Kunst als Weg zur Wahrheit

Schwester Rebecca Nazzaro mit einer Pilgergruppe in den Vatikanischen Gärten

Interview mit der Oberin der
Missionarinnen von der Göttlichen Offenbarung

»Das Kunstwerk, das an der Güte und Wahrheit Gottes teilhat, offenbart dem menschlichen Herzen die göttliche Schönheit. Sie trifft es wie ein Pfeil und richtet es auf das Gute aus«, so Schwester Rebecca Nazzaro, Generaloberin der Missionarinnen von der Göttlichen Offenbarung, einer von Mutter Prisca gegründeten, 2001 anerkannten Kongregation. Die Missionarinnen werden auch »grüne Schwestern« genannt, was auf die Farbe ihres Habits zurückzuführen ist. Die Kunst steht im Mittelpunkt ihrer missionarischen Berufung, aus der die Initiative »Katechese durch Kunst« hervorgegangen ist. Im Interview mit unserer Zeitung erklärt Schwester Rebecca, wie diese Mission entstanden ist, und spricht über den historischen Aspekt der Beziehung zwischen Kunst und christlichem Glauben.

In welchem Kontext sind die »Katechesen durch Kunst« entstanden und an wen richten sie sich?

Schwester Rebecca: Sie entstanden im Rahmen unseres Charismas, das sich der Evangelisierung und der Liebe zur Kirche widmet. Im Herzen dieser Kirche, im Glanz der Kathedrale Roms, St. Johann im Lateran, ist vor über zehn Jahren die Intuition einer Katechese durch die Kunst geboren worden. Denn im Museum der Lateranbasilika haben wir als Missionarinnen von der Göttlichen Offenbarung den Dienst des Pilgerempfangs übernommen. Es war im Mittelschiff der Kathedrale, als wir die narrative Ausdruckskraft der Kunst bewunderten, dass wir uns fragten, wie man all dies den Millionen von Pilgern vermitteln könnte, die jedes Jahr die Ewige Stadt besuchen. Wir haben uns gefragt, wie man dem künstlerischen Glanz dieser Stadt Ausdruck verleihen könnte. Wir haben uns darum gekümmert, die Spuren zu sammeln, die die Geschichte der Heiligen, der Märtyrer und des Glaubens dort hinterlassen haben. Wir wollten, dass die in den großen Meisterwerken der Kunst verborgene Schönheit unseres Glaubens hervortreten und uns auch heute belehren kann.

Da wir vom ursprünglichen Kontext weit entfernt sind, übersehen wir heute häufig den tiefen Grund, aus dem die großen Werke entstanden sind: um zu lehren und die christliche Botschaft weiterzugeben. Denn die Schönheit, deren ursprünglicher Ausdruck die Kunst ist, ist in das Herz des Menschen eingeschrieben. Unter diesem Blickwinkel ist die von Kunst geprägte Stadt Rom ein großartiges Terrain der Evangelisierung. Die Katechese durch Kunst ist nicht an bestimmte Adressaten gerichtet: An unseren Treffen nehmen Kinder, Erwachsene, ganze Familien teil –Menschen, die einen Weg des Glaubens gehen oder auch nicht. Wir möchten ihnen eine Gelegenheit geben, ihr Herz der Schönheit zu öffnen. Der Glanz der Werke so vieler Künstler bringt die Saiten des Herzens zum Klingen, und das ist nichts Anderes als die Verheißung Gottes an den Menschen, das unauslöschliche Zeichen dafür, dass wir ihn brauchen. Denn das Herz nimmt wahr, dass diese Werke das Licht und die Schönheit dessen widerspiegeln, der der Sinn der Welt, der Geschichte und des Lebens ist.

Jetzt gehören sie im Rahmen der Initiative »Wege der Kunst und des Glaubens« zu den offiziellen Führern in den Vatikanischen Museen und im Petersdom.

Schwester Rebecca: »Wege der Kunst und des Glaubens« gibt es seit September 2007 im Petersdom, als Kardinal Angelo Comastri, Präsident der Dombauhütte, unser Apostolat der Katechese durch Kunst in Rom kennengelernt hat. Er bat uns, den Text für den Audioguide zu verfassen, der den Millionen von Touristen und Pilgern angeboten wird, die jedes Jahr die Basilika besuchen. Der Text sollte eine geistliche Deutung der dort vorhandenen Kunstwerke vermitteln, denn es ist eine Kunst, die aus dem Glauben erblüht, von ihm spricht und ihm Anregungen gibt. Kurze Zeit später kam der Vorschlag, die mit den »Wegen der Kunst und des Glaubens« verbundenen Führungen, die nach Voranmeldung stattfinden, auch selbst durchzuführen, was derzeit fortgesetzt wird. Im Juni 2009 wurde das Jahr des Pries­ters ausgerufen und die Vatikanischen Museen hatten die Idee, Priestern und Seminaristen mit unserer Zusammenarbeit kostenlose Führungen anzubieten. Dasselbe geschah im Jahr des Glaubens (2012-2013) und im Jahr des geweihten Lebens (2015-2016).

Eine Schwester der Kongregation bei einer Führung in der Sixtinischen Kapelle

Das Christentum hat als »Religion des Bildes« im Vergleich zu den anderen ikonoklastischen Monotheismen eine besondere Beziehung zur Kunst. Wie inspiriert Sie diese Besonderheit in Ihrem Apostolat?

Schwester Rebecca: Das Apostolat der »Katechese durch Kunst« fügt sich ein in die zwei­tausendjährige Tradition der katholischen Kirche, denn von Anfang an hat das Christentum verstanden, dass die Weitergabe des Glaubens über den Weg der Kunst erfolgen kann. Das Geheimnis der Menschwerdung selbst verlangt dies und macht es möglich. Das alttestamentarische Bilderverbot – »Du sollst dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von irgendetwas am Himmel droben…« (Ex 20,2-5) – ist die Grundlage für die Bildlosigkeit des jüdischen und des muslimischen Monotheismus. Es ist unmöglich, die Transzendenz Gottes auf eine menschliche Gestalt zu reduzieren. Im Neuen Testament wird das Undenkbare offenbart: Das ewige Wort des Vaters nimmt im Schoß der seligen Jungfrau Maria Fleisch an. In der Person Jesu von Nazaret wohnt die Transzendenz in der Immanenz, die Universalität in der Partikularität, das Unendliche im Endlichen, die Ewigkeit in der Geschichte, so dass wir mit dem Apostel Paulus sagen können: »Christus ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes« (Kol 1,15).

Man könnte sagen, dass die Besonderheit der »Katechese durch Kunst« darin liegt, die Menschen zu erziehen, zu lehren und zu bilden, damit sie Bilder nicht »konsumieren«, sondern sich selbst vom künstlerischen Bild deuten lassen, das dem Wort Gottes Form und Sichtbarkeit zu verleihen wusste. In der Tradition der Kirche hat die Kunst niemals die Schönheit von der Suche nach der Wahrheit getrennt. Der christliche Künstler betrachtet sich als Handwerker im Dienst an der Gemeinschaft der Glaubenden. Nicht umsonst ist der heilige Joseph der Patron der Künstler, denn er hat dem Jesuskind nicht nur den Beruf des Handwerkers beigebracht, sondern er hat ihn auch in den sittlichen Tugenden erzogen. Das Kunstwerk wird zu einem Schatz des Glaubensgutes, der die Menschen in Gerechtigkeit und Wahrheit zu unterrichten, zu bilden und zu korrigieren weiß. Die Enzyklika Lumen fidei unterstreicht, dass Glauben auch Sehen bedeutet. Das Leben Christi erleuchtet das Leben jedes Menschen (vgl. Nr. 34). Deshalb ist die sakrale Kunst stark eingebunden in das Bemühen, die leibliche Wirklichkeit Christi sichtbar und der Betrachtung zugänglich zu machen.

Schönheit kann auch Synonym für Täuschung sein. Wie kann sie in diesem Fall ein bevorzugter Weg sein, um zur Wahrheit zu führen?

Schwester Rebecca: Schönheit wird zur Täuschung, wenn sie sich von Gott entfernt. Ursprünglich steht die Beziehung zwischen Gott und Mensch in der Wahrheit, aber seit der Erbsünde sind Blick und Herz des Menschen verletzt. Seine Augen blicken auf Menschen und Dinge aus der Perspektive des Herrschens und Kontrollierens. In seinem Herzen bewertet er alles unter dem Aspekt des persönlichen Nutzens und Genusses. Die Schönheit aber ist ein Königsweg, um den Menschen zur Wahrheit zu führen, wenn sie die Wiederherstellung der richtigen Beziehung zwischen Gott und Mensch zum Ziel hat. Das Kunstwerk, das an der Güte und Wahrheit Gottes teilhat, offenbart dem menschlichen Herzen seine Schönheit wie ein Pfeil, der durchbohrt und zum Guten hinlenkt. Der Künstler, der die Wahrheit Gottes im Glauben betrachtet, ist in der Lage, seinem Werk das Betrachtete einzuprägen.

Gibt es ein Kunstwerk, das im Hinblick auf das Evangelium von besonderer Tragweite ist?

Schwester Rebecca: Persönlich mache ich bei den Katechesen durch Kunst jedes Mal, wenn ich mit Besuchern vor der Pietà von Michelangelo im Petersdom betrachtend verweile, die Erfahrung jener Schönheit, die in der Lage ist, die Saiten des Herzens zum Klingen zu bringen. Die Pietà stellt die Mutter dar, die den Leib des Sohnes empfängt, nachdem er vom Kreuz abgenommen worden ist. Betrachten wir das Antlitz Marias: Sie ist jung, sehr viel jünger als der Sohn, weil sie unbefleckt ist, wie Michelangelo selbst gesagt hat. Ihr Blick liebkost das Antlitz Jesu, er ist ernst und voller Mitleid, erfüllt von Milde und Leid, sie beugt sich der Zustimmung, denn sie ist ganz vereint mit der im Kreuzesopfer vollzogenen Hingabe des Sohnes an den Vater. Maria fährt fort, den Leib des Sohnes darzubringen: Mit der linken Hand drückt sie ihn an sich und mit der rechten Hand bringt sie ihn dar. Es lässt mich an den Augenblick der eucharistischen Wandlung und an die Worte des Priesters denken, der die Worte Jesu spricht: »Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird.«

Planen Sie auch etwas Neues, gibt es neue Perspektiven?

Schwester Rebecca: Sicher! »Katechese durch Kunst« befindet sich in beständigem Ausbau. Vor einigen Monaten haben wir »Wege der Kunst und des Glaubens« auch in der Basilika Santa Maria Maggiore begonnen, wo wir jeden letzten Samstag im Monat Führungen in drei Sprachen anbieten: auf Italienisch, Englisch und Spanisch. Dann gibt es unsere Volksmissionen in verschiedenen Regionen Italiens und im Ausland (Mexiko, England, Texas), wo wir auf Einladung einiger Diözesen Fortbildungen in »Katechese durch Kunst« für Katechisten und Mitarbeiter in der Evangelisierung organisieren. Wir nennen sie scherzhaft »Katechese durch Kunst auf Dienst­reise«. Wir sind dabei unser Evangelisierungsprojekt im Internet auf unserer Website www.divinarivelazione.org weiterzuentwickeln.

Von Solène Tadié (Orig. ital. in O.R. 20.1.2017)