Im Gefängnis habe ich meinen Anklägern vergeben

Interview mit Kardinal George Pell

Kardinal George Pell war vom 27. Februar 2019 bis 7. April 2020 aufgrund falscher Anschuldigungen in Haft.

Seit vierzehn Monaten ist Kardinal George Pell, emeritierter Präfekt des Wirtschaftssekretariats, wieder ein freier Mann. Am 8. Juni 2021 konnte er seinen 80. Geburtstag in seiner australischen Heimat begehen. Aus diesem Anlass wurde er telefonisch von Fabio Colagrande (Vatican News) interviewt, der mit ihm auch über die Veröffentlichung des 1. Bandes seines Gefängnistagebuchs sprach. Der Kardinal hatte stets seine Unschuld beteuert. Sein Freispruch war vom Heiligen Stuhl mit Genugtuung aufgenommen worden. In einer Erklärung des vatikanischen Presseamtes hieß es, der Heilige Stuhl habe stets Vertrauen in die Arbeit der australischen Justizbehörden gehabt. Am 12. Oktober letzten Jahres traf der Kardinal mit Papst Franziskus zusammen, der ihm für sein Zeugnis dankte.

Hätten Sie sich jemals vorstellen können, das Gefängnis erleben zu müssen?

Kardinal Pell: Nein, natürlich nicht! Das hätte ich nie gedacht. Ich habe hart gekämpft, damit das nicht passiert, aber leider ohne Erfolg. Es war eine Kombination von Umständen, Lügen und Betrug, aber dann kam dank des Obersten Gerichtshofs endlich meine Freilassung.

Was hat Sie veranlasst, in Ihrer 13-monatigen Haft ein Tagebuch zu führen?

Kardinal Pell: Es gab viele Gründe. Ich dachte, es könnte hilfreich sein für Menschen, die sich in Schwierigkeiten befinden, für diejenigen, die einen Moment des Leidens durchmachen, wie den, den ich durchgemacht habe. Dann dachte ich, dass das Führen eines Tagebuchs aus historischer Sicht interessant sein könnte, denn es gab nicht viele Kardinäle, die diese Erfahrung gemacht haben, im Gefängnis zu sein. Aber dann auch, weil ich entdeckt hatte, dass sich viele

Gefangene dem Schreiben gewidmet haben, angefangen – im katholischen Bereich – beim heiligen Paulus. Schreiben im Gefängnis ist eine gute Therapie.

Inwieweit hat Ihnen das Gebet geholfen, die Demütigung und die Unannehmlichkeiten der Haft zu ertragen?

Kardinal Pell: Ich muss sagen, dass der Glaube und das Gebet grundlegend waren. Sie haben mir geholfen, die Perspektive auf diese Zeit der Inhaftierung vollkommen zu verändern. Heute sage ich allen, um einen englischen Ausdruck zu verwenden, dass das Gefängnis für mich eine Bestätigung war, dass das christliche »Programmpaket« funktioniert. Meine Erfahrung zeigt, wie sehr die Lehre der Kirche uns hilft, wie sehr es hilft, zu beten, die Gnade Gottes zu suchen. Vor allem, wenn wir verstehen, dass wir unser eigenes Leiden für ein größeres Gut leben können und dass wir unser Leiden mit dem Leiden Jesu vereinen können. Als Christen wissen wir, dass wir durch das Leiden und den Tod des Gottessohnes erlöst worden sind. Diese Lehre in Bezug auf den Wert des Leidens zu leben, das ändert wirklich alles, wenn man sich in einer Situation wie der meinen befindet.

Wie sah in den Tagen Ihrer Inhaftierung die Beziehung zu den anderen Häftlingen aus? Sie schreiben, dass Sie deren Leid gespürt haben…

Kardinal Pell: Ich war in Einzelhaft, damit mein persönlicher Schutz gewährleistet war. Die anderen elf Häftlinge, die mit mir in der gleichen Abteilung waren, habe ich nie gesehen. Erst in den letzten vier Monaten meiner Inhaftierung konnte ich drei andere Häftlinge treffen und mit ihnen sprechen. Aber die meiste Zeit konnte ich nur die Wut, den Kummer meiner Mitgefangenen hören, ohne eine persönliche Beziehung zu ihnen zu haben.

In Ihrem Tagebuch schreiben Sie, dass Sie von Ihrer Zelle aus oft den Gebeten der muslimischen Häftlinge zuhörten. Wie war es, zu beten, während Sie diese Gebete hörten?

Kardinal Pell: Für mich gibt es nur einen Gott, wir sind Monotheisten. Die theologischen Auffassungen von Christen und Muslimen unterscheiden sich natürlich, aber wir alle beten auf unterschiedliche Weise zu demselben Gott. Es gibt keinen Gott der Muslime, der Christen oder anderer Religionen. Es gibt nur den einen Gott.

In Ihrem Tagebuch schreiben Sie, dass Sie im Gefängnis jeden Tag Ihren Anklägern vergeben haben, dass sie sie gesegnet und für sie gebetet haben… War es schwierig, ihnen zu verzeihen?

Kardinal Pell: Ich muss zugeben, dass es manchmal schwierig war. Aber sobald ich die Entscheidung getroffen hatte, zu vergeben, folgte alles andere daraus. Für mich war es nicht so schwer, der Person, die mich beschuldigt hat, zu vergeben. Ich wusste, dass er ein Mensch war, der gelitten hatte, der sehr verwirrt war und wer weiß, was sonst noch…

Während Sie inhaftiert waren, haben Sie Tausende Briefe der Unterstützung erhalten. Welche Wirkung hatten diese Briefe aus Sie?

Kardinal Pell: Sie haben mir enorm geholfen. Viele kamen natürlich aus Australien, aber auch aus den Vereinigten Staaten und dem Rest der Welt. Auch aus Italien, Deutschland, England, Irland. Sie waren eine große Hilfe und Ermutigung für mich. Manchmal schrieben mir Familien. Oft waren es sehr spirituelle Briefe, ein anderes Mal waren sie sehr theologisch, ein anderes Mal von Geschichtskultur geprägt. Es waren wirklich Briefe, die eine große Vielfalt an Themen behandelten, und das hat mir sehr geholfen.

Haben Sie auch im Gefängnis immer an die Vorsehung geglaubt?

Kardinal Pell: Ja, auch wenn ich manchmal nicht verstand, was die Vorsehung Gottes da tat. Aber ich habe immer geglaubt, dass Gott hinter allem steht, was mir passiert ist.

Was haben Sie in diesen dreizehn Monaten als Mann der Kirche gelernt?

Kardinal Pell: Die Bedeutung von Beharrlichkeit, die Bedeutung der einfachen Dinge, wie Glaube, Vergebung, das erlösungswirksame Leiden. Normalerweise ist man im Gefängnis gezwungen, sich mit den grundlegenden Themen des Lebens auseinanderzusetzen, mit den einfachen und grundlegenden Dingen. Das ist mir auch passiert, und ich muss sagen, dass ich Gott sei Dank überlebt habe.

Kann der Missbrauchsskandal ein Anlass für die Erneuerung der Kirche sein?

Kardinal Pell: Das muss er sein. Wir können nicht auf der gleichen Linie weitermachen. Es ist eine Art geistiger und moralischer Krebs. Ich habe den Eindruck, dass wir hier in Australien ernsthaft daran gearbeitet haben, dies auszurotten, aber es ist eine Pflicht für alle Priester und alle Bischöfe der Welt, dafür zu sorgen, dass sich solche Skandale nicht wiederholen. Zu viel Leid, zu viel Schmerz. Das Phänomen des Missbrauchs in der Kirche zeigt einmal mehr, dass wir die Lehren Jesu oft nicht befolgt haben. Hätten wir die Gebote des Dekalogs befolgt, wäre all dies nicht passiert.

Kardinal Pell: Brauchen keine zweite protestantische Kirche

„Sind wir Diener und Verteidiger der apostolischen Tradition, des Glaubens, der Offenbarung – oder deren Herren, so dass wir sie grundlegend ändern könnten?“

Kardinal George Pell im Interview mit EWTN News in Rom im Dezember 2020.
Foto: Daniel Ibanez / CNA Deutsch

ROM , 07 June, 2021 / 11:07 AM (CNA Deutsch).- 

Die Lösung der Kirchenkrise besteht nicht darin, sich von der Lehre der Kirche abzuwenden: Das hat Kardinal George Pell gegenüber der Agentur „Kathpress“ in einem neuen Interview betont.

Es sei „eine totale Fehlinterpretation zu meinen, diese furchtbare Krise verlange ein völliges Umdenken bei unseren Strukturen oder der Art, wie wir leben“, sagte der australische Prälat anlässlich seines 80. Geburtstags am Dienstag gegenüber „Kathpress“. 

Pell bezog sich nicht nur auf den umstrittenen „Synodalen Weg“ in Deutschland und Reformdebatten in seiner australischen Heimat, sondern auch auf den grundsätzlichen Ansatz einer Reform der Kirche: „Wir brauchen keine weitere protestantische Kirche; liberale Protestanten verlieren noch viel schneller und mehr Mitglieder als wir“.

Eine entscheidende Frage, der sich Katholiken in Australien wie in Europa vielmehr stellen müssen, so Pell: „Sind wir Diener und Verteidiger der apostolischen Tradition, des Glaubens, der Offenbarung – oder deren Herren, so dass wir sie grundlegend ändern könnten?“

In einem Interview mit EWTN im Januar hatte Pell erklärt, wie das Problem des sexuellen Missbrauchs und dessen systematische Vertuschung durch Kleriker aus seiner Sicht zu lösen sei:  „Wir müssen uns den beschämenden Tatsachen stellen. Und wir dürfen nicht vergessen, dass wir die Botschaft Christi, die Lehre Christi predigen. Man darf nicht nur auf das schauen, was Schlagzeilen macht, was die antireligiöse Presse sagt. Man muss das Ganze in den Blick nehmen, also auch das sehen, was wir in der Geschichte getan haben: Man darf nicht vergessen, wieviel die Kirche zum Wohl der Menschheit geleistet hat – es ist enorm viel.“ 

Der prominente Prälat und ehemalige Wirtschaftspräfekt des Vatikans war am 13. März 2019 zu sechs Jahren Haft in einem Prozess verurteilt worden, den selbst entschiedene Gegner Pells und der Kirche als skandalös bezeichnet hatten.

Eine Jury hatte entschieden, dass der Kleriker in der Kathedrale von Melbourne 1996 zwei Chorknaben sexuell missbraucht habe – bei offener Tür in der Sakristei, direkt nach der heiligen Messe, entgegen der Aussagen von 20 Augenzeugen und ohne einen einzigen Beweis. Die Geschworenen schenkten den – sich teilweise widersprechenden – Aussagen des einzigen Zeugen – einem der beiden vermeintlichen Opfer – jedoch ihren Glauben. Selbst das zweite vermeintliche Opfer, mittlerweile verstorben, hatte die angebliche Tat vor seinem Tod bestritten.

Ein Berufungsgericht in Melbourne bestätigte den Schuldspruch am 21. August 2019 – gegen die Stimme eines Richters, einem renommierten Juristen namens Mark Weinberg. Der Kardinal kam hinter Gitter – zumindest vorerst: Am 7. April 2020 wurde Pell freigelassen, nachdem die obersten Richter Australiens einstimmig und mit sofortiger Wirkung den Schuldspruch aufgehoben hatten – so wie es unter anderem Mark Weinberg und eine Petition von über 100.000 Unterschriften gefordert hatte.

Der skandalöse Fall, der mit der „Dreyfus-Affäre“ verglichen wurde, erschütterte die Weltkirche wie die australische Justiz, wie CNA Deutsch berichtete.

Rücktrittsangebot von Kardinal Marx

Indessen hat die kontroverse Debattenveranstaltung des „Synodalen Wegs“ auch innerhalb der deutschen Diözesen für TurbulenzenKritik und schwere Bedenken gesorgt – vor allem auch theologische.  

Mit dem Angebot seines Rücktritts hatte einer der Initiatoren des Prozesses, der deutsche Kardinal Reinhard Marx, am 4. Juni weltweit für Aufsehen gesorgt: Der Erzbischof, dem Vertuschung von Missbrauch vorgeworfen wurde, war nicht nur persönlich für seinen Umgang mit Fällen sexueller Gewalt in Kritik geraten, sondern hatte sich zuletzt auch vom Vorsitz des „Synodalen Wegs“ und anderen Ämtern – etwa im Februar 2020 vom Vorsitz der Bischofskonferenz – zurückgezogen.

Aus seiner Sicht sollte dennoch der „Synodale Weg“ in Deutschland nicht abgebrochen werden, bekräftigte Marx in seiner Erklärung wie auch Bischof Georg Bätzing von Limburg – sein Nachfolger als Vorsitzender der Bischofskonferenz.

Dagegen haben der Vorsitzende der italienischen Bischofskonferenz, Kardinal Gualtiero Bassetti, erklärt, dass der italienische synodale Prozess nicht vergleichbar mit dem deutschen „Synodalen Weg“ sei. Die Worte des italienischen Kardinals folgten der scharfen Kritik von Kardinal Vinko Puljić, dem Erzbischof von Sarajevo, an den „exotischen Ideen“ des deutschen „Synodalen Wegs“ – sowie der äußerst scharfen Kritik der amerikanischen Erzbischöfe Samuel Aquila von Denver und Salvatore Cordileone von San Francisco.

Bereits früher hatten sich Kardinal George Pell, aber auch der italienische Kardinal Camillo Ruini, der englische Bischof Philip Egan von Portsmouth und der spanische Bischof José Ignacio Munilla Aguirre von San Sebastián der wachsenden Zahl von Kirchenvertretern und prominenten Theologen angeschlossen, die sich besorgt über den „Synodalen Weg“ und andere Vorgänge in Deutschlands Diözesen zu Wort gemeldet haben, von der offenen Rebellion gegen Rom in der Frage der Segnung gleichgeschlechtlicher Verbindungen in der Kirche, über die Interkommunion mit Protestanten sowie die Weihe von Frauen. 

Nach Erzbischof Stefan Heße von Hamburg ist Marx mittlerweile der zweite deutsche Ortsbischof, der dem Papst seinen Rücktritt in der Kirchenkrise angeboten hat. Heße bat im März um die sofortige Entbindung von seinen Aufgaben als Erzbischof. Hintergrund waren die gegen Heße erhobenen Vertuschungsvorwürfe im bahnbrechenden Kölner Missbrauchsgutachten (CNA Deutsch hat berichtet). Bereits im Dezember 2020 hatte zudem der Kölner Kardinal Woelki den Papst gebeten, gegen ihn erhobene Vertuschungsvorwürfe zu untersuchen. Aktuell prüfen zwei Visitatoren die Situation und Akten im Erzbistum Köln.

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