
Siegfried Wiedenhofer
1 Das Kirchenthema bei Joseph Ratzinger
Das Kirchenthema gehört zweifellos zu den theologischen Fragen, mit denen sich Joseph Ratzinger am intensivsten auseinandergesetzt hat. Vor allem in der ersten Phase seines Wirkens stand es eindeutig im Mittelpunkt. Das hat verschiedene Gründe. Ein erster Grund liegt sicher in der Erziehung in einem ausgesprochen religiösen Elternhaus, die nicht nur geprägt war von der engen traditionellen bayerischen Symbiose zwischen ländlicher Kultur und kirchlichem Glauben, vom Rhythmus des Kirchenjahres und dem religiösen Brauchtum, sondern auch von einer tiefen Begegnung mit dem kirchlichen Gottesdienst und einer auch religiös und kirchlich motivierten Gegnerschaft zum Nationalsozialismus. In seiner theologischen Ausbildung hat sich Joseph Ratzinger dann besonders der Fundamentaltheologie zugewandt, weil ihn die grundlegende Frage nach der Vernünftigkeit des Glaubens am stärksten beschäftigt hat – und das ist eine Grundfrage bis heute geblieben. Aber auch in der Fundamentaltheologie spielt das Kirchenthema neben Religion und Offenbarung eine wichtige Rolle. Außerdem hatte ihn sein theologischer Lehrer Gottlieb Söhngen in München ein Dissertationsthema gegeben, das ihn theologisch sehr stark beeinflussen wird: „Volk und Haus Gottes in Augustins Lehre von der Kirche“. Tatsächlich ist sein Kirchenverständnis sehr stark von der Heiligen Schrift und von der Alten Kirche, von den Kirchenvätern und unter ihnen besonders von Augustinus bestimmt. Noch wichtiger war die Erfahrung des II. Vatikanischen Konzils 1962-1966 und die eigene Mitarbeit daran. Denn man hat dieses Konzil mit einem gewissen Recht ein Konzil über die Kirche genannt, ein Konzil, in dem das Kirchenthema im Mittelpunkt gestanden hat. Ging es doch vor allem darum, das katholische Kirchenverständnis aus den neuzeitlichen Verengungen herauszuführen, aus der Fixierung gegen die Reformation und gegen die moderne Welt und es von der Heiligen Schrift und der ganzen kirchlichen Überlieferung her zu erneuern und auch von neuem in seiner wahren Bedeutung dem heutigen Menschen verständlich zu machen. An diesem Vorgang hat Joseph Ratzinger im Konzil und über das Konzil hinaus intensiv mitgearbeitet. Auch in den nachkonziliaren Auseinandersetzungen über die Auslegung des II. Vatikanischen Konzils und über die rechte Reform der Kirche geht es noch einmal ganz zentral um die Kirche. Schließlich darf man nicht vergessen, dass das Kirchenthema noch einmal in anderer Weise in den Blick kam, als Joseph Ratzinger kirchliche Ämter übernahm, das Amt des Erzbischofs von München, des Kardinals und Präfekten der Glaubenskongregation und schließlich als Benedikt XVI. das des Papstes. Alle diese Kontexte haben das Kirchenverständnis Joseph Ratzingers/Papst Benedikt XVI. mitgeprägt. Aus allen diesen Lebenszusammenhängen gibt es eine Fülle von Publikationen zur Frage des Kirchenverständnisses. Es gibt allerdings, wie gesagt, keine zusammenhängende Gesamtdarstellung, sondern nur Sammlungen von einzelnen Aufsätzen oder Vorträgen. Die wichtigsten sind: Das neue Volk Gottes. Entwürfe zur Ekklesiologie (1969), Theologische Prinzipienlehre. Bausteine zur Fundamentaltheologie (1982), Kirche, Ökumene und Politik. Neue Versuche zur Ekklesiologie (1987), Zur Gemeinschaft gerufen. Kirche heute verstehen (1991), Weggemeinschaft des Glaubens. Kirche als Communio (2002).
Wie beantwortet er also die Frage, was die Kirche ist und worin besteht sein Beitrag zum katholischen Kirchenverständnis? Am besten beginnen wir mit einem Blick auf seine theologische Entwicklung. Es ist ja eine sehr verbreitete Vorstellung, dass es zwei Phasen bei Ratzinger gibt, die Phase des reformorientierten jungen Theologen vor und auf dem Konzil und die Phase des konservativen Reformkritikers nach dem Konzil. Oberflächlich gesehen kann man dafür in der Tat einige Hinweise finden. Aber jede Theologie hängt sehr stark von ihrem Kontext ab, von den Zusammenhängen, in denen man steht, von den Aufgaben, die im Vordergrund stehen, von der Art und Weise, wie man die Situation einschätzt, welche Hoffnungen und Befürchtungen man hat, wogegen man ankämpft, welche konkreten Erfahrungen man gemacht hat usw. Sehen wir uns zwei solcher Kontexte des Kirchenverständnisses von Joseph Ratzinger an. Wie haben sie sich auf seine Kirchentheologie ausgewirkt?
2 Vor und auf dem Konzil: Erneuerung der Kirche vom Ursprung her (gegen die Verengungen des neuzeitlichen Katholizismus). Das Wesen der Kirche: Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden und Kirche als Heilssakrament Gottes für die Welt
Es steht außer Zweifel, dass Joseph Ratzinger die Reform der Kirche, die das II. Vatikanische Konzil nach heftigen Auseinandersetzungen 1962-1965 beschlossen hat, theologisch mit vorbereitet hat, als theologischer Berater des einflussreichen Kölner Kardinals Frings und als offizieller Konzilstheologe mit durchgesetzt hat und auch bis heute befürwortet. Die Haltung der späteren Konzilsminderheit, die das bisherige neuzeitliche katholische Kirchenverständnis fortsetzen wollte, hat er theologisch nie akzeptiert. Er hat allerdings von Anfang an um den tiefgehenden Einschnitt gewusst, den das Konzil darstellt und deshalb auch nach einer sachgemäßen theologischen Legitimation für die Reform gesucht. Man muss ja berücksichtigen, dass das Kirchenbild, das vor dem Konzil gültig war, in seinen Grundlagen bis in das 4. Jahrhundert zurückreicht, bis zur sogenannten Konstantinischen Wende, die aus einer verfolgten Kirche eine befreite und am Ende des 4. Jahrhunderts sogar eine privilegierte Staatskirche macht. Weil von nun an Gesellschaft und Religion, Staat und Kirche stark ineinander fallen ist das Hauptproblem des Mittelalters: Wer hat die höchste Autorität und Macht in dieser christlich-abendländischen Völkergemeinschaft, der Kaiser oder der Papst? Wie sich der Kaiser zugleich religiös verstand, verstand sich der Papst auch politisch. Sein Anspruch auf Machtvollkommenheit war gewissermaßen auch der Ausdruck der Freiheit der Kirche vor der politischen Vereinnahmung durch den Kaiser. Wollte man dieses mittelalterliche Kirchenverständnis zusammenfassen, konnte man sagen, Kirche erscheint hier wesentlich als heilige Herrschaft, die im Papsttum ihren obersten Ausdruck findet. Gegen die Angriffe der Reformation und der modernen Welt wird dieses Kirchenbild noch einmal verschärft und findet dann zwischen 1850 und 1950 seine endgültige Gestalt. Die Kirche wird sozusagen zur von Gott beauftragten Papstmonarchie, die nach innen die Einheit des Glaubens, die Rechtmäßigkeit der Sakramente und der Kirchenleitung und nach außen die missionarische Verkündigung des allein wahren Glaubens garantiert. Seit den 20er Jahren formierte sich in der katholischen Kirche immer deutlicher eine vielfältige Reformbewegung, eine liturgische Bewegung, eine Bibelbewegung, eine ökumenische Bewegung, eine Zuwendung zu den Kirchenvätern. In dieser Reformbewegung steht auch der junge Ratzinger, der z.B. sehr stark von Romano Guardini geprägt war und der dann durch seine systematische Zuwendung zur Heiligen Schrift und zu den Kirchenvätern einen eigenen wichtigen Beitrag zu dieser Reformbewegung geleistet hat. In ihr hat er auch den entscheidenden Maßstab für die Erneuerung der Kirche gefunden: nämlich im maßgeblichen biblischen Zeugnis des apostolischen Ursprungs des christlichen Glaubens und in der Erstantwort darauf in der Kirche der ersten Jahrhunderte bzw. in einem gewissen Sinn sogar in der Kirche des ersten Jahrtausends, d.h. der noch ungetrennten Kirche. Hier begegnet ihm in der Tat ein ganz anderes Kirchenbild als in der neuscholastischen Theologie. Was die Kirche in ihrem Wesen ist, wird hier vor allem am Gottesdienst der Kirche abgelesen, insbesondere an der Eucharistiefeier.
Hier setzte auch Ratzinger an: Die Eucharistie ist gewissermaßen die Mitte der Kirche. Die versammelte Gottesdienstgemeinde ist die konkreteste Form von Kirche. In der Eucharistiefeier (und analog in der Taufe und in anderen sakramentalen und nichtsakramentalen Gottesdiensten) geschieht ein Zweifaches: Einmal werden die Gottesdienstteilnehmer durch das gemeinsame Hören des Wortes Gottes, durch das gemeinsame Beten und Singen und vor allem durch die gemeinsame Teilhabe an den heiligen Gaben von Brot und Wein, in denen Christus inmitten der Gemeinde in besonderer Weise gegenwärtig ist, zu einer neuen Gemeinschaft des Glaubens zusammengefügt. In Gal 3,27f hat es Paulus mit Blick auf die Taufe so ausgedrückt:
„Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus (als Gewand) angelegt. Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid «einer» in Christus Jesus.“ Und mit Bezug auf die Eucharistie sagt Paulus, dass die Gemeinde in der Kommunion so intensiv mit Christus vereint wird, dass sie selbst zum Leib Christi wird (1 Kor 10,17), d.h. zu seiner heutigen Gegenwartsgestalt, in der in der Kraft des Geistes Christi immer neu wirksam wird und wirksam werden soll, was Jesus Christus ist, das erlösende, befreiende, vereinigende, heilende und vergebende Heilszeichen Gottes für die ganze Welt. Und das ist das Zweite, was im Gottesdienst geschieht. Kirche ist daher für Ratzinger das neue Volk Gottes, das Gott aus allen Völkern zum Glauben gerufen hat und das konkret in der Eucharistiefeier durch die Teilhabe am Leib Christi selbst zum Leib Christi wird, d.h. das in solcher engen Gemeinschaft mit Christus zum Heilszeichen Gottes in der Welt wird. Die einzelnen Sakramente sind nur Konkretisierungen dessen, was die Kirche als ganze ist. Ein solches Heilszeichen ist die Kirche insbesondere in der Verkündigung des Wortes Gottes, in der Feier des Gottesdienstes und in der Diakonie, d.h. in Hilfe für die Notleidenden.
Kirche wird also ganz und gar im Dienst an der erlösenden Zuwendung Gottes in Jesus Christus verstanden. Zu ihrem Grundgesetz gehört in der Gemeinschaft mit Jesus Christus das Miteinandersein, das Füreinandersein und das Für-die-anderen-Dasein. Von diesem Grundansatz sind dann auch die Kirchenordnung (Kirche als Gemeinschaft von kirchlichen Glaubensgemeinschaften, als Netz von Eucharistie- und Kommuniongemeinschaften) und das kirchliche Amt (Amt als Dienst an der Glaubensgemeinschaft und an der Welt) verstanden.
Das ist also die Wesensbestimmung der Kirche für Joseph Ratzinger, wie für das II. Vatikanische Konzil insgesamt: Kirche ist die neue in der Gemeinschaft mit Jesus Christus begründete Gemeinschaft des Glaubens oder der Glaubenden, die dadurch in Christus (als Verheißung und Auftrag) zugleich zum Heilsakrament Gottes für die Welt wird.
3 Nachkonzilszeit: Unterscheidung der Geister: Für eine wirkliche Erneuerung der Kirche und gegen eine bloße Modernisierung
Die Nachkonzilszeit ist bestimmt durch die innerkirchlichen Auseinandersetzungen über die Umsetzung dieses von den Ursprüngen her erneuerten katholischen Kirchenverständnisses. Joseph Ratzinger hat sich in diese Auseinandersetzungen von Anfang an intensiv eingeschaltet. Er hat dabei bestimmte Umsetzungsvorschläge und Reformvorschläge sehr nachdrücklich, zum Teil auch sehr polemisch bekämpft. Dadurch trennt er sich auch von einem großen Teil seiner ursprünglichen Mitkämpfer. Charakteristisch für seine Wahrnehmung der nachkonziliaren Zeit ist, dass diese für ihn immer mehr zu einer gefährlichen Krisenzeit für die Kirche, zu einer Identitäts- und Kontinuitätskrise wird. Viele Reformbemühungen drohen seiner Ansicht nach eine falsche Richtung einzuschlagen, erscheinen mehr vom relativistischen Zeitgeist als vom Evangelium bestimmt und werden dadurch für ihn zur fragwürdigen Anpassung an bestimmte fragwürdige Entwicklungen der modernen Zeit. Auf der einen Seite kritisiert er die Diffusität des kirchlichen Bewusstseins. In der Reformeuphorie scheint sozusagen fast alles möglich zu werden. Auf der anderen Seite diagnostiziert er aber auch radikale neue Formen von Theologie, die mit der Tradition der Kirche brechen und die Identität des christlichen Glaubens verlassen.
Seine eigenen ekklesiologischen Beiträge aus dieser Zeit sind von dieser Wahrnehmung der Gegenwart deutlich geprägt. Immer wieder unternehmen sie es, eine grundlegende Orientierung zu bieten, die vom Wesen der Kirche ausgeht. Die Hauptaufgabe ist jetzt nicht mehr die Erneuerung der Kirche im Sinne eines Aggiornamento, einer Modernisierung, eines erneuerten Verstehenszuganges, sondern die Unterscheidung der Geister, vor allem die Unterscheidung zwischen bloßer Modernisierung und wirklicher Erneuerung. Damit soll einerseits der Reformwille des II. Vatikanischen Konzils bewahrt, andererseits fragwürdige Anpassungen an den modernen Zeitgeist verhindert werden.
Diese grundlegende Orientierung ist dreifacher Art: 1. Gegenüber der Gefahr einer falschen Anpassung an bestimmte Ideen und Modelle der Moderne (charismatische bzw. synodale Kirchenstruktur, herrschaftsfreie Kirche, funktionales und pragmatisches Amtsverständnis, Priestertum auf Zeit, Demokratisierung der Kirche) wird entschieden auf das biblische und altkirchliche Kirchen- und Amtsverständnis als Maßstab und auf Jesus Christus als Urbild des kirchlichen Dienstes zurückgegriffen. 2. Gegenüber Veräußerlichungstendenzen in Theologie und Pastoral, die mit der hochgradigen Institutionalisierung und Bürokratisierung der Kirche (besonders in Deutschland) und mit der zunehmenden Ausdifferenzierung, Funktionalisierung, Professionalisierung und Spezialisierung des sozialen und kirchlichen Handelns verbunden sind (Kirche als Bürokratie, Bischof als Manager, Euphorie pastoraler Planbarkeit, Liturgiereform durch Fachleute, Lehramt-Theologie-Konflikt) werden der spirituelle Charakter der Kirche und des kirchlichen Amtes (geistliche Sendung, verbindliches Glaubenszeugnis, Repräsentanz des einfachen Glaubens) hervorgehoben. 3. Gegenüber der Relativierung von Kirche und Amt und vor allem auch von deren Autoritätsanspruch in der reformatorischen Tradition wird die katholische Tradition des Kirchen- und Ämterverständnisses sowohl mit Blick auf den Autoritätsanspruch wie mit Blick auf die Gliederung Priestertum, Bischofsamt, Papsttum als zum Wesen der Kirche gehörig vehement verteidigt. Diese Krisendiagnose bedürfte natürlich einer ausführlichen Diskussion. Das kann jedoch an dieser Stelle nicht geschehen. Sehen wir uns lieber dieses Bemühen um eine wahre Kirchenreform, die Kontinuität des Glaubens und Erneuerung verbinden will, an einzelnen Teilthemen an.
4 Kirchenspaltung und Ökumenismus
Von Anfang der eigenen theologischen Lehre an bis zur Gegenwart ist bei Ratzinger ein zweifaches Interesse leitend, das in einer gewissen Spannung zueinander steht, das aber eng zusammengehört.
Da ist auf der einen Seite das ökumenische Interesse an einer Wiedergewinnung der Einheit des christlichen Glaubens und der Einheit der Kirche. Dieses ökumenische Interesse, das, wie gesagt, bereits von Anfang an da ist, ist auf dem Hintergrund der bisherigen ökumenischen Bestrebungen in der katholischen Theologie sozusagen bereits mehr oder weniger eine theologische Selbstverständlichkeit. Die Einheit des Glaubens und die Notwendigkeit von deren Wiedergewinnung ist bereits so sehr in der Mitte des christlichen Glaubens verankert, dass gesagt werden kann, dass die Einheit so hoch stehe, dass sie nur um etwas ganz Grundlegendes willen geopfert werden dürfe, dass deshalb nicht die Anerkennung der anderen, sondern das Getrenntbleiben die eigentliche Frage sei, „denn nicht die Einheit bedarf der Rechtfertigung, sondern die Trennung“.
Das ist auf der anderen Seite, von Anfang an bis zur Gegenwart, gleichzeitig ein starkes kontroverstheologisches bzw. apologetisches Interesse. Das theologische Ringen um die Wahrheit des christlichen Glaubens impliziert nicht nur eine Lernbereitschaft in Bezug auf die anderen Formen des christlichen Glaubens, sondern auch eine ernsthafte kritische Auseinandersetzung vor allem mit der reformatorischen Theologie, aber auch mit der ostkirchlichen Theologie und eine argumentative Verteidigung des Wahrheitsanspruches, des Identitäts- und Kontinuitätsanspruches der katholischen Kirche. Die Zusammengehörigkeit dieser beiden gegenläufigen Interessen und Aufgaben bestimmt von Anfang an bis zur Gegenwart die theologische Arbeit Joseph Ratzingers angesichts der gespaltenen Christenheit.
Sachlich ist die Zusammengehörigkeit von ökumenischer und kontroverstheologischer Aufgabe darin begründet, dass es bei der Wiedervereinigung der Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften nicht um eine politische Frage geht, sondern um die Wahrheitsfrage, d.h. um das rechte Verständnis des christlichen Glaubens, um die Identität des Christentums und um die Wahrheitsansprüche der beteiligten Kirchen und Konfessionen und um den großen Ernst, der hinter den konfessionellen Konflikten und Auseinandersetzungen der Vergangenheit stand. Das alles verbietet die verbreitete klischeehafte ökumenische These, die Kirchenspaltung sei eigentlich ein Missverständnis gewesen. Da eine ökumenische Einigung nur Bestand hat und realistisch ist, wenn der tatsächliche Dissens ernsthaft in den Blick genommen ist und die Differenzen in ihrer vollen Bedeutung auf den Tisch kommen, ist der Dialog hart zu führen, besonders in einer Zeit der Umbrüche, in der alle Konturen verschwimmen und alles möglich erscheint und in der eine kurzschlüssige Oberflächenökumene die Probleme verdrängt oder ausblendet. Zur Suche nach der Wiedervereinigung im Glauben gibt es keine Alternative. Aber damit es nicht nur zu Scheinlösungen kommt, bedarf es dazu der Lösung des Hauptproblems, ein Einverständnis über die Bekenntnisinhalte und über die Kirche als vollmächtiger Trägerin des Bekenntnisses.
In der kontroverstheologischen Auseinandersetzung werden nun der Wahrheitsanspruch des katholischen Glaubens, die katholische Identität und die Legitimität der katholischen Tradition und Institution begründet und verteidigt (Apologetik) und zugleich als kritischer Maßstab für die Bewertung protestantischer (und auch ostkirchlicher) Vorstellungen und Entwicklungen, aber auch bestimmter katholischer ökumenischer Bestrebungen eingesetzt (Kritik). In dieser kontroverstheologischen Hermeneutik werden die katholische und die evangelische (und in anderer Weise auch die ostkirchliche) Position auf unterschiedliche leitende Grundentscheidungen und Grunderfahrungen zurückgeführt und erhalten dadurch geradezu antithetischen Charakter. So gesehen handelt es sich eigentlich um Alternativen im Verständnis des christlichen Glaubens, um Antithesen, die nicht miteinander kompatibel sind. Damit scheint der ökumenische Dialog am Ende zu sein. In der Tat ist dem Autor mit Blick auf solche kontroverstheologische Argumentationen mehrfach die Rückkehr zu einem Rückkehr-Ökumenismus vorgeworfen worden. Wenn die eigene katholische Form des christlichen Glaubens die wahre ist und die evangelische Form des Christlichen eine nichtkompatible Alternative darstellt, dann scheint nur noch die Einladung an die anderen übrigzubleiben, zu dieser wahren Form zu konvertieren.
Eine solche Intention wurde jedoch mit aller wünschenswerten Klarheit explizit zurückgewiesen, obwohl auch der Zusammenhang der bisherigen Äußerungen schon so hätte verstanden werden müssen. Die zum Teil recht harsche und holzschnittartige Gegenüberstellungen von katholischem und evangelischem Christentum ist bei Ratzinger nicht als das Ende ökumenischer Bestrebungen anzusehen, sondern als deren realistischer Ausgangspunkt. Die Kontroverstheologie steht im Dienst am ökumenischen Interesse. Dass hier in der Tat gegenüber allen leichtfüßigen und kurzschlüssigen ökumenischen Versuchen ein realistischer Weg der Ökumene eingeschlagen wird, sieht man darin, dass bei allen erreichten Konsensen und Annäherungen konfessionalistische Rückfälle auf beiden Seiten keineswegs ausgeschlossen sind. Das zeigt, dass hier tiefgehende Dissensprobleme vorhanden sind, die aufgearbeitet werden müssen, wenn eine Einigung der christlichen Kirchen Bestand haben soll.
Eine Wiedervereinigung der Kirchen ist nach Ratzinger aber auch nicht möglich, wenn alle Beteiligten Maximalforderungen stellen, d.h. ihre eigene Gestalt des Christlichen zum alleinigen Maßstab des Christlichen machen. Dann bliebe für die anderen in der Tat nur die Konversion übrig. Eine Chance, die Einheit wiederzugewinnen, besteht nur, wenn man unterscheiden kann zwischen dem Wesen des christlichen Glaubens, das zur unbedingten Wahrheit des christlichen Glaubens gehört und geschichtlichen Entwicklungen, die dies nicht in gleicher Weise tun.
Die damit angedeutete ökumenische Hermeneutik ist eigentlich – verglichen mit dem Stand der katholischen Reformtheologie – nicht so außergewöhnlich. Interessant ist jedoch, dass auf ihrer Grundlage und im Zusammenhang der Betonung des Wahrheitsanspruches des katholischen Glaubens sowie der Identität und Kontinuität des christlichen Glaubens (die zum Wahrheitsanspruch des Christlichen gehören) einige vieldiskutierte und breit rezipierte ökumenische Vorstellungen entwickelt wurden. Joseph Ratzinger unterscheidet dazu zwei geschichtliche Grundtypen der Kirchenspaltung. Der erste Grundtyp ist der altkirchliche Grundtyp, zu dem in gewisser Weise auch noch die Spaltung zwischen Ostkirche und Westkirche gehört. Diese Kirchenspaltung findet im Rahmen einer grundlegenden Einheit im nikänischen Bekenntnis und der damit verbundenen altkirchlichen Kirchenstruktur statt. Eine Wiedervereinigung zwischen Ostkirche und Westkirche ist möglich, wenn Rom vom Osten nicht mehr an Primatslehre verlangt, als im ersten Jahrtausend gelehrt und gelebt worden ist, und wenn der Osten darauf verzichtet, die westliche Entwicklung des zweiten Jahrtausends als häretisch zu bekämpfen und die katholische Kirche in dieser Gestalt als rechtmäßig und rechtgläubig akzeptiert. Wiedervereinigung ist hier ein „gegenseitiger Akt des Sich-Annehmens, des Sich-Wiedererkennens in der gemeinsamen unverlorenen Katholizität“. Der zweite Grundtyp von Kirchenspaltung ist nach Ratzinger ein grundlegend anderer. Er geht aus der Reformation des 16. Jahrhunderts hervor. Seine leitende theologische Vorstellung (die auf Augustinus zurückgeht und durch die mittelalterliche Entwicklung der Kirche plausibilisiert worden ist) ist die strenge Unterscheidung von geistlicher, unsichtbarer Kirche und sichtbarer Kirche. Dadurch, nämlich mit dem Protest gegen die mittelalterliche Entwicklung der Kirche und mit der Lutherischen Konzentration auf den Trost des geängstigten Gewissens hört die großkirchliche Gemeinschaft auf, Garant des Heils zu sein; sie kann sogar zum Gegner des persönlichen Heils werden. Mit dem Verbrennen der Bannbulle wird nicht nur eine fragwürdige Exkommunikationspraxis verbrannt, sondern auch die durch die mittelalterliche Entwicklung bereits entleerte altkirchliche Communio-Idee und damit der grundlegende Konsens des ersten Jahr- tausends im Kirchenverständnis verlassen. Aus diesem Grund ist der Weg der Wiedervereinigung hier schwieriger. Diese kann auch hier nur auf dem Weg der gemeinsamen Suche nach der Einheit des Bekenntnisses und der Einheit der kirchlichen Gemeinschaft gegangen werden. Konkret wäre dies prinzipiell möglich, wenn die katholische Kirche die Confessio Augustana, eine wichtige Bekenntnisschrift der Evangelisch-lutherischen Kirchen, in einem geistlichen Entscheid als katholisch anerkennen könnte und wenn umgekehrt die Evangelisch- lutherischen Kirchen die offene Frage der Mitte des Reformatorischen von einer katholisch verstandenen Confessio Augustana her entscheiden würden. Eine Wiedergewinnung der Kircheneinheit ist also nicht allein durch historische Klärung der Vergangenheit oder durch Suche nach einem faktischen Lehrkonsens möglich; es bedarf auch einer geistlichen konvergenten Vorwärtsbewegung, weil nur so die Unterschiedlichkeit religiöser Erfahrung, die bei der abendländischen Kirchentrennung mit im Spiel war, von ihrem trennenden Charakter befreit werden kann. Eine solche geistliche kirchliche Entscheidung muss auch einen kirchenrechtlich verbindlichen Charakter und eine kirchliche Legitimität besitzen und daher letztlich durch das verantwortliche kirchliche Amt vollzogen werden.
5 Heilige und sündige Kirche
Die Aufdeckung der zahlreichen Fälle von Kindesmissbrauch und Kindesmisshandlung in Einrichtungen der katholische Kirche in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, vor allem durch Ordensangehörige und Priester, lassen nicht nur juristische und politische Fragen des Staat-Kirche-Verhältnisses neu aufbrechen, sondern auch die theologische Frage nach dem zugrundeliegenden Kirchenbild neu stellen. Der Hirtenbrief Benedikt XVI. an die Katholiken Irlands vom 19. März 2010 geht bereits auf eine Reihe dieser Fragen ein, etwa dass die Opfer im Mittelpunkt stehen müssten, dass eine schonungslose Aufklärung der Vergehen notwendig sei, dass mit den Behörden zusammengearbeitet werden müsse, dass die Kirchenleitungen Fehler begangen haben, dass auch ein fragwürdiges Kirchenbild eine Rolle gespielt habe usw.
Sehen wir uns diesen theologischen Aspekt in der Theologie Joseph Ratzingers etwas näher an, und zwar unter dem Titel „Heilige und sündige Kirche“.
Die Heiligkeit ist die älteste der vier Grundeigenschaften der Kirche in den Glaubensbekenntnissen. Bereits seit der Mitte des 2. Jahrhunderts ist sie geläufig. Heiligkeit meint hier allerdings nicht zuerst eine außergewöhnliche moralische Qualität, sondern ein Geheiligt-Sein von Gott, eine besondere Nähe Gottes, die eine besondere Verheißung und Sendung einschließt.
Dass es gleichzeitig in der Kirche Sünde gibt, ist seit den ersten Anfängen der Kirche unübersehbar. Wie zentral dieses Problem ist, bezeugen die vielen Reformbewegungen in der Kirchengeschichte. So stellte sich schon immer das theologische Problem, wie beide Aspekte der Kirche, Heiligkeit und Sünde, zusammenzudenken sind.
In den reformatorischen Theologien herrscht eine Sicht vor, nach der die Kirche „heilig“ und „sündig“ zugleich ist. In der katholischen (und ostkirchlichen) Theologie dagegen wurde gemeinhin Heiligkeit und Sünde eher auf verschiedene Hinsichten verteilt: Heilig ist die Kirche in ihren von Gott gewirkten Aspekten, in ihrer Institution, in ihren Sakramenten, ihrer Lehre, ihren Heiligen und Märtyrern. Sünde gibt es in der Kirche nur als Sünde ihrer Glieder, wobei in der neuzeitlichen Sakralisierung der Kirche die Sünde in der Kirche eher, schamhaft oder verdrängend, in den Hintergrund geschoben wurde. Das II. Vatikanische Konzil hat dann als Reformkonzil neben der Heiligkeit der Kirche und ihrem zuverlässigen Zeugnis der erlösenden Wahrheit Gottes auch die Notwendigkeit ihrer ständigen Reinigung, Erneuerung und Umkehr betont. Und Papst Johannes Paul II. hat dann wiederholt, vor allem auch im Jubiläumsjahr 2000, ein Schuldbekenntnis für die Vergehen der Kirche in der Kirchengeschichte gesprochen.
Joseph Ratzinger hat zuerst (etwa in der „Einführung in das Christentum“ 1968) selbst den Ausdruck der sündigen Kirche nicht ganz abgelehnt, auf jeden Fall aber die Sünde in der Kirche so stark betont, dass er die Heiligkeit der Kirche im Dennoch der Gnade Gottes gesehen hat, die trotz der vielen Vergehen in der Kirche wirksam ist. „Im letzten kann man nur ein Bekenntnis ablegen, warum man dennoch diese Kirche im Glauben zu lieben vermag, warum man durch das entstellte Angesicht hindurch immer noch das Antlitz der heiligen Kirche zu erkennen wagt“ (283). „Die Heiligkeit der Kirche besteht in jener Macht der Heiligung, die Gott in ihr trotz der menschlichen Sündigkeit ausübt“ (283).“Es ist die Heiligkeit, die als Heiligkeit Christi aufstrahlt inmitten der Sünde der Kirche. So ist die paradoxe Gestalt der Kirche, in der sich das Göttliche so oft in unwürdigen Händen präsentiert, in der das Göttliche immer nur in der Form des Dennoch anwesend ist, den Gläubigen ein Zeichen für das Dennoch der je größeren Liebe Gottes. Das erregende Ineinander von Treue Gottes und Untreue der Menschen, welches die Struktur der Kirche kennzeichnet, ist gleichsam die dramatische Gestalt der Gnade, durch die die Realität der Gnade als Begnadigung der an sich Unwürdigen fortwährend in der Geschichte anschaulich gegenwärtig wird. Man könnte von da aus geradezu sagen, eben in ihrer paradoxalen Struktur aus Heiligkeit und Unheiligkeit sei die Kirche die Gestalt der Gnade in dieser Welt“ (284). Das bedeutet dann für die Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden: Von Christus her ist Heiligkeit „nicht Absonderung, sondern Vereinigung, nicht Urteil, sondern erlösende Liebe“ (285). „Kann von da aus die Heiligkeit der Kirche etwas anderes sein als das Einander-Tragen, das freilich für alle davon kommt, daß alle von Christus getragen werden?“ (285).
In späteren Rückblicken auf das Konzil und seine Wirkungsgeschichte wird nicht nur der Ausdruck der sündigen Kirche abgelehnt, sondern auch eine Unterscheidung der Geister angemahnt, eine Unterscheidung zwischen wirklicher Gewissenserforschung und wirklicher Umkehr auf der einen Seite und einer undifferenzierten selbstquälerischen Pauschalkritik der ganzen kirchlichen Vergangenheit, durch die die kirchliche Identität, die Verlässlichkeit des kirchlichen Zeugnisses und jede Freude an der Kirche zerstört wird. Eine solche innerkirchliche und außerkirchliche Kirchenkritik sieht er in der Nachkonzilszeit verbreitet am Werk.
Deshalb unterscheidet er jetzt wieder zwischen der Kirche Christi, die heilig ist und sich als solche in der Kirche manifestiert, und unserer Kirche, die eine Kirche der Sünder ist. Mit dem Gebet des Priesters vor der Kommunion: „Herr Jesus Christus, schaue nicht auf unsere Sünden, sondern auf den Glauben deiner Kirche“ unterscheidet er zwischen dem Glauben der Kirche und unseren Sünden. Und ich denke: Auch wer von einer zugleich heiligen und sündigen Kirche sprechen will, muss solcher Art Unterscheidungen heranziehen, um die christliche Grundüberzeugung von der Heilshoffnung in Jesus Christus Ausdruck zu verleihen.
6 Kirche und Staat
Im Zusammenhang des europäischen Einigungsprozesses ist auch das Staat-Kirche-Verhältnis neu in Bewegung geraten. Denn dieses Verhältnis reicht nun faktisch von einer strikten, ja feindlichen Trennung auf der einen Seite bis zur Staatskirche auf der anderen Seite, mit vielen Varianten einer Verbindung von Unterscheidung und Kooperation in der Mitte. Immerhin kann von einer gewissen Konvergenzbewegung auf ein europäisches Gesamtmodell hin gesprochen werden, das im Gedanken der Religionsfreiheit sowohl die prinzipielle Unterscheidung als auch eine vielgestaltige Zusammenarbeit miteinander verbunden sieht.
Welche Akzente in Zukunft dominieren werden, separatistische oder kooperative, das bleibt freilich offen.
Wo Joseph Ratzinger bisher direkt auf diese Frage zu sprechen kam, sah er in Europa drei Modelle des Kirche-Staat-Verhältnisses ausgebildet: das laizistische Modell bei den lateinischen Nationen, das die Religion streng in den privaten Bereich verweist und das sich bereits als brüchig erwiesen hat, das staatskirchliche Modell des liberalen Protestantismus im germanischen Raum, das vor der Auszehrung steht und dann das antikirchliche und antireligiöse Modell des totalitären Kommunismus, das eine tiefe Verwüstung der Seelen hinterlassen hat und zugrundegegangen ist. Zwischen dem laizistischen und dem staatskirchlichen Modell sieht er schließlich das Modell der USA angesiedelt, das auf freikirchlicher Grundlage von einer strikten Trennung ausgeht, das aber zugleich von einem nicht konfessionell geprägten protestantisch-christlichen Grundkonsens geprägt ist. Sofern der amerikanische Katholizismus dieses Modell adaptiert hat, zeigt er, „dass gerade eine nicht mit dem Staat verschmolzene Kirche die moralischen Grundlagen des Ganzes besser gewährleistet“. „Man kann in einer solchen Position mit gutem Recht eine zeitgemäße Fortführung des Modells von Papst Gelasius sehen…“ Das deutsche Modell einer freundlichen, kooperativen Trennung von Staat und Kirche wird interessanterweise nicht als eigenes Modell aufgeführt.
Eine größere Rolle als die konkreten rechtlichen Regelungen spielen auch hier wieder die grundlegenden theologisch-philosophischen Voraussetzungen des Kirche-Staat-Verhältnisses. Auf der einen Seite wird im Anschluss an die altkirchliche, insbesondere augustinische Reaktion auf das Römische Reich und seine Vermischung von Religion und Politik die strikte Unterscheidung und Trennung von geistlich und weltlich, Religion und Politik, Kirche und Staat betont. Der Kontext, in dem diese Argumentation besonders intensiv in den Vordergrund gerückt wird, ist die (insbesondere vom Marxismus inspirierte) Gefahr einer Vermischung von Religion und Politik in den 1960er, 1970er und 1980er Jahren. Die Gefahr einer solchen erneuten Sakralisierung der Politik und einer Politisierung der Religion wird in der Politischen Theologie und in der Theologie der Befreiung gesehen, die daher entsprechend systematisch bekämpft werden. Die Kirche hat zuallererst ihrer eigenen genuinen Aufgabe nachzukommen, in Verkündigung, Gottesdienst und Diakonie ein wirksames Zeichen und Zeugnis von Gottes versöhnender Gegenwart zu sein. In dieser Hinsicht kann sogar einer gemäßigten laizistischen Verhältnisbestimmung zugestimmt werden.
In der neuen Situation ab den 1990er Jahren wird nun umgekehrt die unter der Voraussetzung einer strengen Unterscheidung notwendige Kooperation von Kirche und Staat in den Vordergrund gerückt. Gespeist wird dieser umgekehrte Schwerpunkt durch die doppelte Erfahrung, dass nach dem Ende des Kalten Krieges und der kommunistischen Diktaturen der demokratische und pluralistische Staat eine gemeinsame Wertegrundlage braucht, diese aber wegen des Pluralismus und wegen des fortschreitenden kulturellen Relativismus nicht liefern kann (weshalb die Kirche hier eine notwendige politische Aufgabe erhält) und dass zweitens der Glaube und die Kirche auch einer gewissen öffentlichen Präsenz bedürfen, um sich entfalten zu können.
Die Kirche hat sich dabei direkter politischer Aktionen zu enthalten, sie hat keine besondere konkrete politische Einsicht. Aber sie muss – im Blick auf Staat und Gesellschaft – die Grundorientierung der Gerechtigkeit gegenwärtig halten und der Manipulation durch die politische Macht entziehen. Sie muss mithelfen, dass im Widerstreit zwischen Nützlichkeit und Wahrheit und zwischen politischer Autorität und Wahrheit die Wahrheit nicht auf der Strecke bleibt. Deshalb ist ein wichtiger Beitrag der Kirche die Erziehung zum Gewissen.
7 Die Kirche der Zukunft
Wo die Kirche heute noch eine Mehrheitsposition einnimmt oder noch mehr oder weniger volkskirchliche Züge trägt, ist sie nach Ratzinger missionsmüde geworden. Das christliche Lebensmodell scheint nicht mehr überzeugend zu sein, weil es gegen die Freude am Leben und gegen die Freiheit gerichtet zu sein scheint. Es bedarf daher notwendig schöpferischer Minderheiten, die die Schönheit und Freude des christlichen Glaubens überzeugend vermitteln. Schon der Weg der Bekehrung braucht unbedingt einen Lebenszusammenhang, eine Weggemeinschaft. Daher die Wichtigkeit des Katechumenats. Im Zusammenhang der Neuevangelisierung Europas werden auch mögliche tiefgreifende Änderungen der Gestalt der Kirche im epochalen Umbruch unserer Zeit ins Auge gefasst. Volkskirchliche Formen der Kirche werden wahrscheinlich in Europa zunehmend abnehmen. Sie haben, wo sie lebendig sind, zweifellos auch ihre schönen, anerkennenswerten Seiten. Eine Minderheitenkirche, die sich vom herrschenden Zeitgeist deutlich abhebt, hat aber nach Ratzinger auch die besondere Chance, von neuem zum Sauerteig für die Gesellschaft zu werden. Sie muss sich allerdings als offene Kirche verstehen, die unterschiedliche Arten der Anlehnung und Beteiligung kennt und die auch gewillt ist, ihre missionarische Verantwortung für das Ganze, d.h. auch für Gesellschaft und Staat wahrzunehmen. Eine große Bedeutung für eine solche Verlebendigung des kirchlichen Glaubens kommt dabei den neuen religiösen Bewegungen in der Kirche mit ihren verschiedenen neuen Gemeinschaftsformen zu.
Mit diesem kurzen Blick in die Zukunft sei diese Übersicht über das Kirchenverständnis von Benedikt XVI./Joseph Ratzinger abgeschlossen.
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