Die Freude der Liebe und die Bestürzung der Theologen

S12

Marc Chagall, Brautpaar im Himmel von Paris.

Zu einigen Kommentaren über das Apostolische Schreiben

Amoris laetitia

 

Ich erinnere mich an eine Karikatur, die ich vor langer Zeit in einer französischen Zeitung – ich glaube, es war L’Aube – gesehen habe: Eine große Schar von Theologen, jeder auf einem Hügel ganz für sich, sucht den Horizont nach Christus ab. Im Tal haben die Kinder Jesus dagegen gefunden. Er hat sie an die Hand genommen, und sie gehen zusammen zwischen den Theologen umher, die ihn nicht erkennen. Die Theologen blicken in die Ferne, aber er ist mitten unter ihnen.

Diese Karikatur, die schon recht alt ist, kam mir in den Sinn, als ich einige Kommentare über Amoris laetitia und das Pontifikat von Papst Franziskus ganz allgemein las. Der »sensus fidei« des christlichen Volkes hat ihn sofort erkannt und ist ihm nachgefolgt. Einige Gelehrte dagegen tun sich schwer, ihn zu verstehen, kritisieren ihn, stellen ihn in Gegensatz zur Überlieferung der Kirche und insbesondere zu seinem großen Vorgänger, dem heiligen Johannes Paul II. Sie scheinen bestürzt zu sein, dass sie in seiner Schrift ihre Theorien nicht bestätigt sehen, und sind nicht gewillt, aus ihren Denkmustern auszubrechen, um die überraschende Neuheit seiner Botschaft zu hören. Das Evangelium ist immer neu und immer alt. Gerade deshalb ist es nie veraltet.

Umstände der Schuld

Wir wollen versuchen, den umstrittensten Teil von Amoris laetitia mit den Augen eines Kindes zu lesen. Der umstrittenste Teil ist der, in dem der Papst sagt, dass unter gewissen Bedingungen und Umständen einige wiederverheiratete Geschiedene die Eucharistie empfangen können.

Als Kind habe ich den Katechismus gelernt, um die Erstkommunion zu empfangen. Es war der Katechismus eines mit Sicherheit antimodernistischen Papstes: des heiligen Pius X. Ich erinnere mich, dass er erklärte, dass, um die Eucharistie zu empfangen, die Seele frei von Todsünde sein muss. Und er erklärte auch, was eine Todsünde ist. Für eine Todsünde müssen drei Bedingungen erfüllt sein. Es muss eine schlechte Tat vorhanden sein, ein schwerer Verstoß gegen das sittliche Gesetz: eine schwerwiegende Materie. Sexuelle Beziehungen außerhalb der Ehe sind zweifellos ein schwerer Verstoß gegen das sittliche Gesetz. So war es vor Amoris laetitia, so ist es weiterhin in Amoris laetitia und natürlich auch nach Amoris laetitia. Der Papst hat die Lehre der Kirche nicht verändert.

Der heilige Pius X. sagt uns jedoch noch etwas anderes. Für eine Todsünde sind neben der schwerwiegenden Materie zwei weitere Bedingungen notwendig. Die Tat muss im vollen Bewusstsein um ihre Schlechtigkeit vollbracht worden sein. Volles Bewusstsein bedeutet, dass das Subjekt von der Schlechtigkeit der Tat wirklich überzeugt sein muss. Wenn es wirklich überzeugt ist, dass die Tat nicht (schwerwiegend) schlecht ist, dann ist sein Handeln zwar effektiv böse, kann aber nicht als Todsünde angerechnet werden. Außerdem muss das Subjekt zur schlechten Tat seine bedachte Zustimmung geben. Das heißt, dass der Sünder frei ist, sie zu tun oder nicht zu tun: Er ist frei, auf die eine oder die andere Weise zu handeln, und ist nicht Zwängen oder Ängsten unterworfen, die ihm auferlegen, etwas zu tun, was er lieber nicht tun würde.

Können wir uns Umstände vorstellen, unter denen eine geschiedene und wiederverheiratete Person in einer Situation schwerer Schuld leben kann, ohne volles Bewusstsein und ohne bedachte Zustimmung? Sie ist getauft, aber nie wirklich evangelisiert worden, ist leichtfertig eine Ehe eingegangen und dann verlassen worden. Sie hat sich mit einem Menschen zusammengetan, der ihr in schwierigen Augenblicken geholfen, sie aufrichtig geliebt hat, den Kindern aus erster Ehe ein guter Vater oder eine gute Mutter geworden ist.

Man könnte ihr vorschlagen, wie Bruder und Schwester zusammenzuleben, aber was ist, wenn der andere das nicht akzeptiert? An einem bestimmten Punkt ihres Lebens begegnet diese Person der Faszination des Glaubens, wird zum ersten Mal wirklich evangelisiert. Vielleicht ist die erste Ehe in Wirklichkeit nicht gültig, aber es gibt keine Möglichkeit, sich an ein kirchliches Gericht zu wenden oder Beweise über die Ungültigkeit zu erbringen. Wir wollen keine weiteren Beispiele anführen, da wir nicht in eine endlose Kasuistik eintreten wollen.

Weg der Umkehr

Was sagt uns Amoris laetitia in solchen Fällen? Vielleicht ist es gut, damit zu beginnen, was das Apostolische Schreiben nicht sagt. Es sagt nicht, dass wiederverheiratete Geschiedene ruhig die Kommunion empfangen können. Der Papst lädt die wiederverheirateten Geschiedenen ein, einen Weg der Umkehr zu beginnen (oder fortzusetzen). Er lädt sie ein, ihr Gewissen zu erforschen und sich von einem geistlichen Begleiter helfen zu lassen. Er lädt sie ein, in den Beichtstuhl zu gehen, um ihre Situation darzulegen. Er lädt Büßer und Beichtväter ein, einen Weg der geistlichen Unterscheidung zu beginnen. Das Apostolische Schreiben sagt nicht, an welchem Punkt dieses Weges sie die Lossprechung und die Eucharistie empfangen können. Es äußert sich nicht dazu, weil die Vielfalt der Situationen und menschlichen Gegebenheiten zu groß ist.

Der Papst bietet den wiederverheirateten Geschiedenen genau denselben Weg an, den die Kirche allen Sündern anbietet: Geh zur Beichte, und dein Beichtvater wird nach Abwägung aller Umstände entscheiden, ob er dir die Lossprechung erteilen und dich zur Eucharistie zulassen wird oder nicht.

Dass der Büßer in einer objektiven Situation schwerer Sünde lebt, ist – außer im Grenzfall einer ungültigen Ehe – sicher. Ob er jedoch die volle subjektive Verantwortung für die Schuld trägt, muss erst herausgefunden werden. Darum geht er zur Beichte.

Einige sagen, dass der Papst, indem er diese Dinge sagt, dem großen Kampf Johannes Pauls II. gegen den Subjektivismus in der Ethik widerspricht. Diesem Kampf verschreibt sich die Enzyklika Veritatis splendor. Der Subjektivismus in der Ethik sagt, dass die Gutheit oder die Schlechtigkeit des menschlichen Handelns von der Absicht des Handelnden abhängt. Das einzige an sich Gute auf der Welt ist, dem Subjektivismus in der Ethik zufolge, ein guter Wille. Um das Handeln zu beurteilen, müssen wir also die Folgen betrachten, die vom Handelnden gewollt sind. Dieser Ethik zufolge kann jede Tat gut oder schlecht sein, je nach den Begleitumständen. In völliger Übereinstimmung mit seinem Vorgänger sagt Papst Franziskus uns dagegen, dass einige Taten in sich selbst schlecht sind (zum Beispiel der Ehebruch), unabhängig von den Begleitumständen und auch von den Absichten dessen, der sie begeht. Der heilige Johannes Paul II. hat jedoch nie daran gezweifelt, dass die Umstände in die moralische Beurteilung des Handelnden einfließen und ihn mehr oder weniger schuldig machen für die objektiv schlechte Tat, die er begangen hat. Kein Umstand kann eine in sich schlechte Tat gut machen, aber die Umstände können die moralische Verantwortung dessen, der sie begeht, mehren oder mindern. Genau davon spricht Papst Franziskus in Amoris laetitia. In Amoris laetitia ist also keine Situationsethik vorhanden, sondern das klassische thomistische Gleichgewicht, das das Urteil über die Tat vom Urteil über den Täter, in dem mildernde oder freisprechende Umstände zum Tragen kommen können, unterscheidet.

Andere Kritiker stellen Familiaris consortio (Nr. 84) in direkten Gegensatz zu Amoris laetitia (Nr. 305 – mit der berüchtigten Fußnote 351). Der heilige Johannes Paul II. sagt, dass wiederverheiratete Geschiedene die Eucharistie nicht empfangen können, und Papst Franziskus dagegen sagt, dass sie es in einigen Fällen können. Wenn das kein Widerspruch ist!

Versuchen wir jedoch, den Text mehr in der Tiefe zu lesen. Früher waren die wiederverheirateten Geschiedenen exkommuniziert und aus dem Leben der Kirche ausgeschlossen. Durch den neuen Codex des kanonischen Rechtes und durch Familiaris consortio wird die Exkommunikation aufgehoben, und sie werden ermutigt, am Leben der Kirche teilzunehmen und ihre Kinder christlich zu erziehen. Dies war eine außerordentlich mutige Entscheidung, die mit einer jahrhundertelangen Tradition brach. Familiaris consortio sagt uns jedoch, dass die wiederverheirateten Geschiedenen nicht die Sakramente empfangen können. Der Grund dafür ist, dass sie öffentlich im Stand der Sünde leben und man es vermeiden muss, Anstoß zu erregen. Diese Gründe sind so stark, dass eine Überprüfung eventueller mildernder Umstände nutzlos zu sein scheint.

Jetzt sagt uns Papst Franziskus, dass es sich lohnt, diese Überprüfung durchzuführen. Hier liegt der ganze Unterschied zwischen Familiaris consortio und Amoris laetitia. Es besteht kein Zweifel, dass der wiederverheiratete Geschiedene sich objektiv im Stand schwerer Sünde befindet; Papst Franziskus lässt ihn nicht wieder zur Kommunion, sondern – wie alle Sünder – zur Beichte zu. Dort wird er über die eventuellen mildernden Umstände sprechen und erfährt, unter welchen Bedingungen er die Lossprechung empfangen kann.

Neue pastorale Strategie

Der heilige Johannes Paul II. und Papst Franziskus sagen offensichtlich nicht dasselbe, aber sie widersprechen einander nicht in der Ehetheologie. Vielmehr machen sie auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichen Situationen Gebrauch von der Macht zu binden und zu lösen, die Gott dem Nachfolger Petri anvertraut hat. Um diesen Punkt besser zu verstehen, wollen wir versuchen, uns folgende Frage zu stellen: Gibt es einen Widerspruch zwischen den Päpsten, die die wiederverheirateten Geschiedenen exkommuniziert haben, und dem heiligen Johannes Paul II., der die Exkommunikation aufgehoben hat?

Die früheren Päpste haben immer gewusst, dass einige wiederverheiratete Geschiedene aufgrund verschiedener mildernder Umstände durchaus im Stand der Gnade sein können. Sie wussten sehr gut, dass der letzte Richter Gott allein ist. Trotzdem bestanden sie auf der Exkommunikation, um die Wahrheit über die Unauflöslichkeit der Ehe im Bewusstsein des Volkes zu stärken. Es war eine pastorale Strategie, die legitim war in einer homogenen Gesellschaft wie der vergangenen Jahrhunderte. Scheidungen waren Ausnahmefälle, es gab nur wenige wiederverheiratete Geschiedene, und indem man auch jene bedauerlicherweise von der Eucharistie ausschloss, die sie in Wirklichkeit hätten empfangen können, schützte man den Glauben des Volkes.

Heute ist die Scheidung ein Massenphänomen und droht, eine Massenapostasie nach sich zu ziehen, wenn die wiederverheirateten Geschiedenen die Kirche verlassen und ihren Kindern keine christliche Erziehung mehr geben. Die Gesellschaft ist nicht mehr homogen; sie ist flüssig geworden. Die Zahl der Geschiedenen ist sehr hoch, und natürlich ist auch die Zahl derer gestiegen, die sich in einer »irregulären« Situation befinden, subjektiv jedoch im Stand der Gnade sein können. Es ist notwendig, eine neue pastorale Strategie zu entwickeln. Darum haben die Päpste nicht das Gesetz Gottes, sondern die menschlichen Gesetze geändert, die es notwendigerweise begleiten, da die Kirche eine menschliche und sichtbare Gesellschaft ist.

Die neue Regel schafft Probleme und bringt Gefahren mit sich? Gewiss. Es besteht die Gefahr, dass einige frevelhaft die Kommunion empfangen, ohne im Stand der Gnade zu sein? Wenn sie es tun, ziehen sie sich das Gericht zu, indem sie essen und trinken. Aber brachte die alte Regel nicht auch Gefahren mit sich? Bestand nicht die Gefahr, dass einige (oder viele) verlorengingen, weil ihnen ein sakramentaler Halt verwehrt blieb, auf den sie ein Recht hatten? Es ist Aufgabe der Bischofskonferenzen der einzelnen Länder, eines jeden Bischofs und letztlich jedes einzelnen Gläubigen, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um die Vorteile dieser pastoralen Linie zu maximieren und die Gefahren, die sie mit sich bringt, zu minimieren. Das Gleichnis von den Talenten lehrt uns, im Vertrauen auf die Barmherzigkeit das Risiko einzugehen.

(Orig. ital. in O.R. 20.7.2016)

Von Rocco Buttiglione, Lehrstuhl »Johannes Paul II. für Philosophie und Geschichte der Europäischen Institutionen«, Päpstliche Lateranuniversität

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