Simar: Dogmatik [1899]: Die Unfehlbarkeit des kirchlichen Lehramtes

C. Das Subjekt der lehramtlichen Unfehlbarkeit oder die Träger des unfehlbaren Lehramtes.

Wie bei der äußeren und inneren Organisation der Kirche überhaupt, so sind auch bei der Frage nach dem Subjekt (den Inhabern) der lehramtlichen Unfehlbarkeit die Anordnungen und Verheißungen Christi allein maßgebend. Es handelt sich hier um ein im freien Willen Gottes allein begründetes, aller menschlichen Bestimmung entrücktes übernatürliches Privilegium.

1. Der Episkopat in seiner von Christus ihm verliehenen Organisation ist der Träger des unfehlbaren Lehramtes, d.i. der Papst als Inhaber des Primats über die ganze Kirche und die Gesamtheit der Bischöfe in Verbindung mit dem Papst und in Unterordnung unter seinen Primat. Dieser Satz ergibt sich aus den Anordnungen und Verheißungen Christi bezüglich des kirchlichen Lehramtes. Er betraut das Apostelkollegium mit dem (für alle Zeiten bestimmten) kirchlichen Lehramt, nachdem zuvor schon Petrus mit dem Primat bekleidet worden war, und die Verheißung seines immerwährenden Beistandes richtet sich an das in solcher Weise organisierte, d.h. mit dem Primat verbundene und ihm untergeordnete Kollegium. Die den Aposteln verliehenen Aufträge und Verheißungen galten aber zugleich dem Episkopat als dem Erben und Nachfolger des Apostelkollegiums.

2. Die Verheißungen Christi bezüglich der lehramtlichen Unfehlbarkeit gelten nur dem rechtmäßigen Gebrauch des bischöflichen Lehramtes. Rechtmäßig ist aber nur der Gebrauch desselben, welcher der von Christus der Kirche verliehenen Verfassung entspricht. Letzteres ist auch für die Gläubigen das unentbehrliche Kriterium zur Unterscheidung der gültigen und bindenden Lehraussprüche. Hieraus ergibt sich der oben schon angedeutete Satz, dass der Episkopat nur dann als Träger des unfehlbaren Lehramtes anzusehen ist, wenn er in Unterordnung unter die höhere Autorität des Primates sich betätigt, möge er nun auf einem Konzil versammelt sein oder zerstreut das Lehramt ausüben. In beiden Fällen ist seine von Christus geordnete Stellung zum Primat wesentlich dieselbe (§ 134, 2). Es gilt demnach kein unfehlbares Lehramt der Bischöfe (weder ein magisterium ordinarium noch ein magisterium extraordninarium; siehe oben §  9, 2) ohne den Papst. Es können keine Glaubensentscheidungen der Bischöfe als unfehlbar und definitiv gelten, welche nicht die ausdrückliche oder stillschweigende Gutheißung des Papstes gefunden haben. Solche müssen aber auch als unfehlbar angesehen werden. Dies gilt insbesondere von den vom Papst approbierten Glaubensdekreten allgemeiner Konzilien. Ihre Unfehlbarkeit bestreiten hieße die Unfehlbarkeit des kirchlichen Lehramtes überhaupt leugnen.

3. Der römische Bischof ist allein unter allen Bischöfen der persönliche Amtsnachfolger eines Apostels in der ganzen Fülle der apostolischen Gewalten. Er ist der persönliche Nachfolger und Erbe des hl. Petrus in Bezug auf die volle und höchste Regierungsgewalt der ganzen Kirche gegenüber. Es eignet ihm also auch der Primat in Bezug auf das kirchliche Lehramt. Bei der Ausübung seines höchsten und universalen Lehramtes erfreut er sich mithin auch des göttlichen Beistandes, welcher dem kirchlichen Lehramt überhaupt und speziell dem hl. Petrus von Christus verheißen wurde. Durch diesen Beistand ist die Unfehlbarkeit seiner desfallsigen Lehrakte gesichert. Sie sind darum auch schon an und für sich unwiderruflich (ex sese irreformabiles). Es bedarf nicht erst der Zustimmung der Kirche, um ihnen jenen Charakter zu verleihen.

4. Da die höchste Lehrgewalt des Papstes (suprema magisterii potestas) gemäß der beständigen Überlieferung der Kirche und der Natur der Sache einen wesentlichen Bestandteil des Primates bildet, so sind alle Zeugnisse der Heiligen Schrift und der Tradition, welche die göttliche Einsetzung des Primates des römischen Bischofs dartun, ebenso viele direkte Beweise für die göttliche Einsetzung seines höchsten und universalen Lehramtes. Andererseits müssen sie als indirekte Beweise für die Unfehlbarkeit des päpstlichen Lehramtes gelten; denn die Verheißungen Christi waren ja an das von ihm für alle Zeiten eingesetzte Lehramt gerichtet (a). Deinen direkten biblischen Beweis hat die kirchliche Tradition, wie das Vaticanum andeutet, in der vom hl. Petrus bezüglich seines Glaubens zuteil gewordenen Verheißung und dem sich daran anschließenden Auftrag gefunden (b).

5. Der beständige Glaube der Kirche an den Lehrprimat des Papstes und die Unfehlbarkeit seines Lehramtes ist zunächst durch die Tatsache bezeugt, dass der Apostolische Stuhl zu allen Zeiten Lehrentscheidungen für die ganze Kirche gegeben und die Kirche sich denselben stets unterworfen, sie mithin als definitiv und irreformabel betrachtet hat (a). Von den heiligen Vätern wird die Notwendigkeit dieser Unterwerfung oder der Einheit des Glaubens mit dem Apostolischen Stuhl auch ausdrücklich aus dem Wesen des Primates abgeleitet oder durch den Hinweis auf denselben begründet (b). Auch wird die Indefektibilität des Glaubens der römischen Kirche oder der Nachfolger des hl. Petrus, d.i. die Unfehlbarkeit der von ihnen der Kirche gepredigten Lehre, direkt von ihnen bezeugt (c). In einmütiger Weise hat auch die spätere kirchliche Wissenschaft bis zum Anfang der neueren Zeit (14. und 15. Jahrhundert) die Unfehlbarkeit des päpstlichen Lehramtes verfochten (d).

Simar: Dogmatik [1899]: Die Unfehlbarkeit des kirchlichen Lehramtes

(Fortsetzung des 1. Beitrages)

B. Das Objekt oder der Umfang der lehramtlichen Unfehlbarkeit der Kirche

Als das Objekt, auf welches sich die Unfehlbarkeit des kirchlichen Lehramtes bezieht, nennt das Vaticanum die den Glauben und die Sitten betreffenden Lehren (doctrina de fide vel moribus; siehe § 140, 3). Wie dieser Ausdruck zu verstehen sei, ergibt sich teils aus sonstigen Lehrentscheidungen oder kirchlichen Urteilen, teils aus allgemein von der kirchlichen Wissenschaft angenommenen Sätzen, teils aus der Natur der Sache oder dem Zweck des kirchlichen Lehramtes. Es ist klar, dass das, was notwendig nach Gottes Absicht in den Bereich der kirchlichen Lehrverkündigung fällt und wofür demnach die Kirche gläubige Zustimmung von ihren Gliedern fordert, auch notwendig Objekt der Unfehlbakeit der Kirche sein müsse (siehe oben § 138, 1).

1. Das erste Objekt der unfehlbaren kirchlichen Lehrverkündigung (bzw. Lehrentscheidung) bildet hiernach das apostolische Glaubensdepositum selbst, d.h. die in der Heiligen Schrift oder in der Tradition direkt oder formell geoffenbarten Glaubens- und Sittenlehren (dogmata fidei vel morum), mögen sie nun an sich zum Gebiet der natürlichen oder der übernatürlichen Wahrheit gehören. Sie sind Gegenstand des sogen. göttlichen Glaubens (fides divina; siehe § 2, 2; 14, 3). Als ein zweites Objekt schließen sich hieran unmittelbar an die nur virtuell oder implizit geoffenbarten Wahrheiten, welche die Kirche aus formell geoffenbarten Sätzen durch logische Schlussfolgerung ableitet (conclusiones theologicae). Ferner die natürlichen nicht geoffenbarten Wahrheiten und Tatsachen, welche mit den geoffenbarten Glaubens- und Sittenlehren in einem derartigen inneren Zusammenhang stehen, dass die Reinheit und Unversehrtheit des kirchlichen Glaubens und Lebens durch sie bedingt ist (res ad integritatem fidei pertinentes; daher auch die sogen. censurae infra haeresim). Dahin gehören auch die sogen. facta docmatica (vgl. § 13). Dieses an zweiter Stelle beschriebene Gebiet ist Gegenstand der sogen. fides ecclesiastica (§ 14, 3).

Alle kirchlichen Theologen stimmen darin überein, dass die lehramtliche Unfehlbarkeit der Kirche sich auch auf das oben bezeichnete Gebiet nicht formell geoffenbarter Wahrheiten und Tatsachen erstrecke. Zur Begründung dieses Satzes weisen sie darauf hin, dass die Lehrtätigkeit der Kirche notwendig auch jenes Gebiet umfassen müsse, wenn der gottgewollte Zweck des kirchlichen Lehramtes vollkommen erfüllt werden soll (§ 13, 2); ferner darauf, dass die Kirche diese Unfehlbarkeit tatsächlich für sich in Anspruch nehme, indem sie auch für jenes Gebiet den Gehorsam des Glaubens oder der innerlichen Zustimmung von den Ihrigen fordert (vgl. die kirchlichen Lehrentscheidungen § 13, 3). Die beständige Tradition der Kirche bezüglich der facta dogmatica prägt sich tatsächlich aus in der durch alle Jahrhunderte hindurchgehenden lehramtlichen Beurteilung häretischer Lehren und Schriften sowie in der häufig vorkommenden Erscheinung, dass orthodoxe kirchliche Lehrer dem Apostolischen Stuhl ihre Schriften zur entscheidenden Prüfung ihres dogmatischen Inhaltes unterbreiten (siehe oben § 133, 4 b).

Kleutgen, Theol. der Vorzeit I, 144: „Würden die Verheißungen ihres göttlichen Stifters noch wahr sein, wenn die Kirche in den Entscheidungen, welche sie kraft ihres Lehramtes erlässt, dem Irrtum unterläge? Hat die Kirche Gewalt, nicht bloß jene Lehren, durch welche die geoffenbarte Wahrheit geradezu und ausdrücklich geleugnet wird, sondern auch diejenigen, welche ihr mittelbar widersprechen oder  wie immer mit ihr unvereinbar sind, zu verwerfen und zu verbieten: so ist auch die ganze Christenheit verpflichtet, dieselben mit ihr zu verwerfen und als schlechte Lehren zu meiden. Wenn also, was die Kirche für irrtümlich, folglich für solches erklärt, das mit der Glaubenslehre, wenn auch nur mittelbar, streitet, mit der Glaubenslehre vereinbar und daher nicht irrtümlich; wenn, was sie für falsch erklärt, wahr; wenn, was sie als den Glauben und die guten Sitten gefährend bezeichnet, eine gesunde und heilsame Lehre wäre, so würde die ganze Christenheit, und zwar gerade dadurch, dass sie der ihr Lehramt rechtmäßig übenden Kirche Gehör gäbe, in Irrtum geführt. Und wäre dann diese Kirche noch die Säule und Grundfeste der Wahrheit? Wäre sie noch das auf den Felsen gegründete Gebäude, welches die Mächte der Finsternis nicht zu erschüttern vermögen? Sie hat die Verheißung, dass der Geist Gottes sie alle Wahrheit lehren, in alle Wahrheit einführen werde: ist denn diese Verheißung nicht von all der Wahrheit zu verstehen, über welche sie uns belehren soll, und wir, um dem Zweck der Offenbarung zu entsprechen, der Belehrung bedürfen? … Es ist außer allem Zweifel, dass die Kirche ebensowohl in der Sittenlehre als in der Glaubenslehre unfehlbar ist. …  Nun aber enthalten die Entscheidungen, von denen wir reden, die Erklärung, dass es sündhaft sei, den Meinungen, welche in ihnen verworfen werden, anzuhangen. Denn, wie oben schon bemerkt wurde, die Kirche verbietet nicht bloß, dieselben vorzutragen, sondern verwirft sie und bezeichnet sie durch die Zensuren als solche, die wir aus Liebe und Hochschätzung der reinen Lehre des Glaubens meiden und fliehen sollen. Oder welchen anderen Sinn können jene Benennungen: sententia temeraria, scandalosa, de haeresi suspecta, haeresim sapiens u.s.w. haben? Verdiente also eine Meinung diese Benennung nicht, welche die Kirche ihr gibt, ja wäre dies derselbe Fall, als wenn ein Vertrag, den die Kirche für ungerecht erklärt, gerecht, oder eine sinnliche Handlung, die sie für unkeusch erklärt, keusch wäre.“

Ferner ist es einstimmige Lehre aller Theologen, dass die Unfehlbarkeit der Kirche in Bezug auf die formell geoffenbarten Glaubens- und Sittenlehre selbst auch direkt in der Offenbarung ausgesprochen sei (siehe oben S. 734 f.) und darum fide divina geglaubt werden müsse. Bezüglich des zweiten obengenannten Gebietes sind die Ansichten geteilt. Eine strengere Theorie (u.a. von Viva vertreten) behauptet, auch bezüglich dieses Gebietes sei die lehramtliche Unfehlbarkeit der Kirche fromell geoffenbart; sie müsse darum ebenfalls fide divina geglaubt werden; sie zu leugnen sei häretisch. Nach der zweiten, milderen Theorie (Lugo’s u.a.) ist es zwar formell geoffenbart, dass die Kirche unfehlbar sei in Bestimmung dessen, was Dogma im engeren Sinne und was Häresie sei; hingegen beruhe die Annahme ihrer Unfehlbarkeit in Bezug auf die übrigen in Rede stehenden Gebiete nur auf einer conclusio theologica. Sie sei daher unzweifelhaft als eine theologisch gewisse Lehre (veritas theologice certa; doctrina ecclesiasstica) festzuhalten; da sie jedoch nicht Gegenstand der fides divina sei, so wäre auch die Leugnung derselben nicht als Häresie, sondern als ein theologischer Irrtum (error in fide; siehe § 15, 2) zu bezeichnen.

2. Es ist ferner eine theologisch gewisse Lehre (veritas catholica), dass die Unfehlbarkeit der Kirche sich auch erstrecke auf die Kanonisation der Heiligen (a), die Approbation religiöser Ordensregeln (b) und die allgemeinen kirchlichen Disziplinarvorschriften (c). Nur von wenigen Theologen wurde dieser Satz bestritten. Hingegen wurde auch von einigen angenommen, die Unfehlbarkeit der Kirche in Bezug auf die genannten Punkte sei Gegenstand der fides divina oder ein Dogma im engeren Sinne. Im allgemeinen wird die Unfehlbarkeit der Kirche für das in Rede stehende Gebiet in ähnlicher Weise begründet wie in Bezug auf die früher (n. 1) bezeichneten nicht formell geoffenbarten Wahrheiten und Tatsachen.

a) Die Kanonisation ist das feierliche offizielle Urteil der Kirche (seit Alexander III. [1159-1181] ein Reservatrecht des Papstes), dass ein Verstorbener zu den Heiligen zu zählen und als solcher zu verehren sei, womit sich die Anordnung eines bestimmten kirchlichen Kultes verbindet. Die Unfehlbarkeit der Kirche in diesen Urteilen bedingt die Reinheit der kirchlichen Sittenlehre und die Integrität des inneren kirchlichen Lebens.

Auf die kirchlichen Beatifikationsurteile findet die obige Lehre von der Unfehlbarkeit der Kirche nach der fast allgemeinen Ansicht der Theologen keine Anwendung. In ihnen will die Kirche kein definitives, unabänderliches Urteil fällen; durch sie wird auch nicht die ganze Kirche zur Verehrung der Seliggesprochenen verpflichtet. Sie tragen vielmehr den Charakter eines Indultes an sich.

Doch nehmen auch wieder alle Theologen an, es sei temerär, in einem gegebenen Falle (ohne evidente, zwingende Gründe) zu behaupten, die Kirche habe tatsächlich in einem solchen Urteil geirrt. Bened. XIV. §. c. n. 9 Vgl. Al. Schmid a. a. O. S. 147.

Der in Rede stehende Glaube an die Unfehlbarkeit der Kirche bezüglich der Kanonisation der Heiligen ist keineswegs auch auf die in den liturgischen Büchern insbesondere dem Brevier, enthaltenen historischen Berichte oder Legenden über das Leben der Heiligen auszudehnen. Dies ist aus dem Grund nicht statthaft, weil die Kirche hier von ihrem unfehlbaren Lehramt durchaus keinen Gebrauch machen will. Jene Erzählungen nehmen nur den Glauben für sich in Anspruch, welchen historische Berichte überhaupt fordern. Es steht daher jedem frei, wofern er entscheidende Gründe dafür besitzt, deren Glaubwürdigkeit in geziemender Form zu bestreiten. Ohne solche Gründe dies zu tun, würde ebensosehr den Gesetzen der Wissenschaft wie der Ehrerbietung, die man der kirchlichen Überlieferung und den kirchlichen Vorgesetzten schuldet, widersprechen.

b) bezüglich der Approbation religiöser Orden unterscheidet man das kirchliche Urteil über die Orthodoxie und den sittlichen Charakter der Ordensregel und des Ordenszwecks und anderseits die Frage nach der Zweckmäßigkeit einer bestimmten Ordensstiftung oder nach der Opportunität der Gründung bzw. der Erhaltung oder Aufhebung eines Ordens. Das erstgenannte Urteil berührt unmittelbar die Glaubens- und Sittenlehre, mithin den Zweck des kirchlichen Lehr- und Hirtenamtes, und ist darum für die ganze Kirche von entscheidender Bedeutung. Aus diesen Gründen wird in Bezug auf dieses Urteil die Infallibilität der Kirche in dem gleichen Sinne allgemein angenommen wie bezüglich der facta dogmatica u.s.f. Die Lösung der zweiten Frage schließt nur ein Urteil über tatsächliche Verhältnisse oder Zeitbedürfnisse und über die tatsächliche Beziehung eines menschlichen Instituts zu denselben ein. Die kirchliche Glaubens- und Sittenlehre wird dadurch nicht berührt. Die Grundlage ihrer Lösung (die Zeitumstände, die sozialen Verhältnisse u.s.f.) ist auch an sich dem Wechsel unterworfen. Daher kann das Urteil der Kirche bezüglich dieser Frage nicht für alle Zeiten gültig und irreformabel sein. Die Unfehlbarkeit desselben ist aber auch an sich in keinem Zeitpunkt durch den Zweck der Kirche notwendig gefordert.

c) Unter kirchlicher Disziplin ist nicht die das natürliche und übernatürliche göttliche Gesetz umfassende Sittenlehre der Kirche zu verstehen; auch werden damit nicht die von Christus selbst für alle Zeiten getroffenen Anordnungen über das äußere Verhalten der Kirche in Kultus, Leben und Verfassung (disciplina iuris divini) bezeichnet. Diese wie jene gehören zum wesentlichen Gegenstand des göttlichen Glaubens und darum auch notwendig zum Bereich der Unfehlbarkeit der Kirche (siehe n. 1).

Unter kirchlicher Disziplin versteht man vielmehr die das äußere Verhalten der Gläubigen in Kultus und Leben regelnden Vorschriften der Kirche (disciplina iuris ecclesiastici), welche sie kraft ihrer göttlichen Sendung für die Gesamtheit der Gläubigen erlässt (Anordnung von Fastagen, Festen, Andachten u. dgl.).

Weil und insoweit solche Vorschriften der praktische Ausdruck einer Glaubenswahrheit oder eines Sittengesetzes sind, muss auch auf sie die Unfehlbarkeit der Kirche sich erstrecken. Das Gleiche gilt von allgemeinen kirchlichen Gewohnheiten, welche sich ausdrücklicher oder stillschweigender Gutheißung der Kirche erfreuen. Siehe n. 1.

Hinsichtlich der Opportunität kirchlichen Disziplinarmaßnahmen gilt dasselbe, was über die Approbation religiöser Orden bemerkt wurde (b). Über die Veränderlichkeit der kirchlichen Disziplin siehe § 6, 4. Bened. XIV., De Syn. dioec. IX, S. 1: ut aliqua constituio, licet plerisque orbis christiani dioecesibus utile,  allieni tamen provinciae aut peculiari dioecesi minus opportuna dignoscatur.

3. Die Unfehlbarkeit des kirchlichen Lehramtes erstreckt sich so weit, als es der von Gott gewollte Zweck desselben fordert, d.h. so weit, als es zur Reinerhaltung der Glaubens- und Sittenlehre und zum ewigen heile der Menschheit notwendig ist. Aus diesem Grunde bezieht sich dieselbe (im Unterschied von der Inspiration der biblischen Schriftsteller) nur auf die geoffenbarte Glaubens- und Sittenlehre und die anderen damit wesentlich zusammenhängenden Punkte, welche oben genannt wurden, nicht aber auf das Gebiet des rein profanen Wissens (a). Auch fallen nicht unter ihren Bereich sogen. partikuläre oder persönliche Tatsachen, wodurch der allgemeine Glaube und die Sittenlehre der Kirche prinzipiell nicht berührt werden, sowie bloß private (nur einzelne Personen oder Kirche betreffende) Disziplinarvorschriften oder richterliche Urteile (b). Endlich bezieht sich die Unfehlbarkeit der Kirche auch nicht auf die Beurteilung rein politischer Fragen und Tatsachen als solcher, d.h. abgesehen von ihrem sittlichen Charakter. Die Kirche hat auch niemals eine solche Beurteilung als ein göttliches Recht für sich in Anspruch genommen und letzteres demgemäß als ein unveräußerliches reklamiert, wenn es ihr vorenthalten wurde. Wo ihr in früheren Zeiten rein politische Befugnisse zugestanden wurden, war dies nur ein Ausfluss des menschlichen Rechtes (ius humanum), d.h. eine Frucht der natürlichen Entwicklung der staatlichen und völkerrechtlichen Verhältnisse unter dem Einfluss des christlichen Glaubens und der allgemeinen Glaubenseinheit (c). Zu den Wirkungen der Infallibilität gehört vor allem auch, dass die Kirche niemals willkürlich oder irrigerweise das Gebiet ihrer unfehlbaren Lehrgewalt über die von Gott ihr gezogenen Grenzen ausdehnen kann. Die desfallsige Grenzbestimmung ist schlechthin göttlichen Rechtes und gehört zu dem der Kirche unmittelbar von Gott anvertrauten Wahrheitsschatz. Sie ist darum auch vor allem Gegenstand der Infallibilität.

Daher hat auch die profane Wissenschaft, solange sie auf ihrem eigenen Gebiete sich bewegt und der geoffenbarten religiös-sittlichen Wahrheit nicht zu nahe tritt, keinerlei Einschränkung ihrer Freiheit und Selbständigkeit von der Kirche zu befürchten; vielmehr wünscht und fördert die Kirche allzeit den Fortschritt der Wissenschaften.

b) Nur für solche Tatsachen nimmt die Kirche die Unfehlbarkeit in Anspruch, welche eine allgemeine oder prinzipielle Bedeutung für die kirchliche Glaubens- und Sittenlehre besitzen (facta dogmatica universalia), nicht aber für rein private oder privatrechtliche Fragen. Das Gleiche gilt von bloß persönlichen Vorschriften und privatrechtlichen Urteilen.

Solche Vorschriften oder Urteile tragen den Charakter einer conclusio theologica an sich, deren eine Prämisse (die faktischen Verhältnisse) ungewiss ist oder doch Gegenstand des Irrtums und der Täuschung sein kann.

c) Über die historische Entwicklung des Verhältnisses zwischen der Kirche und den Staaten vgl. Philipps, Kirchenr. III, § 117-119. Lehrb. des Kirchenr. S. 1233 Hergenröther, Kath. Kirche und christl. Staat S. 1-372. Über die Frage nach der direkten und indirekten Gewalt der Kirche über das Zeitliche siehe ebd. S. 373 ff. Ebd. S. 417: „Dass diese Doktrin (von der direkten Gewalt der Kirche über das Zeitliche) ganz unhaltbar ist, haben die Theologen in ihrer entschiedenen Mehrzahl wohl eingesehen und weitläufig gezeigt (vgl. Bellarm., De Rom. Pont. V 2-4). Sie weisen darauf hin, dass, wenn auch Christus alle Gewalt besitzt im Himmel und auf Erden, und der Papst auch als sein Statthalter betrachtet werden muss, doch diese Statthalterschaft sich nur auf das religiöse Gebiet erstreckt und keine unumschränkte weltliche Herrschaft in sich schließt, wenn auch mit ihr eine weltliche Herrschaft in einem bestimmten Umkreis zweckmäßig verbunden ist. Die ungläubigen Fürsten gehören nicht zu den Schafen Christi (Joh. 21, 15 ff.), und überhaupt hat die Kirche über die Ungläubigen keine Jurisdiktion (1 Kor. 5, 12); sicher würde der Papst  auch nicht Heiden zu seinen Vikarien machen. Es hat derselbe auch nicht die Schlüssel der irdischen Reiche, sondern des Himmelreiches zu verwalten. Sodann haben die christlichen Herrscher durch die Annahme und Einführung des Christentums nicht ihre Herrschergewalt verloren; Christus, der himmlische Reiche verleiht, entreißt nicht die irdischen. Wäre der Papst allgemeiner Herrscher, so müssten auch die Bischöfe in ihren Städten und Diözesen überall Herrscher sein. Die praktischen Konsequenzen dieser Lehre zeigen ihre Absurdität. Die hierfür angeführten Stellen des kanonischen Rechtsbuches sind keineswegs beweisend, und die Päpste haben sich niemals eine solche Gewalt beigelegt, sondern sehr wohl die Juridiktion der weltlichen Fürsten anerkannt.“ Ebd. S. 421: „Weit zahlreicher sind die Vertreter dieses zweiten Systems (der bloß indirekten Gewalt), welches lehrt: direkt hat die Kirche nur eine geistliche Gewalt, keine weltliche; sie ist gesetzt zur Regierung der Gläubigen in der übernatürlichen Heilsordnung; ihr unterstehen an sich nur die religiösen Angelegenheiten, und in die weltlichen mischt sie sich nicht ein. Nur insofern das Zeitliche dem übernatürlichen Ziele entgegensteht oder zu dessen Erreichung notwendig ist, hat sich die Kirche um dasselbe zu bekümmern und ihre Macht zu äußern (Bellarm. 1. c. c. 6. 7). Sie hat die weltliche Gewalt da zurechtzuweisen, zu leiten und nötigenfalls zu strafen, wo sie von der rechten Bahn des göttlichen Rechtes abweicht, die Erreichung des übernatürlichen Zieles hindert, den Bestand der Religion und der Kirche gefährdet. … Diese indirekte Gewalt der Kirche über das Zeitliche ist keine weltliche, sondern eine geistliche Gewalt. Objekt derselben ist das Zeitliche nur, wenn und soweit es in die Religion eingreift und dmit aufhört, rein weltlich zu sein.“ Über das System der sogen. direktiven Gewalt siehe ebd. S. 448. Vgl. Leo XIII., Enzykl. Immortale Dei (1. Nov. 1885). Hammerstein S.J., De Ecclesia et Statu iuridice consideratis. Trevir. 1886.

(Fortsetzung folgt)

Simar: Dogmatik [1899]: Die Unfehlbarkeit des kirchlichen Lehramtes

A. Wesen, Zweck und Wirkungen der Unfehlbarkeit

1. Der Glaube ist der Anfang des menschlichen Heiles, die Grundlage und die Wurzel der Rechtfertigung und Heiligung. Aus diesem Grunde erscheint die Lehrgewalt als die fundamentalste aller kirchlichen Gewalten, ihre Wirksamkeit als die Voraussetzung der übrigen. Durch sie soll die von Gott geoffenbarte Wahrheit, das unerlässliche Mittel des menschlichen Heiles, allzeit unverfälscht bewahrt und allen Menschen dargeboten werden; den Glauben an diese Wahrheit soll die Kirche mit göttlicher Autorität gebieten, auftauchende Zweifel oder Streitigkeiten mit gleicher Autorität entscheiden (§ 7, 1).  Sie würde weder die eine noch die andere Aufgabe erfüllen können, wenn sie der Gefahr ausgesetzt wäre, in ihrer Lehrverkündigung auch nur im mindesten von der göttlich geoffenbarten Wahrheit abzuirren. Nur die von Christus ihr anvertrauten Wahrheiten allein, nicht aber menschliche Irrtümer oder Erfindungen, können Gegenstand des göttlichen, das Heil bedingenden Glaubens sein, und nur für die von Christus ihr anvertraute Heilslehre kann und darf sie den Glauben im Namen Gottes gebieten. Nur dann ist auch die rückhaltlose Unterwerfung unter ihre Autorität oder der Glaube selbst sittlich erlaubt, wenn es feststeht, dass sie denselben stets nur für die Wahrheit und niemals für den Irrtum fordern kann. Das Gleiche gilt in analoger Weise von dem geoffenbarten Sittengesetz.

Mit obigen Sätzen ist das Wesen der Unfehlbarkeit des kirchlichen Lehramtes sowie die in der Natur der Sache begründete Notwendigkeit derselben bereits bezeichnet. Sie besteht wesentlich darin, dass die Kirche bei Ausübung ihrer göttlichen Lehrgewalt niemals von der ursprünglichen apostolischen Glaubenshinterlage abirren, niemals eine geoffenbarte Wahrheit oder ein geoffenbartes christliches Lebensgesetz preisgeben, nie ein der Offenbarung fremdes oder ihr gar widersprechendes Element in ihre Sitten- und Glaubenspredigt aufnehmen kann. Der Zweck des kirchlichen Lehramtes, die Bestimmung der Kirche, Christi Stellvertreterin auf Erden zu sein, fordern diese Prärogative der Indefektibilität oder der Unfehlbarkeit des kirchlichen Lehramtes ganz unbedingt. Die Kirche ist ohne dieselbe nicht denkbar.

2. Christus selbst hat das kirchliche Lehramt eingesetzt. Er hat ihm den Auftrag erteilt, seine Offenbarung allen Völkern der Erde zu verkündigen und sie zum gläubigen Gehorsam gegen dieselbe zu verpflichten; zur Erfüllung dieser Aufgabe hat er demselben seinen Beistand bis zum Ende der Zeiten verheißen. Zuvor schon hatte er seinen Aposteln die Verheißung gegeben, er werde ihnen den Heiligen Geist senden, damit er sie in alle Wahrheit einführe und ewig bei ihnen bleibe. Hiermit hatte der Erlöser die beständige Fortdauer und die Unfehlbarkeit des kirchlichen Lehramtes verheißen und geweissagt, zugleich auch ihre wirkende Ursache bezeichnet. Die Apostel haben auf Grund jenes göttlichen Auftrages die christliche Heilslehre verkündigt und jede Fälschung derselben durch auftauchende Neuerungen mit allem Nachdruck bekämpft, die Kirche selbst aber wegen jener göttlichen Prärogative ihres Lehramtes eine „Säule und Grundfeste der Wahrheit“ genannt, ferner es als eine unschätzbare Gnade bezeichnet, dass die Glieder der Kirche durch das kirchliche Lehramt in der Einheit des Glaubens erhalten, vor den Schwankungen des Zweifels sowie vor dem unheilvollen Wirkungen des Irrtums beschützt und zum vollen Besitz und Genuss der Wahrheit geführt werden. In der Tradition wird das Dogma nicht bloß bezeugt, sondern auch in mannigfacher Weise aus dem Zusammenhang der Glaubenslehren begründet.

Die Glaubensentscheidungen der allgemeinen Konzilien werden als Aussprüche des Heiligen Geistes bezeichnet, welche an Ansehen der Heiligen Schrift gleichkommen. So heißt es von den Vätern des ersten Konzils von Nizäa, sie hätten in der Kraft des Heiligen Geistes geredet (Basil., Ep. 114. Cyr. Alex., Ep. 39), der Heilige Geist habe sie zusammengeführt, um die Häresie zu vernichten (Greg. Naz., Or. 21, 4). Vinc. Lir., Common. 43 )

Mit der Unfehlbarkeit des kirchlichen Lehramtes ist die Irreformabilität der kirchlichen Lehrentscheidungen notwendig gegeben; alle Glaubenszweifel und alle Lehrstreitigkeiten erhalten durch sie ihre definitive Erledigung. Daher gebraucht auch das Vaticanum I die Ausdrücke „infallibel“ und „irreformabel“ als gleichbedeutend.

3. Das Prinzip oder die wirkende Ursache der Unfehlbarkeit des kirchlichen Lehramtes ist sonach der Heilige Geist vermöge des Beistandes (assistentia), welchen er den Trägern desselben bei der Ausübung der kirchlichen Lehrgewalt leiht. Dieser Beistand bewirkt es, dass von dem kirchlichen Lehramt allzeit die ursprüngliche apostolische Glaubenshinterlage (depositum fidei apostolicae) unversehrt bewahrt, irrtumslos gelehrt und erklärt wird. Da zu einer solchen Lehrverkündigung nicht nur die irrtumslose Erkenntnis der Wahrheit, sondern auch der gute Wille, die Wahrheit unverfälscht zu lehren, erforderlich ist, so erstreckt sich jener Beistand des Heiligen Geistes ebensowohl auf die Erkenntnis als auf den Willen der lehrenden Kirche. Letztere wird durch jenen Beistand oder durch die Gabe (das Charisma) der Unfehlbarkeit nicht mit einem göttlichen Attribut ausgestattet, nicht sie selbst wird dadurch allwissend oder des Irrtums schlechthin unfähig, sondern der allwissende und irrtumsunfähige Geist Gottes bewirkt durch seinen Einfluss auf die an sich irrtumsfähigen menschlichen Geister, dass die kirchliche Lehrverkündigung vor jedem Irrtum bewahrt bleibt.

Die Gnade der Unfehlbarkeit ist daher auch nicht als eine Inspiration der lehrenden Kirche durch den Heiligen Geist aufzufassen, sofern man darunter eine direkte göttliche Mitteilung zuvor unbekannter Wahrheiten oder Tatsachen (revelatio) sich zu denken hätte. Jene Auffassung wäre aus einem doppelten Grunde irrig; einmal, weil die Aufgabe des kirchlichen Lehramtes nicht darin besteht, neue Offenbarungen von Gott zu empfangen und solche der Welt zu verkündigen, sondern vielmehr darin, die für immer abgeschlossene Heilsoffenbarung zu bewahren, zu verkündigen und auszulegen, sodann auch aus dem Grunde, weil der lehrenden Kirchen nur der Beistand (assistentia) des Heiligen Geistes, nicht aber die göttliche Inspiration oder Offenbarung der zu verkündigenden Wahrheit verheißen ist. Jene assistentia setzt aber ihrem Begriffe gemäß die eigene Tätigkeit oder Mitwirkung des Lehramtes zum Zwecke der Erkenntnis und Aussprache der Wahrheit als ein unerlässliches Moment voraus.

Als bloße assistentia divina (nicht revelatio oder inspiratio) setzt mithin die Gabe der Unfehlbarkeit auf seiten des Lehramtes den Gebrauch der natürlichen Mittel und Tätigkeiten zur Erhebung und Aussprache der Wahrheit voraus. Man kann auch sagen, dieselbe schließe den Gebrauch jener Mittel ein. Denn auch das gehört zu den Wirkungen jener Assistenz, dass die genannten natürlichen Mittel in genügender Weise bei den Tätigkeiten des unfehlbaren Lehramtes zur Anwendung kommen. Auch hierauf sind die Verheißungen, welche Christus dem Lehramte gab, zu beziehen. Wie den Zweck (die irrtumslose Lehrverkündigung), so müssen sie auch mit ihrer Wirksamkeit die zu jenem Zwecke unentbehrlichen Mittel umfassen.

Daher ist der Einwand unberechtigt, wenn die genannten menschlichen Mittel unentbehrlich seien, so bleibe die geoffenbarte Wahrheit doch schließlich wieder der Willkür und Gebrechlichkeit der Menschen überantwortet; denn es sei ja denkbar, dass die Träger des kirchlichen Lehramtes aus Unwissenheit oder Bosheit jene Mittel entweder gar nicht oder nicht in genügender Weise gebrauchen. Der Einwand übersieht, wie schon angedeutet wurde, dass Christus die Irrtumslosigkeit der kirchlichen Lehrverkündigung nicht etwa geboten, sondern verheißen hat; dass vermöge des höchsten leitenden Prinzips die Lehrverkündiung der Kirche niemals eine bloß natürliche oder menschliche Tätigkeit ist oder sein kann, und dass, wenn die göttliche Vorsehung irgend einen Zweck mit absoluter Gewissheit herbeiführen will, ihre Wirksamkeit auch die zu jenem Zwecke unerlässlichen Mittel mit umfasst. Auch darauf ist also der Einfluss des Heiligen Geistes auf das kirchliche Lehramt vor allem gerichtet, dass nicht unbegründete oder willkürliche Lehraussprüche erfolgen.

Wenn letzteres bezweifelt werden dürfte, so würden auch die kirchlichen Glaubensentscheidungen selbst keine unbedingte Gewissheit mehr besitzen; es ergäbe sich der widersprechende Begriff einer sogenannte bedingten Unfehlbarkeit und einer bedingten Glaubensregel, d.h. die Gläubigen wären nur bedingungsweise verpflichtet, die Lehrentscheidungen der Kirche als unfehlbar und als bindende Glaubensregel zu betrachten, mit dem bedingenden Vorbehalte nämlich, dass die in Rede stehenden natürlichen Mittel in genügendem Maße zur Anwendung gekommen seien. Welchen Wert aber könnte eine solche bedingte Glaubensregel besitzen? Wie könnte sie die Norm eines unbedingten Glaubens sein? Und wie könnte sie zu einem solchen Glauben verpflichten? Nicht der allein heilbringende zweifellose Glaube, sondern nur Zweifel, Ungewissheit und subjektives Belieben könnten aus einer solchen bedingten Glaubensregel entspringen. Wollte man aber entgegnen, die hörende Kirche oder die kirchliche Wissenschaft habe darüber zu befinden, ob die in Rede stehende Bedingung bei einer Lehrentscheidung erfüllt worden sei, so hieße das die unfehlbare und bindende Autorität in Glaubensfragen dem Lehramte absprechen, um sie auf die Gläubigen oder die Wissenschaft zu übertragen. Auch würde in der Regel die Frage vor allem eine unbedingte Lösung fordern und doch niemals finden, welche Wissenschaft oder welche Schule die entscheidende Autorität besitze.

Die Bürgschaft dafür, dass die notwendigen Bedingungen bei einer Lehrentscheidung erfüllt seien, liegt mithin in der Tatsache einer solchen Lehrentscheidung selbst. Wir wissen, dass sie unter der Leitung des Heiligen Geistes und auf ordnungsmäßigem Wege zustande kam, sobald wir sie als eine wirkliche und legitime (also vor allem auch freie) Entscheidung des von Gott gesetzten Lehramtes erkennen. Das für jeden Gläubigen mit Gewissheit wahrnehmbare Kriterium jener Legitimität ist aber in der göttlichen Verfassung der Kirche gegeben. Aus dieser ergibt sich mit unbedingter Gewissheit, welches die legitimen Träger des unfehlbaren Lehramtes seien. Sobald eine Glaubensentscheidung von ihnen ausgegangen und anerkannt ist, bietet sie der Kirche als solche die Bürgschaft der Unfehlbarkeit, der Übereinstimmung mit der Heiligen Schrift und der Tradition und aller sonstigen Bedingungen eines rechtmäßigen Ursprungs. Die Anwendung der menschlichen Mittel ist eine von Gott gewollte und (kraft der assistentia Spiritus Sancti) stets herbeigeführte Bedingung für das Zustandekommen legitimer kirchlicher Lehrentscheidungen, aber nicht ein (und zwar von der hörenden Kirche zu beurteilendes) Kriterium ihrer Gültigkeit und Unfehlbarkeit.

Endlich ergibt sich aus dem Begriffe des kirchlichen Lehramtes und seiner Unfehlbarkeit, dass die maßgebende Entscheidung darüber, ob eine Glaubensfrage spruchreif (definibilis) sei, d.h. die Entscheidung darüber, was die Quellen der Offenbarung über die betreffende Frage enthalten und ob dies mit genügender Sicherheit konstatiert sei, ausschließlich dem Lehramte zustehe. Denn das ist ja gerade der Zweck des Lehramtes und seiner Unfehlbarkeit, dass das Depositum der Offenbarung unversehrt bewahrt, verkündigt und ausgelegt werde. Hätte eine andere Autorität in der Kirche die obengenannte Frage zu entscheiden, so wäre sie und nicht das Lehramt die nächste Glaubensregel.

Der Beistand des Heiligen Geistes (assistentia Spiritus Sancti), welcher die Unfehlbarkeit des kirchlichen Lehramtes bewirkt, ist eine wesentlich übernatürliche Gnade wie die Inspiration der heiligen Schriftsteller; während aber letztere vermöge ihres außerordentlichen Charakters etwas Wunderbares genannt werden kann, bildet jener Beistand des Heiligen Geistes (bzw. die Unfehlbarkeit des Lehramtes) ein von Christus für alle Zeiten bestimmtes (ständiges) Moment der übernatürlichen Heilsordnung; darum wird sie im kirchlichen Sprachgebrauche nicht als ein Wunder bezeichnet.

Der nächste Zweck der Infallibilität wurde oben bereits hervorgehoben; es ist die Reinerhaltung der kirchlichen Lehre und die Unversehrtheit des kirchlichen Lebens; der entferntere Zweck derselben ist das ewige Heil der Gläubigen und die Ehre Gottes.

Ihre Wirkung ist ebenfalls eine doppelte: Die Reinheit oder Irrtumslosigkeit der kirchlichen Lehrverkündigung und die Unverfälschtheit oder Irrtumslosigkeit des dieser Lehrverkündigung entsprechenden und entstammenden Glaubens der Glieder der hörenden Kirche. In ersterer Beziehung nennt man dieselbe die aktive, in der zweiten Beziehung die passive Unfehlbarkeit. Diese passive Unfehlbarkeit ist teils eine Wirkung der kirchlichen Lehrverkündigung, teils, und vor allem, eine Wirkung der Glaubensgnade und des freiwilligen Gehorsams, kraft deren die Glieder der Kirche der Autorität des Lehramtes sich unterwerfen. Darum ist sie auch nicht absolut wirksam wie die aktive Unfehlbarkeit (bzw. die assistentia Spiritus Sancti).

4. Die vorstehend entwickelten Lehrsätze über das Wesen, den Zweck und die Wirkungen der Unfehlbarkeit hat das Vaticanum (I) ausdrücklich definiert mit besonderer Beziehung auf die feierlichen Entscheidungen des päpstlichen Lehramtes. Sie finden aber auf dieses eben aus dem Grunde unbedingte Anwendung, weil die Unfehlbarkeit des kirchlichen Lehramtes, wie das Konzil andeutet, schlechthin eine und dieselbe ist, möge es nun durch seinen höchsten Inhaber allein oder in einer anderen von Gott verordneten Form sich äußern. Sie gelten ebensowohl für das ordentliche wie für das außerordentliche Lehramt.

(2 Fortsetzungen folgen!)

Quelle: Lehrbuch der Dogmatik von Dr. Theophil Hubert Simar, Bischof von Paderborn, vierte, verbesserte Auflage, zweiter Band, mit Approbation des hochw. Herrn Erzbischofs von Freiburg; Freiburg im Breisgau, Herder’sche Verlagshandlung. 1899. (Seiten 733 bis 741)

Wenn Sie Französisch verstehen, lesen Sie hierzu auch:

L’INFAILLIBILITÉ DU MAGISTÈRE ORDINAIRE DU PAPE