Will die Kirche den Menschen die Wahrheit verkünden und sie zum ewigen Heil führen, dann muß sie jeden Tag von neuem sich auf Kampf und Streit gefaßt machen, wie Jesus es den Aposteln vorherverkündet hat. Nachdem sie wirklich im Laufe der Jahrhunderte bis aufs Martyrium den Kampf führte, ist es ihre größte Freude und gleichzeitig ihr größter Ruhm, ihr Blut mit dem ihres Stifters zusammen zu opfern. In diesem Blut aber liegt ihre feste Hoffnung auf den ihr verheißenen Sieg.
Man darf sich jedoch nicht täuschen. Dieser fortwährende Kampf wird gerade für die Besten tiefes Leid mit sich bringen. Ist es nicht erschreckend traurig, daß so viele Menschen sich durch Irrtum und Bosheit zum Abfall von Gott bewegen lassen und ins Verderben stürzen, daß Gleichgültigkeit gegen jede Form der Religion sich immer mehr ausbreitet und mit ihr die Bereitschaft, den Gottesglauben überhaupt aufzugeben? Es gibt sogar nicht wenige Katholiken, die es nur noch dem Namen nach sind und ihre religiösen Pflichten gänzlich unterlassen. Beängstigender ist jedoch die Tatsache, daß die Staatsregierungen die Kirche in keiner Weise mehrachten oder daß man sich ihrem heilsamen Einfluß vorsätzlich widersetzt. Darin liegt die Wurzel aller trüben Zeiterscheinungen und verderbenbringenden Übel. Man hat den Eindruck, Gottes zürnende Gerechtigkeit habe die von ihm abgewichenen Völker mit Blindheit geschlagen und sie gegen alles empfindungslos gemacht.
Die Zeitumstände selber fordern täglich lauter die Notwendigkeit des Gebetes. „Ohne Unterlaß“ sollten die Katholiken zu Gott beten und flehen mit Ausdauer. Nicht bloß zu Hause sollte man so beten, sondern erst recht öffentlich im Gotteshaus in der beharrlichen Gesinnung, Gott möge in seiner weisen Vorsehung die Kirche „vor den gottlosen, bösen Menschen“ bewahren und die verworrene Welt durch Christi Licht und Liebe zur seelischen Gesundung führen.
Noch ergreifender (als das der Urkirche) ist das Beispiel, das Christus selbst uns gab. Nicht nur durch Vorschriften sollte er seine Kirche bilden und formen, sondern durch seine Person selbst, das heißt durch sein Vorbild zur Heiligkeit führen. Oft und oft hatte er sich während seines Lebens ganz dem Gebet hingegeben, aber in den letzten Stunden, als seine Seele im Garten Gethsemani von unendlicher tiefer Traurigkeit und Angst bis zum Tode befallen war, betete er nicht nur wie gewöhnlich zum Vater, sondern „nur noch inständiger“. Sicherlich geschah das nicht seiner selbst wegen. Weil er Gott ist, hatte er nichts zu befürchten und zu entbehren. Für uns geschah es, für seine Kirche, deren zukünftige Tränen er damals gerne und freiwillig zu seinen Tränen machte und zu Quellen der Gnade.
Das Geheimnis des Kreuzes hat unserem Geschlecht das Heil gebracht. Der Triumph Christi ließ die Kirche erstehen und übergab ihr die Verwaltung dieser Heilsgnaden auf Erden. Seitdem hat eine neue Heilsordnung ihren Anfang genommen und für das neue Volk Gottes Geltung erlangt. (…)
Als Gottes ewiger Sohn zur Erlösung und Erhebung des Menschen die menschliche Natur annehmen wollte, hegte er die Absicht, einen geheimnisvollen Ehebund mit dem ganzen Menschengeschlecht zu schließen. Vorher aber wollte er sich der ganz freien Zustimmung seiner auserwählten Mutter versichern, die in Person die Rolle des Menschengeschlechtes vertrat, nach den klaren und treffenden Worten des Aquinaten: „In der Verkündigung erwartete man die Zustimmung der Jungfrau an Stelle des ganzen Menschengeschlechtes.“ So gewiß uns nun „Gnade und Wahrheit durch Jesus Christus zuteil wurde“, ebenso richtig ist die Behauptung, daß nach Gottes Willen die Gnaden aus diesem Schatz uns nur durch Maria vermittelt werden. Wie niemand zum Vater im Himmel kommen kann, es sei denn durch den Sohn, so ähnlich kann niemand zu Christus kommen, es sei denn durch seine Mutter.
Welche Weisheit und Barmherzigkeit Gottes leuchtet uns aus diesem Plane auf! Wie ist alles so herrlich unserer menschlichen Schwäche und Gerechtigkeit angepaßt! Wir haben allen Grund, mit gläubigem Herzen diese unendliche Güte Gottes zu preisen, aber auch die unendliche Gerechtigkeit Gottes zu fürchten. Den wir als liebevollen Erlöser wiederlieben, weil er Blut und Leben hingab, den müssen wir als strengen Richter auch fürchten. Aus dieser Angst der Sünden wegen erhebt sich für uns die Notwendigkeit einer fürbittenden Schutzmacht, die bei Gott in Gunsten steht und die an Güte des Herzens so überragend ist, daß sie niemanden, der verzweifelt, die Hilfe versagt, und den Schmerz- und Leidgebeugten wieder Hoffnung auf die göttliche Barmherzigkeit gibt.
So ist Maria. Sicherlich ist sie mächtig, weil sie die Mutter des allmächtigen Gottes ist; aber was sie noch mehr auszeichnet und viel schöner klingt: sie ist die Güte, Nachsicht und Barmherzigkeit selbst. Gott hat sie uns so geschenkt. Weil er sie zur Mutter seines eingeborenen Sohnes erwählte, hat er ihr auch die Gefühle einer Mutter eingeflößt, und die sind nichts anderes als Liebe und Nachsicht. Auf diese Weise hat auch Jesus Christus durch seine ganze Handlungsweise auf sie hingewiesen, als er Maria untertan und gehorsam sein wollte wie ein Sohn einer Mutter. Noch vom Kreuze herab hat er auf sie hingewiesen, als er ihr in Johannes, seinem Jünger, die ganze Menschheit zur Obhut anvertraute. Maria selbst hat sich als eine solche Mutter wirklich bewährt, indem sie voll Hochherzigkeit von ihrem sterbenden Sohn dieses unendlich schmerzliche Erbe übernommen und sofort ihre Mutterpflichten gegen alle ihre Kinder ausübte.
Die heiligen Apostel und die ersten Gläubigen haben sich in heißer Liebe in diese Pläne der göttlichen Liebe und Barmherzigkeit vertieft, die mit Maria ihren Anfang genommen und im Testament Christi ihre letzte Bestätigung erhalten hatten. Ebenso verhielt es sich mit den Kirchenvätern. Ihre Lehre über diesen Gegenstand wurde einmütiger Glaube aller christlichen Völker in allen Zeiten der Geschichte. Wenn auch schriftliche Aufzeichnungen fehlen, die aus jeder christlichen Brust vernehmbare Stimme spricht deutlicher als geschichtliche Erinnerungen. Nur aus dem göttlichen Glauben kann man es erklären, daß wir, von einem gewaltigen Zug des Herzens bewegt, uns überaus sanft zu Maria hingezogen fühlen. Seit frühester Zeit liegt uns nichts mehr am Herzen, als unter Mariens Schutz und Schirm zu fliehen, weil wir ihr alle unsere Gedanken und Werke, unsere Reinheit und unsere Bußgesinnung, unsere Sorgen und Freuden, unsere Wünsche und Bitten gänzlich anvertrauen können. Sind wir nicht alle von der zuversichtlichen Hoffnung getragen, Gott werde durch die Fürbitte seiner heiligsten Mutter mit besonderer Liebe und besonderem Wohlgefallen entgegennehmen, was ihm selbst weniger lieb ist, falls es von unseren unwürdigen Lippen allein kommt. Mag der Trost auch groß sein, den die Seele aus dieser heilsamen Wahrheit schöpft, so ist anderseits auch der Schmerz und Kummer groß über jene, die ohne diesen göttlichen Glauben Maria weder grüßen noch als Mutter annehmen. Auch jene sind zu bedauern, die den heiligen Glauben bekennen, es aber wagen, die Marienverehrung als etwas übertriebenes zu bezeichnen, ein Benehmen, wodurch sie den zarten Sinn, der Kindern eigen sein sollte, in hohem Maße verletzen.
Bei diesem Übermaß der Übel, die heute heftig auf die Kirche einstürmen, dürfte es allen frommen Kindern der Kirche nicht schwer sein, einzusehen, welch heilige Verpflichtung sie haben, Gott um so inständiger anzurufen und sich dafür einzusetzen, daß ihr Gebet sichtlichen Erfolg habe. Wir wollen daher dem Vorbild unserer Väter und Vorfahren nachfolgen und zu Maria, unserer heiligen Herrin, unsere Zuflucht nehmen. Maria, die Mutter Christi, die auch unsere eigene Mutter ist, wollen wir anflehen und einmütig anrufen.
„Dich als Mutter zeige, daß durch dich sich neige unserm Fleh’n auf Erden, der dein Sohn wollt werden.“
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Aus: Leo XIII., Epistula Enzyklika „Octobri mense“, 1891 (Der Rosenkranz und die Gnadenvermittlung Mariens)