Wortlaut: Papstrede bei ökumenischem Treffen in Tallinn

Das ökumenische Jugendtreffen in der Karlskirche von Tallinn (AFP or licensors)

Vatican News dokumentiert die Ansprache, die Papst Franziskus am Dienstag bei einem ökumenischen Treffen mit Jugendlichen in der evangelisch-lutherischen Karlskirche von Tallinn/Estland gehalten hat, in vollem Wortlaut und offizieller deutscher Übersetzung.

„Liebe junge Freunde,

danke für euren herzlichen Empfang, für euren Gesang und für die Zeugnisse von Lisbel, Tauri und Mirko. Ich danke dem Erzbischof der Estnischen Evangelisch-Lutherischen Kirche Urmas Viilma für seine freundlichen Worte. Ebenso danke ich dem Vorsitzenden des Rates der Kirchen Estlands Erzbischof Andres Põder, dem Apostolischen Administrator von Estland Bischof Philippe Jourdan und den anderen Vertretern der verschiedenen christlichen Konfessionen des Landes für ihre Anwesenheit.

„Ohne Argwohn, ohne Misstrauen“

Es ist immer schön zusammenzukommen, Lebenszeugnisse auszutauschen, zum Ausdruck zu bringen, was wir denken und wollen; und es ist sehr schön, dass wir zusammen sind, die wir an Jesus Christus glauben. Diese Treffen verwirklichen den Traum Jesu beim Letzten Abendmahl: »Alle sollen eins sein […] damit die Welt glaubt« (Joh 17,21). Wenn wir uns bemühen, uns als Pilger zu sehen, die den Weg gemeinsam gehen, werden wir lernen, dem Weggefährten vertrauensvoll unser Herz zu öffnen, ohne Argwohn, ohne Misstrauen, indem wir nur auf das schauen, was wir wirklich suchen: Frieden vor dem Angesicht des einen Gottes. Und wie der Frieden eine handwerkliche Kunst ist, so ist das Vertrauen in die anderen auch etwas Handwerkliches und Quelle des Glücks: »Selig, die Frieden stiften« (Mt 5,9).

Das große Gemälde in der Apsis dieser Kirche wird von einem Satz aus dem Matthäusevangelium umrahmt: »Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid! Ich will euch erquicken« (Mt 11,28). Ihr jungen Christen, ihr könnt euch mit einigen Elementen dieser Evangelienstelle identifizieren. In den Erzählungen davor sagt uns Matthäus, dass Jesus gerade enttäuschende Erfahrungen sammelt. Zuerst beklagt er sich, denn es scheint, dass denen, an die er sich wendet, nichts passt (vgl. Mt 11,16-19). Euch Jugendlichen passiert es oft, dass die Erwachsenen um euch herum nicht wissen, was sie von euch wollen oder sich von euch erwarten; oder manchmal, wenn sie euch ganz fröhlich sehen, sind sie argwöhnisch; und wenn sie euch traurig sehen, relativieren sie einfach, was euch geschieht. Bei der Konsultation im Vorfeld der Synode, die wir in Kürze feiern und bei der wir über die Jugendlichen nachdenken werden, haben viele von euch gebeten, dass euch jemand begleitet und versteht, ohne zu urteilen, und euch zuzuhören weiß als auch auf eure Fragen zu antworten (vgl. Jugendsynode, Instrumentum laboris, 132).

„Wir wollen mit euch weinen, wenn ihr weint…“

Unsere christlichen Kirchen – und ich wage zu sagen alle institutionell gegliederten religiösen Gemeinschaften – legen in ihrem Tun zuweilen Haltungen an den Tag, denen zufolge es leichter fiel zu reden, zu raten, unsere Erfahrung anzubieten, als zuzuhören und sich von dem, was ihr erlebt, anfragen und erleuchten zu lassen. Wir wissen, dass ihr »Begleitung« wollt und erwartet, und zwar »nicht durch einen unbeugsamen Richter und auch nicht durch ängstliche Eltern, deren übermäßiger Beschützerinstinkt nur Abhängigkeit schafft, sondern durch jemanden, der keine Angst vor der eigenen Schwäche hat und der den Schatz zum Leuchten bringt, den er, ein „zerbrechliches Tongefäß“ (vgl. 2 Kor 4,7), in sich trägt« (ebd., 142). Hier und heute möchte ich euch sagen: Wir wollen mit euch weinen, wenn ihr weint, eure Freuden mit unserem Applaus und Lachen begleiten und euch helfen, die Nachfolge des Herrn zu leben.

Jesus klagt auch über die Städte, die er besucht hat, in denen er mehr Wunder gewirkt hat und denen er größere Gesten der Zuneigung und Nähe gezeigt hat; er beklagt ihr fehlendes Gespür zu bemerken, dass sein Angebot der Änderung dringend war und nicht warten konnte. Er geht sogar so weit zu sagen, sie seien starrsinniger und blinder als Sodom (vgl. Mt 11.20-24). Und wenn wir Erwachsene uns einer Realität verschließen, die bereits Fakt ist, sagt ihr uns freimütig: „Seht ihr es nicht?“ Und einige mutigere wagen es zu sagen: „Bemerkt ihr nicht, dass euch niemand mehr zuhört, noch euch glaubt?“

„Viele sind empört über sexuelle und finanzielle Skandale“

Es ist in der Tat notwendig, dass wir uns bekehren und entdecken, dass wir, um an eurer Seite zu sein, viele Situationen ändern müssen, die euch letztendlich entfernen. Wir wissen – wie ihr uns gesagt habt –, dass viele Jugendliche gar nichts von uns verlangen, weil sie die Kirche nicht als einen für ihr Leben bedeutsamen Gesprächspartner wahrnehmen. Ganz im Gegenteil, manche wollen ausdrücklich in Ruhe gelassen werden, denn sie empfinden die Präsenz der Kirche als lästig, ja unangenehm. Sie sind empört über die Skandale sexueller und finanzieller Art, denen gegenüber sie keine klare Verurteilung sehen; über das fehlende angemessene Gespür für das Leben und die Sensibilität der Jugendlichen aufgrund mangelnder Vorbereitung; oder einfach über die passive Rolle, die wir ihnen zuweisen (vgl. Jugendsynode, Instrumentum laboris, 66). Dies sind einige eurer Anliegen. Wir wollen ihnen entsprechen, wir wollen, wie ihr selbst sagt, »als Gemeinschaft transparent, offen, ehrlich, einladend, kommunikativ, zugänglich, freudig und interaktiv« sein (ebd., 67).

Bevor Jesus zu dem Wort im Evangelium kommt, das über diesem Kirchenraum steht, setzt er mit einem Lobpreis an den Vater an. Er tut dies, weil er merkt, dass diejenigen, die es erfasst haben – die das Herz seiner Botschaft und seiner Person verstehen –, die Kleinen sind. Wenn ich euch hier versammelt so singen sehe, vereine ich mich mit der Stimme Jesu und bin erstaunt, weil ihr trotz unseres mangelnden Zeugnisses Jesus weiter inmitten unserer Gemeinden entdeckt. Denn wir wissen: Wo Jesus ist, da gibt es immer Erneuerung, da gibt es immer Gelegenheit umzukehren, all das hinter sich zu lassen, was uns von ihm und von unseren Brüdern und Schwestern trennt. Wo Jesus ist, hat das Leben immer den Geschmack des Heiligen Geistes. Hier und heute seid ihr die Aktualisierung dieser Verwunderung Jesu.

„Jesus trägt, was uns niederdrückt“

Also nun, sagen wir noch einmal: »Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid! Ich will euch erquicken« (Mt 11,28). Aber sagen wir es in der Überzeugung, dass über unsere Grenzen und Spaltungen hinaus Jesus weiter der Grund ist, warum wir hier sind. Wir wissen, nichts erleichtert so sehr als zuzulassen, dass Jesus trägt, was uns niederdrückt. Wir wissen auch, dass es viele gibt, die ihn noch nicht kennen und in Traurigkeit und Verwirrung leben. Eine eurer berühmten Sängerinnen sagte vor ungefähr zehn Jahren in einem ihrer Lieder: „Die Liebe ist tot, die Liebe ist dahin, die Liebe lebt hier nicht mehr“ (Kerli Kõiv, Love is dead). Und viele sind es, die diese Erfahrung machen: Sie sehen, wie die Liebe ihrer Eltern aufhört, wie die Liebe von eben erst verheirateten Paaren vergeht; sie spüren einen inneren Schmerz, wenn es niemanden interessiert, dass sie auswandern müssen auf der Suche nach Arbeit, oder wenn man argwöhnisch angeschaut wird, weil man fremd ist. Es scheint, die Liebe sei tot, aber wir wissen, dass dem nicht so ist. Wir haben ein Wort zu sagen, etwas zu verkünden, und zwar mit wenigen Reden und vielen Taten. Denn ihr seid eine Generation der Bilder und der Aktion, die über Spekulation und Theorie hinausgehen.

Und so gefällt es Jesus; denn er kam, dass Gute zu tun, und als er starb, hat er den Worten das starke Zeichen des Kreuzes vorgezogen. Uns eint der Glaube an Jesus, und er wartet darauf, dass wir ihn zu allen Jugendlichen bringen, die den Sinn ihres Lebens verloren haben. Nehmen wir gemeinsam diese Neuheit auf, die Gott in unser Leben trägt, jene Neuheit, die uns antreibt, immer wieder neu aufzubrechen, um dorthin zu gehen, wo die Menschheit am meisten verletzt ist. Dorthin, wo die Menschen jenseits des Anscheins der Oberflächlichkeit und des Konformismus weiter eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn ihres Lebens suchen. Wir gehen jedoch nie allein: Gott geht mit uns; er hat keine Angst vor den Rändern, im Gegenteil, er selbst hat sich zum „Rand“ gemacht (vgl. Phil 2,6-8; Joh 1,14). Wenn wir den Mut haben, aus uns selbst hinauszugehen und an die Ränder zu gehen, werden wir ihn dort antreffen, denn Jesus kommt uns zuvor im Leben der Brüder und Schwestern, die leiden und weggeworfen werden. Er ist schon dort (vgl. Apostolisches Schreiben Gaudete et exsultate, 135).

„Die Liebe ist nicht tot“

Die Liebe ist nicht tot, sie ruft und sendet uns. Bitten wir um die apostolische Kraft, anderen das Evangelium zu bringen und es zu unterlassen, aus unserem christlichen Leben ein Museum voller Andenken zu machen. Lassen wir zu, dass der Heilige Geist bewirkt, dass wir die Geschichte unter dem Vorzeichen des auferstandenen Jesus betrachten. Auf diese Weise wird die Kirche fähig sein, vorwärtszugehen und dabei die Überraschungen des Herrn bei sich aufzunehmen (vgl. ebd., 139). So wird sie ihre Jugendlichkeit wiedergewinnen, die Freude und die Schönheit der Braut, die dem Herrn entgegengeht.“

(vatican news)

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Baltikum-Experte: Drei Länder, drei Schwerpunkte beim Papstbesuch

Logo der Papstreise nach Estland

Was erwarten sich die Menschen in Estland, Lettland und Litauen von Papst Franziskus, der sie bald besucht? Um die Frage zu beantworten, muss erst klar sein: die drei Länder sind ziemlich verschieden. Markus Nowak über die Lage der katholischen Kirche vor Ort und die Erwartungen an die Papstvisite am Rand Europas.

Die drei Länder sind keineswegs so homogen, wie das die Sammelbezeichnung „Baltikum“ nahelegt. Insbesondere die religiöse Situation ist in allen drei Ländern völlig unterschiedlich. Diesen Samstag fliegt Papst Franziskus nach Litauen, wo er zwei Tage bleibt. Am Montag geht es nach Lettland, am Dienstag nach Estland und dann wieder zurück nach Rom.

Eins der wichtigsten Themen in den Nachrichten

Seit Tagen ist die Visite von Papst Franziskus eine der wichtigsten Themen in den Nachrichten im litauischen Staatsfernsehn LRT. Vom 22. bis 25. September besucht der Pontifex die drei Länder Litauen, Lettland und Estland. Es ist der zweite Besuch eines Oberhauptes der katholischen Kirche im Baltikum – nach Johannes Paul II. vor 25 Jahren. Und gerade in Litauen wird Franziskus´ Visite so etwas wie ein Gastspiel. Denn rund 80-Prozent der Litauer sind katholisch, und die Kirche gilt als einflussreich. Gintaras Grusas, der Erzbischof der Hauptstadt Vilnius, hegt aber auch Erwartungen an den Papst.

„Für alle Länder ist es eine große Ehre, wenn der Heilige Vater kommt. Seine Gegenwart kann die Hoffnung der Menschen stärken. Viele Litauer verlassen wegen der schwachen ökonomischen Situation das Land. Ich hoffe, dass er den Menschen Halt geben kann und sie vielleicht sogar zum Bleiben bewegen kann. Auch wird es einen Moment geben, bei dem der Papst unsere Vergangenheit kennenlernen wird. Wir haben als Nation großen Bedrohungen standgehalten und unseren Glauben bewahren können“, so der Erzbischof von Vilnius.

Was der Erzbischof meint, ist die Zeit vor 1990/91, als Litauen wie das gesamte Baltikum von der Sowjetunion okkupiert war und die Religionsfreiheit litt.

Am eigenen Leib hat das Sigitas Tamkevičius erlebt, der spätere Erzbischof von Kaunas. Als junger Jesuit gab er in den 1970er und 80er Jahren eine Chronik heraus, die die Verfolgung der Kirche durch die Sowjetmacht auch im westlichen Ausland publik machte. Fünf Jahre verbrachte er dafür in Haft und ist heute sowas wie eine Symbolfigur für den kirchlichen Widerstand in der Sowjetunion. Auch er hat Erwartungen an Papst Franziskus, der oft davon spricht, zu den Rändern zu gehen.

“ Wenn die Worte des Papstes in diesen Menschen Hoffnung wecken, dann ist sein Ziel erreicht. ”

„Wir in Litauen sind geografisch gesehen am Rande Europas. Zudem gibt es in Litauen einen nicht kleinen Teil der Gesellschaft, der wegen sozialer Probleme am Rand der Gesellschaft steht. Wenn die Worte des Papstes in diesen Menschen Hoffnung wecken, dann ist sein Ziel erreicht. Franziskus versteht das“, sagt Sigitas Tamkevičius.

Station Lettland: Schwerpunkt Ökumene

„Kristus Jėzus – mano viltis“ – zu Deutsch „Christus, meine Hoffnung“. Die Hymne des Papstbesuches in Litauen ist zugleich das Motto seiner Visite im größten baltischen Land. In Lettland dagegen, dem mit zwei Millionen Einwohnern zweitgrößten Staat des Baltikums, wird ein Schwerpunkt auf Ökumene liegen. Papst Franziskus trifft Vertreter verschiedener Konfessionen im lutherischen Mariendom zu Riga. Jeder dritte Lette ist Lutheraner, 22 Prozent sind katholisch, und mit rund 20 Prozent gibt es auch einen hohen Anteil an orthodoxen Christen. Rigas Erzbischof Zbigniev Stankievics spricht von einer ökumenischen Atmosphäre, die in Lettland herrscht. Eben, weil keine der Konfessionen eine zu dominante Rolle habe.

“ Wir erwarten, dass der Papst uns eine Bestätigung gibt, dass wir in die richtige Richtung in Sachen Ökumene gehen. ”

„Wir erwarten, dass der Papst uns eine Bestätigung gibt, dass wir in die richtige Richtung in Sachen Ökumene gehen. Also gute Beziehungen zueinander aufbauen und mit einer gemeinsamen Sprache sprechen. Das tun wir etwa gegenüber dem Staat in für uns wichtigen Themen. Da ist etwa die Sache mit dem Religionsunterricht, der künftig kein verpflichtendes Wahlfach mehr sein wird und nur noch auf freiwilliger Basis unterrichtet wird. Wir Religionsgemeinschaften sehen darin ein großes Problem. Ich denke, mit einer gemeinsamen Sprache könnten wir es ändern“, sagt Zbigniev Stankievics.

Estland: 0,5 Prozent Katholiken und ein Papstbesuch

Eine gemeinsame Stimme der Religionsgemeinschaften gegenüber der Politik finden – das ist in Estland noch schwieriger. Denn die letzte Station des Papstes auf seiner Baltikum-Reise ist eines der am stärksten säkularisierten Länder Europas. Gerade einmal 20 Prozent der Esten gehören überhaupt einer Religionsgemeinschaft an. Angesichts des Katholikenanteils von 0,5 Prozent sei es wichtig, dass Papst Franziskus auch die Hauptstadt Tallinn besuche, sagt der Apostolische Administrator von Estland Bischof Phillipe Jourdan.

„Ich werde oft von Journalisten gefragt, welche Bedeutung es hat, wenn der Papst in ein Land mit so wenigen Katholiken kommt. Aber Franziskus schaut nicht auf Statistiken. Er sagt, die Kirche ist nicht nur das Kirchengebäude. Und ich füge hinzu, Kirche ist nicht nur da, wo sie traditionell stark ist. Die Katholiken sind nicht bloß in Estland in einer extremen Minderheit; etwa die Hälfte aller Katholiken weltweit lebt in Ländern, wo sie weniger als ein Prozent bilden. So wird der Papst nicht nur zu uns Esten sprechen, sondern zu allen Menschen, wo die katholische Kirche nur eine geringe Präsenz hat. Denken wir etwa an Russland oder China“, so Bischof Jourdan.

(pm)

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