DER HEILIGE STUHL – DIE CATHEDRA PETRI
ACHTER TEIL
DAS LEHRAMT DER KIRCHE
In diesem Teil setze ich die Erörterung der Grundzüge der neuen umfassenden Gesamtschau der Kirche fort.
„Wie sollen sie den Namen des Herrn anrufen, an den sie nicht glauben? Wie sollen sie an den glauben, von dem sie nichts gehört haben? Wie sollen sie hören, wenn niemand verkündigt? Wie soll aber jemand verkündigen, wenn er nicht gesandt ist? Darum heißt es in der Schrift: Wie sind die Freudenboten willkommen, die Gutes verkündigen! (…) So gründet der Glaube in der Botschaft, die Botschaft im Wort Christi“ (Röm 10,14-15.17).
Christus hat keine abstrakte Religion gegründet, keine reine religiöse Schule und Denkrichtung; er hat vielmehr eine Gemeinschaft von Aposteln und Lehrern eingesetzt, die seine Botschaft verbreiten sollen. Die Kirche wird aus der lehrenden Kirche geboren und nicht aus sich selbst; oder besser: Sie wird aus Christus geboren, der seine Apostel aussendet: „Darum geht (…) und lehrt (…)“ (Mt 28,19). Der göttliche Meister übergibt den Aposteln (und ihren Nachfolgern) sein Lehramt. Das Amt Christi, des Meisters, setzt sich in der Zeit im kirchlichen Lehramt fort. Das Lehramt der Kirche repräsentiert die Person Jesu des Meisters und lehrt in seinem Namen und in seiner Vollmacht. Das Lehramt zeigt letztlich nur den Weg des Evangeliums auf.
I. SUBJEKT UND OBJEKT DES LEHRAMTES
Alle in der Kirche müssen „dem Lehramt, der nächsten und unmittelbaren Glaubensregel kindlichen Gehorsam leisten. Das Lehramt besteht aus dem Papst und den mit ihm verbundenen Bischöfen.“1
Subjekt des Lehramtes der Kirche ist das Bischofskollegium mit seinem
___
1 Johannes XXIII., Ansprache vom 29. 7. 1961, in: AAS 53 (1961) 565; vgl. Paul VI., Ansprache vom 15. 4. 1970, 314 f; ders., Ansprache vom 1. 10. 1966, 454; Johannes Paul II., Ansprache vom 24.5. 1983,1, 1354; ders., Ansprache vom 18. 5. 1985, 1, 1481: „Es gibt nur ein Lehramt, das den Aposteln in Vereinigung mit Petrus und ihren Nachfolgern übertragen ist“; vgl. ders., Schreiben vom 2. 7. 1988, in: EnV 11, 699: Der Bischof von Rom und das Bischofskollegium sind die Inhaber des universellen Lehramtes der Kirche.
___
sichtbaren Haupt. Der Bischof von Rom ist „der Vater und Lehrer aller Christen“2. So wie es kein Bischofskollegium ohne sein irdisches Haupt gibt, so gibt es auch kein Lehramt ohne den Papst. Der Papst personifiziert das Lehramt. Er ist sein irdisches Fundament, sein Mittelpunkt, sein Pol und Angelpunkt.
„Die Lehre des Glaubens, die Gott geoffenbart hat, wurde nämlich dem menschlichen Geist nicht wie ein philosophisches System zur Vervollkommnung vorgelegt, sondern der Kirche, der Braut Christi als göttlicher Schatz anvertraut, damit sie ihn getreu behüte und unfehlbar verkünde.“3
„Die Aufgabe aber, das geschriebene oder überlieferte (vgl. Erstes Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über den katholischen Glauben III, in: DzH 3011) Wort Gottes verbindlich zu erklären, ist nur dem lebendigen Lehramt der Kirche anvertraut (vgl. Pius XII., Humani generis, in: DzH 3886), dessen Vollmacht im Namen Jesu Christi ausgeübt wird“ (DV 10).
„Diesen Glaubensschatz nun hat der göttliche Erlöser weder einzelnen Christen noch selbst den Theologen zur authentischen Auslegung anvertraut, sondern allein dem Lehramt der Kirche.“4
Das geschriebene Wort Gottes ist in der Heiligen Schrift enthalten. Das überlieferte Wort Gottes ist in der göttlichen Überlieferung enthalten. Der göttliche Glaubensschatz der katholischen Lehre besteht aus der Heiligen Schrift und der göttlichen Überlieferung. Das Lehramt der Kirche steht nicht über dem Wort Gottes – es steht nicht über dem göttlichen Glaubensschatz. Das Lehramt ist ein unzweideutiges und lebendiges Organ für einen bestimmten Dienst, nämlich für die authentische Auslegung des göttlichen Glaubensschatzes. Das Lehramt bewahrt die ursprüngliche Bedeutung des geschriebenen und überlieferten Wortes Gottes; es lehrt es, legt es aus und entfaltet es. Es legt es in seiner objektiven, umfassenden, eindeutigen und festen Bedeutung dar. Die Sendung des Lehramtes ist, die göttliche Offenbarung zu lehren und nicht die Ergebnisse von menschlichen Forschungen oder philosophischen Erfindungen.
___
2 Ökumenisches Konzil von Florenz, Dekret für die Griechen, in: DzH 1307.
3 Erstes Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über den katholischen Glauben IV, in: DzH 3020.
4 Pius XII., Humani generis, in: DzH 3886; vgl. Pius XII., Ansprache vom 24.10.1954, in: Discorsi XVI, 228; Paul VI., Ansprache vom 11. 1. 1967, 672; Pius XII., Ansprache vom 22. 9, 1956, in: Discorsi XVIII, 467: Das „kostbare Gut“ (2 Tim 1,14; vgl. 1 Tim 6,20) beinhaltet das „depositum fidei“ (Glaubensschatz) und das „depositum gratiae“ (Gnadenschatz).
___
Das Objekt der Lehre des Lehramtes der Kirche ist „der Schatz der göttlichen Offenbarung“ (LG 25) — der göttliche Schatz der katholischen Lehre. Das Lehramt lehrt in Glaubens- und Sittenfragen sowie in Fragen der Wahrheit, die eng damit verbunden sind.
Die Ausübung des Lehramtes der Kirche ist ordentlich und manchmal auch außerordentlich. Die Ausübung des ordentlichen Lehramtes des Papstes umfaßt eine ununterbrochene Reihe von mündlichen oder schriftlichen Verlautbarungen. Der Papst übt sein außerordentliches Lehramt aus, wenn er in einem bestimmten Punkt der Glaubens- oder Sittenlehre allein oder mit dem Konzil der Bischöfe „ex cathedra“ spricht. Das Bischofskollegium übt das außerordentliche Lehramt auf den Ökumenischen Konzilien aus. In Vereinigung mit dem ordentlichen Lehramt seines irdischen Hauptes übt das Kollegium ebenfalls das ordentliche Lehramt aus.
II. DIE UNFEHLBARKEIT DER KIRCHE
1. Die Kirche — eine Weiterführung Christi,
der die Wahrheit ist
Der Mensch ist fehlbar. Im Bereich der rein menschlichen Erkenntnis ist nicht nur Raum für den Fortschritt in der Wahrheit, sondern auch und nicht selten für die Korrektur grundlegender Irrtümer. Gott selbst, der vollkommen Unfehlbare, wollte sein neues Volk mit einer teilhabenden und auf den Bereich der Glaubens- und Sittenfragen eingegrenzten Unfehlbarkeit ausstatten.
„Die Kirche muß sehr demütig und zugleich gewiß darüber sein, daß sie eben in jener Wahrheit, in jener der Glaubens- und Sittenlehre bleibt, die sie von Christus empfangen hat, der sie in diesem Bereich mit dem Geschenk einer besonderen „Unfehlbarkeit“ ausgestattet hat. Das II. Vatikanum hat vom Ersten Vatikanischen Konzil die diesbezügliche Lehre der Tradition geerbt, sie bekräftigt und in einem umfassenderen Zusammenhang dargestellt, und zwar im Zusammenhang der Sendung der Kirche, die dank der Teilhabe an der prophetischen Sendung Christi selbst einen prophetischen Charakter besitzt.“5
„Es besteht eine Rangordnung oder »Hierarchie« der Wahrheiten innerhalb der katholischen Lehre“ (UR 11). Die Wahrheit über die Unfehlbarkeit der Kirche kann in dieser Hierarchie zu Recht als weniger zentrale und zweitrangige Wahrheit erscheinen; trotzdem ist sie in gewisser Weise der Schlüssel für die Gewißheit des Glaubensbekenntnisses und der Glaubensverkündigung, für das Leben und das Verhalten der Gläubigen.
„»Die Gesamtheit der Gläubigen, welche die Salbung von dem Heiligen Geist haben (vgl. 1 Joh 2,20.27), kann im Glauben nicht irren. Und diese besondere Eigenschaft macht sie durch den übernatürlichen Glaubenssinn des ganzen Volkes kund, wenn sie „von den Bischöfen bis zu den letzten gläubigen Laien“ (vgl. Augustinus, De Praed. Sanct. 14, 27, in: PL 44, 980) ihre allgemeine Übereinstimmung in Fragen des Glaubens und der Sitten äußert« (LG 12).
Man beachte, wie gut aus dem Konzilstext hervorgeht, daß jene »Übereinstimmung in Fragen des Glaubens und der Sitten« nicht aus einer Umfrage oder einer Volksabstimmung erwachsen ist. Sie kann nur in rechter Weise verstanden werden, wenn man sich der Worte erinnert: »Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du all das den Weisen und Klugen verborgen, den Unmündigen aber offenbart hast« (Mt 11,25).“6
Die Kirche hat im Heiligen Geist an der Unfehlbarkeit Christi, der Wahrheit, teil und zwar auf der Ebene des Lehramtes und auf der Ebene des Volkes Gottes. Das Lehramt ist mit einem besonderen Charisma der Wahrheitsgewißheit ausgestattet. Im katholischen Volk erweckt und nährt der Geist der Wahrheit den Glaubenssinn. Dank dieses „Sinnes“, in dem die göttliche „Salbung“ Frucht bringt, „hält das Gottesvolk unter der Leitung des heiligen Lehramtes unfehlbar am Glauben fest“ (LG 12).
„So spricht der Herr:
Ich kehre zurück nach Zion
und wohne wieder in Jerusalem.
Dann wird Jerusalem »Stadt der Wahrheit«
heißen und der Berg des Herrn der Heere
»Heiliger Berg«“ (Sach 8,3).
___
5 Johannes Paul II., Schreiben vom 15. 5. 1980, 1, 1433; vgl. ders., Ansprache vom 9. 3. 1980, 1, 535; ders., Ansprache vom 9. 1. 1991, 1, 54f; Kongregation für die Glaubenslehre, Mysterium fidei (24. 6. 1973), Nr. 2, in: EnV, 1664-1667.
6 Johannes Paul II., Ansprache vom 13. 5. 1992, 1, 1416.
___
„Ist das Kreuz von Golgotha, Quelle der Weisheit, der Kraft und des Sieges (vgl. 1 Kor 1,22-25), nicht das göttliche Zeichen der Erlösung für alle Kinder Abrahams und Licht des ewigen Heiles für die ganze Menschheit, die auf dem Meer des Irrtums und der Schuld Schiffbruch erlitten hat?“7
„Die Kirche ist die Heilswahrheit, weil die Kirche der mit seinem Wort und seinem Heilswerk in der Zeit gegenwärtige Christus ist.“8
„Die Katholische Kirche, die Stadt Gottes, »die die Wahrheit als König, die Liebe als Gesetz und die Ewigkeit als Maß hat« (Augustinus, Ep. 138, 3, 17), verkündet die Wahrheit Christi ohne Irrtümer und ohne Verkürzungen und handelt nach der Liebe Christi mit mütterlichem Eifer. Sie erscheint gleichsam als beseligende Schau des Friedens über den Strudeln der Irrtümer und Leidenschaften.“9
Die Geschichte und Geographie der Erde der Personen offenbart auch die Geschichte der Wahrheit und die Geographie der Wahrheit. Den beiden zuletzt genannten Wirklichkeiten widersprechen die Geschichte des Irrtums und die Geographie des Irrtums. Auf der unteren Hemisphäre der Erde der Menschen herrscht das Kreuz des Irrtums (der Irrtümer). Dieses Kreuz zerteilt, verkürzt, verdunkelt… in verschiedenen Graden und Weisen die Wahrheit über Gott, den Menschen und die Welt.
Das negative Kreuz des Irrtums (und der Lüge) wächst und verzweigt sich in der Hemisphäre. Es erreicht seinen Höhepunkt auf der polaren Ebene: im polaren Babylon. Diese Stadt ist die Hauptstadt des Irrtums (der Unwahrheit), der Lüge (der Anti-Wahrheit) und der Irrlehren in der Geschichte und Geographie der Menschheit. Und obschon sie einerseits der Sitz der hauptsächlichen Irrtümer und Lügen ist, verbreitet sie paradoxerweise andererseits ununterbrochen Teilwahrheiten. Das Kreuz des Irrtums (und der Lüge), das den Verstand der Personen unterjocht, manifestiert sich durch die äußeren Personen in der Geschichte und Geographie der äußeren Menschheit.
Die Gesamtkirche ist die Fortsetzung Christi, der Wahrheit, in der
___
7 Pius XII., Ansprache vom 4. 9. 1940, in: Discorsi II, 218.
8 Johannes Paul II., Ansprache vom 21. 11. 1982, 3,1390.
9 Pius XII., Summi Pontificatus, in: Discorsi III, 466; vgl. Johannes Paul IL, Ansprache vom 25. 1. 1986, 1, 194; ders., Ansprache vom 13. 10. 1979, 2, 743; vgl. Paul VI., Ansprache 20. 3. 1974, 270: Papst Paul VI. gebraucht die Formulierung „Topographie der Lehre“.
___
Heilsgeschichte und Heilsgeographie der Erde der Personen. Deshalb ist die Kirche auf dieser Erde gleichsam das neue Jerusalem, die „Stadt der Heilswahrheit(en)“; sie ist der Berg und der heilige Tempel der Heilswahrheit(en). In der Gesamtkirche herrscht das heilbringende Kreuz Christi, der Wahrheit: das Kreuz der umfassenden und heilbringenden Wahrheit über Gott, den Menschen und die Welt.
In Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen, und in der Kraft des Heiligen Geistes ist das polare Jerusalem die Hauptstadt der Heilswahrheit(en) in der Geschichte und Geographie der Kirche und der Menschheit. Das Kreuz Christi, der Wahrheit, herrscht auch in der hemisphärischen Kirche und in der äußeren Kirche. Das umfassende und heilbringende Kreuz der Wahrheit manifestiert sich sichtbar in der Geschichte und Geographie der äußeren Kirche. Bei jenen Christen, die auf der Ebene der Längen- und Breitengrade der hemisphärischen Kirche verflacht sind, wurde die umfassende Wahrheit auf verschiedenen Graden und Weisen durch ein Kreuz des Irrtums (der Irrtümer) vermindert. Deshalb bekennen sie nach außen auch nur eine vermindert globale Wahrheit.
2. Die Arche der Kirche und die Stürme
„»Er stieg in das Boot, und seine Jünger folgten ihm« (Mt 8,23). Wenn ihr auf der Fahrt des Lebens wie die Apostel Jesus bei euch habt, dann braucht ihr weder Stürme noch Gegenwinde zu fürchten. Das Bild vom Boot ist Symbol für die Kirche in der Welt. »Wir sind, wenn wir die Fluten und Stürme dieser irdischen Welt betrachten, wie Schiffahrer. Doch wir gehen nicht unter, weil wir vom Holz des Kreuzes getragen werden« (Augustinus, Tract. in Jo., 27,7). Die Kirche ist dieses Holz des Heiles, das euch die Überfahrt sichert.“10
Die Gesamtkirche, die vom Kreuz Christi getragen wird, ist die Arche Noachs: die Arche der Heilswahrheit(en). Denn sie trägt den Schatz der göttlichen Offenbarung und damit auch die umfassende Heilswahrheit über Gott, den Menschen und die Welt. Sie trägt ihn (sie) in ihrer äußeren Ebene (in dem ersten Stockwerk der Arche), in ihrer hemisphärischen Ebene (im zweiten Stockwerk der Arche) und in ihrer polaren Ebene (in
___
10 Johannes Paul II., Ansprache vom 19. 3. 1987, 1, 602-603; Paul VI., Ansprache vom 19. 4. 1964, 1087: „Das Ruder und der Mast, die das Schiff des christlichen Lebens führen und leiten, ist das Kreuz: der Hafen ist das ewige Leben, er ist die unverhüllte Begegnung mit Christus.“
___
dem dritten Stockwerk der Arche: das polare Jerusalem, das Allerheiligste des Tempels der Kirche). Die Arche der Kirche rettet die Teilwahrheiten der gefallenen Menschheit aus der Zersplitterung und Zerstreuung. Sie integriert sie in die umfassende Einheit der Heilswahrheit. Auf ihrer Fahrt weicht die Gesamtkirche von ihrem Pol, von Gott, der Wahrheit, nicht ab und erleidet daher trotz aller Stürme keinen Schiffbruch in einer Irrlehre (oder in mehreren Irrlehren) und Irrtümern. Und dies nicht einmal in den Stürmen der Geschichte.
„Nach der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils ist »dieses messianische Volk, obwohl es tatsächlich nicht alle Menschen umfaßt und gar oft als kleine Herde erscheint, für das ganze Menschengeschlecht die unzerstörbare Keimzelle der Einheit, der Hoffnung und des Heils« (LG 9).“11
„»Die Wahrheit ist in sich fest und kann von keinem Ansturm ausgerottet werden« (Thomas von Aquin, Contra gentiles, III, 10). Die Wahrheit kann wie Jesus Christus abgelehnt, verfolgt, bekämpft, verletzt, gequält und gekreuzigt werden; doch sie ersteht und erwacht immer wieder zu neuem Leben und kann nie aus dem Herzen des Menschen herausgerissen werden.“12
„Christus ist auf dem Schiff der Kirche gegenwärtig und lenkt es auch in den heftigsten Stürmen.“13
In einem heftigen Sturm (vgl. Mt 8,23-26), den der Geist des Bösen, des Irrtums und der Lüge herbeigeführt und heraufbeschworen hat, setzt sich die Arche der Kirche mit einer vielgestaltigen Irrlehre (oder mit mehreren Irrlehren) auseinander. Zudem muß sie sich intensiv mit den Irrtümern der hektischen Welt auseinandersetzen. Die heftigen Fluten und Wellen der Irrlehre und der Irrtümer versuchen in ihr Inneres einzudringen und
___
11 Johannes Paul II., Ansprache vom 13. 11. 1991, 2,1132.
12 Ders., Ansprache vom 13. 9. 1980, 2, 609.
13 Ders., Schreiben vom 15. 5. 1980, 1, 1442; vgl. ders., Ansprache vom 10. 10. 1988, 3,1159-1163; Johannes XXIII., Ansprache vom 20. 3. 1960, in: Discorsi II, 623: „Die Wahrheit macht uns frei, wie der Apostel Johannes sagt. Und dennoch, wenn es etwas gibt, was auf Erden mißhandelt wird, dann ist es die Wahrheit“; Pius XII., Ansprache vom 13. 5. 1942, in: Discorsi IV, 71: „Der Herr ist nie so wachsam und seiner Kirche nie so nah wie in den Stunden, da seine Kinder von den Ängsten und Stürmen bedrängt werden und eindringlich rufen: „Meister, kümmert es dich nicht, daß wir zugrunde gehen?« (Mk 4,38) »Herr, rette uns, wir gehen zugrunde!« (Mt 8,25)“; Pius XII., Ansprache vom 24. 12. 1944, in: Discorsi VI, 230: „Mitten in der Menschheit erhebt sich als Wächtern und Beschützerin »die Stadt auf dem Berg«, die Kirche Christi. Die aufgewühlten und tosenden Fluten des Meeres brechen sich an dem Fuße ihrer Mauern, doch in ihrem Innern, nämlich im Allerheiligsten ihres Glaubens und ihrer Hoffnung, bleibt sie unzerstörbar.“
___
sie zu versenken. So kommt es, daß ein großer Teil der Gläubigen im Glauben Schiffbruch erleidet. Als verdrehte innere Personen ziehen sie dann die Arche nach unten, während sie als äußere Personen in ihrem ersten Stockwerk verbleiben.
Sehr viele Christen sind als innere Menschen den manchmal unmerklichen, manchmal tosenden Fluten ausgesetzt. Mit dem Aufkommen des Sturmes geraten sie ins Wanken und gleiten immer mehr in das zweite Stockwerk der Arche ab. Das Kreuz des Irrtums (und der Irrtümer) wird in ihnen immer größer, während das Kreuz der umfassenden Heilswahrheit – der völlig umfassende Glaube – immer kleiner wird. Durch sie dringt das trübe Wasser des Irrtums in das erste und zweite Stockwerk der Arche ein.
Nur eine „kleine Herde“ (Lk 12,32) bleibt im polaren Jerusalem: auf dem Gipfel des Berges der Heilswahrheit und im Allerheiligsten des Tempels der Heilswahrheit. Dieser kleine Rest liebt heroisch Gott, die Wahrheit und bleibt der göttlichen Offenbarung vollkommen treu. Daher weicht er vor keinem gewaltigen Ansturm zurück und bewahrt unversehrt den umfassenden Glauben. Er behütet die Fülle der umfassenden und heilbringenden Wahrheit der christlichen Lehre. Er bewahrt die umfassende Wahrheit in den drei Stockwerken der Arche der Kirche.
Mit unerschütterlicher Siegesgewißheit halten die Glieder der kleinen Herde vollkommen und heldenmütig am Kreuz Christi, der Wahrheit, fest. Um der Wahrheit willen werden sie ausgestoßen, verfolgt, bekämpft und gekreuzigt. Mit der Kraft des Geistes der Liebe erfüllt, sind sie vollkommen am heilbringenden Kreuz Christi, der Wahrheit, erhöht. Mit der polaren, solaren und globalen Wahrheit triumphieren die Glieder der kleinen Herde glorreich über das finstere Kreuz der Irrlehre, des Irrtums und der Lüge. Wenn die Arche der Gesamtkirche scheinbar völlig zu versinken droht, rettet Christus sie durch einen kleinen Rest, in welchem er das Geheimnis seines Kreuzes und seiner Auferstehung in einer besonderen Fülle erneut durchlebt. „Da stand er (Jesus) auf, drohte den Winden und dem See, und es trat völlige Stille ein“ (Mt 8,26). Und die Arche der Kirche, die aus diesem Sturm hervorgeht, hat den göttlichen Schatz ohne jeden Irrtum bewahrt.
III. DIE UNFEHLBARKEIT DES LEHRAMTES
1. Das Bischofskollegium
„Mit göttlichem und katholischem Glauben ist ferner all das zu glauben, was im geschriebenen oder überlieferten Wort Gottes enthalten ist und von der Kirche — sei es in feierlicher Entscheidung oder kraft ihres gewöhnlichen oder allgemeinen Lehramtes — als von Gott geoffenbart zu glauben vorlegt wird.“14
„Das Zweite Vatikanische Konzil versichert uns: »Die Aufgabe aber, das geschriebene oder überlieferte (vgl. Erstes Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über den katholischen Glauben III, in: DzH 3011) Wort Gottes verbindlich zu erklären, ist nur dem lebendigen Lehramt der Kirche anvertraut (vgl. Pius XII., Humani generis, in: DzH 3886)« (DV 10). Das magisterium (Lehramt) ist nicht über dem Wort Gottes, sondern dient ihm mit einem besonderen charisma veritatis certum — einem sicheren Charisma der Wahrheit (DV 8), welches das Charisma der Unfehlbarkeit einschließt. Dieses Charisma ist nicht nur in den feierlichen Definitionen des Papstes und der Ökumenischen Konzilien, sondern auch im ordentlichen universellen Lehramt (LG 25) gegenwärtig, das wirklich als die gewöhnliche Äußerung der Unfehlbarkeit der Kirche betrachtet werden kann.“15
Die einzelnen Bischöfe besitzen nicht den Vorzug der Unfehlbarkeit. Wenn sie jedoch unter Wahrung des Gemeinschaftsbandes untereinander und mit dem Nachfolger Petri „authentisch in Glaubens- und Sittenfragen lehren und eine bestimmte Lehre übereinstimmend als endgültig verpflichtend verkünden, legen sie auf unfehlbare Weise die Lehre Christi vor (vgl. Erstes Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über den Glauben III, in: DzH 3011)“ (LG 25). Das Lehramt des Bischofskollegiums mit dem Nachfolger Petri — das ordentliche universelle Lehramt der Kirche ist unfehlbar: es bewahrt den göttlichen Schatz ohne Irrtum und überliefert durch die Jahrhunderte die offenbarten Wahrheiten rein und unversehrt.
___
14 Erstes Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über den katholischen Glauben III, in: DzH 3011.
15 Johannes Paul IL, Ansprache vom 15. 10. 1988, 3,1227; vgL Pius XII., Munificentissimus Deus, in: Discorsi XII, 447448; Kongregation für die Glaubenslehre, Mysterium fidei, Nr. 3; in: EnV 4,1668-1671.
___
„Die Gläubigen sollen auf die Lehre der Bischöfe antworten, indem sie ihr im Geist des Glaubens zustimmen. Das Konzil lehrt: »Die Bischöfe, die in Gemeinschaft mit dem römischen Bischof lehren, sind von allen als Zeugen der göttlichen katholischen Wahrheit zu verehren« (LG 25).
Wie man sieht, erklärt das Konzil genau, daß die wesentliche Bedingung für den Wert und das Verpflichtende der Lehre der Bischöfe ist, daß sie in Gemeinschaft mit dem römischen Bischof stehen und sprechen. Zweifellos hat jeder Bischof seine eigene Persönlichkeit und stellt die Lehre des Herrn dar, indem er sich seiner eigenen Fähigkeiten bedient. Aber gerade weil es sich darum handelt, die der Kirche anvertraute Lehre des Herrn zu verkündigen, muß der Bischof immer mit dem sichtbaren Oberhaupt der Kirche in Gemeinschaft des Denkens und des Herzens stehen.“16
Die tiefe Gemeinschaft im Denken und Herzen mit dem Nachfolger Petri bewahrt die einzelnen Bischöfe vor Abweichungen von der katholischen Lehre. Wenn ein Bischof (oder eine Gruppe von Bischöfen) in der vollkommenen Übereinstimmung mit der universellen Lehre des Papstes nachläßt, entfernt er sich vom polaren Jerusalem. Und gleichzeitig vermindert sich sein Zeugnis, was die Fülle der göttlichen und katholischen Wahrheit betrifft. Indem er den Horizont des vollkommen umfassenden Glaubens verkürzt, betritt er die absteigenden, gewundenen und zentrifugalen Wege eines Irrtums (oder mehrerer Irrtümer). Wenn er sich als innere Person verdreht und in die untere Hemisphäre der theologischen und anthropologischen Welt hinabsteigt und zur polaren Stadt Babylon geht, fällt er in einen schweren Irrtum (in schwere Irrtümer). Wenn der irrige Hirte versucht, seine Herde mitzureißen, ist kein Christ verpflichtet, ihm Gehorsam zu leisten. Im Gegenteil: Jeder Christ muß in der Wahrheit des katholischen Glaubens bleiben und die gesamte Lehre des Nachfolgers Petri annehmen.
In großen Stürmen der Geschichte kommt es jedoch manchmal vor, daß ein Teil der Glieder des Lehramtes in einer Irrlehre (oder in mehreren Irrlehren) Schiffbruch erleidet. Die Irrlehre reißt ein Loch in das umfassende Netz des Glaubens und verursacht ein Leck in der Arche der Kirche. Ein anderer Teil der Glieder des Lehramtes wird auf den Längen- und Breitengraden des zweiten Stockwerkes der Arche der Kirche von dem hohen Wellengang hin- und hergeworfen. Mit der fortschreitenden
___
16 Johannes Paul II., Ansprache vom 4. 11. 1992, 2, 476.
___
Verwässerung der Wahrheit wird in diesen Gliedern ein Kreuz des Irrtums und ein Kreuz der Disziplinlosigkeit immer größer. Während also die trüben Wasser des Irrtums in das erste und zweite Stockwerk der Arche der Kirche eindringen, harrt nur ein kleiner Rest im polaren Jerusalem aus. Mit dem heilbringenden Kreuz der völlig umfassenden Wahrheit und Disziplin kämpft er heldenmütig gegen das negative Kreuz der Irrlehre, des Irrtums und der Disziplinlosigkeit. Dieses negative Kreuz läßt in der Tat das Schiff der Kirche sinken.
„Die der Kirche verheißene Unfehlbarkeit ist auch in der Körperschaft der Bischöfe gegeben, wenn sie das oberste Lehramt zusammen mit dem Nachfolger Petri ausübt“ (LG 25). Es handelt sich hier um die Ökumenischen Konzilien, zu denen sich alle Bischöfe mit dem Papst versammeln. Letzterer muß jedoch nicht persönlich anwesend sein, sondern er kann sich durch seine Legaten vertreten lassen.
„Die Ökumenischen Konzilien vom I. Nizänum im Jahr 325 bis zum I. Vatikanum im Jahr 1869-1870 werden alle als Repräsentanz der geschlossenen und organisierten Katholizität verstanden, um mit der Vollmacht Christi die Unversehrtheit des Glaubens und die Gültigkeit der Disziplin zu verteidigen, um wichtige Lehr- oder Sittenfragen zu lösen oder ernste religiöse und manchmal politische und soziale Situationen zum Besseren zu wenden.“17
„Die Ökumenischen Konzilien sind jedes Mal, wenn sie zusammenkommen, ein feierlicher Vollzug der Vereinigung mit Christus und seiner Kirche. Deshalb führen sie zu einer universellen Ausstrahlung der Wahrheit, der richtigen Ausrichtung des individuellen, häuslichen und gesellschaftlichen Lebens; zur Stärkung der geistlichen Kräfte, in ständiger Erhebung zu den wahren und ewigen Gütern.“18
Die Ökumenischen Konzilien sind wesentlich religiöse Ereignisse. Sie betreffen vor allem die innere Erneuerung des Lebens der Kirche: die Erneuerung des Glaubenslebens, des moralischen Verhaltens und manch-
___
17 Johannes XXIII., Ansprache vom 24. 1. 1960, in: Discorsi 11,127.
18 Ders., Ansprache vom 11. 10. 1962, in: Discorsi IV, 580; Paul VI., Ansprache vom 6. 5. 1967, 210: Das Ökumenische Konzil ist „das Organ der höchsten Gewalt der Kirche und der Augenblick ihres vollsten Bewußtseins“; vgl. ders., Ansprache vom 14. 9. 1965, 472-474; ders., Ansprache vom 8. 1. 1976, 14; Pius XII., Mystici corporis, in: Discorsi V, 290: „»Christus hat, wenn auch nicht sichtbar, bei den Konzilien der Kirche den Vorsitz und leitet sie« (vgl. Cyrill von Alexandrien, Ep. 55)“; vgl. ders., Schreiben vom 21. 11. 1945, in: Discorsi VII, 465: Die Ökumenischen Konzilien sind vorzügliche Heilmittel für die großen Übel, welche die Christenheit bedrohen.
___
mal auch des gesellschaftlichen Lebens der Christen. Die Kirche macht, so kann man sagen, vor Christus ihre Gewissenserforschung und unterscheidet genau im Licht des Heiligen Geistes „die Zeichen der Zeit“.
Wann immer ein Ökumenisches Konzil stattfand, ging es um das Geschick der Kirche. Deshalb war Christus im Heiligen Geist gegenwärtig und wirkte in sehr hohem Maß in der Versammlung der Konzilsväter. Christus leitete im Heiligen Geist den Teil der Bischöfe, die auf unterschiedlichen Wegen zum polaren Jerusalem unterwegs waren. Wenn die große Mehrheit der Bischöfe sich im polaren Jerusalem niederließ, dann erreichte das Ökumenische Konzil sozusagen einen universellen Konsens in den behandelten Glaubens- und Sittenfragen.
Im polaren Jerusalem definierten die vom Heiligen Geist vollkommen erleuchteten Ökumenischen Konzilien die christliche Lehre in Glaubens-und Sittenfragen. Dies geschah durch Zustimmung des Nachfolgers Petri oder wenigstens, indem er die definierte Lehre annahm oder bestätigte. Die Konzilsdefinitionen in Glaubens- und Sittenfragen sind unfehlbar. Die Ökumenischen Konzilien besserten jene Teile des umfassenden Netzes der christlichen Lehre aus, die durch die Irrlehren und Irrtümer zerrissen wurden. Verschiedene Ökumenische Konzilien stellten auch verschiedene Teile des Netzes der Disziplin der Arche der Kirche wieder her und erneuerten sie. In dieser Hinsicht waren sie jedoch nicht in allem unfehlbar.
Eine dogmatische Definition drückt genau (ohne Irrtum) eine in den Quellen der Offenbarung enthaltene Wahrheit aus. Gewöhnlich gehen solchen Definitionen große Bemühungen voraus: ein hundertjähriger oder jahrhundertelanger Aufstieg der verschiedenen theologischen Schulen auf den Berg der Heilswahrheit. Denn man mußte die auseinandergehenden Auffassungen eines Glaubensgeheimnisses überwinden und einen eindeutigen und umfassenden Sinn der diskutierten Begriffe festlegen.
Das Lehramt bestimmte unter dem Beistand des Heiligen Geistes die richtige Hülle (die richtige Formulierung) und den richtigen Sinn der zur Frage stehenden Glaubenswahrheiten. Dann verkündete es die Dogmen und das gewöhnlich auf den Ökumenischen Konzilien. Um die göttliche, eindeutige und universelle Bedeutung der dogmatischen Definitionen zu erfassen, muß man persönlich auf den Berg Christi, des Gekreuzigten und Auferstandenen, und auf den Berg Gottes steigen. Um sie vollkommen zu verstehen, muß man die oberflächlichen Denkrichtungen und die flachen theologischen Strömungen überwinden. Man muß letztlich geistig im polaren Jerusalem wohnen.
„Die Geschichte der Kirche zeigt uns, daß sich das doktrinelle, pastorale und erneuernde Handeln der einzelnen Konzilien oft zwanzig oder dreißig Jahre verzögert. Die Neuheit hemmt einige, so daß sie keine treuen Hörer sind. Andererseits täuschen sich einige extreme Erneuerer: Denn sie verbreiten eher eigene doktrinelle und pastorale Urteile als die vom höchsten Hirten und den mit ihm verbundenen Bischöfen verkündete Lehre. Nur im folgenden Zeitraum werden die Konzilslehren als solche Gegenstand systematischer Studien und verwandeln sich in Impulse für die Pastoraltheologie, das Leben der Kirche und die wahre Reform.“19
„Die Geschichte lehrt, daß jedem Konzil Zeiten außerordentlicher geistlicher Fruchtbarkeit folgen, in denen das Wehen des Heiligen Geistes hochherzige und heldenmütige Berufungen weckt und der Kirche die notwendigen und geeigneten Menschen schenkt.“20
Wenn die Gesamtkirche ein Ökumenisches Konzil abhielt, hat sie einen großen Sturm entscheidend überwunden. Trotzdem setzte sich der große Sturm allzuoft auch nach dem Konzil noch für eine gewisse Zeit fort. Aber in der Zwischenzeit erfolgte in der Kirche bereits der Prozeß der sogenannten „Annahme des Konzils“. Die großen Heiligen warfen mit Eifer und Heldenmut das solare, polare und globale Netz der katholischen Lehre aus. Und sie stellten jene Teile des Netzes der Disziplin der Arche der Kirche wieder her, die zerstört oder aufgelöst worden waren. Sie wirkten heldenmütig mit Christus zur Rettung der Christen zusammen, die im Glauben Schiffbruch erlitten hatten, und zur Wiederaufrichtung der Christen, die in ihrem Leben verflacht waren. Während die Spirale der zum himmlischen Jerusalem aufsteigenden Christen, die das Konzil verwirklichten, größer wurde, nahm die Spirale der Christen ab, die es ablehnten oder entstellten. Manchmal kam es zu dramatischen Auseinandersetzungen zwischen diesen beiden Spiralen, und manchmal schien es sogar, daß die zweite triumphieren sollte.
Wenn sich ein Konzil zutiefst im Leben der Gesamtkirche verwurzelte, war der große Sturm bereits vorüber. In der Arche der Kirche erstrahlte wieder das heilbringende und siegreiche Kreuz Christi, der
___
19 Johannes Paul II., Ansprache vom 5. 12. 1983, 2,1259.
20 Johannes XXIII., Ansprache vom 16. 12. 1961, in: Discorsi IV, 92; vgl. ders., Ansprache vom 27. 4. 1962, in: Discorsi IV, 238; Johannes Paul II., Christifideles laici, Nr. 16: „»In den schwierigsten Situationen der Geschichte der Kirche standen am Ursprung der Erneuerung immer Heilige« (Schlußdokument der Außerordentlichen Versammlung der Bischofssynode [1985] 11, A, 4).“
___
Wahrheit, in neuem Glanz. Die Kirche fuhr dann mit Schwung im neuen polaren und globalen Tag Gottes, der ewigen Wahrheit, dahin. Der Heilige Geist hatte die Nebel des Irrtums vertrieben, die große Teile der Hänge und den Fuß des Berges der Kirche bedeckt hatten. Die Kirche erstrahlte mehr als zuvor als Berg der Heilswahrheit und als heiliger Tempel der Heilswahrheit.
2. Der Nachfolger Petri
„Der Bischof von Rom ist der Erbe Petri auch bezüglich der Charismen eines besonderen Beistandes, den Jesus ihm zugesichert hat, als er ihm sagte: »Ich habe für dich gebetet« (Lk 22,32). Das bedeutet eine kontinuierliche Hilfe des Heiligen Geistes bei der Ausübung der lehramtlichen Sendung, die darauf gerichtet ist, die geoffenbarte Wahrheit mit allen Konsequenzen im menschlichen Leben zu verstehen.“21
Der Nachfolger Petri erfreut sich bei der ordentlichen und bei der außerordentlichen Ausübung seines universellen Lehramtes eines besonderen Beistandes Jesu, der ihm im Heiligen Geist zukommt. Er handelt dann nicht mehr als Privatperson, sondern vielmehr als höchster Lehrer der Universalkirche. Auf der Grundlage der Heiligen Schrift und der heiligen Überlieferung definierte das Erste Vatikanische Konzil das Dogma der Unfehlbarkeit des Lehramtes des Bischofs von Rom unter der Voraussetzung, daß dieser „ex cathedra“ spricht. In einem solchen Fall verkündet der Papst „eine Glaubens- und Sittenlehre in einem endgültigen Akt“ (LG 25). Vor einem solchen Akt verspürt der Papst das Bedürfnis, ja man kann sogar sagen die Verpflichtung, den „Sinn der Kirche“ zu erforschen. Dies geschah vor der Definition der Unbefleckten Empfängnis (1854) und der Aufnahme Mariens in den Himmel (1950). In beiden Fällen zog der Papst jeweils die ganze Kirche zu Rate.
„Den Nachfolgern des Petrus wurde der Heilige Geist nämlich nicht verheißen, damit sie durch seine Offenbarung eine neue Lehre brächten, sondern damit sie mit seinem Beistand die durch die Apostel überlieferte Offenbarung beziehungsweise den Glaubensschatz heilig bewahrten und getreu auslegten. Ihre apostolische Lehre haben ja alle ehrwürdigen Väter angenommen und die heiligen rechtgläubigen Lehrer verehrt und befolgt;
___
21 Johannes Paul II., Ansprache vom 17.3. 1993,1, 637; vgl. ders., Ansprache vom 24. 3. 1993, 1, 734f.
___
denn sie wußten voll und ganz, daß dieser Stuhl des heiligen Petrus von jedem Irrtum unberührt bleibt, gemäß dem an den Fürsten seiner Jünger ergangenen göttlichen Versprechen unseres Herrn und Erlösers: »Ich habe für dich gebetet, daß dein Glaube nicht versage: und du, wenn du einmal bekehrt bist, stärke deine Brüder« (Lk 22,23).
Deshalb ist dieses Charisma der Wahrheit und des Glaubens, das niemals besiegbar ist, von Gott dem Petrus und seinem Nachfolger auf diesem Lehrstuhl anvertraut worden, damit sie dieses ihr höchstes Amt ausübten zur Rettung von allen, – damit die ganze Herde Christi, die sich durch ihr Wirken von der vergifteten Speise des Irrtums entfernte, mit der Speise der himmlischen Lehre ernährt werde, – und damit die ganze Kirche, fern von jeder Gelegenheit des Schismas, in der Einheit bewahrt würde und sich – fest gegründet auf ihrem Fundament – unerschütterlich gegen die Pforten der Hölle widersetzte.“22
„Neben dieser Unfehlbarkeit der Erklärungen „ex cathedra“ gibt es das Charisma des Beistandes des Heiligen Geistes, der Petrus und seinen Nachfolgern gewährt wird, damit sie in Fragen des Glaubens und der Moral nicht irren, sondern dem christlichen Volk erleuchtete Weisung geben. Dieses Charisma beschränkt sich nicht auf die außerordentlichen Fälle, sondern umfaßt in verschiedener Weise die ganze Ausübung des Lehramtes.“23
„Gott veranlaßte Petrus, Rom als endgültigen Ort des Apostolischen Stuhles und als Sitz jeder geistlichen Gewalt zu erwählen. Seitdem war die Lehre von Rom mit der Lehre dieses Stuhls gleichzusetzen, mit der höchsten Autorität des Lehramtes in Glaubens- und Sittenfragen, der unfehlbaren Lehre; sie ist unfehlbar, weil sie die Lehre Christi ist.“24
___
22 Erstes Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche IV, in: DzH 3070-3071.
23 Johannes Paul II., Ansprache vom 24.3. 1993,1, 736-737.
24 Plus XII., Ansprache vom 18. 2. 1958, in: Discorsi XIX, 769; vgl. Paul VI., Ansprache vom 24. 11. 1965, 1105f; ders., Ansprache vom 26. 4. 1969, 936; ders., Ansprache vom 25. 6. 1975, 686-687; Pius XII., Ansprache vom 4. 11. 1950, in: Discorsi XII, 297: „Wir sitzen nur als Stellvertreter Christi auf dem Stuhle Petri. Wir sind sein Stellvertreter auf Erden; wir sind das Organ, durch das der seine Stimme erhebt, der allein der Meister aller ist – „Hiermit lege ich meine Worte in deinen Mund« (Jer 1, 9): Christus, das Wort des ewigen Vaters, aus der makellosen Jungfrau geboren, Thron und Sitz der göttlichen Weisheit.“ Zum ordentlichen universellen und unfehlbaren Lehramt der Nachfolger Petri verweisen wir auf: Pius XI., Ansprache vom 15. 1. 1934, in: Discorsi III, 9; Plus XII., Ansprache vom 30. 1. 1949, in: Discorsi X, 358; ders., Schreiben vom 12. 8. 1953, in: Discorsi XV, 667; Johannes XXIII., Ansprache vom 28. 6. 1960, in: Discorsi II, 428; ders., Ansprache vom 17. 5. 1961, in Discorsi III, 553; Paul VI., Ansprache vom 3. 4. 1968, 762-763; ders., Ansprache vom 20. 9. 1964, 550; Johannes Paul II., Ansprache vom 2. 12. 1992, 2, 798 f.
___
Der höchsten Autorität des päpstlichen Lehramtes behält die Tradition auch die Bezeichnung apostolisch in seiner ordentlichen Ausübung vor. Das außerordentliche Lehramt des Papstes, das sich in den Entscheidungen „ex cathedra“ äußert, bildet sozusagen die Ausnahme. Viele Päpste haben diese Form des Lehramtes nicht ausgeübt. Das umfassende ordentliche Lehramt des Papstes hat bleibenden und dauerhaften Charakter. Es hat für das Leben des Volkes Gottes eine wichtige Bedeutung. Durch sein Lehramt leitet der Papst als universaler Hirte das Volk Gottes, das in der Heilsgeschichte und Heilsgeographie unterwegs ist.
Unter den römischen Bischöfen gab es auch viele Märtyrer. Viele Päpste zeichneten sich durch ihre Heiligkeit, ihren Geist, ihr Wissen, die Autorität ihrer Person aus. Es gab aber auch andere, deren rein menschliche Eigenschaften weniger dem höchsten Hirtenamt entsprachen. Und dennoch haben nicht einmal diese Päpste der Gesamtkirche Irrtümer oder Irrlehren vorgelegt. Das Charisma der Unfehlbarkeit darf man nicht mit Sündlosigkeit verwechseln. Denn kein Papst, angefangen von Petrus, war ohne Sünde.
Die heftigsten Stürme, die im Laufe der Zeit gegen die Kirche losbrachen, konnten sie nicht in Irrlehren und Irrtümern versenken, noch konnten sie der göttlichen Sendung ihrer irdischen Oberhäupter Schaden zufügen. Wenn der Großteil der Christen im Glauben Schiffbruch erlitt und sehr viele schwankten und in das zweite Stockwerk der Arche der Kirche hinabstiegen, wenn das Lehramt der Kirche auf eine kleine Herde im polaren Jerusalem zusammenschrumpfte, ragte der Felsen des gesamten Glaubens umso mehr hervor: der Nachfolger Petri. Während er die menschliche Schwäche spürte, stand jedoch der Papst wunderbar fest im vollkommen umfassenden Glauben und infolgedessen in der ganzen Wahrheit der göttlichen Offenbarung. Er ging der ganzen Kirche auf dem Kreuzweg voran und hielt vollkommen an Gott, der ewigen Wahrheit, fest. Während der Papst das große Kreuz der Kirche trug, erhöhte der Geist der Liebe ihn am heilbringenden Kreuz Christi, der Wahrheit. Erhoben auf seinem rettenden Kreuz bestärkte der Nachfolger von Petrus die Kirche im vollkommen universalen Glauben und führte sie auf den Weg der solaren, polaren und globalen Wahrheit.
„Petrus und seinen Nachfolgern wurden drei besondere Charismen verliehen: die Unfehlbarkeit in Fragen der Lehre, um die Brüder in dem zu stärken, was Glauben und Sitte betrifft; die Indefektibilität, um der Kirche in den Fluten der Geschichte ein festes Fundament zu geben; das universelle Hirtenamt, um der ganzen Herde Christi den Dienst der Liebe zu gewähren.“25
„Ihr befindet euch hier im Mittelpunkt des Glaubens: Wenn ihr in der Basilika (Sankt Peter hier in Rom) um das Bekenntnis des heiligen Petrus versammelt seid, erhebt eure Augen zu den Kapitellen der Säulen, welche die unvergleichliche Kuppel von Michelangelo tragen. Dort lest ihr genau die Erläuterung eures Glaubens: »Hinc una fides mundo refulget.« Von hier aus, vom Grab des heiligen Petrus, strahlt ein einziger Glaube in die Welt.“26
Im Zirkus des Nero auf dem Vatikanischen Hügel in Rom wurde der Apostel Petrus gekreuzigt, und durch sein Martyrium legte er Zeugnis für Christus ab. Über seinem Grab auf dem Vatikanischen Hügel erhebt sich die große Basilika mit der Kuppel von Michelangelo. Unter dem Mittelpunkt der Kuppel und unter der erwähnten Inschrift war und ist das Grab des Apostels Petrus. Christus baut seine Kirche auf Petrus und seine Nachfolger. Die große Kuppel ist ein Symbol des katholischen Erdkreises, insbesondere der Hemisphäre und der polaren Ebene der inneren Kirche. Die Gesamtkirche ruht auf dem unzerstörbaren Fundament Petri und seiner Nachfolger. Der Nachfolger Petri ist der irdische Schlußstein, der die ganze Kirche zusammenhält. Er ist das Haupt und das irdische Fundament der ganzen Ordnung der Gesamtkirche.
Im Grundkreis der Kuppel im Petersdom liest man auf Lateinisch geschrieben: „Hinc una fides mundo refulget.“ (Von hier erstrahlt der Welt ein einziger Glaube.) In der Ordnung des Glaubens ist der Stuhl Petri die größte und höchste Warte der Kirche: er ist die Hauptwarte des polaren Jerusalems. Der Stuhl Petri ist der beste Beobachtungspunkt, und in einem gewissen Sinn der einzige (weil er Garant jeder anderen rechtgläubigen Sicht ist), für das Verständnis des Schatzes der katholischen (umfassenden) Lehre. Die Warte des Nachfolgers Petri ist in der Kirche der Ort der zentralen Epiphanie Christi. Diese Warte ist der Mittelpunkt der Einheit und der Universalität des Glaubens. „Gott hat die Lehre der Wahr-
___
25 Johannes Paul II., Ansprache vom 21. 9. 1985, 2, 727.
26 Pius XII., Ansprache vom 12. 4. 1952, in: Discorsi XIV, 59; vgl. ders., Ansprache vom 30. 1. 1949, in: Discorsi X, 358. Zum Symbol der großen Kuppel des Petersdomes in Rom und zum Stuhl Petri als Warte vgl. ders., Ansprache vom 16. 5. 1953, in: Discorsi XV, 157-158; ders., Ansprache vom 8. 2. 1948, in: Discorsi IX, 448; Johannes XXIII., Ansprache vom 3. 4. 1963, in: Discorsi V, 476; Pius XII., Ansprache vom 29. 6. 1951, in: Discorsi XIII, 180: Das Verständnis „der christlichen Botschaft hat aufgrund des geheimen Ratschlusses der göttlichen Vorsehung hier in der Ewigen Stadt ihren Brennpunkt, ihr ursprüngliches Zentrum der Ausstrahlung.“
___
heit dort festgesetzt, wo der Stuhl der Einheit ist.“27
„Wenn eines Tages (wir sagen dies als reine Hypothese) das materielle Rom zerstört werden würde, wenn diese Vatikanische Basilika, Symbol der einen, unbesiegbaren und siegreichen Katholischen Kirche, mit ihren geschichtlichen Schätzen und mit den heiligen Gräbern, die sie birgt, unter ihren Trümmern begraben sein würde, wäre die Kirche weder eingestürzt noch begraben. Denn die Verheißung, die Christus dem Petrus gegeben hat, würde immer wahr bleiben. Das Papsttum würde fortdauern, und ebenso die eine unzerstörbare Kirche, die auf dem Fundament des gerade lebenden Papstes gegründet bleibt.
So ist es. Das Ewige Rom, das im christlichen Sinne übernatürliche Rom, steht über dem geschichtlichen Rom. Seine Natur und seine Wahrheit sind von ihm unabhängig.“28
___
27 Augustinus, Ep. 105, in: PL 33, 403, zitiert von Paul VI., Ansprache vom 4. 8. 1965, 1005; vgl. Paul VI., Ansprache vom 4. 1. 1967, 671; Pius XI., Ansprache vom 9. 3. 1925, in: Discorsi I, 359; Johannes Paul II., Ansprache vom 24. 9. 1988, 3, 941-942: „Hier ist in der Tat das Grab des Apostels, dem der Herr den Dienst des Primates in der Kirche anvertraut hat. Hier ist der Stuhl der Wahrheit, auf dem das Petrus übertragene Amt fortlebt: »Stärke deine Brüder« (Lk 22,32).“
28 Pius XII., Ansprache vom 30. 1. 1949, in: Discorsi X, 358-359; Johannes Paul II., Ansprache vom 31. 12. 1992, 2, 1028-1029: „Rom nennt man oft die »Ewige Stadt«. Doch keine Stadt auf Erden ist ewig, »denn die Gestalt dieser Welt vergeht« (1 Kor 7, 31). Wenn man Rom als die ewige Stadt bezeichnet, dann vor allem deshalb, weil sich hier in besonderer Weise die Wahrheit niedergelassen hat, die das Wort Gottes ist; das Wort Gottes aber vergeht nicht. Das Wort hat sich hier niedergelassen durch den apostolischen Dienst der heiligen Apostel Petrus und Paulus.“
_______
Quelle: Ivan Pojavnik: DAS MYSTERIUM DES KONZILS – Erster Band – Meckenheim – 1996 – Maximilian-Kolbe-Verlag – ISBN 3-924413-13-4
Gefällt mir Wird geladen …