt und ein Schaden für die heilige Sache der Verkündigung des Evangeliums«. «Die Einheit aller Christen wiederherstellen zu helfen ist eine der Hauptaufgaben des Heiligen Ökumenischen Zweiten Vatikanischen Konzils« (UR 1).

40 Jahre sind seither vergangen, in denen dieses Dokument weit über die katholische Kirche hinaus eine Wirkungsgeschichte ohnegleichen entfaltet hat. 40 Jahre sind ein biblisches Zeitmaß. So haben wir Grund zu fragen: Was wollte dieses Dokument? Was hat es bewirkt, und wo stehen wir ökumenisch heute? Wie soll es ökumenisch weitergehen ? Ökumene quo vadis?

Das Konzil ist die Magna Charta für den Weg der Kirche ins 21. Jahrhundert (Tertio millennio adveniente, 18). Mehrfach hat der Papst gesagt, der Weg der Ökumene sei unumkehrbar (UUS 3 u. ö.), die Ökumene sei eine der pastoralen Prioritäten seines Pontifikats (UUS 99). So stellt sich die Frage: Welches sind die katholischen Prinzipien des Ökumenismus, wie das Dekret Unitatis redintegratio sie formuliert hat?

I. Die Vorbereitung des Ökumenismusdekrets

Das Dekret über den Ökumenismus ist nicht vom Himmel gefallen. Es ordnet sich in die außerhalb der katholischen Kirche entstandene ökumenische Bewegung des 20. Jahrhunderts ein (UR 1;4), die 1948 mit der Gründung des Ökumenischen Rates der Kirchen einen entscheidenden Durchbruch erzielte. Diese Bewegung wurde von der katholischen Kirche lange Zeit beargwöhnt. Ihre Rezeption durch das II. Vatikanum hat aber Wurzeln, die in die katholische Theologie des 19. Jahrhunderts zurückreichen; besonders Johann Adam Möhler und John Henry Newman sind als Vorläufer und Wegbereiter zu nennen.

Auch amtlicherseits gab es Vorbereitungen. Schon die Päpste vor dem II. Vatikanischen Konzil haben das Gebet für die Einheit und die Gebetswoche für die Einheit gefördert. Die Päpste Leo XIII. und Benedikt XV. haben die ökumenische Öffnung vorbereitet; Papst Pius XI. hat die Mechelner Gespräche (1921–1926) mit den Anglikanern ausdrücklich gebilligt1.

Papst Pius XII. tat einen weiteren Schritt. Er hat in einer Instruktion von 1950 die ökumenische Bewegung ausdrücklich begrüßt und sie auf den Einfluß des Heiligen Geistes zurückgeführt. Außerdem hat dieser Papst durch eine Reihe von bahnbrechenden Enzykliken das Konzil vorbereitet. Es wäre darum verkehrt, die grundlegende Kontinuität zu übersehen und im Konzil einen radikalen Bruch mit der Tradition zu sehen und eine neue Kirche anbrechen zu lassen.

II. Ökumene – Ausdruck der eschatologischen Dynamik der Kirche

Dennoch beginnt mit dem Konzil etwas Neues, nicht eine neue Kirche, wohl aber eine erneuerte Kirche. Es war Papst Johannes XXIII., der dazu den Anstoß gab. Er darf mit Recht als der geistliche Vater des Ökumenismusdekrets bezeichnet werden. Er wollte das Konzil und gab ihm die Zielsetzung: innere Erneuerung und Einheit der Christen.

Es soll hier nicht die bewegte Entstehungsgeschichte von Unitatis redintegratio2 nachgezeichnet werden, in der die nachtridentinisch gegenreformatorisch verengte Sicht der Kirche überwunden wurde. Dies war kein »Modernismus «; vielmehr war es die Rückbesinnung auf die biblische, patristische und hochmittelalterliche Tradition, welche den Blick frei gab für ein erneuertes Verständnis der Kirche.

Das Konzil konnte die ökumenische Bewegung deshalb aufgreifen, weil es die Kirche insgesamt als Bewegung verstanden hat, nämlich als Volk Gottes, das unterwegs ist (LG 2 Schluß; 8;9;48–51;UR 2 Schluß u.a.). Anders formuliert: Das Konzil hat die eschatologische Dimension der Kirche neu zur Geltung gebracht und die Kirche nicht als eine statische sondern als eine dynamische Größe beschrieben, als Volk Gottes, das zwischen dem »Schon« und dem »Noch nicht« pilgernd unterwegs ist. In diese eschatologische Dynamik hat das Konzil die ökumenische Bewegung integriert. So verstanden ist die Ökumene der Weg der Kirche (UUS 7). Sie ist kein Zusatz und kein Anhängsel; sie gehört vielmehr zum Wesen der Kirche und zur geschichtlichen Sendung der Kirche (UUS 20). In dieser eschatologischen Perspektive ist die ökumenische Bewegung engstens mit der Missionsbewegung verbunden. Ökumene und Mission gehören wie Zwillinge zusammen3.

Die Mission ist ein eschatologisches Phänomen, in dem die Kirche den Reichtum der Kulturen der Völker in sich aufnimmt, sie reinigt und bereichert und dabei auch selbst bereichert wird und so mit der vollen Ausprägung ihrer Katholizität beschenkt wird (AG 1 f.; 9 u.a.). Ähnlich tritt die Kirche in der ökumenischen Bewegung in einen Austausch der Gaben mit den getrennten Kirchen ein (UUS 28;57), bereichert diese, macht sich aber auch umgekehrt deren Gaben zu eigen, bringt sie zu ihrer katholischen Fülle und verwirklicht so voll die ihr eigene Katholizität (UR 4). Mission und Ökumene sind die beiden Formen des eschatologischen Wegs und der eschatologischen Dynamik der Kirche.

Das Konzil war nicht so naiv, die Gefahr zu verkennen, welche die Einordnung der ökumenischen Bewegung in die eschatologische Dynamik der Kirche mit sich bringen konnte. Die eschatologische Dynamik konnte – wie schon öfter in der Kirchengeschichte – als eine Fortschrittsbewegung mißverstanden werden, in welcher ältere Traditionsbestände als überholt empfunden und im Namen eines sogenannten fortschrittlichen Glaubensverständnisses abgestoßen werden. Wo dies geschieht, droht die Gefahr des Relativismus und Indifferentismus, eines »billigen Ökumenismus«, der sich am Ende selbst überflüssig macht. So wurde die Ökumene gelegentlich zur Beute kirchenkritischer Bewegungen und gegen die Kirche instrumentalisiert.

Mit der dogmatischen Aufweichung wird das Wesen des eschatologischen Charakters der Kirche verkannt. Denn das »Eschaton« bezieht sich nicht auf eine geschichtlich ausständige zukünftige Wirklichkeit. Es ist mit Jesus Christus und mit der Ausgießung des Heiligen Geistes endgültig in die Geschichte eingebrochen und in der Kirche präsent. Die Kirche selbst ist ein eschatologisches Phänomen; die Einheit als Wesenseigenschaft der Kirche ist darum nicht erst ein künftiges oder gar erst ein eschatologisches Ziel; die Kirche ist schon jetzt die »una sancta ecclesia« (UR 4; UUS 11–14). Der ökumenische Weg ist keine Fahrt ins Blaue. Vielmehr wird die Kirche in der Geschichte, was sie ist, was sie schon immer war und was sie bleibend ist. Sie ist unterwegs um dieses ihr Wesen in der Wirklichkeit des Lebens in seiner Fülle konkret zu verwirklichen.

Die vom Konzil und später von Papst Johannes Paul II. formulierten katholischen Prinzipien des Ökumenismus sind daher in der Abwehr eines alles banalisierenden Irenismus und Relativismus klar und eindeutig (UR 5;11;24; UUS 18;36;79). Die ökumenische Bewegung wirft nichts über Bord, was der Kirche in ihrer bisherigen Geschichte wert und teuer war; sie steht in Treue zu der einmal erkannten Wahrheit; sie fügt ihr auch nichts schlechterdings Neues hinzu. Die ökumenische Bewegung und das von ihr verfolgte Ziel der vollen Einheit der Jünger Jesu Christi bleiben eingeschrieben in die Furche der Tradition.

Die Tradition ist jedoch im Sinn der beiden großen Vorläufer des Konzils, J. A. Möhler und J. H. Newman, keine starre Größe; sie ist eine lebendige Tradition. Sie ist ein Geschehen im Heiligen Geist, der nach der Verheißung des Herrn die Kirche in die ganze Wahrheit einführt (vgl. Joh 16,13), das ein für alle Mal überlieferte Evangelium immer wieder neu aufschließt und Wachstum im Verständnis der einmal geoffenbarten Wahrheit schenkt (DV 8; vgl. DS 3020). Nach dem Märtyrerbischof Irenäus von Lyon ist es der Geist Gottes, der das ein für alle Mal überlieferte apostolische Erbe jung und frisch erhält4.

In diesem Sinn ist die ökumenische Bewegung ein charismatisches Phänomen und ein »Unternehmen des Heiligen Geistes«. Die Kirche hat ja nicht nur eine institutionelle, sondern – wie das Konzil herausstellte – auch eine charismatische Seite (LG 4;7;12;49; AA 3; AG 4;29). So ist die Ökumene ein vom Geist Gottes in Gang gesetzter und von ihm geleiteter neuer Aufbruch (UR 1;4). Der Heilige Geist, gleichsam die Seele der Kirche (LG 7), schenkt die Einheit wie die Vielfalt der Gaben und Dienste (LG 7; UR 2). So konnte das Konzil sagen, der geistliche Ökumenismus sei das Herz der Ökumene. Geistlicher Ökumenismus meint innere Umkehr, Neuwerden des Geistes, persönliche Heiligung des Lebens, Liebe, Selbstverleugnung, Demut, Geduld, aber auch Erneuerung und Reform der Kirche; nicht zuletzt ist das Gebet das Herz der ökumenischen Bewegung (UR 5–8; UUS 15 f.; 21–27).

Als geistliche Bewegung hebt die ökumenische Bewegung die Tradition nicht auf; sie schenkt vielmehr neue und vertiefte Einsicht in die ein für alle Mal gegebene Überlieferung; durch sie verschafft sich das erneuerte Pfingsten, das Johannes XXIII. in seiner Eröffnungsrede zum II. Vatikanischen Konzil vorausgesagt hatte, Bahn; in ihr bereitet sich eine neue geschichtliche Gestalt der Kirche vor, keine neue Kirche, wohl aber eine geistlich erneuerte und geistlich bereicherte Kirche. Zusammen mit der Mission ist die Ökumene der Weg der Kirche ins 21. Jahrhundert und ins dritte Jahrtausend.

III. „Subsistit in“ – Ausdruck einer geschichtlichkonkreten Ekklesiologie

Die eschatologische und pneumatologische Dynamik verlangte nach einer begrifflichen Klärung. Dies leistete das Konzil bereits in der Kirchenkonstitution mit der viel diskutierten Formulierung, die Kirche Jesu Christi »subsistiere« in der katholischen Kirche (LG 8). Der Hauptredaktor der Kirchenkonstitution, G. Philips, war hellsichtig genug, um vorauszusehen, daß über die Bedeutung dieses »subsistit in« noch viel Tinte fließen werde.5 In der Tat, der Tintenfluß ist bis heute nicht versiegt, und es wird vermutlich noch einiges an Druckerschwärze nötig sein, um die damit aufgeworfenen Fragen zu klären.

Das »subsistit in« ist im Laufe des Konzils an die Stelle des vorangehenden »est« getreten.6 Es enthält »in nuce« das ganze ökumenische Problem.7 Das »est« besagte: Die Kirche Jesu Christi »ist« die katholische Kirche. Diese strikte Identifizierung der Kirche Jesu Christi mit der katholischen Kirche wurde zuletzt nochmals von den Enzykliken Mystici corporis (1943) und Humani generis (1950) vertreten.8 Doch schon nach der Enzyklika Mystici corporis gibt es Menschen, welche, obwohl nicht getauft, dem Verlangen nach auf die katholische Kirche hingeordnet sind (DS 3921). Deshalb hat bereits Pius XII. 1949 eine exklusive Deutung des Axioms »Extra ecclesiam nulla salus« verurteilt.9

Das Konzil ging darüber mit Hilfe des »subsistit in« einen wesentlichen Schritt hinaus. Es wollte der Tatsache gerecht werden, daß es außerhalb der katholischen Kirche nicht nur einzelne Christen sondern auch »Elemente der Kirche«10, ja Kirchen und kirchliche Gemeinschaften gibt, die, obwohl nicht in voller Gemeinschaft, rechtens zur einen Kirche gehören und für deren Mitglieder Heilsbedeutung besitzen (LG 8;15; UR 3; UUS 10–14). So weiß das Konzil, daß es außerhalb der katholischen Kirche Formen der Heiligkeit bis hin zum Martyrium gibt (LG 15; UR 4; UUS 12;83). Die Frage des Heils der Nichtkatholiken wird jetzt also nicht mehr wie in Mystici corporis individuell aufgrund des subjektiven Verlangens einzelner, sondern institutionell und objektiv ekklesiologisch beantwortet.

Der Begriff »subsistit in« will nach der Intention der Theologischen Kommission des Konzils sagen: Die Kirche Jesu Christi hat in der katholischen Kirche ihren konkreten Ort; in ihr ist sie konkret anzutreffen und vorzufinden.11 Sie ist keine rein platonische Größe oder eine erst zukünftige Wirklichkeit; sie existiert geschichtlich konkret; sie ist in der katholischen Kirche verortet.12

So verstanden nimmt das »subsistit in« das wesentliche Anliegen des »est« auf. Aber es formuliert das Selbstverständnis der katholischen Kirche nicht mehr in »splendid isolation«, sondern nimmt dabei auch Kirchen und kirchliche Gemeinschaften wahr, in denen die eine Kirche Jesu Christi wirksam gegenwärtig ist (UUS 11), die aber nicht in voller Gemeinschaft mit ihr stehen. Indem die katholische Kirche ihre Identität formuliert, setzt sie sich zugleich dialogisch in Beziehung zu diesen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften.

Das »subsistit in« ist demnach mißverstanden, wenn man es zur Grundlage eines ekklesiologischen Pluralismus und Relativismus macht, der besagt, daß die eine Kirche Jesu Christi in vielen Kirchen subsistiert, die katholische Kirche also nur eine Kirche neben anderen Kirchen ist. Solche ekklesiologische Pluralismustheorien widersprechen dem Selbstverständnis, welches die katholische Kirche – wie übrigens auch die orthodoxen Kirchen – in ihrer gesamten Tradition von sich hatte und das auch das Zweite Vatikanische Konzil festhalten wollte. Die katholische Kirche beansprucht von sich nach wie vor, die wahre Kirche Jesu Christi zu sein, in der die ganze Fülle der Heilsmittel gegeben ist (UR 3; UUS 14), aber sie nimmt ihn jetzt dialogisch im Blick auf die anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften wahr. Das Konzil vertritt keine neue Lehre, begründet aber eine neue Einstellung, gibt den Triumphalismus auf und formuliert das traditionelle Selbstverständnis in einer realistischen, geschichtlich konkreten, man könnte auch sagen: in einer demütigen Weise. Das Konzil weiß, daß die Kirche geschichtlich unterwegs ist, um das, was ihr tiefstes Wesen »ist« (»est«), geschichtlich konkret zu realisieren.

Diese realistische, demütige Sicht findet sich vor allem in Lumen gentium 8, wo das Konzil mit dem »subsistit in« nicht nur Raum gibt für Elemente der Kirche außerhalb ihres sichtbaren Gefüges, sondern auch für sündige Glieder und Strukturen der Sünde in der Kirche selbst.12 Das Volk Gottes trägt auch Sünder in seinem Schoß, so daß das geistliche Wesen der Kirche den getrennten Brüdern und der Welt nicht recht aufleuchtet, die Kirche Mitschuld trägt an den Spaltungen und das Wachstum des Reiches Gottes verzögert (UR 3 f.). Auf der anderen Seite haben die getrennten Gemeinschaften einzelne Aspekte der geoffenbarten Wahrheit bisweilen besser entfaltet, so daß die katholische Kirche in der Situation der Spaltung die ihr eigene Katholizität konkret nicht voll entfalten kann (UR 4; UUS 14). Die Kirche bedarf darum der Reinigung und Erneuerung und muß stets den Weg der Buße gehen (LG 8; UR 3 f.;6 f.; UUS 34 f.;83 f.).

Diese selbstkritische und bußfertige Sicht bildet die Grundlage für den Weg der ökumenischen Bewegung (UR 5–12). Dazu gehören Umkehr und Erneuerung, ohne die es keinen Ökumenismus geben kann, und ein Dialog, der mehr ist als ein Austausch von Ideen, sondern vielmehr ein Austausch von Gaben.

In dieser eschatologischen und geistlichen Perspektive kann das Ziel der Ökumene nicht als simple Rückkehr der anderen in den Schoß der katholischen Kirche beschrieben werden. Das Ziel der vollen Einheit kann nur durch die von Gottes Geist angetriebene Hinwendung und die Bekehrung aller zu dem einen Haupt der Kirche, Jesus Christus, erreicht werden. In dem Maße, in dem wir mit Christus eins sind, werden wir auch untereinander eins werden und die der Kirche eigene Katholizität konkret in ihrer ganzen Fülle verwirklichen. Theologisch hat das Konzil dieses Ziel als »communio«-Einheit bestimmt.

IV. Ökumene im Zeichen der »communio«-Ekklesiologie

Die Grundidee des II. Vatikanischen Konzils und insbesondere des Ökumenismusdekrets lautet: »communio«.13 Dies ist wichtig, um die Rede von den »elementa ecclesiae« richtig zu verstehen. Diese Rede macht einen quantitativen, fast materialistischen Eindruck, so als könne man diese Elemente zählen und auf ihre zählbare Vollständigkeit hin prüfen. Diese »Elementen-Ekklesiologie « wurde schon während der Konzilsdebatte und erst recht nach dem Konzil kritisiert.14 Unitatis redintegratio ist dabei jedoch nicht stehen geblieben; das Ökumenismusdekret versteht die getrennten Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften nicht als Größen, welche einen im einzelnen verschiedenen quantitativ zu bestimmenden Restbestand von Elementen bewahrt haben, sondern als Ganzheiten, welche diese Elemente innerhalb ihres ekklesiologischen Gesamtverständnisses zur Geltung bringen. Das geschieht mit Hilfe des Begriffs »communio«. Mit diesem biblischen und altkirchlichen Begriff umschreibt das Konzil das tiefste Mysterium der Kirche, welche nach dem Abbild der trinitarischen »communio« gleichsam als Ikone der Trinität gestaltet ist (LG 4; UR 2). »Communio« und »communio sanctorum« bedeutet ursprünglich nicht die Gemeinschaft der Christen untereinander, sondern Teilhabe (»participatio«) an Gütern des Heils, an den »sancta« bzw. an den »sacramenta«.

Grundlegend ist die Taufe. Sie ist das Sakrament des Glaubens, durch das die Getauften dem einen Leib Christi, der die Kirche ist, angehören. Die nichtkatholischen Christen sind also nicht außerhalb der einen Kirche, sie gehören ihr vielmehr in grundlegender Weise bereits an (LG 11;14; UR 22). Aufgrund der einen gemeinsamen Taufe geht die Ökumene weit über bloßes Wohlwollen und Freundlichkeit hinaus; sie ist keine Form kirchlicher Diplomatie; sie hat eine ontologische Begründung und eine ontologische Tiefe; sie ist ein geistliches Geschehen.

Die Taufe ist freilich nur Ausgangspunkt und Fundament (UR 22). Zur Vollendung kommt die Eingliederung in die Kirche mit der Eucharistie; sie ist Quelle, Mitte und Höhepunkt des christlichen und kirchlichen Lebens (LG 11;26; PO 5; AG 39). So wird die eucharistische Ekklesiologie bereits in der Liturgie- und in der Kirchenkonstitution grundgelegt (SC 47; LG 3;7;11;23;26). In Unitatis redintegratio heißt es, daß durch die Eucharistie »die Einheit der Kirche bezeichnet und bewirkt wird« (UR 2). Später wird von der Eucharistiefeier der orthodoxen Kirchen gesagt: »So baut sich auf und wächst durch die Feier der Eucharistie des Herrn in diesen Einzelkirchen die Kirche Gottes, und durch die Konzelebration wird ihre Gemeinschaft offenbar« (UR 15). Wo Eucharistie gefeiert wird, ist Kirche. Dieses Axiom hat – wie gleich zu zeigen sein wird – für das Verständnis der orientalischen Kirchen und für deren Unterscheidung von den evangelischen kirchlichen Gemeinschaften fundamentale Bedeutung.

Es gilt: Jede die Eucharistie feiernde Ortskirche ist Kirche im vollen Sinn, aber sie ist nicht die ganze Kirche (LG 26;28). Da es nur einen Jesus Christus und nur eine Eucharistie gibt, steht jede Eucharistie feiernde Kirche in einer verbindlichen Gemeinschaft mit allen anderen Kirchen. Die eine Kirche existiert in und aus den Ortskirchen (LG 23), wie umgekehrt die Ortskirchen in und aus der einen Kirche existieren (Communiones notio, 9).

Überträgt man dieses Verständnis der Einheit auf das ökumenische Problem, dann bedeutet die anzustrebende ökumenische Einheit mehr als ein Netzwerk von Konfessionskirchen, die einander gegenseitig anerkennen, indem sie Abendmahls- und Kanzelgemeinschaft aufnehmen. Das katholische Verständnis der Ökumene setzt die in der katholischen Kirche bereits gegebene Einheit und die ebenfalls bereits gegebene teilweise »communio« mit den anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften voraus, um von dieser unvollständigen Gemeinschaft zur vollen Gemeinschaft zu gelangen (UUS 14), welche Einheit im Glauben, in den Sakramenten und in der kirchlichen Leitung einschließt (LG 14; UR 2 f.).

Die Einheit im Sinn der vollen »communio« meint nicht Uniformität sondern Einheit in der Vielfalt und Vielfalt in der Einheit. Es kann innerhalb der einen Kirche eine legitime Vielfalt der Mentalitäten, der Gebräuche, der Riten, der kanonischen Ordnungen, der Theologien und der Spiritualitäten geben (LG 13; UR 4;16 f.). Wir können auch sagen: Das Wesen der als »communio« verstandenen Einheit ist Katholizität in ihrer nicht konfessionellen, sondern ursprünglichen qualitativen Bedeutung; sie meint die Verwirklichung aller Gaben, welche die Orts- und Konfessionskirchen beitragen können.

Der Beitrag, welchen Unitatis redintegratio zur Lösung des ökumenischen Problems gibt, ist demnach nicht die »Elementen-Ekklesiologie«, sondern die Unterscheidung zwischen voller und unvollkommener Gemeinschaft (UR 3).15 Aus dieser Unterscheidung folgt, daß das Ziel der Ökumene nicht auf Zusammenschlüsse ausgerichtet ist, sondern eine »communio« zum Ziel hat, die weder ein gegenseitiges Aufsaugen noch eine Verschmelzung bedeutet.16 Diese Formulierung des ökumenischen Problems ist der wichtigste theologische Beitrag des Konzils zur ökumenischen Frage.

V. Ost und West – zwei Gestalten der einen ökumenischen Bewegung

Die Einordnung der ökumenischen Theologie in die »communio«-Ekklesiologie erlaubte es, zwei Arten von Kirchenspaltung zu unterscheiden: die Spaltung zwischen Ost und West und die Spaltung innerhalb der westlichen Kirche seit dem 16. Jahrhundert. Zwischen beiden besteht nicht nur ein geographischer oder zeitlicher Unterschied; beide Spaltungen sind ihrer Art nach verschieden. Während bei der östlichen Kirchenspaltung das ekklesiale Grundgefüge, das sich seit dem 2. Jahrhundert herausgebildet hatte, erhalten blieb, haben wir es bei den aus der Reformation hervorgegangenen Gemeinschaften mit einem anderen ekklesialen Typ zu tun.17 Das östliche Schisma umfaßt sowohl die altorientalischen Kirchen, die sich im 4. und 5. Jahrhundert von der Großkirche getrennt haben, wie das Schisma zwischen Rom und den östlichen Patriarchaten, das symbolisch meist mit dem Jahr 1054 in Zusammenhang gebracht wird.

Das Konzil ist weit davon entfernt, den Unterschied auf kulturelle und politische Faktoren zu reduzieren. Ost und West haben das eine Evangelium von Anfang an in unterschiedlicher Weise aufgenommen und verschiedene Formen der Liturgie, der Spiritualität, der Theologie und des kanonischen Rechts ausgebildet. In der sakramental-eucharistischen und episkopalen Grundstruktur jedoch stimmen Ost und West überein. Die nach dem Konzil aufgenommenen nationalen und internationalen Dialoge haben diese tiefe Gemeinschaft im Glauben, in den Sakramenten und in der episkopalen Verfassung bestätigt.

Deshalb spricht das Konzil von Beziehungen wie zwischen Ortskirchen als Schwesterkirchen (UR 14). Diese im Ökumenismusdekret noch etwas vage Formulierung wurde im Briefwechsel zwischen Papst Paul VI. und dem Ökumenischen Patriarchen Athenagoras, im Tomos agapis, aufgegriffen und entfaltet.18

Die Wiederherstellung der vollen Gemeinschaft setzt die Beachtung der verschiedenen Faktoren der Trennung (UR 14) und die Anerkennung der legitimen Unterschiede voraus (UR 15–17). Das Konzil stellt fest, daß es sich bei den Unterschieden oft mehr um gegenseitige Ergänzungen als um wirkliche Gegensätze handelt (UR 17).19 Deshalb erklärt es, daß das »ganze geistliche und liturgische, disziplinäre und theologische Erbe mit seinen verschiedenen Traditionen zur vollen Katholizität und Apostolizität der Kirche gehört« (UR 17).20 Zur Wiederherstellung der Einheit darf man deshalb keine Lasten auferlegen, die über das Notwendige hinausgehen (Apg 15,28) (UR 18).

Das eigentliche Problem im Verhältnis zwischen Ost und West ist das Petrusamt (UUS 88). Papst Johannes Paul II. hat zu einem brüderlichen Dialog über die künftige Ausübung des Petrusamtes eingeladen (UUS 95). Es ist in diesem Zusammenhang nicht möglich, auf die damit gegebenen komplizierten historischen Fragen und die heutigen Möglichkeiten einer Reinterpretation und Rezeption der Dogmen des I. Vatikanischen Konzils einzugehen. Zu erwähnen ist lediglich, daß ein vom Päpstlichen Rat für die Einheit der Christen mit den orthodoxen Kirchen veranstaltetes Symposium im Mai 2003 Öffnungen auf beiden Seiten erbrachte.21 Wir hoffen, daß der internationale theologische Dialog bald wieder aufgenommen werden kann und daß er sich vor allem dieser Frage annehmen kann.

Das westliche Schisma, das aus der Reformation des 16. Jahrhunderts hervorging, ist anderer Art. Es handelt sich – wie das Ökumenismusdekret klar erkennt – um ein komplexes und differenziertes Phänomen, sowohl historisch wie auch lehrmäßig. Auch mit den reformatorischen Gemeinschaften verbinden uns viele wichtige Elemente der wahren Kirche. Dazu gehören besonders die Verkündigung des Wortes Gottes und die Taufe. In vielen nachkonziliaren Dialog-Dokumenten wurde diese Gemeinschaft erweitert und vertieft.22

Es gibt aber auch »Unterschiede von großem Gewicht«, welche nicht nur historischer, soziologischer, psychologischer und kultureller Art sind, die vielmehr vor allem in der unterschiedlichen Interpretation der offenbaren Wahrheit begründet sind (UR 19). Diese Unterschiede betreffen nach dem Konzil teilweise die Lehre von Jesus Christus und der Erlösung, besonders die Heilige Schrift in ihrem Verhältnis zur Kirche und das authentische Lehramt, die Kirche und ihre Ämter, die Aufgabe Mariens im Heilswerk (UR 20 f.; UUS 66), teilweise auch moralische Fragen (UR 23). Die letzteren sind in jüngster Zeit vor allem in den Vordergrund getreten und verursachen Probleme sowohl innerhalb der reformatorischen Kirchengemeinschaften wie in den Beziehungen mit der katholischen Kirche.

Anders als beim östlichen Schisma haben wir es bei den reformatorischen Gemeinschaften freilich nicht nur mit einzelnen Lehrunterschieden, sondern mit einer anderen Grundstruktur und einem anderen Typ von Kirche zu tun. Die Reformatoren verstehen die Kirche – bei allen nicht geringen innerreformatorischen Unterschieden – nicht von der Eucharistie, sondern primär vom Wort Gottes her als »creatura verbi«.23 Der Unterschied spitzt sich in der Frage der Eucharistie zu.

Die aus der Reformation hervorgegangenen kirchlichen Gemeinschaften haben – wie das Konzil sagt – »wegen des Fehlens des Weihesakraments die ursprüngliche und vollständige Wirklichkeit (›substantia‹) des eucharistischen Mysteriums nicht bewahrt« (UR 22).

Im Sinn der eucharistischen Ekklesiologie ergibt sich aus diesem Mangel an eucharistischer Wirklichkeit die Unterscheidung zwischen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften. Die Erklärung Dominus Iesus (16) hat diese Unterscheidung begrifflich zugespitzt, was von Seiten evangelischer Christen oft Anlaß zu herber Kritik war. Zweifellos hätte man das Gemeinte auch verständnisvoller ausdrücken können; in der »Sache « kann man jedoch nicht über die Tatsache des unterschiedlichen Kirchenverständnisses hinwegsehen. Die evangelischen Christen wollen nicht in dem Sinn Kirche sein, wie die katholische Kirche sich als Kirche versteht; sie repräsentieren einen anderen Typ von Kirche und sind deshalb – am katholischen Selbstverständnis gemessen – nicht Kirche im eigentlichen Sinn.

Wegen der Unterschiede warnt das Konzil vor Leichtfertigkeit und unklugem Eifer. Die »ökumenische Betätigung muß ganz und gar katholisch sein, das heißt in Treue zur Wahrheit, die wir von den Aposteln und Vätern empfangen haben, und in Übereinstimmung mit dem Glauben, den die katholischen Kirche immer bekannt hat« (UR 24). Das Konzil warnt aber auch vor Polemik. Es ist bezeichnend, daß das Wort »Dialog« am Schluß der verschiedenen Abschnitte dieses Teils fast refrainartig wiederkehrt (UR 19;21;22;23). Das drückt nochmals den neuen Geist aus, in dem das Konzil die Überwindung der Unterschiede betrachtet.

VI. »Quanta est nobis via«?

Das Dekret war ein Anfang. Dennoch hat es innerkatholisch wie ökumenisch eine enorme Wirkungsgeschichte entfaltet und die ökumenische Situation im Laufe der letzten vierzig Jahre tiefgreifend verändert24.

Zweifellos hat Unitatis redintegratio auch Fragen offengelassen, sowie Einwände und Weiterentwicklungen erfahren. Wir sollten über diesen Problemen nicht die reichen Früchte übersehen, welche dieses Dekret erbracht hat. Es hat einen unwiderruflichen und unumkehrbaren Prozeß eingeleitet, zu dem es keine realistische Alternative gibt. Das Ökumenismusdekret weist uns den Weg im 21. Jahrhundert. Es ist der Auftrag des Herrn, diesen Weg zu gehen – mit Augenmaß, aber auch mit Mut, mit Geduld, aber vor allem in unerschütterlicher Hoffnung.

Letztlich ist Ökumene ein Abenteuer des Heiligen Geistes. Deshalb schließe ich mit dem Wort, mit dem auch das Ökumenismusdekret schließt: »Die Hoffnung aber wird nicht zuschanden: Denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unseren Herzen durch den Heiligen Geist, der uns geschenkt ist« (Röm 5,5) (UR 24).

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1 Zur Vorgeschichte der ökumenischen Bewegung in der katholischen Kirche: H. Petri, Die römisch- katholische Kirche und die Ökumene, in: Handbuch der Ökumenik, Bd. 2, Paderborn 1986, 95–135.
2
Vgl. W. Becker, in : LThK Vat. II, Bd. 2 (1967), 11–39; L. Jaeger, Das Konzilsdekret über den Ökumenismus, Paderborn 1968, 15–78; Storia del Concilio Vaticano II, hrsg. von G. Alberigo, Bd. 3, Bologna 1998, 277–365; Bd. 4, Bologna 1999, 436–446.
3
J. Le Guillou, Mission et unité. Les exigences de la communion, Paris 1959; Y. Congar, Diversités et communion, Paris 1982, 239 f.; Papst Johannes Paul II. hat in der Missionsenzyklika Redemptoris missio (1990) (Nrn. 36 und 50) diesen Zusammenhang ebenfalls herausgestellt.
4
Irenäus von Lyon, Adversus haereses III, 24,1 (Sources chrétiennes, n. 211, Par is 1974, 472).
5
G. Philips, L’Église et son mystère aux deuxième Concile du Vatican, tome 1, Paris 1967, 119.
6
Überblick in der Synopsis historica a cura di G. Alberigo-F. Magistretti, Bologna 1975, 38; 439 f.; 506 f.
7
G. Philips, ebd.
8
AAS 35, 1943, 199; 42, 1950, 571.
9
Schreiben des Heiligen Offiziums an den Erzbischof von Boston (1949), in: DS 3866–73.
10
Synopsis historica, 439; G. Philips, a.a.O., 119; A. Grillmeier, LThK, Vat. II, Bd. 1, 1966, 175; L. Jaeger, a.a.O., 214–217.
11
So die Erklärung der Glaubenskongregation Mysterium ecclesiae (1973) 1 und nochmals die ErklärungDominus Iesus (2000) 17
12
Zu dem Begriff »Strukturen der Sünde« vgl. das Apostolische Schreiben von Papst Johannes Paul II.Reconciliatio et paenitentia (1984), 16 sowie UUS 34.
13
So die außerordentliche Bischofssynode 1985 (II C 1). Der Päpstliche Rat für die Einheit der Christen hat dieses Thema bei der Plenaria 2001 ausführlich behandelt. Vgl. die Einführung von W. Kasper, Communio. The Guiding Concept of Catholic Ecumenical Theology. The Present and the Future Situation of the Ecumenical Movement, in: Information Service, Nr. 109, 2002/I–II, 11–20.
14
Vgl. H. Mühlen, Una mystica persona, München- Paderborn 1968, 496–502;504–513.
15
In den Konzilsdokumenten selbst ist diese Unterscheidung terminologisch noch nicht voll ausgeprägt. In UR3 ist die Rede von »plena communio« und von »quaedam communio, etsi non perfecta«.
16
Johannes Paul II., Enzyklika Slavorum apostoli (1985) 27.
17
J. Ratzinger, Die ökumenische Situation – Orthodoxie, Katholizismus und Reformation, in: Theologische Prinzipienlehre, München 1982, 203-208.
18
Ebd., 386–392 (Nr. 176). In der gemeinsamen Erklärung von Papst Johannes Paul II. und dem Ökumenischen Patriarchen Bartholomaios I. von 1995 wurde die Redeweise erneut aufgegriffen. Vgl. Slavorum apostoli 27; UUS55f.; 60; Note der Glaubenskongregation (2000).
19
Der Katechismus der katholischen Kirche (248) rechnet auch die Frage des »Filioque« zu den Problemen, welche eher einen komplementären als einen kontradiktorischen Unterschied bezeichnen.
20
So auch das Dekret Orientalium ecclesiarum, 1 und die Enzyklika Orientale Lumen (1995), 1
21
Vgl. W. Kasper (ed.), Il ministero Petrinio. Cattolici e ortodossi in dialogo, Roma 2004.
22
Zu nennen sind vor allem die Limadokumente Taufe, Eucharistie und Amt (1982), die ARCIC-Dokumente mit der anglikanischen Gemeinschaft, die Konvergenzdokumente mit den Lutheranern (Das Herrenmahl, Das geistliche Amt in der Kirche u.a.), besonders die Gemeinsame Erklärung über die Rechtfertigung (1999).
23
M. Luther, De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium (1520): WA 560 f; Confessio Augustana (1530) Art. VII.; Heidelberger Katechismus (1563) Frage 65.
24
Vgl. Il Concilio Vaticano II. Recezione e attualità alla luce del Giubileo, hrsg. von R. Fisichella, Roma 2000, 335–415 mit Beiträgen von E. Fortino, J. Wicks, F. Ocáriz, Y. Spiteris, V. Pfnür.