Kardinal Gerhard Müller: „Wahre Reform der Kirche geht über ihre Erneuerung in Christus“

Kard. Gerhard Müller, 2015 (Bohumil Petrik/CNA photo)

In einem umfassenden Interview, in dem die Pan-Amazonas-Synode und die Kirche in seinem Heimatland Deutschland erörtert werden, erklärt der Kardinal, das westliche Christentum befinde sich in einer Krise des Glaubens und der geistlichen Führung.

Edward Pentin

Der Gedanke hinter dem viel diskutierten Arbeitsdokument für die Bischofssynode für das gesamte Amazonasgebiet ist eine „Projektion“ des europäischen theologischen Denkens, die nicht mit der katholischen Theologie übereinstimmt und „katholischer“ korrigiert werden muss, hat Kardinal Gerhard Müller gesagt.

In den Kommentaren zum National Catholic Register, die auf EWTN Polen ausgestrahlt werden sollen, sagte der emeritierte Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre auch, dass der Zölibat der Priester nicht geändert werden kann (einige, die an der Organisation der Synode beteiligt sind, möchten verheiratete Männer im Amazonasgebiet ordinieren) „als ob es nur eine externe Disziplin wäre, da sie tief mit der Spiritualität des Priestertums verbunden ist.“

Darüber hinaus sieht der deutsche Kardinal einen offensichtlichen „Zusammenhang“ zwischen der Agenda für die Synode vom 6. bis 27. Oktober und dem von einigen deutschen Bischöfen vorgeschlagenen „Synodenweg“, um die Lehre der Kirche zur Sexualmoral zu ändern. Er geht auch auf den jüngsten Brief von Papst Franziskus an die deutschen Bischöfe ein, warum er im Februar sein „Manifest des Glaubens“ schrieb und warum die Lehren von Papst Johannes Paul II. während dieses Pontifikats anscheinend weniger Beachtung finden.

Eminenz, welches sind Ihre Ansichten zum instrumentum laboris für die Pan-Amazonas-Synode?

Es ist nur ein Arbeitsdokument, es ist kein Dokument des Lehramtes der Kirche, und es steht jedem frei, seine Meinung über die Qualität der Vorbereitung dieses Dokuments zu äußern. Ich denke, dahinter steckt kein großer theologischer Horizont. Es wurde größtenteils von einer Gruppe deutscher Nachkommen geschrieben und nicht von Menschen, die dort leben. Es hat eine sehr europäische Perspektive, und ich denke, es ist eher eine Projektion des europäischen theologischen Denkens auf die Menschen im Amazonasgebiet, weil wir all diese Ideen vor 30 Jahren gehört haben.

Nicht alle Ideen stimmen mit den Grundelementen der katholischen Theologie überein, insbesondere mit dem Religionsbegriff. Wir haben die Vorstellung von einem offenbarten Glauben, der historisch in der Inkarnation des Wortes des Vaters in Jesus Christus verwirklicht ist und vom Heiligen Geist durchdrungen ist. Aber die katholische Kirche ist keine Religion als natürliches Verhältnis zur Transzendenz. Wir können die katholische Kirche nicht nur im Rahmen eines Religionsbegriffs verstehen. Religionen werden vom Menschen gemacht, sie sind Eindrücke, Mittel, Riten anthropologischer Wünsche und des Denkens über die Welt, aber unser Glaube basiert auf der Offenbarung Gottes im Alten und Neuen Testament, in Jesus Christus. Wir müssen dieses Denken in diesem Dokument daher katholischer korrigieren.

Es kann mit dem Leiden des Volkes beginnen, aber dies ist nicht der Ausgangspunkt des katholischen Glaubens. Wir beginnen mit der Taufe und bekennen uns zu Gott, Vater, Sohn und Heiligem Geist. Christus selbst ist in die Welt gekommen, und sein Kreuz nimmt alles Leiden der Welt auf. Aber es ist eine andere Sache, mit den Menschen zu beginnen und dann die Offenbarung nur als Ausdruck der europäischen Kultur zu relativieren. Das ist absolut falsch.

Es gibt auch einen Fokus auf Theologie, der nach Ansicht einiger Kritiker im Grunde genommen ein „kulturelles Recycling der Befreiungstheologie“ ist. Stimmen Sie zu, dass dieses Dokument möglicherweise einen Anstoß darstellt, die Befreiungstheologie durch die Hintertür zu führen?

Die Befreiungstheologie ist ein weit gefasster Begriff, aber die Freiheit ist das Grundelement unseres Glaubens, weil wir gerettet sind, von Jesus Christus von der Sünde befreit und von der Distanz zu Gott befreit worden sind. Diese [Freiheit] beinhaltet auch die Heilung weltlicher Elemente und Dimensionen, aber wir können die Annäherung Christi und seines Kreuzes und die Übernahme aller Leiden und Sünden der Welt auf sich selbst nicht in eine immanente Annäherung umwandeln, wie damals am Ende. Wir relativieren die Offenbarung als nur einen Ausdruck der griechisch-römischen Kultur. Es ist der falsche Ansatz.

Die Befreiungstheologie ist eine katholische Theologie, die mit der Offenbarung beginnt, die in der Heiligen Schrift, in der Überlieferung, im Lehramt der Kirche beginnt, und wir können keine neue Hermeneutik betonen, die dem katholischen Glauben fremd ist.

Sie würden also argumentieren, dass Befreiungstheologie an sich in Ordnung ist, aber auf verschiedene, unorthodoxe Arten verwendet werden kann?

Es kann verstanden werden, dass Christen die Verantwortung für die Gesellschaft übernehmen für eine integrale Entwicklung. Wir interessieren uns aber nicht nur für die Welt, sondern auch für das Zentrum der Offenbarung, die die Gemeinschaft mit Gott ist, die in diesem Leben beginnt, und auch für das Strahlen der guten Werke, die Gott für uns gemacht hat.

Aber wir können das Christentum, die Kirche, nicht nur für eine weltliche Entwicklung in eine Nichtregierungsorganisation umwandeln, so dass die immanente Entwicklung das Zentrum unseres Glaubens ist. Unser Glaube bezieht sich auf den dreieinigen und persönlichen Gott.

Denken Sie, dass dieses Dokument zu einer immanenteren Perspektive führt (dass sich das Göttliche in der materiellen Welt manifestiert), anstatt zu einer katholischeren?

Ja, das ist die Gefahr, denn hinter diesem Dokument stehen keine großen Theologen, und es gibt diesen eher praktischen, eher ideologischen Ansatz für die Fragen.

Der andere Aspekt, um den sich einige Sorgen machen, ist das Zölibat der Priester, und dass das Dokument die Möglichkeit aufzeigt, verheiratete Männer oder reife Männer mit Familien zum katholischen Priestertum im Amazonasgebiet zu ordinieren. Befürchten Sie, dass dies, wie einige Kritiker sagten, zu einer allgemeinen Untergrabung des kirchlichen Zölibats führen könnte?

Auf der einen Seite drängen sie darauf und sagen es offen und auf der anderen Seite, wenn sie gefragt werden, dass sie den priesterlichen Zölibat nicht untergraben. Die Disziplin wurzelt in der Spiritualität des Priestertums in der westlichen und lateinischen Kirche. Wir können es nicht ändern, als wäre es nur eine externe Disziplin, da es tief mit der Spiritualität des Priestertums verbunden ist, wie das Zweite Vatikanische Konzil sagte ( Presbyterorum Ordinis, 16).

Wir akzeptieren verheiratete Priester in den Ostkirchen, in denen es diese Tradition gibt, aber die lateinische Kirche wird auf diese Weise mit dem Zölibat im Priestertum fortfahren. Ich denke, dies ist nicht die großartige Lösung, die sie erwarten, um alle Probleme zu lösen, da die Krise des Christentums in der westlichen Welt nichts mit dem Zölibat des Priestertums und den religiösen Gelübden zu tun hat. Es ist eine Krise des Glaubens und auch der geistigen Führung.

Viele der an dieser Synode beteiligten Personen haben einen deutschen Hintergrund. Im Zweiten Vatikanischen Konzil wurde gesagt, dass der Rhein in den Tiber mündet. Würden Sie sagen, dass dies ähnlich ist, ein Fall, in dem der Rhein in den Amazonas fließt?

Wir sehen, es ist kein guter Einfluss, weil die katholische Kirche in Deutschland abwärts geht. Schauen Sie sich die Ergebnisse an. Sie [deutsche Kirchenführer] kennen die wirklichen Probleme [in der heutigen Kirche] nicht und sprechen von Sexualmoral, Zölibat und Priesterinnen. Aber sie sprechen nicht über Gott, Jesus Christus, Gnade, Sakramente und Glauben, Hoffnung und Liebe, die theologischen Tugenden und die Verantwortung, die Christen und die Kirche für die Entwicklung der Gesellschaft haben, in der es einen tiefen Legalismus und Verzweiflung gibt – Wie der Papst sagte, von einem neuen Gnostizismus und einem neuen Pelagianismus.

Wir sind nicht in der Lage, das Evangelium für die Menschen in Deutschland und anderen Teilen Europas wie Belgien und den Niederlanden zu verbreiten. Und Sie sehen die Folgen dieser fortschreitenden Welle.

Warum gibt es diesen deutschen Einfluss auf diese Synode – liegt es daran, dass sie das Treffen nutzen wollen, um vielleicht mit diesem von Kardinal Reinhard Marx vorgeschlagenen „Synodenweg“ übereinzustimmen? Gibt es einen Zusammenhang damit?

Es besteht offensichtlich ein Zusammenhang. Sie gingen absolut falsch mit sexuellem Missbrauch um. Sie waren nicht in der Lage und konnten die wahren Ursachen und Gründe dieser Krise nicht erkennen und sie sprechen die ganze Zeit über andere Dinge, die nichts damit zu tun haben.

Wir lernen auch nicht aus dem Niedergang des Protestantismus in Europa. Sie haben all diese verheirateten Pastoren, die eine gleichgeschlechtliche „Ehe“ akzeptieren, und sie haben kein Zölibat. Trotzdem ist die Situation der protestantischen Kirche in Europa schlimmer als in der katholischen Kirche. Das kann also nicht die Medizin sein, um die tiefe Krise, die Krise des Glaubens, zu überwinden. Es ist ein Missverständnis der apostolischen Mission von Bischöfen, die keine politischen Führer sind. Am Ende wird es nutzlos sein.

Was halten Sie von Synodalität und diesem „Synodenweg“ als Mittel zur Kirchenregierung? Glauben Sie, dass die Gefahr besteht, dass fremde Ideen in die Kirche gelangen?

Ich finde es sehr idealistisch. Es gibt keine biblische Grundlage dafür. Wir sprechen von Kollegialität der Bischöfe, aber wir sehen jetzt in der sogenannten Reform der Kurie, dass die Kurie in Gefahr ist, sich in eine andere weltliche Institution zu verwandeln. Alle Befugnisse sind im Staatssekretariat konzentriert. Sie sprechen nicht über die Beteiligung der römischen Kirche oder die petrinische Autorität des Papstes. Sie unterdrücken das Wort „Kongregation“, was eine Übersetzung des Synodus auf Griechisch ist.

Einerseits unterdrücken sie die Synodalität der Heiligen Römischen Kirche, des Kardinalskollegiums, und andererseits verwandeln sie die Einrichtung der Kurie in eine bloße Bürokratie, in nur Funktionalismus und nicht ein kirchliches Institut. Wir haben eine gemeinsame Verantwortung, am Leben der Kirche teilzunehmen, aber wir haben diese universelle Teilhabe seit Beginn der Kirche, seit 2000 Jahren.

Wir können die Kirche nicht mehr so ​​erfinden, als wäre sie altmodisch und neu gestaltet werden müsste, so wie sie sich fortschrittlich nennt und die Kirche nach ihren Vorstellungen bauen will.

Im Februar haben Sie ein „Manifest des Glaubens“ geschrieben. Warum haben Sie es geschrieben?

Viele Leute haben mich gebeten, wegen eines gewissen Chaos in der Kirche und wegen vieler Missverständnisse über das Wesentliche des Christentums etwas zu sagen: Was ist Ehe, was ist zum Beispiel das Priestertum? Wir können nicht alles leugnen, was im Alten und Neuen Testament und in der Tradition der Kirche gesagt wird.

Wir haben eine tiefe Theologie über die sieben Sakramente, und diese kann nicht von Zweifeln an diesen wesentlichen Elementen beherrscht werden, die uns zum ewigen Leben führen. Deshalb habe ich nur die wesentlichen Punkte unseres christlichen Glaubens hervorgehoben, die Trinität, die Inkarnation, die Sakramentalität der Kirche, die Identität unseres Glaubens und unseres Lebens und unsere Hoffnung auf ewiges Leben.

Die Reaktion war nicht immer sehr intelligent, und ich konnte es nicht verstehen; In der Tat konnte niemand verstehen, warum das Hervorheben dieser Grundelemente des Glaubens als Kritik am Papst, dem Nachfolger des heiligen Petrus, interpretiert werden könnte, da er die höchste Verantwortung für den Ausdruck unseres Glaubens trägt. Dies ist in unserem Glaubensbekenntnis verankert – es beginnt mit: „Ich glaube an“ Gott, den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist, der Schöpfung, der Erlösung und der endgültigen Vollkommenheit der Sakramente und der Hoffnung auf ewiges Leben. Wir werden im Namen des dreieinigen Gottes getauft und drücken unseren Glauben an die Werke der Schöpfung, der Erlösung und die Gabe des ewigen Lebens aus.

Haben Sie die jüngste „Erklärung der Wahrheiten des Glaubens von Kardinal Raymond Burke und vier Bischöfen unterstützt?

Es ist alles wahr, was sie sagten, nein?

Kardinal Rainer Maria Woelki aus Köln dankte Papst Franziskus für seinen Brief an die deutsche Kirche, in dem er die Katholiken in Deutschland „furchtlos“ aufforderte, angesichts des Niedergangs der Kirche eine Missionskirche zu sein. Andere haben jedoch gewarnt, dass es auf unterschiedliche Art und Weise gelesen werden kann und dass die Kirche in Deutschland „vor einem grundlegenden Transformationsprozess“ steht. Wie beurteilen Sie den Brief selbst und wie wichtig ist er für die deutsche Kirche?

In seinem Brief an die deutschen Katholiken hat der Papst den Maßstab für die Einheit der Kirche in der Wahrheit der Offenbarung gesetzt. Wir glauben an den dreieinigen Gott und seine Kirche als Sakrament der Errettung der Welt. Daher ist der Prozess der Umwandlung der Kirche in eine weltliche Organisation mit geistlichen und sozialen Diensten nichts weiter als ein Widerspruch zu ihrer göttlichen Grundlage und Sendung.

Die mentale Aufgabe des gesamten Unternehmens spiegelt sich in einem Realitätsverlust bei der Analyse der Ursachen des sexuellen Missbrauchs junger Menschen wider. Ihre Ursachen liegen in der individuellen Verletzung der Gebote des Herrn und in der hedonistischen Atmosphäre in der westlichen Welt.

Die Weiterleitung sexueller Impulse an Erwachsene beiderlei Geschlechts, die als Neubewertung der Sexualmoral getarnt ist, beseitigt keinen Widerspruch zu Gottes Geboten. Die Verführung von Männern und Frauen über 18 Jahren ist auch eine Todsünde, „die aus dem Reich Gottes ausschließt“ (1. Korinther 6: 9) und eine „Entehrung des eigenen Körpers“ durch Verhalten gegen die von Gott gegebene Natur , männlich und weiblich (Römer 1: 24-27). Sexuelle Beziehungen haben einen legitimen, moralisch einwandfreien und anmutigen Platz nur in der Ehe eines Mannes und einer Frau. Ich hoffe auch, dass man in der Frage der Verbindung des Priestertums mit dem Zölibat nicht hinter der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils ( Presbyterorum Ordinis, 16) und der Enzyklika Sacerdotalis Caelibatus zurückbleibt .

Bei der wahren Reform der Kirche geht es um ihre Erneuerung in Christus und die Wiederbelebung des apostolischen Eifers für das ewige Heil des Menschen. Unter den lauten und boshaften Protagonisten, die sich arrogant als Reformer bezeichnen, sind einige, die durch die Heiligkeit des Lebens, die Bereitschaft zum Opfer und zur Entsagung und die völlige Hingabe an Christus und die Kirche, seine geliebte Braut und unsere Mutter im Glauben glänzen. Die eben erwähnten Begriffe strahlen nur ein ironisches Lächeln aus, weil sie so wenig Aufklärung und Nähe zur modernen Realität des Lebens bieten.

Die großen Reformbewegungen in der Geschichte der Kirche haben Heilige hervorgebracht und wurden von Gelehrten der Heiligen Wissenschaften sowie von Geistlichen und Ordensleuten gefördert, die sich auf das Wort des Herrn bezogen: „Der Eifer für Ihr Haus verzehrt mich“ (Johannes 4:17). .

Wir haben vor kurzem den 40. Jahrestag der Wahl von Papst Johannes Paul II. Gefeiert, aber warum wird seine Lehre während dieses Pontifikats Ihrer Meinung nach an den Rand gedrängt und nicht mehr wie früher aufrechterhalten?

Weil es im Hintergrund die seltsame Vorstellung gibt, dass das Zweite Vatikanum und seine Reformen von Johannes Paul II. und Benedikt gestoppt worden seien, und jetzt müssten wir diese „Blockierung“ überwinden und neu beginnen, wo das Zweite Vatikanum zu Ende ging. Dies ist jedoch keine gültige katholische Idee.

Wir glauben an die Kontinuität der Kirche und jedes Papstes, Konzils und Bischofs. Jede Periode hat eine besondere Bedeutung, ebenso wie jeder Papst und Bischof in dem Kontext, in dem sie leben – aber immer in Kontinuität mit allen Konzilen und allen Päpsten der Vergangenheit.

Wir können den Konzilen nicht widersprechen, indem wir sagen: „Ich bin für das Konzil von Trient“, oder: „Ich bin für das Erste Vatikanische Konzil“, oder: „Ich bin für das Zweite Vatikanische Konzil“, oder gar ich bin für ein drittes Vatikanisches Konzil. Die Konzile sind keine Neugründung der Kirche; sie haben nur die Autorität, den katholischen Glauben zu einer bestimmten Zeit auszudrücken und zu bekennen. Niemals werden wir eine neue Offenbarung erhalten (II. V., Dei Verbum , 10), weil „Gnade und Wahrheit durch Jesus Christus gekommen sind“ (Johannes 1,17).

Edward Pentin ist der Korrespondent des National Catholic Registers in Rom.

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Quelle

Aus dem Englischen übersetzt von mir [POS]

Was bedeutet Reform in der Kirche?

Gerhard Ludwig Kardinal Müller ist Kurienkardinal der römisch-katholischen Kirche. Er war von 2002 bis 2012 Bischof von Regensburg und von 2012 bis 2017 Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre. 25.10.2017 Foto: KNA

Nur der erste Schritt zur Selbstrelativierung der Wahrheit und des Heils? Eine Betrachtung zum Reformationsgedenken.

Von Gerhard Kardinal Müller

Als „Reformation“ bezeichnet in einer groß angelegten Studie der Oxforder Kirchenhistoriker Diarmaid MacCulloch die Epoche zwischen 1490–1700, als deren Ergebnis die religiöse und politische Zersplitterung der abendländischen Christenheit vor uns steht. Je nach Standpunkt fällt die Bewertung dieser geschichtlichen Vorgänge unterschiedlich und gegensätzlich aus. Manche sehen ganz vom Inhalt des christlichen Glaubens ab und deuten die protestantische Reformation zusammen mit der katholischen Reform und Gegenreformation als Pluralisierungsprozess am Übergang des Mittelalters zur Neuzeit. Im Sinne eines linearen Fortschrittsglaubens wird die historische Reformation zum Vorläufer und Ideengeber einer Entwicklung, die sich in der Aufklärung und Neuzeit vollendet. Was aber ist das Wesen der Neuzeit: Der Mensch ohne Gott oder der Mensch im freien Gegenüber zu Gott? Die Reformation führt demnach unter Absehung ihres eigentlichen religiösen Anliegens letztlich zu einer säkularen Weltsicht hin, in der die religiöse Option überhaupt und die christliche speziell selbst nur eine unter vielen ist.

Somit wäre die Reformation nur der erste Schritt zu einer Selbstrelativierung der Wahrheit und des Heils, die mit der eschatologischen Selbstoffenbarung Gottes ein für allemal in die Welt eingetreten ist. Die Reformatoren wollten dagegen nicht den Weg zu einer Entchristlichung der Gesellschaft und einer Entkirchlichung der Christengemeinde bahnen. Sie wollten die Erneuerung der Kirche gemäß dem Evangelium wie sie es verstanden. Damit traten sie zwar in einen Gegensatz zur katholischen Sicht auf Evangelium und Kirche, aber sie bildeten keine Koalition mit der beginnenden säkularen Kultur seit der Renaissance, wie sie kulturprotestantische Interpretation des historischen Ereignisses der protestantischen Reformation und der Revolution gegen die katholische Kirche es wollte.

Darum sind die alten konträren und polemischen Charakterisierungen einer evangelischen Kirche des Evangeliums, der Freiheit, des Gewissens, des Wortes gegenüber der katholischen Kirche des Gesetzes, des Gehorsams, der Autorität und der Sakramente, wie sie aus einer oberflächlichen Interpretation der Gerechtigkeit aus dem Glauben oder den Werken stammen, der Sache nach hinfällig.

Die Christen aller Konfessionen sind aber trotz aller Kontroversen, was Lehre, Leben und Verfassung der Kirche angeht, eins im Glauben an die endgültige und unüberholbare Selbstmitteilung Gottes in seinem Wort, dem Sohn des Vaters, der unser Fleisch angenommen und durch seinen Tod am Kreuz und seine Auferstehung von den Toten das Reich Gottes für immer aufgerichtet hat. Unter diesem Gesichtspunkt verbindet das gemeinsame Bekenntnis zur Gottessohnschaft und der einzigen Heilsmittlerschaft Christi das katholische und das evangelische Christentum und trennt die Kirche nicht in eine vermeintlich mittelalterlich rückständige und eine vermeintlich der Moderne kompatible Form ihrer geschichtlichen Realisierung. Die Kirche als sakramentales Zeichen und Werkzeug der gekommenen und sich im kommenden Christus erfüllenden Gottesherrschaft kann durch die Mächte des Todes und des Bösen nicht überwältigt werden. So hat Jesus es seinen Jüngern mit Simon Petrus an der Spitze einst bei Cäsarea Philippi verheißen (vgl. Matthäus 16, 18). Wenn in Christus die Fülle der Zeiten gekommen ist, kann es über ihn hinaus nichts Neues geben, das ihn überholt oder das seine Botschaft veralten lässt. Die Kirche ist aber als der Leib Christi mit ihrem Haupt so eng verbunden, dass sie immer an seinem Leben Anteil hat und durch seinen Geist verlebendigt wird, so dass sie nie völlig von ihm abgetrennt werden kann, und sozusagen einer Neugeburt und Neustiftung bedürfte. „Denn Christus hat die Kirche geliebt und sich für sie dahingegeben, um sie durch das Wasser und durch das Wort rein und heilig zu machen.“ (Epheser 5, 25f).

So wie die Ehe von Mann und Frau in Christus unauflösbar ist und trotz möglicher Krisen immer aus dem Quell der Liebe erneuert wird, so wendet sich Christus von der Kirche nicht ab trotz der Sünden und Verfehlungen ihrer Glieder. So wie der Ehemann mit seiner Frau ein Leib ist, so gilt auch von Christus, dem Haupt der Kirche, dass „er seinen eigenen Leib nicht hasst, sondern die Kirche nährt und pflegt, denn sie ist sein Leib“ (Epheser 5, 29). Reform bedeutet nicht Veränderung der von Christus seiner Kirche eingestifteten Lebensvollzüge in Martyria, Leiturgia und Diakonia, sondern die Erneuerung der Glieder des Leibes Christi im Leben, das vom Haupt auf den Leib seiner Kirche übergeht. Reform ist kein Weg zurück ad fontes im Sinne des Humanismus und der Renaissance mit dem Überlegenheitsdünkel derer, die die griechischen, hebräischen und lateinischen Urtexte der Bibel, der Kirchenväter und der heidnischen Autoren der Antike philologisch sich besser aneignen konnte als ihre Vorfahren auf den Lehrstühlen oder gar als das gemeine Volk. Erneuerung in Christus ist ein Weg nach vorn dem kommenden Herrn entgegen, damit wir wie die klugen Jungfrauen dem Bräutigam mit brennenden Lampen entgegengehen und zum Herrn in den Hochzeitssaal eintreten dürfen (vgl. Matthäus 25, 10).

Reform im theologischen Sinn hat nichts mit dem Mythos des Goldenen Zeitalters in grauer Vorzeit zu tun, das man wieder herstellen will. Auch jede Deutung der Kirchengeschichte nach dem Schema des Abfalls vom reinen Ursprung oder der bloß positiven Entfaltung nach vorne hin, scheitert am Glauben an die eschatologische Gegenwart des Heils in Christus und dem Wissen um die Dramatik von Welt- und Kirchengeschichte zwischen der civitas Dei und der civitas terrena. Christus ist das unvergängliche Licht Gottes in der Welt. Aber die Kirchengeschichte bewegt sich zwischen Licht und Schatten. „Die Kirche ,schreitet zwischen den Verfolgungen der Welt und den Tröstungen Gottes auf ihrem Pilgerweg dahin‘ und verkündet das Kreuz und den Tod des Herrn, bis er wiederkommt (vgl. 1 Korinther 11, 26). Von der Kraft des auferstandenen Herrn aber wird sie gestärkt, um ihre Trübsale und Mühen, innere gleichermaßen wie äußere, durch Geduld und Liebe zu besiegen und sein Mysterium, wenn auch schattenhaft, so doch getreu in der Welt zu enthüllen, bis es am Ende im vollen Lichte offenbar werden wird …“ (Lumen Gentium 8) Auf die Frage der Gnostiker, was denn mit Christus unüberbietbar Neues gekommen sei, antwortete Irenäus von Lyon im zweiten Jahrhundert: „Er hat nur Neues gebracht, indem er, der Angekündigte, sich selbst brachte, um den Menschen zu erneuern und zu beleben“. Omnem novitatem attulit semetipsum afferens… quoniam novitas veniet innovatura et vivificatura hominem. (Adversus haer. IV, 34, 1)

Christus kann durch innerweltlichen Fortschritt in Wissenschaft, Technik und Gesellschaftsordnung weder überboten noch eingeholt werden. Die Fülle des Heils und der Wahrheit ist allen Menschen in Christus von Gott seinem Vater für immer vermittelt worden. Im Heiligen Geist wird die Kirche zu einer immer tieferen Einsicht in die geoffenbarte Wahrheit eingeführt. Darum gibt es trotz der Fülle der Zeiten, die in Christus verwirklicht worden ist, einen gemeinschaftlichen und individuellen Fortschritt und eine jeweils andere Form der Inkulturation des Christentums und damit das Entstehen neuer christlicher Kulturformen. Er handelt sich – der inkarnatorischen und sakramentalen Präsenz der Wahrheit und des Heils gemäß – nicht um eine mechanische Weitergabe, sondern um eine lebendige Tradition der apostolischen Lehre, die lebt und geistiges und geistliches Leben weckt. Das kirchliche Lehramt hat darum weder eine konservative noch eine innovative Funktion je für sich. Im Zusammenwirken beider zeigen sich vielmehr die Treue zur Endgültigkeit der Offenbarung und das Wachstum der Kirche im lebendigen Glauben ihrer Glieder.

Das Zweite Vatikanische Konzil bringt dieses Spannungsgefüge auf den Begriff, wenn es in der Dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung „Dei verbum“ erklärt: „Damit das Evangelium in der Kirche für immer unversehrt und lebendig bewahrt werde, haben die Apostel Bischöfe als ihre Nachfolger zurückgelassen und ihnen ihr ,eigenes Lehramt überliefert‘ (Irenäus von Lyon, Adv. haer. II,3,1)… Diese apostolische Überlieferung kennt in der Kirche unter dem Beistand des Heiligen Geistes einen Progressus; es wächst das Verständnis der überlieferten Dinge und Worte durch das Nachsinnen und Studium der Gläubigen, die sie in ihrem Herzen erwägen (vgl. Lukas 2, 19.51), durch die innere Einsicht, die aus geistlicher Erfahrung stammt, durch die Verkündigung derer, die mit der Nachfolge im Bischofsamt das sichere Charisma der Wahrheit empfangen haben; denn die Kirche strebt im Gang der Jahrhunderte ständig der Fülle der göttlichen Wahrheit entgegen, bis an ihr sich Gottes Worte erfüllen.“ (DV 7 und 8)

Nach der in den Worten Jesu begründeten katholischen Glaubensüberzeugung widerspricht eine Vielheit von entgegengesetzten Konfessionen der Einheit der Kirche in der geoffenbarten Wahrheit. Da die Kirche der Leib Christi ist, der von Christus selbst als Haupt dieses Leibes in den vielen Glieder zusammengehalten wird, kann es im Glauben und im sakramentalen Leben nur eine Kirche geben. Die Kirche ist ein „Geist und Leib“ und es gilt: „Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater, der über allem und durch alles und in allem ist“ (Epheser 4, 4ff).

Auch Martin Luther, Huldrych Zwingli und Jean Calvin, die diese historische Epoche der Reformation wesentlich beeinflusst und auf den Weg gebracht haben und darum als „Reformatoren“ bezeichnet werden, wollten keineswegs die Einheit der Kirche zugunsten einer Vielzahl von Konfessionen aufgeben. Ihr Ziel war die Reform und Erneuerung der bestehenden und von Christus in der Geschichte gestifteten Kirche im Geiste ihres göttlichen Gründers und ihres lebendigen Hauptes. Ihre Methode war die Reinigung der Kirche Christi von dogmatischen Irrtümern, die eine das Heil gefährdende Praxis von Missständen und Missbräuchen hervorgebracht hätten. Nicht die Verbesserung des moralischen und geistlichen Lebens und die Modernisierung der menschlichen Einrichtungen der Kirche (Universitäten, Armenpflege, Auswahl und Ausbildung der geeigneten Kandidaten für das geistliche Amt) und der Kampf gegen die Verweltlichung der Kirche war Anlass zur Trennung der Anhänger Luthers, Zwinglis und Calvins von der Kirche um den Papst und die Bischöfe, sondern die Behauptung, die Kirche habe im Glauben schwer geirrt und habe durch ein falsches Sakramentenverständnis das Heil der Gläubigen in die größte Gefahr gebracht, bedeutete den Wendepunkt von einer Reform in der Kirche zur Reformation, die eine andere Kirche hervorbrachte.

Hier stehen wir an dem Punkt, an dem katholisches und protestantisches Verständnis von Reform der Kirche auseinandergehen. Wenn die Kirche von der Offenbarung abfallen kann und allein die Heilige Schrift das Kriterium für die rechte Lehre und Praxis ist, dann gilt es, die Kirche dem Wort Gottes gemäß zu reinigen und zu reformieren in Lehre, Leben und Verfassung. Wenn aber nach katholischer Lehre die Kirche nicht von der Offenbarung abfallen kann, dann kann es Reform nur geben in der Gestalt der Erneuerung und der Vertiefung. Protestantisch gibt es eine Reformation der Kirche, also eine tiefgreifende Umformung der Kirche nach Gottes Wort. Katholisch dagegen gibt es eine Reform in der Kirche, indem Papst und Bischöfe, Priester und Ordensleute und alle Laien in ihrem Leben aufgerufen sind, ihrer Berufung besser zu entsprechen. Weil die Reformatoren überzeugt waren, dass die Kirche mit dem Papst und den Bischöfe an der Spitze in der zentralen Lehre von der Erlösung und der Rechtfertigung des Sünders vom Evangelium Christi abweiche, kamen sie zur Überzeugung von der Notwendigkeit einer Reformation und substanziellen Umformung der Kirche, die einer ganz anderen Kategorie von Reform angehört, wie sie bisher in der Kirche durchgeführt worden waren.

Es sei erinnert an Reformen in der katholischen Kirche wie zum Beispiel die karolingische Renaissance, die im wesentlichen eine Reform der theologischen Bildungseinrichtungen bedeutete. Die Gregorianische Reform zielte auf die Befreiung der Kirche aus dem Korsett der Feudalgesellschaft und des Eigenkirchenwesens. Ihre Ziele waren der Kampf gegen Simonie, Laieninvestitur und für den Priesterzölibat. Es gab die großen Klosterreformen (Gorze, Cluny, Hirsau, Windsheim, Melk) und die neu entstehenden Orden, die einem spezifischen Charisma entsprechen und eine Antwort auf besondere Herausforderungen angesichts von kirchlichen und gesellschaftlichen Wandlungsprozessen entsprechen. Es sind bekannt die Reformen der Studienordnungen und Seminarien nach dem Trienter Konzil. Wir kennen die Bischöfe, die dem Trienter Ideal des Hirten mit apostolischem Eifer entsprechen wollten (Kardinal Carlo Borromäus von Mailand, Erzbischof Toribio von Mongrovejo; Kardinal Gregorio Barbarigo von Padua).

In den großen Ordensgründungen des heiligen Dominikus und des heiligen Franziskus ging es um die Erneuerung der apostolischen Predigt, eine angemessene Seelsorge in der aufstrebenden Stadtkultur und für die akademischen Jugend wie auch um das Lebensideal der evangelischen Armut und Demut. Im 19. und 20. Jahrhundert hat die Kirche mit neuen Orden und der Entwicklung ihrer Sozialllehre großartige Beispiele ihrer Anpassungsfähigkeit ihrer Mentalität und Struktur gegeben.

Fortsetzung folgt

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Quelle

„Papst ist ein radikaler Kirchenreformer“

Pater Ardura mit dem Papst

Ein katholisches Verständnis von Kirchenreform hat wenig mit Zeitgeist und viel mit einer Rückbesinnung auf die Charakteristika der ersten christlichen Gemeinde in Jerusalem zu tun: Das hat der Präsident der Päpstlichen Kommission für Geschichtswissenschaften, Pater Bernard Ardura, jetzt in Salzburg betont. Der Chefhistoriker des Papstes sprach bei der Jahrestagung der Kirchenhistorker CIHEC (Commission Internationale d‘ Histoire et d’Etudes du Christianisme). Papst Franziskus entspreche als radikaler Kirchenreformer genau diesem tiefgründigen Reform-Begriff, so Ardura. Die Konferenz endete am Donnerstagabend.Die Wurzeln dieses tieferen Reformverständnisses ortet Ardura im Mittelalter: „Als im Mittelalter unter Papst Gregor VII. eine gewaltige Reformbewegung der Kirche ins Leben gerufen wurde, die die Frage der Investitur, des kirchlichen Zölibats und des Verhältnisses der Kleriker zum materiellen Eigentum umfasste, wandten sich die „Reformatoren“ dem Evangelium und der Apostelgeschichte zu. Sie erkannten darin den Weg zu einer „vita apostolica“, die als Referenz und Modell dienen würde, um die Kirche im Allgemeinen und das Leben der Geistlichkeit im Besonderen neu zu formulieren“, sagte der Prämonstratenser und Nachfolger Kardinal Walter Brandmüllers. „Die „vita apostolica“ offenbarte sich somit als das Leben der Apostel, die um Jesus versammelt waren – während der drei Jahre seines öffentlichen Lebens. Der Lebensstil der Apostel wurde somit als das ursprüngliche Modell des christlichen Lebens im Allgemeinen und des Lebens der Kleriker im Besonderen angesehen.“

Reform im Geist der Communio

In dieser Tradition hätten auch die späteren katholischen Reformbemühungen gestanden – mit dem Konzil von Trient, das 1545 drei Monate vor dem Tod Martin Luthers begann, als Höhepunkt. Freilich sei das vorangegangene Fünfte Laterankonzil (1512-1517) sehr enttäuschend gewesen – eine „große vergebene Chance“, so Ardura, in Folge dessen Luther sich gedrängt gefühlt habe, den Schritt zum Bruch zu tun.

Heute stehe die Kirche ebenfalls vor einer großen Reformaufgabe: So erinnerte Ardura etwa an die viel beachtete Weihnachtsansprache 2016 von Papst Franziskus an die Kurie. Darin hatte der Papst aufgezeigt, dass Reform „ein Prozess sei, der viel intuitives Gefühl“ sowie das „Engagement aller, die in der Kurie arbeiten“ erfordere – und dies „in einer Spiritualität des Dienstes und der Communio“ als „Gegenmittel für alle Gifte des eitlen Ehrgeizes und der illusorischen Rivalität“.

Es gebe letztlich zwölf Kriterien einer nachhaltigen kirchlichen Reform, führte der vatikanische Chefhistoriker weiter aus: Begonnen werden müsse stets mit der persönlichen Bekehrung, ohne die sich sämtliche strukturellen Veränderungen „als nutzlos erweisen“ würden. Persönliche Bekehrung „unterstützt und verstärkt die gemeinschaftliche Umwandlung“, fasste Ardura ein Zentralanliegen von Franziskus bei der Kurienreform zusammen.

Ziel des Papstes sei es, „die Bedeutung der Personen hinter den Papieren der Verwaltung zu unterstreichen“. So sei die römische Kurie dazu berufen, immer mehr „eine echte Gemeinschaft des Glaubens und der Nächstenliebe, des Gebets und des Handelns zu werden“. Jede Aktivität der Kurie sei eng mit der missionarischen Tätigkeit der Kirche verbunden – mit den Worten von Papst Franziskus: „Gute Strukturen sind nur dann hilfreich, wenn es Leben dahinter gibt, das sie ständig auf ihre Tauglichkeit prüft und beurteilt. Ohne neues Leben und einen authentischen evangelischen Geist, ohne die Treue der Kirche zu ihrer eigenen Berufung, wird sich jede neue Struktur bald als unwirksam erweisen.“

Kritik an „geparkten Christen“

Von der Kurienreform, zu der nach Auffassung des Papstes auch eine künftige viel stärkere Einbeziehung von Nichteuropäern, Diakonen, Frauen und Laien gehören solle, spanne sich der Bogen zur Kirchenrefom als solcher, erläuterte Adura. Auch hier gehe es primär um persönliche Bekehrung im Sinne von Aufbrechen der Gewohnheiten und Bequemlichkeiten.

„Papst Franziskus greift dabei zurück – wie er es gewöhnlich tut – auf einfache und bildliche Ausdrücke, die sich auf „faule Christen, Christen, die nicht den Willen haben, vorwärts zu gehen, Christen, die nicht kämpfen, um die Dinge zu ändern, neue Dinge anzugehen, Dinge, die Gutes für alle bringen würden“, beziehen. Diese Christen, die nicht persönlich „reformiert“ werden können, sind geparkte Christen, sie haben in der Kirche einen komfortablen Platz gefunden, um zu parken. Und – so der Papst – „wenn ich Christen sage, spreche ich über Laien, Priester, Bischöfe, alle. Aber sie sind geparkte Christen. Für sie ist die Kirche ein Parkplatz, der ihr Leben schützt, und sie gehen nur mit einer Vollkaskoversicherung vorwärts“, schloss Ardura seine Ausführungen.

Die CIHEC wurde 1952 als internationale Organisation von Historikern und Theologen gegründet, die sich der Geschichte des Christentums über die Konfessionsgrenzen hinaus widmen. Die Kommission gehört dem Internationalen Komitee für Geschichtswissenschaften (CISH) an und hat 30 nationale Mitgliederverbände. Vorsitzender der Nationalkommission für Österreich ist seit 2007 der Wiener evangelische Kirchenhistoriker Prof. Wolfgang Wischmeyer. Planung, Organisation und Durchführung der Jahrestagung 2017 an der Universität Salzburg oblag dem Salzburger Kirchenhistoriker Roland Cerny-Werner.

(kap 16.06.2017 sk)

Was bedeutet Reform in der Kirche?

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Von Gerhard Kardinal Müller

Als „Reformation“ bezeichnet in einer großangelegten Studie der Oxforder Kirchenhistoriker Diarmaid MacCulloch die Epoche zwischen 1490-1700, als deren Ergebnis die religiöse und politische Zersplitterung der abendländischen Christenheit vor uns steht.[1] Je nach Standpunkt fällt die Bewertung dieser geschichtlichen Vorgänge unterschiedlich und gegensätzlich aus. Manche sehen ganz vom Inhalt des christlichen Glaubens ab und deuten die protestantische Reformation zusammen mit der katholischen Reform und Gegenreformation als Pluralisierungsprozess am Übergang des Mittelalters zur Neuzeit. Im Sinne eines linearen Fortschrittsglaubens wird die historische Reformation zum Vorläufer und Ideengeber einer Entwicklung, die sich in der Aufklärung und Neuzeit vollendet. Was aber ist das Wesen der Neuzeit: Der Mensch ohne Gott oder der Mensch im freien Gegenüber zu Gott? Die Reformation führt demnach unter Absehung ihres eigentlichen religiösen Anliegens letztlich zu einer säkularen Weltsicht, in der die religiöse Option überhaupt und die christliche speziell selbst nur eine unter vielen ist.[2] Somit wäre die Reformation nur der erste Schritt zu einer Selbstrelativierung der Wahrheit und des Heils, die mit der eschatologischen Selbstoffenbarung Gottes ein für allemal in die Welt eingetreten ist. Die Reformatoren wollten dagegen nicht den Weg zur einer Entchristlichung der Gesellschaft und einer Entkirchlichung der Christengemeinde bahnen. Sie wollten die Erneuerung der Kirche gemäß dem Evangelium, wie sie es verstanden. Damit traten sie zwar in einen Gegensatz zur katholischen Sicht auf Evangelium und Kirche, aber sie bildeten keine Koalition mit der beginnenden säkularen Kultur seit der Renaissance, wie die kulturprotestantische Interpretation des historischen Ereignisses der protestantischen Reformation und der Revolution gegen die katholische Kirche es wollte.

Darum sind die alten konträren und polemischen Charakterisierungen einer evangelischen Kirche des Evangeliums, der Freiheit, des Gewissens, des Wortes gegenüber der katholischen Kirche des Gesetzes, des Gehorsams, der Autorität und der Sakramente, wie sie aus einer oberflächlichen Interpretation der Gerechtigkeit aus dem Glauben oder den Werken stammen, der Sache nach hinfällig.

Die Christen aller Konfessionen sind aber trotz aller Kontroversen, was Lehre, Leben und Verfassung der Kirche angeht, eins im Glauben an die endgültige und unüberholbare Selbstmitteilung Gottes in seinem Wort, dem Sohn des Vaters, der unser Fleisch angenommen und durch seinen Tod am Kreuz und seine Auferstehung von den Toten das Reich Gottes für immer aufgerichtet hat. Unter diesem Gesichtspunkt verbindet das gemeinsame Bekenntnis zur Gottessohnschaft und der einzigen Heilsmittlerschaft Christi das katholische und das evangelische Christentum und trennt die Kirche nicht in eine vermeintlich mittelalterlich rückständige und eine vermeintlich mit der Moderne kompatible Form ihrer geschichtlichen Realisierung. Die Kirche als sakramentales Zeichen und Werkzeug der gekommenen und sich im kommenden Christus erfüllenden Gottesherrschaft kann durch die Mächte des Todes und des Bösen nicht überwältigt werden. So hat Jesus es seinen Jüngern mit Simon Petrus an der Spitze einst bei Cäsarea Philippi verheißen (vgl. Mt 16, 18). Wenn in Christus die Fülle der Zeiten gekommen ist, kann es über ihn hinaus nichts Neues geben, das ihn überholt oder das seine Botschaft veralten lässt. Die Kirche ist aber als der Leib Christi mit ihrem Haupt so eng verbunden, dass sie immer an seinem Leben Anteil hat und durch seinen Geist verlebendigt wird, so dass sie nie völlig von ihm abgetrennt werden kann, und sozusagen einer Neugeburt und Neustiftung bedürfte. „Denn Christus hat die Kirche geliebt und sich für sie dahingegeben, um sie durch das Wasser und durch das Wort rein und heilig zu machen“ (Eph 5, 25f). So wie die Ehe von Mann und Frau in Christus unauflösbar ist und trotz möglicher Krisen immer aus dem Quell der Liebe erneuert wird, so wendet sich Christus von der Kirche nicht ab trotz der Sünden und Verfehlungen ihrer Glieder. So wie der Ehemann mit seiner Frau ein Leib ist, so gilt auch von Christus, dem Haupt der Kirche, dass „er seinen eigenen Leib nicht hasst, sondern die Kirche nährt und pflegt, denn sie ist sein Leib“ (Eph 5,29). Reform bedeutet nicht Veränderung der von Christus seiner Kirche eingestifteten Lebensvollzüge in Martyria, Leiturgia und Diakonia, sondern Erneuerung der Glieder des Leibes Christi im Leben, das vom Haupt auf den Leib seiner Kirche übergeht. Reform ist kein Weg zurück ad fontes im Sinn des Humanismus und der Renaissance mit dem Überlegensheitsdünkel derer, die die griechischen, hebräischen und lateinischen Urtexte der Bibel, der Kirchenväter und der heidnischen Autoren der Antike philologisch sich besser aneignen konnten als ihre Vorfahren auf den Lehrstühlen oder gar als das gemeine Volk. Erneuerung in Christus ist ein Weg nach vorn – dem kommenden Herrn entgegen, damit wir wie die klugen Jungfrauen dem Bräutigam mit brennenden Lampen entgegengehen und zum Herrn in den Hochzeitssaal eintreten können (vgl. Mt 25,10).

Reform im theologischen Sinn hat nichts mit dem Mythos des Goldenen Zeitalters in grauer Vorzeit zu tun, das man wiederherstellen will. Auch jede Deutung der Kirchengeschichte nach dem Schema des Abfalls vom reinen Ursprung oder der bloß positiven Entfaltung nach vorne hin, scheitert am Glauben an die eschatologische Gegenwart des Heils in Christus und dem Wissen um die Dramatik von Welt- und Kirchengeschichte zwischen der civitas Dei und der civitas terrena. Christus ist das unvergängliche Licht Gottes in der Welt. Aber die Kirchengeschichte bewegt sich zwischen Licht und Schatten. „Die Kirche ’schreitet zwischen den Verfolgungen der Welt und den Tröstungen Gottes auf ihrem Pilgerweg dahin‘ und verkündet das Kreuz und den Tod des Herrn, bis er wiederkommt (vgl. 1 Kor 11,26). Von der Kraft des auferstandenen Herrn aber wird sie gestärkt, um ihre Trübsale und Mühen, innere gleichermaßen wie äußere, durch Geduld und Liebe zu besiegen und sein Mysterium, wenn auch schattenhaft, so doch getreu in der Welt zu enthüllen, bis es am Ende im vollen Lichte offenbar werden wird“ (LG 8). Auf die Frage der Gnostiker, was denn mit Christus unüberbietbar Neues gekommen sei, antwortete Irenäus von Lyon im 2. Jahrhundert: „Er hat nur Neues gebracht, indem er, der Angekündigte, sich selbst brachte, um den Menschen zu erneuern und zu beleben“.- Omnem novitatem attulit semetipsum afferens … quoniam novitas veniet innovatura et vivificatura hominem.[3]

Christus kann durch innerweltlichen Fortschritt in Wissenschaft, Technik und Gesellschaftsordnung weder überboten noch eingeholt werden. Die Fülle des Heils und der Wahrheit ist allen Menschen in Christus von Gott seinem Vater für immer vermittelt worden. Im Heiligen Geist wird die Kirche zu einer immer tieferen Einsicht in die geoffenbarte Wahrheit eingeführt. Darum gibt es trotz der Fülle der Zeiten, die in Christus verwirklicht worden ist, einen gemeinschaftlichen und individuellen Fortschritt und eine jeweils andere Form der Inkulturation des Christentums und damit das Entstehen neuer christlicher Kulturformen. Es handelt sich – der inkarnatorischen und sakramentalen Präsenz der Wahrheit und des Heils gemäß – nicht um eine mechanische Weitergabe, sondern um eine lebendige Tradition der apostolischen Lehre, die lebt und geistiges und geistliches Leben weckt. Das kirchliche Lehramt hat darum weder eine konservative noch eine innovative Funktion je für sich. Im Zusammenwirken beider zeigen sich vielmehr die Treue zur Endgültigkeit der Offenbarung und das Wachstum der Kirche im lebendigen Glauben ihrer Glieder. Das II. Vatikanische Konzil bringt dieses Spannungsgefüge auf den Punkt, wenn es in der Dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum erklärt: „Damit das Evangelium in der Kirche für immer unversehrt und lebendig bewahrt werde, haben die Apostel Bischöfe als ihre Nachfolger zurückgelassen und ihnen ihr ‚eigenes Lehramt überliefert‘ (Irenäus von Lyon, Adversus haer. II,3,1)… Diese apostolische Überlieferung kennt in der Kirche unter dem Beistand des Heiligen Geistes einen Progressus; es wächst das Verständnis der überlieferten Dinge und Worte durch das Nachsinnen und Studium der Gläubigen, die sie in ihrem Herzen erwägen (vgl. Lk 2,19.51), durch die innere Einsicht, die aus geistlicher Erfahrung stammt, durch die Verkündigung derer, die mit der Nachfolge im Bischofsamt das sichere Charisma der Wahrheit empfangen haben; denn die Kirche strebt im Gang der Jahrhunderte ständig der Fülle der göttlichen Wahrheit entgegen, bis an ihr sich Gottes Worte erfüllen.“ (DV 7u.8).

Nach der in den Worten Jesu begründeten katholischen Glaubensüberzeugung widerspricht eine Vielheit von entgegengesetzten Konfessionen der Einheit der Kirche in der geoffenbarten Wahrheit. Da die Kirche der Leib Christi ist, der von Christus selbst als Haupt dieses Leibes in den vielen Glieder zusammengehalten wird, kann es im Glauben und im sakramentalen Leben nur eine Kirche geben. Die Kirche ist „ein Geist und ein Leib“, und es gilt: „Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater, der über allem und durch alles und in allem ist“ (Eph 4,4ff).

Auch Martin Luther, Huldrych Zwingli und Jean Calvin, die diese historische Epoche der Reformation wesentlich beeinflusst und auf den Weg gebracht haben und darum als „Reformatoren“ bezeichnet werden, wollten keineswegs die Einheit der Kirche zugunsten einer Vielzahl von Konfessionen aufgeben. Ihr Ziel war die Reform und Erneuerung der bestehenden und von Christus in der Geschichte gestifteten Kirche im Geiste ihres göttlichen Gründers und ihres lebendigen Hauptes. Ihre Methode war die Reinigung der Kirche Christi von dogmatischen Irrtümern, die eine das Heil gefährdende Praxis von Missständen und Missbräuchen hervorgebracht hätten. Nicht die Verbesserung des moralischen und geistlichen Lebens und die Modernisierung der menschlichen Einrichtungen der Kirche (Universitäten, Armenpflege, Auswahl und Ausbildung der geeigneten Kandidaten für das geistliche Amt) und der Kampf gegen die Verweltlichung der Kirche war Anlass zur Trennung der Anhänger Luthers, Zwinglis und Calvins von der Kirche um den Papst und die Bischöfe, sondern die Behauptung, die Kirche habe im Glauben schwer geirrt und habe durch ein falsches Sakramentenverständnis das Heil der Gläubigen in die größte Gefahr gebracht, bedeutete den Wendepunkt von einer Reform in der Kirche zur Reformation, die eine andere Kirche hervorbrachte.

Hier stehen wir an dem Punkt, an dem katholisches und protestantisches Verständnis von Reform der Kirche auseinandergehen. Wenn die Kirche von der Offenbarung abfallen kann und allein die Heilige Schrift das Kriterium für die rechte Lehre und Praxis ist, dann gilt es, die Kirche dem Wort Gottes gemäß zu reinigen und zu reformieren in Lehre, Leben und Verfassung. Wenn aber – wie es katholische Lehre ist – die Kirche nicht von der Offenbarung abfallen kann, dann kann es Reform nur geben in der Gestalt der Erneuerung und der Vertiefung. Protestantisch gibt es eine Reformation der Kirche, also eine tiefgreifende Umformung der Kirche nach Gottes Wort. Katholisch dagegen gibt es nur eine Reform in der Kirche, indem Papst und Bischöfe, Priester und Ordensleute und alle Laien in ihrem Leben aufgerufen sind, ihrer Berufung besser zu entsprechen. Weil die Reformatoren überzeugt waren, dass die Kirche mit dem Papst und den Bischöfen an der Spitze in der zentralen Lehre von der Erlösung und der Rechtfertigung des Sünders vom Evangelium Christi abweiche, kamen sie zur Überzeugung von der Notwendigkeit einer Reformation und substantiellen Umformung der Kirche, die einer ganz anderen Kategorie von Reform angehört, wie sie bisher in der Kirche durchgeführt worden war.

Es sei erinnert an Reformen in der katholischen Kirche wie z.B. die karolingische Renaissance, die im Wesentlichen eine Reform der theologischen Bildungseinrichtungen bedeutete. Die Gregorianische Reform zielte auf die Befreiung der Kirche aus dem Korsett der Feudalgesellschaft und des Eigenkirchenwesens. Ihre Ziele waren der Kampf gegen Simonie, Laieninvestitur und für den Priesterzölibat. Es gab die großen Klosterreformen (Gorze, Cluny, Hirsau, Windsheim, Melk) und die neu entstehenden Orden, die einem spezifischen Charisma entsprachen und eine Antwort auf besondere Herausforderungen angesichts kirchlicher und gesellschaftlicher Wandlungsprozessen waren. Es sind bekannt die Reformen der Studienordnungen und Seminare nach dem Trienter Konzil. Wir kennen die Bischöfe, die dem Trienter Ideal des Hirten mit apostolischem Eifer entsprechen wollten (etwa Kardinal Carlo Borromäus von Mailand, Erzbischof Toribio von Mongrovejo; Kardinal Gregorio Barbarigo von Padua).

In den großen Ordensgründungen des hl. Dominikus und des hl. Franziskus ging es um die Erneuerung der apostolischen Predigt, eine angemessene Seelsorge in der aufstrebenden Stadtkultur und für die akademische Jugend, wie auch um das Lebensideal der evangelischen Armut und Demut. Im 19. und 20. Jahrhundert hat die Kirche mit neuen Orden und der Entwicklung ihrer Sozialllehre großartige Beispiele der Anpassungsfähigkeit ihrer Mentalität und Struktur gegeben.

Die Reformkonzilien des 15. Jahrhunderts versuchten, wenn auch weithin vergeblich, eine Reform der Kirche an Haupt und Gliedern. Für die entstehende antirömische Stimmung und die immer stärker werdenden Zweifel an der sichtbaren Kirche und ihrer sakramentalen Heilsvermittlung sind bezeichnend u.a. die häufig vorgebrachten Gravamina Germanicae nationis auf den Reichstagen, die insgesamt den Boden für die kirchliche Revolution des 16. Jahrhunderts bereiteten.

Die katholische Reform aufgrund des Trienter Konzils unterscheidet sich wesentlich von der Reformation, aus der die verschiedenen protestantischen Konfessionsverbände hervorgegangen sind, weil die katholische Kirche ihre Identität in der Lehre und in der sakramentalen Verfassung gewahrt hat. Aber es sind auch Verbindungen mit den aus der Reformation hervorgegangenen Gemeinschaften dadurch gegeben, dass es beiderseits um die Vertiefung der Frömmigkeit und um die Ernsthaftigkeit des sittlichen Lebens in der Nachfolge Christi geht.

Das Christentum insgesamt hat aber an Glaubwürdigkeit verloren durch die Religionskriege in England, Frankreich, der Schweiz und Deutschland wie auch die inhumane und unchristliche Verfolgung und Unterdrückung der Angehörigen der jeweils anderen Konfessionen wie auch schon vorher durch das gewaltsame Vorgehen gegen christliche Häretiker, gegenüber den jüdischen Mitbürgern und Menschen nichtchristlicher Religionen. Die Aufklärung stellte dem Christentum und allen auf die Transzendenz ausgerichteten Religionen eine Daseinsdeutung gegenüber, welche das Ziel menschlicher Existenz nicht mehr in Gott, sondern im innerweltlichen Glück sah. Von hier aus beginnt der Glaube an den Fortschritt hin zur Selbstvervollkommnung mittels der Wissenschaft und der idealen Gesellschaftskonstruktion. Dadurch soll der Glaube an die Erlösung durch Gottes Gnade ersetzt werden. Theonomie in Gottes Wort und Gebot wird gegen die sittliche Autonomie des menschlichen Subjekts ausgespielt. Man vergaß dabei allerdings, dass die Gnade Gottes uns nicht zur Passivität verdammt, sondern den freien Willen zur aktiven Mitwirkung am Kommen des Reiches Gottes befähigt. Denn die Gnade setzt die Natur in Vernunft und Freiheit voraus, vervollkommnet sie und zerstört sie nicht, wie schon Thomas von Aquin das Verhältnis des Geschöpfs zu seinem Herrn und Schöpfer auslegte.[4] Die Spannung zwischen dem Glauben an die Offenbarung und die Gnade als Grund des Heils aller und den innerweltlichen liberalistischen und sozialistischen Selbsterlösungsprogrammen wurde in den verschiedenen Formen eines Kulturchristentums zu mindern versucht.

Auch auf katholischer Seite wurde die Spannung zwischen dem überliefertem Glauben und der sog. modernen Welt empfunden. Unter „moderner Welt“ versteht man dann nicht nur einige technische Errungenschaften, die das praktische Leben erleichtern. Die moderne Kultur ist der Inbegriff all der Prinzipien und Leitbilder, die besonders dem katholischen Glauben und seiner kirchlichen Form entgegen gesetzt erscheinen: die Subjektivität, die Freiheit, die Autonomie des Gewissens und überhaupt das metaphysik-freie Weltbild des Empirismus und Positivismus. Der Syllabus (1864) mit den 80 von Papst Pius IX. verurteilten Irrtümern galt lange Zeit bei Freund und Feind als Synonym und Beweis für den unversöhnlichen Gegensatz zwischen dem katholischen Glauben und der modernen Welt. Der letzte verurteilte Satz dieses Dokuments lautete: „Der römische Papst kann und soll sich mit dem Fortschritt, mit dem Liberalismus und mit der modernen Kultur versöhnen und anfreunden“ (DH 2980).

Dabei ist allerdings zu bedenken, was die Vokabel der modernen liberalen Leit-Kultur meint, mit der sich der Papst als höchster Repräsentant des christlichen Offenbarungsglaubens anfreunden soll. Gemeint ist der Liberalismus, der allenfalls eine Immanenz-Religion in Form eine Kulturchristentums zulässt und sich im Übrigen der Staatsomnipotenz bedient, um alle Bürger gleichzuschalten und ihrem eigenen Erkenntnisparadigma zu unterwerfen. Die sogenannten Kulturkämpfe und Kirchenkämpfe im 19. und 20. Jahrhundert geben uns genügend Beispiele, welche Form von Toleranz und Gewissensfreiheit die Kirche von den Vertretern einer wissenschaftlichen Weltanschauung und Ideologie erwartet.

Albert Ehrhard als bedeutender Vertreter des sog. Reformkatholizismus hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegen die These u.a. Adolfs von Harnack von der Inkompatibilität der modernen Kultur mit der katholischen Kirche und sogar von der Kirche als Gegner und Hemmschuh des Fortschritts überzeugend die Kulturbedeutung des Katholizismus nachgewiesen.[5]

Gerade mit der Pastoralkonstitution Gaudium et spes über die Kirche in der Welt von heute hat das II. Vatikanische Konzil die positive und konstruktive Beziehung der Kirche zur Welt in ihrer immanenten Entwicklung und im transzendenten Ziel des Menschen in Gott dargestellt und somit die feindselige Gegenüberstellung von Kirche und Welt, wie sie vom weltanschaulichen Liberalismus des 19. Jahrhunderts und von den politischen Ideologien des 20. Jahrhunderts behauptet wurden, Lügen gestraft. Niemand mehr als die katholische Kirche hat mit ihrem Festhalten an der unveräußerlichen Menschenwürde, mit ihrer Soziallehre seit Papst Leo XIII. und jetzt in der Enzyklika Laudato sì von Papst Franziskus zur schöpfungstheologischen Ökologie für den Fortschritt der Menschheit im Guten entscheidende Weichen gestellt.

Dass die Kirche gegenüber einer innerweltlichen Fortschritts- und Selbsterlösungsideologie ihre Identität als von Gott eingesetztes Sakrament des Heils der Welt wahren muss und auf die tiefgründige Umformung unseres naturwissenschaftlichen und geschichtlichen Welt- und Menschenbildes hin immer neue theologische und lebenspraktische Synthesen von Glauben und Vernunft, von Gnade und Freiheit entwerfen muss, hat im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte auch zur innerkirchlichen Polarisierung und Parteibildung von sog. Liberalen und Progressiven einerseits und sog. Konservativen und Integralisten auf der anderen Seite geführt. Die hat allerdings verheerende Konsequenzen für die Mission und den Weltauftrage der Kirche.

Das hat auch zu einer Umbildung von Inhalt und Zielsetzung des Reformbegriffs innerhalb der katholischen Kirche geführt.

In allen historischen Formen der Kirchenreform ging es um die Erneuerung des Christseins und des kirchlichen Lebens und um eine Vertiefung des Glaubens und einer Erneuerung in Christus. Der Begriff „Reform“ kommt durch die Vulgata-Übersetzung des Römerbriefs in die kirchliche Terminologie hinein. Der Apostel fordert die Gläubigen in Rom auf, sich nicht dieser Welt anzugleichen (nolite conformari huic saeculo), sondern sich in seinem Denken sich zu reformieren und zu erneuern ( sed reformamini in novitate sensus vestri), „damit ihr prüfen und erkennen könnt, was Gottes Wille ist; was ihm gefällt, was gut und vollkommen ist“ (Röm 12,2).

Gegenwärtig versteht man unter den Reformen, die für notwendig gehalten werden, eher eine Verweltlichung der Kirche. Die nicht lebbaren Gebote Gottes sollen auf Ideale reduziert werden, die jeder nach seinem Wissen und Gewissen anstreben kann, aber keineswegs muss, um mit sich ins Reine zu kommen oder im irdischen Sinn sich glücklich zu fühlen. Die Kirche dient nicht mehr der Welt auf ihrem Weg zu Gott, sondern dient sich ihr an, damit sie sich als eine von vielen gesellschaftlichen Initiativen nützlich macht und somit ihr Existenzrecht unter Beweis stellt. Die Kirche ist nur noch eine Weltanschauung zur Kontingenzbewältigung und eine Agentur für soziales Engagement.

Die Kirche kann aber nicht einen ihr fremden politischen und weltanschaulichen Begriff von Reform übernehmen, weil sie eine Stiftung Gottes darstellt und nicht eine von Menschen geschaffene endliche und vergängliche Realität ist. Alles, was vom Menschen stammt, kann und muss an die sich ändernden Rahmenbedingungen angeglichen werden, damit es dem Menschen in der Familie, in der Nation, im sozialen und ökonomischen Bereich immer besser dient. Das Maß ist die Verwirklichung und Wahrung der Würde des Menschen. Eine Aufmerksamkeit für die „Zeichen der Zeit“ und eine Analyse der gegenwärtigen kulturellen und gesellschaftlichen Situation der Menschheit mit Hilfe auch der empirischen Wissenschaften bilden die Voraussetzung, damit die Kirche ihre Mission erfüllen kann. Sie ist von Christus in die ganze Welt und zu allen Menschen gesandt, damit sie im Licht Christi und der Kraft des Geistes Gottes jedem Menschen seine Berufung zur Erkenntnis Gottes und zum Leben aus seiner Gnade und Barmherzigkeit nahe bringt. So beschreibt es das II. Vatikanische Konzil in Gaudium et spes (GS 4-10).

Die Kirche als Schöpfung Gottes kann freilich nicht Gegenstand menschlicher Reformbemühungen sein. Wir können die Kirche nicht reformieren und umgestalten nach unserem Befinden und Gutdünken. Gott ist das Subjekt des Bundesvolkes, das er beruft. Gott stiftet in Christus die Kirche. Er selbst leitet sie als der gute Hirte und erfüllt sie mit seinem Geist und Leben. Nicht wir reformieren die Kirche Gottes und formen sie um nach unserem Bild und Gleichnis, sondern Gott reformiert uns, wenn wir uns in Christus erneuern lassen in unserem Denken und Handeln und ihm gleichförmig werden. Daraus ergibt sich die Verlebendigung der Kirche in den Grundvollzügen in Verkündigung und Seelsorge, in der Liturgie und der Caritas und den sozialen Diensten. Der Geist ist es, der Leben bringt, nicht der Buchstabe, d.h. die Lebenserneuerung in Christus gibt auch den Reformen der Struktur und Organisation eine positive Richtung. Deshalb kann der politisch gebrauchte Begriff vom Reformstau nicht auf die Kirche angewendet werden, ohne sie zu politisieren und zu verweltlichen. Es ist die Meinung weit verbreitet, man müsse nur den Priesterzölibat „abschaffen“ oder die viri probati einführen und schon gebe es keinen zahlenmäßigen Mangel an Priestern mehr. Man müsse nur Frauen zu den heiligen Weihen zulassen und schon kehre beim Thema „Kirche und Frau“ Ruhe ein. Man müsse nur die evangelischen Christen zur heiligen Kommunion einladen und schon sei die Einheit im Glauben hergestellt, wenn auch die Lehrgegensätze bleiben und die getrennt bleibenden Kirchen mit diesem sichtbaren Widerspruch zum Willen Christi ein Anti-Zeugnis von der vollen Gemeinschaft in der einen Kirche Christi ablegen. Man brauche nur an die Barmherzigkeit Jesu zu appellieren und schon hätten wir uns der Unauflöslichkeit der sakramentalen Ehe entledigt, die wir aber damit zu einer rein menschlichen Institution herabwürdigen und womit wir ihren Ursprung im göttlichen Bundeshandeln leugnen.

Das sind alles Operationen und Optionen, die mit ihrer Bezeichnung Reformen eine positive Konnotation für sich reklamieren, die aber mit den historischen Kirchen- und Klosterreformen und mit der Reform als Erneuerung in der unvergänglichen Neuheit Christi  nichts zu tun haben.

Die Formulierung Ecclesia semper reformanda stammt nicht, wie häufig angenommen, vom hl. Augustinus, sondern kommt aus dem Umfeld der reformierten Theologie im 17. Jahrhundert, genauer vom reformierten holländischen Theologen Jodocus van Lodenstein in seiner Schrift Contemplazione di Sion (Amsterdam 1674) und wurde noch von Karl Barth gerne benutzt. Nach katholischer Auffassung kann die Kirche in ihrem bischöflichen und päpstlichen Lehramt aufgrund der apostolischen Sukzession nicht in Gegensatz zum geoffenbarten Glauben in der Heiligen Schrift und in der Apostolischen Tradition geraten. Während die Kirche heilig ist und in den sakramentalen Mitteln der Heiligung immer des Beistandes Gottes gewiss sein kann, umfasst sie in ihren Gliedern von den Laien bis zu den Bischöfen auch Sünder in ihrem Schoß. Diese können durch persönliche Sünden, durch das Versagen in ihren Aufgaben oder das Unterlassen dringender Maßnahmen schuldig werden vor Gott und den Menschen. Darum ist die Kirche „zugleich heilig und stets der Reinigung bedürftig, sie geht immerfort den Weg der Buße und der Erneuerung“ (LG 8), wie das II. Vatikanische Konzil in der Dogmatischen Konstitution über die Kirche Lumen gentium erklärt.

Hier zeigt sich der Zusammenhang zwischen Kirchenreform und Ökumene. Wir müssen uns im Rückblick auf die unselige Aufsplitterung der abendländischen Christenheit fragen nach dem menschlichen Anteil und der gegenwärtigen Schuld an der Störung des ökumenischen Prozesses durch mangelnde Liebe, durch bequeme Verhärtung alter Vorurteile und durch den Vorrang des politischen vor dem theologischen Denken bei der Überwindung der Kontroversthemen. Im Dekret über den Ökumenismus hat das II. Vatikanische Konzil „die Bekehrung des Herzens und die Heiligkeit des Lebens“ als „die Seele der ganzen ökumenischen Bewegung“ (UR 8) bezeichnet. Erst in diesem Kontext vermag die Theologie bei der Annäherung in dogmatischen Fragen wichtige Hilfen zu bieten.

Und nur so kann die historische Reformation von 1517 etwas über eine rein historische Fragestellung hinaus Wichtiges beitragen für die Herausforderung an alle Christen, durch die Erneuerung in Christus und die Reform unseres Denkens und Handelns glaubwürdig Zeugnis zu geben von der Erlösung der Welt durch den stellvertretenden Sühnetod Jesu am Kreuz und seine Auferstehung von den Toten.

Wenn heute von der Reform der Kirche oder von den Reformen in der Kirche die Rede ist, stellt sich sofort die Frage , was wir tun können und machen sollen. Wir veranstalten einen Dialog, wir beauftragen eine Beraterfirma, die sich in der Wirtschaft bewährt hat und deren Rat im wahrsten Sinn des Wortes uns „lieb und teuer“ ist. Wir organisieren irgendeine Aktion in der Pfarrei und Diözese und gründen eine weitere Kommission. Die Orden arbeiten neue Statuten aus und die Theologieprofessoren organisieren Unterschriftenlisten für flammende Manifeste und folgenlose Aufrufe. Das alles ist zu pelagianisch gedacht. Man meint: Erst müssen wir etwas tun, damit wir etwas bei den Menschen erreichen und damit schließlich am Ende der Heilige Geist seinen Segen dazu gibt.

Der Apostel Paulus setzt aufgrund seiner Lehre vom Primat der Gnade vor dem Tun umgekehrt an: Nicht wir sollen uns der Welt angleichen. Der Mensch ist durch die Taufe Christus gleichförmig geworden und er kann dann von daher sein Leben als Weg der ständigen Nachfolge Christi gehen. Aus dem neuen Sein folgt das neue Denken und Handeln. Denn wir sollen unsere Denken examinieren und reformieren, damit wir Gottes Willen erkennen und, indem wir ihm gehorchen, gut und vollkommen werden.

Das muss sich auch auf den bisher kontroversen Begriff der Kirche als creatura verbi oder als sacramentum mundi beziehen.

Der bislang unüberbrückbare protestantisch-katholische Gegensatz zeigt sich nicht eigentlich in der Rechtfertigung aus Gnade allein, sondern im Kirchenbegriff. Denn es ist aus den Quellen des christlichen Glaubens in der gemeinsamen Heiligen Schrift evident, dass keinem Menschen die Erlösung subjektiv in der Rechtfertigung zuteilwerden kann durch eigenes Tun, wodurch dann der Sünder gleichsam zu seinem eigenen Erlöser würde. Aber der objektive Glaube an die Heilswirklichkeit in Christus darf auch nicht reduziert werden auf die subjektive Gewissheit, gerechtfertigt zu sein, denn dann wäre der Zustand meiner persönlichen Überzeugtheit wichtiger als das Faktum  der realen Erlösung in Christus. Denn zum Glauben als Vertrauen gehört auch die Erkenntnis Gottes und seiner Offenbarung in der Lehre der Kirche, gehört die Hoffnung als beständige Gnade zum Weitergehen auf dem Weg, der Christus ist, zum Ziel, das ebenfalls Christus ist, gehört auch die Liebe als das innerste Wesen und erreichte Ziel des Gottesverhältnis.

Worin der bis heute ungelöste Gegensatz besteht, ist nicht die Existenz und das Wesen der Kirche, sondern die Bedeutung ihrer sakramentalen Gestalt und Notwendigkeit der Heilsvermittlung. Daran schließen sich die Fragen nach den Sakramenten, dem Priestertum und der Lehrautorität nur konsequent an.

Für Luther ist die Kirche creatura verbi:„Denn die Kirche entspringet aus dem Wort der Verheißung durch den Glauben und wird eben mit demselben Wort der Verheißung ernähret und erhalten, d. i. sie wird durch die Verheißung Gottes und nicht die Verheißung durch sie gestiftet. Denn das Wort Gottes ist unvergleichlicher weise über der Kirche, über welches Wort Gottes die Kirche als Kreatur nicht Macht hat, etwas zu stiften, zu ordnen oder zu tun, sondern sie soll gestiftet, geordnet und gemacht werden.“[6]

Damit ist gesagt, dass sich die innere Kirche als Gemeinschaft der Heiligen, der Gerechtfertigten, die Gott alleine kennt, durch das Wort der Verheißung im Glauben bildet, die aber nur dort ist und sich manifestiert, wo das Wort und das Sakrament stiftungsgemäß gepredigt und verwaltet werden (CA 7). Etwas anderes ist es, wenn die äußere Kirchenordnung von der weltlichen Obrigkeit oder von den Mitgliedern einer Organisation geordnet wird. Diese institutionelle Zugehörigkeit zu einer Körperschaft hat keine heilsrelevante Bedeutung für die Rechtfertigung und damit für die Zugehörigkeit zur Kirche im eigentlichen und wahren Sinn, nämlich der Kirche als communio sanctorum, d. h. der wahrhaft im Glauben Gerechtfertigten, die Gott alleine kennt.

Die katholische Sicht auf die Kirche geht davon aus, dass wir nur durch die sichtbare Kirche mit ihrer verbindlichen Lehre, ihren sakramentalen Heilsmitteln und der Anerkennung ihrer von Christus im Heiligen Geist gestifteten apostolischen Verfassung und Ordnung zur Heilsgemeinschaft gelangen können.

Johann Adam Möhler bringt in seiner „Symbolik“ die Differenz auf den Begriff: „Die Katholiken lehren: die sichtbare Kirche ist zuerst, dann kommt die unsichtbare: jene bildet erst diese. Die Lutheraner sagen dagegen umgekehrt: aus der unsichtbaren geht die sichtbare hervor, und jene ist der Grund von dieser. In diesem scheinbar höchst unbedeutenden Gegensatze ist eine ungeheure Differenz ausgesprochen.“[7]

Luthers Kirchenverständnis ist nach Möhler nicht schlichtweg falsch, aber einseitig. Es muss also nicht in toto abgelehnt werden und kann auch als Korrektur für eine einseitig auf die sichtbare Gestalt der Kirche festgelegte katholische Ekklesiologie bewertet sein. Um die Heilsgewissheit nicht von geschaffenen Dingen und Menschen in der Kirche abhängig zu machen, lehnt Luther die Heilswirksamkeit der Sakramente ex opere operato, die heilsrelevante Verbindlichkeit und Unfehlbarkeit ihrer Konzilsentscheidungen und die geistliche Vollmacht des in der Ordination konsekrierten Priesters (character indelebilis) zur Darbringung des Messopfers ab. Denn er sieht in all dem die Gefahr, dass der Mensch statt durch den Glauben sich selbst durch menschliche Werke und Einrichtungen in das rechte Verhältnis zu Gott setzt. Das Geschaffene kann für ihn aber nie der Grund der Rechtfertigung des Sünders sein, sondern nur der der leiblichen Natur des Menschen gemäße Ort und Erscheinungsraum. Das Sichtbare dient nur der Vergewisserung dessen, was auf der Ebene der Unmittelbarkeit zwischen Gott und Mensch in der Korrelation von Verheißung Gottes und gnadengewirktem Glauben geschieht. Luther unterschätzt aber das in der Inkarnation begründete Grundgesetz der Heilsvermittlung, dass wir aufgrund unserer leiblichen, gesellschaftlichen und geschichtlichen Verfassung nur per visibilia ad invisibilia gelangen können. Wenn man die sichtbare und unsichtbare Kirche, göttliches Heil und die den Menschen anvertraute Vermittlung nicht dialektisch entgegensetzt, sondern im Licht des Inkarnationsmysteriums analog aufeinander bezieht − in Verbindung und Unterscheidung −, dann kann man mit dem II. Vatikanum das Anliegen Luthers aufgreifen und dennoch den katholischen Glauben frei von kontroverstheologischer Zuspitzung so ausdrücken:

„Der einzige Mittler Christus hat seine heilige Kirche, die Gemeinschaft des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe hier auf Erden als sichtbares Gefüge verfasst und trägt sie unablässig; so gießt er durch sie Wahrheit und Gnade auf alle aus. Die mit hierarchischen Organen ausgestattete Gesellschaft und der geheimnisvolle Leib Christi, die sichtbare Versammlung und die geistliche Gemeinschaft, die irdische Kirche und die mit himmlischen Gaben beschenkte Kirche sind nicht als zwei verschiedene Größen zu betrachten, sondern bilden eine einzige komplexe Wirklichkeit, die aus menschlichem und göttlichem Element zusammenwächst. Deshalb ist sie in einer nicht unbedeutenden Analogie dem Mysterium des fleischgewordenen Wortes ähnlich. Wie nämlich die angenommene Natur dem göttlichen Wort als lebendiges, ihm unlöslich geeintes Heilsorgan dient, so dient auf eine ganz ähnliche Weise das gesellschaftliche Gefüge der Kirche dem Geist Christi, der es belebt, zum Wachstum seines Leibes (vgl. Eph 4,16). Dies ist die einzige Kirche Christi, die wir im Glaubensbekenntnis als die eine, heilige, katholische und apostolische bekennen. Sie zu weiden, hat unser Erlöser nach seiner Auferstehung dem Petrus übertragen (Joh 21,17), ihm und den übrigen Aposteln hat er ihre Ausbreitung und Leitung anvertraut (vgl. Mt 28,18ff.), für immer hat er sie als ‚Säule und Feste der Wahrheit‘ errichtet (1 Tim 3,15). Diese Kirche, in dieser Welt als Gesellschaft verfasst und geordnet, ist verwirklicht in der katholischen Kirche, die vom Nachfolger Petri und von den Bischöfen in Gemeinschaft mit ihm geleitet wird. Das schließt nicht aus, dass außerhalb ihres Gefüges vielfältige Elemente der Heiligung und der Wahrheit zu finden sind, die als der Kirche Christi eigene Gaben auf die katholische Einheit hindrängen“ (LG 8).

Die katholische Kirche kann im exakt evangelisch-lutherischen Sinn nicht als die Kirche, sondern nur als eine kirchliche Gemeinschaft unter anderen anerkannt werden. Eine umfassende Einheit aller Christen in einer sichtbar-einen Kirche, wie sie sich, katholisch ausgedrückt, aus ihrer Sakramentalität als Folge des inkarnatorischen Charakters ihrer Stiftung ergibt, ist nicht heils-notwendig; wenn auch aus pragmatischen Gründen wünschbar („der Papst als Sprecher der Christenheit“, aber nicht als Zeuge Christi und darum immerwährendes Prinzip der Einheit der Kirche in Christus).[8] Deshalb könne „versöhnte Verschiedenheit“ bestehen trotz der Widersprüche im Bekenntnis und der Ordnung der manifesten Kirchengemeinschaften, wenn nur durch die Gemeinschaft in Predigt, Taufe und Abendmahl die Einheit mit Christus und damit die Gemeinschaft der Heiligen angezeigt ist.

In katholischem Sinn ist Kirche nicht ein Allgemeinbegriff, der konkreten Kirchengemeinschaften per definitionem zugesprochen oder abgestritten wird. Kirche ist immer die geschichtlich kontinuierlich existierende, an ihren Wesensmerkmalen identifizierbare Gemeinschaft, die ihren Ursprung auf Christus, das fleischgewordene Wort, zurückführt. Der Ausweis ihrer geschichtlichen Identität und Kontinuität gehört zu ihrem Wesen und macht darum die Kirche im eigentlichen Sinn aus.

Von daher definiert sie auch ihr Verhältnis zu anderen bischöflich verfassten Kirchen und nicht-bischöflich verfassten kirchlichen Gemeinschaften. Und sie sucht die volle Gemeinschaft durch die Wiederherstellung der Einheit im Glaubensbekenntnis, den wesentlichen sakramentalen Formen der Gottesverehrung und Heilsvermittlung und in der apostolischen Grundlage ihrer Lehrautorität. Das II. Vatikanum spricht ausdrücklich den ohne eigene Schuld nichtkatholischen Christen die gnadenhafte Einheit mit Christus in Glaube, Hoffnung und Liebe zu und spricht gerade auch den anderen kirchlichen Gemeinschaften, trotz der Differenzen im Verständnis und Umfang der Heilsmittel, den Rang eines Mediums des Heils zu (vgl. UR 3). Darum besteht auch auf der Ebene der Sichtbarkeit, besonders im Taufsakrament, noch eine Einheit der Kirche und eine sichtbare Gemeinschaft der Christen untereinander als Glieder des einen Leibes Christi, wenn auch die Communionicht vollständig ist und auf ihre volle sichtbare Einheit in der sakramentalen Kirche hinzielt.

Das katholische Verständnis von Ökumene und Kirchenreform hat weder die Herstellung des status quo ante 1520 im Blick noch kann sie das Paradigma eines geistesgeschichtlich notwendigen Pluralisierungsprozesses akzeptieren, der den status quo der institutionell und bekenntnismäßig verschiedenen Kirchentümer sich zu eigen macht, weil darin ein diametraler Widerspruch zum Willen Christi liegt, in dem die Einheit, Heiligkeit, Katholizität und Apostolizität der Kirche, deren Haupt er ist, dauernd gründet. Das Ziel ist nicht versöhnte Verschiedenheit − mit dem Ton auf der bleibenden Verschiedenheit −, sondern die Versöhnung der Gegensätze in einer tieferen Communio in Christus: Unus et totus Christus, caput et membra. Nachdem es die vielfältigen Bande der Einheit zu den nichtkatholischen Kirchen dankbar in Erinnerung gerufen hat, fährt das Konzil fort:

„So erweckt der Geist in allen Jüngern Christi Sehnsucht und Tat, dass alle in der von Christus angeordneten Weise in der einen Herde unter dem einen Hirten in Frieden geeint werden mögen. Um dies zu erlangen, betet, hofft und wirkt die Mutter Kirche unaufhörlich, ermahnt sie ihre Söhne zur Läuterung und Erneuerung, damit das Zeichen Christi auf dem Antlitz der Kirche klarer erstrahle“ (LG 15). Die Heilsmittel außerhalb der sichtbaren Communio dürfen ebenfalls nicht dazu verleiten, die volle Gemeinschaft der sichtbaren, institutionellen Kirche nicht mehr als Ziel der Ökumene zu betrachten – denn die Einheit der Kirche ist nach katholischem Verständnis nicht erst von Menschen durch Kompromisse und Verhandlungen zu errichten, sondern bereits konkret in der Einheit mit dem Papst und den Bischöfen verwirklicht. Dies betrifft die Vollständigkeit der Heilsmittel, aber nicht das spirituelle und moralische Leben der Katholiken, das in vorbildlicherer Weise bei nichtkatholischen Christen und in ihrer Gemeinschaft gegeben sein kann.

Indem Möhler die menschliche Schuld an der Trennung von Katholiken und Protestanten feststellt, beschwört er das Ziel der Ökumene: die Versöhnung der Christen und die Einheit der Kirche. „Dies ist auch die Stelle, auf welcher einst Katholiken und Protestanten in großen Massen begegnen und die Hände sich reichen werden. Beide müssen schuldbewusst ausrufen: Wir alle haben gesündigt, nur sie ist unbefleckt auf Erden. An dies offene Bekenntnis der gemeinsamen Schuld wird das Versöhnungsfest sich anschließen.“[9]

500 Jahre Reformation und Kirchenspaltung – kein Anlass zum protestantischen Triumphalismus und zur Erneuerung katholischer Inferioritätsgefühle. Bis 2017 sollten wir alle evangelischer und katholischer geworden sein im Sinn gemeinsamer Buße und Versöhnung und der Erneuerung in Christus.

Das ist die Reform der Kirche nicht durch uns, sondern in uns.

 

[1] Vgl. Diarmond MacCulloch, Die Reformation 1490-1700, München 2008.

[2] Vgl. dazu Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt a.M. 2009.

[3] Irenäus, Adversus haer. IV,34,1.

[4] Vgl. S.Th I, q. 8 ad 2.

[5] Vgl. Albert Ehrhard, Der Katholizismus und das zwanzigste Jahrhundert im Lichte der kirchlichen Entwicklung der Neuzeit, Stuttgart und Wien 1902.

[6] Martin Luther, De captivitate babylonica: WA 6,560.

[7] Möhler, Symbolik, §48.

[8] Vgl. CA 7, wo unter menschlichen Traditionen nicht sekundäre Ausprägungen verstanden, sondern die katholisch für heilsnotwendig gehaltenen Heilsmittel und die Sakramentalität der Kirche ausgeschlossen werden.

[9] Möhler, Symbolik, §37.

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