Ein Auszug aus dem Buch von Kardinal Stanislaw Dziwisz:
Mein Leben mit dem Papst – Johannes Paul II. wie er wirklich war:
Der Fall der Mauer
Jetzt kommen wir in „das unglaubliche Jahr 1989″.
Johannes Paul II. hatte sich das nicht erwartet. Ja, gewiss, er war der Auffassung, dass jenes „System“ früher oder später zum Scheitern verurteilt sein würde, da es sozial ungerecht und ökonomisch nicht effizient war. Doch die Sowjetunion war immer noch eine geopolitische, mit Atomwaffen ausgerüstete Weltmacht. Da der Heilige Vater sich nicht als Prophet sah, wie er im Scherz zu sagen pflegte, erwartete er nicht, dass es zu einem so schnellen Zusammenbruch des Kommunismus kommen würde. Vor allem hatte er nicht damit gerechnet, dass die Befreiung in so kurzer Zeit ohne Blutvergießen erfolgen könnte.
Was am meisten überraschte, war die Art und Weise, wie sich alles vollzog. Abgesehen von den Vorgängen in Rumänien – dort allerdings wegen einer internen Begleichung von Rechnungen an der Macht befindlicher kommunistischer Gruppen – handelte es sich um eine friedliche Revolution. Sie brach fast gleichzeitig in allen Hauptstädten des Ostblocks aus: in Ost-Berlin, Budapest, Warschau, Prag, Sofia, Bukarest und in gewissem Maße auch in Moskau.
Es schien also sehr unwahrscheinlich – im Gegensatz zur oberflächlichen Deutung, die damals jemand glaubhaft zu machen versuchte -, dass der „neue“ Kreml des Michail Gorbatschow jenseits seiner unbestrittenen Verdienste diese Wende gelenkt und auf die Gleise der Gewaltlosigkeit, eines Übergangs ohne Blutvergießen geführt hat. Ursächlich war hingegen der Druck seitens der Volksmassen, die vom nicht unterdrückbaren Freiheitsdurst motiviert waren. Sie hatten mittlerweile jede Hoffnung auf diejenigen aufgegeben, die das Paradies auf Erden versprochen hatten.
Der Heilige Vater betrachtete sie als eine der größten Revolutionen der Geschichte. Da er sie in der Dimension des Glaubens interpretierte, sah er sie als ein Eingreifen Gottes, als eine Gnade. Für ihn stand der Zusammenbruch des Kommunismus und die Befreiung der Nationen vom Joch des marxistischen Totalitarismus zweifelsfrei im Zusammenhang mit den Offenbarungen von Fatima. Die Welt und in besonderer Weise Russland sollten der Gottesmutter anvertraut werden, worum sie selbst den Papst und die Kirche gebeten hatte: „Wenn man auf meine Wünsche hört, wird Russland sich bekehren, und es wird Friede sein; wenn nicht, dann wird es seine Irrlehren über die Welt verbreiten …“, so hieß es in den ersten beiden Teilen der Offenbarungen. Deshalb hatte Johannes Paul II. am 25. März 1984 auf dem Petersplatz vor der Statue der Gottesmutter, die eigens von Fatima gebracht worden war, geistlich vereint mit allen Bischöfen der Welt, den Akt der Weihe an Maria vollzogen, ohne Russland ausdrücklich zu nennen, aber deutlich auf jene Nationen anspielend, die „dessen in besonderer Weise bedürfen“.
Auf diesem Wege war der Wunsch der Gottesmutter erfüllt worden. Von dem Zeitpunkt an waren die ersten Auflösungserscheinungen in der kommunistischen Welt festzustellen.
Das ist nicht nur meine Meinung, sondern auch die vieler Bischöfe aus den Ländern des Ostens.
Man muss die Zeichen der Zeit zu deuten verstehen.
Tatsächlich ist der Untergang des Kommunismus auf das Scheitern seiner politischen und ideologischen Konzeption, seines Sozialsystems und vor allem seiner Planwirtschaft zurückzuführen. Aber es ist gleichwohl wahr, dass es sich noch vorher – wie Karol Wojtyta das in seiner Enzyklika Centesimus annus schrieb – um ein Scheitern geistlichen Ranges handelte. Es war auf die dem Himmel trotzende Annahme zurückzuführen, eine neue Welt und einen neuen Menschen schaffen zu können, indem man Gott in dieser Welt und im Gewissen des Menschen auslöschte.
Eine erste aufsehenerregende Bestätigung erfolgte nicht einmal einen Monat nach dem Fall der Mauer. 70 Jahre nach der Oktoberrevolution kam zum ersten Mal ein Präsident und zugleich Parteisekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion in den Vatikan. Begleitet war er – eine leichte Ironie der Geschichte – nicht von Kosaken, die ihre Pferde an den Brunnen des Petersplatzes hätten tränken müssen, sondern von der Bürde einer ideologischen Niederlage.
Es war das Ende eines langen dramatischen Konflikts zwischen der größten religiösen Institution der Welt und der größten Versuchung, die es in der gesamten Geschichte gegeben hat, den Menschen das atheistische „Credo“ aufzuzwingen.
Mehr oder weniger vollzog sich die allererste Begegnung zwischen dem Papst und Gorbatschow, während sie einen langen Händedruck austauschten, in folgender Weise:
Johannes Paul: „Willkommen. Ich freue mich sehr, Sie kennen zu lernen.“ (in russischer Sprache)
Gorbatschow: „Aber wir hatten bereits mehrfach Kontakt …“ (er bezog sich auf seinen Briefwechsel mit dem Papst) Johannes Paul II.: „Ja, ja, auf dem Papier. Aber wir müssen noch miteinander sprechen.“ (Da er nicht die Worte fand, sprach er auf Italienisch, und der Dolmetscher übersetzte.) An dem Punkt traten sie in die Privatbibliothek und setzten sich an den Schreibtisch einander gegenüber.
Johannes Paul: „Herr Präsident, ich habe diese Begegnung durch Gebet vorbereitet …“
Die Antwort von Gorbatschow darauf teilte der Papst wenige Wochen später in einem Flugzeug im Gespräch Journalisten mit: „Mein Gesprächspartner war sehr angetan hinsichtlich des Gebetes des Papstes. Er sagte mir, das Gebet sei sicherlich ein Zeichen der Ordnung, der geistlichen Werte und dass wir solche Werte sehr brauchen …“
Dadurch wird verständlich, weshalb das eine historische Begegnung war, eines der großen Zeichen des Wandels der Geschichte. Gorbatschow unterstützte nicht nur die Bedeutung der geistlichen Dimension in der menschlichen Person und ihres positiven Einflusses auf das zivile Leben, sondern zeigte sich in besonderer Weise an den päpstlichen Dokumenten bezüglich der Soziallehre der Kirche interessiert.
Der Präsident der Sowjetunion bekräftigte im Bezug auf die Situation in seinem Land mit voller Überzeugung, dass man nicht so weitermachen könne wie bisher. Nach meinem Eindruck dachte Gorbatschow jedoch in diesem Augenblick nicht an tiefgreifende Veränderungen, wie sie sich dann in der ehemaligen UdSSR vollzogen. Er meinte eher äußerliche Änderungen im Bezug auf Transparenz und Freiheit, die der Perestrojka eigen waren, mit anderen Worten: ein Kommunismus mit menschlichem Antlitz. Aber er dachte nicht daran, den Marxismus von innen her zu verändern …
Wenn der Besuch des Führers der Sowjetunion im Vatikan schon seine Bedeutung an sich hatte, so waren gleichzeitig seine Worte von Bedeutung: „All das, was in Osteuropa in diesen letzten Jahren geschehen ist, wäre nicht möglich gewesen ohne die Präsenz dieses Papstes, ohne die große Rolle, die er auch in politischer Hinsicht auf der Weltbühne zu spielen wusste.“
Das war eine ausdrückliche Anerkennung für Johannes Paul II. Doch ohne daran zu denken oder vielleicht ohne es eingestehen zu wollen, war das auch eine Anerkennung für die Kirchen (nicht nur die katholische), die mit ihrem Schmerz, mit ihrem Martyrium und dann mit ihrem Widerstand gegen den Staatsatheismus die Hoffnung von Millionen von Männern und Frauen genährt hatten, wieder die Freiheit zurückzuerlangen.
Indem der Papst dem Weg folgte, der von ganzen Völkern beschritten worden war, machte er sich ideell auf den gleichen „Pilgerweg zur Freiheit“. Zunächst reiste er in die Tschechoslowakei, das kommunistische Land, das wahrscheinlich hinsichtlich der christlichen Botschaft am verschlossensten war und Johannes Paul II. gegenüber am feindlichsten gesinnt war.
Präsident Vaclav Havel konnte bei der Begrüßung des Heiligen Vaters die außerordentliche historische Bedeutung dieses Besuches nicht besser zum Ausdruck bringen, als er von einem „Wunder“ sprach. Sechs Monate vorher befand sich Havel, der als Staatsfeind verhaftet worden war, noch im Gefängnis. Jetzt hingegen richtete er seinen Willkommensgruß an den ersten slawischen Papst, an den ersten Papst, der seinen Fuß auf den Boden dieses Landes setzte. Diese „Wunder“, so könnte man sagen, hatte ebenfalls im Petersdom begonnen, als Agnes von Böhmen am 12. November des Vorjahres heiliggesprochen wurde. Zu dem Anlass waren aus der Heimat und dem Ausland mindestens 10.000 Tschechoslowaken angereist. Sie entdeckten, dass sie vereint stark waren und keine Angst mehr hatten. Der Papst sagte ihnen: „Eure Pilgerreise darf heute nicht enden. Sie muss weitergehen …“ Und diese Pilgerreise ging weiter, bis sie in die „Samtene Revolution“ einmündete in den zehn Tagen, die die tschechoslowakische Geschichte veränderten. Das war fast wie ein zweiter „Prager Frühling“.
Das Diktat von Jalta war aufgehoben, Europa nicht mehr zweigeteilt. Den Eisernen Vorhang gab es nicht mehr. Auch der Kalte Krieg war beendet. Indes aber kamen die immensen Schäden ans Licht, die durch so viele Jahre Marxismus verursacht worden waren.
Es war wirklich eine „menschliche Katastrophe“, wie gesagt wurde. Die Menschen, die einen so langen Winter des Totalitarismus überstanden hatten, schienen fast unfähig, sich bewusst zu werden, dass sie endlich frei waren. Während im Osten das schwer lastende „Erbe“ des Kommunismus fortdauerte, kam vom Westen her das „Modell“ einer säkularisierten‘ Gesellschaft, die vom Konsumismus, vor allem aber von einem praktischen Materialismus verseucht war, der eine Tabula rasa für die Werte des Menschen und des Lebens geschaffen hatte.
Als Johannes Paul II. im Juni 1991 nach Polen zurückkehrte, konnte er endlich den Übergang vom Totalitarismus zur Demokratie begrüßen. Zur gleichen Zeit musste er erfahren, wie schwer es für diejenigen war, die lange Zeit der Freiheit beraubt gewesen waren, jetzt vernünftigen Gebrauch davon zu machen. Im Übrigen hatte, wie sein Nachfolger in Krakau, Kardinal Franciszek Macharski, bemerkte, auch die Kirche zu „lernen“, ihre eigene Sendung zu erfüllen und sich dabei nicht mehr täglich mit einem diktatorischen Regime auseinandersetzen zu müssen, sondern in einer Situation der Freiheit und des kulturellen und politischen Pluralismus zu leben.
Als Thema für seine Predigten wählte der Heilige Vater den Dekalog und das Gebot der Liebe, das heißt, geistliche Erneuerung als unabdingbare Voraussetzung für jede Veränderung, für jedes soziale Engagement. Die moralische Dimension als Fundament jeder Demokratie. Am Schluss sagte er vertraulich im Gespräch: „Nicht von allen sind diese Ansprachen gut aufgenommen worden.“ Was aber den Papst am meisten schmerzte, geschah zwei Jahre später, als die ehemaligen Kommunisten in Polen die Wahlen gewannen. Nachdem die Menschen die Freiheit wiedererlangt hatten, hatten sie – demokratisch – die marxistische Linke gewählt. Diese Wahl war keine Option für den Marxismus, sondern eine kritische Haltung gegenüber dem kapitalistischen Regime und der freien Markwirtschaft. Viele Menschen, die auf dieses neue Lebenssystem nicht vorbereitet waren, hatten darunter gelitten und große Opfer auf sich nehmen müssen. So hatten vor allem sehr unbedarfte Leute begonnen zu sagen, es sei ihnen vorher besser gegangen.
Ja, fast alle ehemaligen kommunistischen Länder durchlebten eine schwierige Zeit. Sie war unvermeidlich schwer, da es eine Phase des Übergangs und der Neuordnung war. Doch das war eine Chance, die man sich nicht entgehen lassen durfte. Es war eine einzigartige Chance, den Lauf der Geschichte und die Beziehungen zwischen den Nationen zu verändern und endlich die schlimmen Kapitel zu beenden, die von zwei totalitären Systemen geschrieben worden waren, die nacheinander versucht hatten, die Freiheit und den christlichen Geist Europas abzuwürgen.
Es konnte deshalb kein symbolkräftigeres Bild geben als die Anwesenheit von Johannes Paul II. und Bundeskanzler Kohl am 23. Juni 1996 am Brandenburger Tor in Berlin. Ein Tor – daran erinnerte der Papst -, das von zwei deutschen Diktaturen „besetzt“ worden war, zuerst von den Nazis und dann von den Kommunisten, die es sogar in eine Mauer „umgewandelt“ hatten. Aber jetzt war es „Zeugnis der Tatsache, dass die Menschen sich vom Joch der Unterdrückung befreit haben, indem sie es zerbrochen haben …“
Der Heilige Vater erlebte diesen Moment mit tiefer innerer Bewegung, mit starker Leidenschaft. Doch er bemerkte auch – ich muss sagen mit ein wenig Bitterkeit -, dass viele Menschen in Europa nicht verstanden, was es bedeutete, dass ein Papst durch dieses Denkmal schritt, das an den Triumph Hitlers erinnerte – und dies nicht, weil er Wojtyla war, sondern weil er ein Papst war! Dann die Bedeutung der Seligsprechungen der Opfer der Vernichtungslager gerade in dem Stadion, wo in Anwesenheit Hitlers die Olympischen Spiele abgehalten worden waren.
Dieses Durchschreiten des Brandenburger Tores bedeutete für Johannes Paul II. das Ende, das definitive Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Feierlichkeiten in jenem Stadion waren die sichtbare Besiegelung des Sieges Gottes in der fürchterlichen Schlacht gegen das Böse.
Doch der Kapitalismus hat nicht gesiegt!
Seit dem Fall der Mauer war kaum ein halbes Jahr vergangen, als der Papst in Mexiko in einer Ansprache vor Unternehmern den Wandel in Mittel- und Osteuropa kommentierte. Er sagte, auch wenn der „reale Sozialismus“ am Ende sei, das sei nicht der Sieg des kapitalistischen Systems. In der Welt sei die Armut geblieben, wie sie vorher war, und es gebe weiter die gleichen schlimmen Missstände in der Verteilung der Ressourcen. Das sei vor allem in der Dritten Welt auch eine Folge der Auswirkungen, die durch eine bestimmte Art des ungezügelten Liberalismus hervorgerufen würden, der sich um das Gemeinwohl nicht kümmere.
Das war eine mutige, aber zu der Zeit, als noch manches unklar war, eine einwandfreie Analyse. Im Westen gab es jedoch Kommentatoren, die diese Rede als „skandalös“ bezeichneten. Jemand ging so weit und schrieb Johannes Paul IL eine gewisse „Nostalgie“ nach dem Kommunismus zu.
Sie verstanden nicht, oder sehr viel wahrscheinlicher: Sie wollten nicht verstehen. Der Heilige Vater hatte die Geschichte in theologischen und moralischen Begriffen interpretiert, nicht in politischen und wirtschaftlichen. Deshalb war er von seiner Warte aus in der Lage gewesen, intuitiv zu verstehen, dass man nach dem Scheitern des Marxismus auf keinen Fall eine neue Sozialordnung ausschließlich auf einem System aufbauen könne, das den Menschen als Instrument betrachtet, als einfaches Rädchen im Getriebe der Produktionsmaschine.
Es war also vor allem notwendig, das Personsein des arbeitenden Menschen neu ins Blickfeld zu rücken. Erst dann kann man an ein auf Solidarität und Mitbestimmung basierendes Modell wirtschaftlicher Entwicklung denken. Solange nämlich die Arbeiter nicht an den Entscheidungen und an der Verteilung der Gewinne des Unternehmens teilhaben, wird es nie sozialen Frieden geben und auch keinen echten nationalen Fortschritt.
Tatsache ist jedoch, dass Johannes Paul H. in den ersten zehn Jahren seines Pontifikats als eingefleischter Antikommunist eingeschätzt wurde, während man ihn jetzt als Antikapitalisten, ja als kommunistenfreundlich hinstellte. Das könnte ein Grund dafür sein, weshalb eine demagogische oder zumindest irrige Interpretation seiner Soziallehre und, allgemeiner gesehen, seines Humanismus lange Bestand hatte.
Nicht zuletzt dank seiner Erfahrungen in Polen und seiner philosophischen Überlegungen hatte Karol Wojtyla in das päpstliche Lehramt ein Verständnis vom Menschen und der Geschichte hineingetragen, das sich nicht irgendeinem kulturellen oder politischen System verdankte. Tatsächlich hatte er positive Aspekte sowohl im Marxismus wie auch im Kapitalismus anerkannt, aber er hatte auch deren gravierende Mängel aufgezeigt. In beiden Systemen war, unabhängig von der Tatsache, ob die Produktionsmittel kollektiviert sind oder sich in privater Hand befinden, nie vorgesehen, dass in den wirtschaftlichen und Politischen Prozessen der Mensch im Mittelpunkt stehen sollte.
Unterm Strich war Wojtyla kein parteiischer Mensch. Um es ganz frank und frei zusagen, er war weder ein Mann Moskaus noch Washingtons. Er war ein Mann Gottes, immer offen für alle. Er war ein freier Mann und hat sich durch politische Entscheidungen nie vereinnahmen lassen.
Genau das wäre der Ausgangspunkt, um den tiefen Sinn dessen zu verstehen, was das „politische“ Profil dieses Pontifikats ausmachte. „Politisch“ in dem Sinne verstanden, wie Johannes Paul II. die Soziallehre der Kirche interpretierte und aktualisierte, indem er zur Beschreibung sozioökonomischer Phänomene moralische Kategorien heranzog.
Auf diese Weise, wie es der Heilige Vater vor allem in seiner Enzyklika Centesimus Annus tat, gelang es ihm, ein Gesellschaftsmodell aufzuzeigen, in dem es möglich ist, Gerechtigkeit und Solidarität, Rechte und Pflichten der Personen, Ethik sowie soziales und politisches Engagement miteinander zu verbinden.
All das jedoch, ohne sich je in die technischen Entscheidungen einzumischen, in die Art und Weise, wie das dann realisiert wird, in welcher Weise es gemacht wird. Sonst würde nämlich die Kirche ihr eigenes Terrain überschreiten, das in ihrer pastoralen Sendung und einer kritischen Reflexion der „Konformität“ sozialer Prozesse mit den vom Schöpfer vorgezeichneten Spuren besteht.
Nicht umsonst sagte Papst Wojtyla einmal, die Kirche dürfe sich von keiner Ideologie oder politischen Strömung das „Banner der Gerechtigkeit“ abnehmen lassen. Sie ist eine der ersten Forderungen, die vom Evangelium erhoben werden, und bildet den Kern der kirchlichen Soziallehre. Der Diskurs über die Gerechtigkeit öffnet konsequenterweise das Gespräch über die Rechte, die Rechte jedes Menschen, der in seiner Würde und Freiheit geschützt und verteidigt werden muss. Aber es geht auch um die Rechte jedes Volkes, das als Nation in seiner Souveränität und Unabhängigkeit zu respektieren ist, wenngleich es sich in den Kreislauf der Solidarität mit allen anderen Völkern, die die Weltgemeinschaft bilden, eingliedern muss.
Hier machte sich Johannes Paul II. – als „natürlich christliches“ Ideal – jene menschlichen Grundwerte wieder zu eigen, die lange Zeit ausschließlich von der Aufklärung und der Französischen Revolution beansprucht worden waren. Auf diese Weise wurden die Menschenrechte wieder zum festen Bestandteil der christlichen Lehre und fanden ihr einheitliches ethisches Fundament wieder, das ihre Unteilbarkeit und Universalität untermauert und verbürgt.
Das war nicht mit der Absicht verbunden, die Distanzierung von der Welt wiederherzustellen, sondern im Gegenteil, um dem Menschen zu dienen und ihn in seinen Grundrechten zu unterstützen, beim Recht auf Leben angefangen.
Bei dem Thema muss man unbedingt auf einen Aspekt hinweisen, der vielleicht weniger verstanden worden ist, aber hinsichtlich des Pontifikats von Johannes Paul II. sicher am meisten diskutiert und kritisiert wurde. Damit meine ich das Verständnis von Kirche als „soziale Kraft“ beziehungsweise, dass die Kirche, die in der Gesellschaft im Dienste des Gemeinwohls wirkt, ein Element sozialer Erneuerung von großer Tragweite darstellen kann. Dies ist ihr möglich allein aufgrund ihrer Sendung, der Inkarnation des Evangeliums, als Zeugnis der Botschaft Christi. Dabei geht es nicht darum, die Gesellschaft zurückzuerobern, sie zu unterwerfen und so die Unterschiede zu verwischen, die sich mittlerweile für immer in der Rollenverteilung zwischen Kirche und Staat herausgebildet haben.
Ich möchte daran erinnern, dass mehr oder weniger alle Systeme, nicht nur die totalitären, immer wieder den Versuch unternommen haben, die Religion auszugrenzen, zumindest sie in die Kirchenräume zu verbannen oder für politische Ziele zu instrumentalisieren. Ich möchte ferner daran erinnern, dass über lange Zeit nicht nur im sogenannten Sowjetreich die öffentlichen Plätze ausschließlich der Linken, ja dem Kommunismus gehörten. Und Worte, die man aus dem Munde Jesu gehört hatte, christliche Worte wie „Frieden“ waren absolutes Privileg bestimmter Bewegungen und Parteien geworden.
Nun, Johannes Paul II. hat sich all dem widersetzt. Er hat Nein gesagt! Und er ist auf die Straßen und Plätze gegangen, um diese „Räume“ nicht den anderen zu überlassen.
Die Kirche ist da, wo der Mensch ist. Sie versucht Begleiter zu sein auf dem Weg des Menschen und der Gesellschaft, aber immer mit der moralischen Ebene als Ausgangspunkt. Sie darf nie direkt Politik betreiben! Das moralische Urteil hingegen ist eine vollständig legitime Pflicht der Kirche, auch im sozialen und politischen Bereich. Es sind dann die gläubigen Laien, die sich im öffentlichen Leben, in besonderer Weise in der Politik engagieren sollen.
Es kommt an diesem Punkt eine große Rede von Johannes Paul II. in Erinnerung die – leider – nie ausreichend gewürdigt worden ist. Es handelt sich um die Ansprache, die er im Oktober 1988 vor dem Europaparlament in Straßburg hielt, als er jede Versuchung einer Rückkehr zum früheren religiösen Integralismus auslöschte. Er gestand ein, dass die Grenze zwischen dem, was Gott gehört, und dem, was des Kaisers ist, zu oft überschritten worden ist, auch von christlicher Seite.
Aber da gibt es vor allem einen Passus, den neu zu lesen sich lohnt. Er hilft nämlich, das Konzept vom Laien, das Wojtyla hatte, besser zu verstehen und damit die Unterscheidung die für ihn zwischen dem zeitlichen und dem geistlichen Bereich existieren muss. So wie man besser die Art und Weise verstehen wird, wie dieser Papst, der das alte Modell der Kirche, das von rigiden Abschottungen geprägt war, überwunden hat und dafür ein anderes hat sichtbar werden lassen, das in der Lage ist, den Herausforderungen der Moderne und einer pluralistischen Gesellschaft zu begegnen und sie deshalb anzunehmen.
„Die lateinische Christenheit des Mittelalters – um nur sie zu erwähnen – ist der integralistischen Versuchung nicht immer entgangen, aus der irdischen Gesellschaft diejenigen auszuschließen, die nicht den wahren Glauben bekannten – und dies, obwohl die lateinische Christenheit der damaligen Zeit unter Wiederaufnahme der großen aristotelischen Tradition die Idee vom Staat als natürliche Größe entwickelt hatte. Der religiöse Integralismus ohne Unterscheidung zwischen dem Bereich des Glaubens und dem des bürgerlichen Lebens, der heute noch in anderen Gegenden praktiziert wird, erscheint mit dem eigentlichen Genius Europas, so, wie ihn die christliche Botschaft geformt hat, unvereinbar.“
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