IX
DIE KIRCHE UND DIE KULTUREN
Die katholische Kirche ist geschichtlich ganz zweifellos besonders eng mit der europäischen Kultur verbunden. Die christliche Religion war die „Seele“ Europas, und viele der geschichtlich gewordenen Formen der Kirche, bis zu ihren Rechtsformen und zu den vorwiegenden Sprachen ihrer Philosophie und Theologie und ihres Kultes, sind abendländischen Ursprungs. Dieses Bündnis war nie unproblematisch. Aber damit, daß Europa seine »Seele“ vergaß und sich in der Neuzeit immer mehr »säkularisierte“ (verweltlichte), wurde die Problematik immer größer. Heute kommen von verschiedenster Seite heftige Angriffe gegen eine ungebührliche „Europäisierung“ der Kirche. Der eine erfolgt von den Gesichtspunkten der Mission her: nachdem die Völker Asiens und Afrikas gegen die weißen Kolonialherren aufstehen, wird die Bereitschaft der farbigen Völker, diese Botschaft unbefangen aufzunehmen, und damit auch der Erfolg der Mission, durch die geschichtlich verständliche und wahrscheinlich unvermeidliche Tatsache gehemmt, daß die Verkündigung der Frohen Botschaft vielfach im Gefolge des Vordringens der Weißen auftrat und daß sie mit manchem spezifisch abendländischen Sondergut einherkommt. Diese Erkenntnis hat die Kirche schon relativ früh aufgenommen und versucht seit langem, ihre Mission danach einzurichten — wobei nicht nur diese negativen Gesichtspunkte eine Rolle spielen, sondern das Wissen um den Wert und das Recht der kulturellen Eigenart und Eigenständigkeit der Völker das viel größere Gewicht hat. Trotzdem kann, darf und will sie, die die Tradition und das organische Wachstum lebendiger Gebilde so hoch einschätzt (vgl. S. 55 u. 58), ihre Geschichte nicht verleugnen und weigert sich auch, Europa, dessen Einfluß die heutige Umwälzung der Welt bewirkt hat, völlig abzuschreiben, sondern mißt ihm, wie wir im vorigen Abschnitt (vgl. S. 137 ff.) gesehen haben, noch eine große Bedeutung und Aufgabe bei der Bewältigung der Situation zu. Ebenso weigert sie sich, in der kolonialen Tätigkeit der Europäer nur das — zweifellos reichlich vorhandene — Unrecht zu sehen, sondern will auch ihre wohltätigen Seiten beachtet wissen.
Ein viel radikalerer Angriff kommt heute aber auch aus gewissen koexistentialistischen Vorstellungen gegen das Abendländische in der Kirche, in dem man das Hindernis dafür sieht, daß die Kirche sich der geschichtlichen Mission der kommunistischen Welt öffnet. Es soll nicht geleugnet werden, daß solchen Angriffen bei manchen eine echte Sorge zugrundeliegt, die Kirche könne die Chance einer geschichtlichen Stunde verpassen. Sie fordern also, sie müsse sich von der sterbenden und in voller individualistischer Auflösung befindlichen Kultur des Abendlandes lösen, um Freiheit zu gewinnen, in das Kommende, Zukunftsträchtige einzugehen. In einer merkwürdigen, illusionistischen Verkennung der Wirklichkeit wird dies Zukünftige in der kommunistischen Welt angelegt gesehen, die angeblich eine Welt von „jungen Völkern“ sei. Nun ist aber nicht der Kommunismus das Künftige, sondern eben die „Eine Welt“, die ihre Gestalt in dem gewinnen wird, was in jenen riesigen Räumen vor sich geht, die bislang zu keinem der beiden Blöcke gehören, um die aber mindestens der Kommunismus mit ungeheurem Elan wirbt, und denen in der rechten Weise zu helfen, der Heilige Vater eine Bekehrung der westlichen Welt, die Wiedererweckung und Aktivierung ihrer besten und edelsten Kräfte und ihres wahren kulturellen Erbes fordert. Eine Klärung der Frage des Verhältnisses von Kirche und Kultur, namentlich der abendländischen Kultur, ist also notwendig, und der Papst hat in verschiedenen Äußerungen versucht, sie zu geben.
An der Spitze steht ein einfacher Satz, der das Selbstbewußtsein der Kirche von ihrer Sendung und ihrem Auftrag ausdrückt:
Die Kirche ist sich bewußt, daß ihr ihre Mission und ihre Aufgabe für alle Zukunft und für alle Menschen übertragen worden ist und daß sie infolgedessen an keine bestimmte Kultur gebunden ist1.
Die Kirche kann sich infolgedessen mit keiner Kultur identifizieren, sie ist in alle gesandt. Und sie ist dorthin mit einem religiösen und nicht einem kulturellen Auftrag gesandt.
Ihr göttlicher Stifter Jesus Christus hat der Kirche keinerlei Auftrag kultureller Art gegeben noch ihr ein kulturelles Ziel gesetzt. Die Aufgabe, die Christus ihr zuweist, ist streng religiös; sie ist selbst die Synthese all dessen, was die Idee der Religion, der einzigen und absolutwahren Religion in sich schließt: die Kirche soll die Menschen zu Gott führen, damit sie sich ihm ohne Rückhalt ausliefern und in ihm auch ihren vollkommenen inneren Frieden finden. Zu diesem Zweck hat Christus der Kirche seine ganze Wahrheit und seine ganze Gnade anvertraut.
Die Kirche kann dieses streng religiöse, übernatürliche Ziel niemals aus dem Auge verlieren. Der Sinn all ihrer Aktivitäten, bis zum letzten Kanon ihres Kodex herab, kann nichts anderes sein, als direkt oder indirekt dazu beizutragen2.
Daraus folgert auch die „radikale Unabhängigkeit der Religion von der Kultur“. Ebensowenig wie kultureller Hochstand eine Voraussetzung für die Aufnahme der christlichen Botschaft ist, ebensowenig ist ein solcher kultureller Hochstand auch ein Gradmesser für Wert und Höhe des in einem Volke herrschenden religiösen Lebens. Der Papst führt dafür verschiedene Beispiele an. Eines dieser Beispiele, nämlich das der Renaissancepäpste, ist von besonderem Interesse; es zeigt, daß ‚die Kirche sich auch zu sehr mit einer Kulturform einlassen kann, so daß ihre Aufgabe darunter leidet.
Was ist der tiefste Grund dieser Haltung, daß die katholische Kirche sich mit keiner Kultur identifiziert? Sie ist grundsätzlich die Folge der radikalen Unabhängigkeit der Religion gegenüber der Kultur. Diese gestattet nicht, über die religiösen Werte zu urteilen. So nimmt das Goldene Zeitalter der Griechen, das kaum zweihundert Jahre dauerte, einen einzigartigen Platz in der Universalgeschichte ein, und das Volk Israel in Palästina hat keinerlei vergleichbare kulturelle Werte hervorgebracht. Aber daraus kann man nichts in bezug auf die Reinheit und Erhabenheit der religiösen Vorstellungen dieser beiden Völker schließen. Mehrere hundert Jahre vor dem Höhepunkt der griechischen Kultur drückte das Volk Israel bereits in den Psalmen und den Propheten und noch viel früher im Deuteronomion seine Gottesidee und die sittlichen Grundlagen des menschlichen Lebens in einer Reinheit und Vollkommenheit aus, zu denen sich das Griechentum niemals erhoben hat, nicht einmal in seinen geistigen Koryphäen, Sokrates, Platon und Aristoteles. Und beweist die Blüte der arabischen Kultur in Spanien zu einer Zeit, als weiter im Norden die christliche Kultur noch in den Anfängen stand und sich erst allmählich mühsam emporrang, die Überlegenheit des Islams über das Christentum? Zweifellos haben die arabischen Gelehrten nicht versäumt, den Christen ihre Inferiorität vorzuwerfen; aber man darf niemals eine Religion nach der kulturellen Entwicklung ihrer Anhänger beurteilen3.
Die Päpste des 15. Jahrhunderts von Nikolaus V. an haben mit großem Interesse die kulturelle Bewegung der Renaissance verfolgt. Sie haben es, zum mindesten anfangs, getan, um diese Bewegung in gewisser Weise zu zügeln und zu verhüten, daß sie sich auf Bahnen verirrte, die dem christlichen Denken fremd sind. Doch die Geschichte hat sich nachträglich gefragt, ob die Männer der Kirche mit der Zeit nicht dem Zauber des Humanismus in einem Maße erlegen sind, daR sie ihm einen Teil ihrer eigentlichen Aufgabe geopfert haben, wenn es wahr ist, daß zu dieser Zeit, genauer gesagt um 1500, der religiöse Sinn des Lebens und der Sinn des Kreuzes Christi mit Nachdruck wieder in Erinnerung gerufen werden mußte. Die Spannung zwischen Religion und Kultur in diesem wichtigen Augenblick der Geschichte trägt dazu bei, die radikale Unabhängigkeit der Kirche gegenüber allen kulturellen Tätigkeiten und Werten zu unterstreichen4.
All das heißt aber nicht, daß die Kirche kulturfeindlich sei, nicht einmal, daß sie der Kultur gleichgültig gegenüberstehe. Vor allem aber kann die Kultur der Religion nicht gleichgültig gegenReligion6n. Als eine der tiefsten Wirkungen des Christentums auf die verschiedenen Kulturen wird vom Papst bezeichnet, daß es das gottgeschaffene Wesen der Menschen und daher ihre Einheit und Ähnlichkeit in ihrer Vielfalt herausarbeite. In der Erlösungsordnung, in der Christusgleichheit, wird sie wiederhergestellt und also mindestens gleichnishaft schon auf dieser Welt einer Verwirklichung fähig. Auch die Ordnungen der Gemeinschaft werden dadurch, daß die Kirche im Lichte der Offenbarung die Grundsätze des Naturrechtes deklariert, auslegt und im Gemeinschaftsleben auf ihre Anwendung drängt, einander ähnlicher und also mehr und mehr der geschichtlichen Verwirklichung ihrer Einheit fähig.
All das wirft auch wieder ein Licht auf den heilsgeschichtlichen Aspekt der Geschichtsdeutung Pius‘ XII.: Die Beziehung des Wachsens des Reiches Gottes in der Welt zur Verwirklichung ihrer Einheit.
Die katholische Kirche identifiziert sich mit keiner Kultur; ihr innerstes Wesen verbietet ihr das. Sie ist aber bereit, Beziehungen zu allen Kulturen zu unterhalten. Dasjenige in ihnen, was der Natur nicht zuwiderläuft, erkennt sie an und läßt es bestehen. Sie verschafft aber darüber hinaus der Wahrheit und der Gnade Jesu Christi Eingang in jede Kultur und verleiht ihnen allen auf diese Weise eine weitgehende Ähnlichkeit; und gerade hierdurch trägt sie in der wirksamsten Weise dazu bei, den Frieden auf der Welt zu erhalten5.
Natur und Offenbarung, Geschichte und Erfahrung sind darin einig, zu zeigen, daß die kulturelle Betätigung Anlagen in Bewegung setzt, die der Schöpfer in die menschliche Natur hineingelegt hat, und daß sie einen Auftrag erfüllt, den er ausdrücklich erteilt hat: „Erfüllet die Erde und macht sie euch untertan“ (Gen. 1, 28). In den großen Kulturen, die die Wissenschaft aufgedeckt hat, war die Kultur immer organisch mit der Religion verbunden. Keine gesunde kulturelle Entwicklung ohne ein ungefähres Gleichgewicht zwischen dem materiellen und dem geistig-sittlichen Fortschrdaß. Jede Verirrung in der kulturellen Entwicklung hat ihre tiefste Ursache in dem Abstand, der zwischen diesen beiden Faktoren entstand. Es hat nie ein Volk ohne Religion gegeben. Irreligiosität umschließt immer einen Willen, sich von der Religion zu trennen, eine Negation, eine Absage, sie ist nie eine ursprüngliche und auch keine dauerhafte Haltung. Kulturellem Niedergang geht gewöhnlich ein Niedergang des religiösen Lebens voraus. Wenn also die Religion, wie Wir sagten, radikal unabhängig von Kulturformen und Kulturhöhe ist, so verlangt doch umgekehrt die Kultur, die authentisch, gesund und dauerhaft sein will, von sich aus eine intime Bindung an die Religion6.
Aus diesem Tatbestand folgt die entscheidende Ablehnung jeder Kultur, die sich nur auf rein weltliche oder rein materielle Elemente beschränkt. Im Gegensatz zu zeitgenössischen philosophischen Strömungen … vermeidet [der heilige Thomas] es, ... der Geschichte eine übertriebene Bedeutung und jenen Charakter des Absoluten beizulegen, der zufolge der Mensch in dem vorbestimmten schicksalhaften Ablauf der Ereignisse seine Rolle zu spielen hätte, aber vor dem Spiel, das sich auf der Bühne des Universums abrollt, ohnmächtig und gelähmt wäre; natürliche Folge eines Kulturbegriffs, der den Primat des Menschen gegenüber allen anderen Wesen nicht auf Gott gründet. Anderseits findet man in der Haltung des Aquinaten keinerlei Verurteilung der Welt, sondern deren freudige, auf Gott gerichtete Annahme. An mehreren Stellen seines Werkes wendet Thomas sein Prinzip auf die verschiedenen Bereiche der Schöpfung an, sogar auf den Tanz, für den er Normen aufstellt (vgl. Thomae Aquin. in Isalam Proph. Expos., cap. 3 in fin.). Im ganzen ist die Kulturphilosophie, die sich aus seinen Werken ablesen läßt, von so vollkommener Ausgeglichenheit, daß sie sich fast völlig über die Verhältnisse des 13. Jahrhunderts und des Mittelalters überhaupt emporhebt und endgültigen Wert erlangt7.
In Unserer Enzyklika „Evangelii praecones“ vom‘ 2. Juni 1951 haben Wir selber erklärt: „Die Kirche hat seit ihrem Ursprung bis heute stets die sehr weise Regel befolgt, daß das Evangelium bei den Völkern, die es annehmen, nichts zerstören und auslöschen soll, was in ihrem Charakter und in ihren Anlagen gut, schön und edel ist“, und Wir haben dann diese Stelle erklärt. Aber die Kirche wird die Seele jeder christlichen Kultur von selbst in das Denken und Fühlen der Völker übertragen, bei denen sie lebt und arbeitet, soweit sie daran noch nicht auf die Weise der anima naturaliter christiana teilhatten …8.
Daß die Kirche durch ihr Dasein und ihre religiöse Wirksamkeit die Kultur beeinflussen mußte, war also unvermeidlich. Und selbst wenn man bedenkt, daß die Übertragung der Prinzipien und Ideale auf die Wirklichkeit immer und überall unter der menschlichen Schwäche leidet, hat sich die kulturelle Einwirkung der Kirche als umfassend und fruchtbar erwiesen9.
Die katholische Kirche … macht sich … nicht eins mit irgendeiner Kultur; wohl aber ist sie bereit, mit jeder Kultur einen Bund zu schließen: sie erkennt gerne an, was in jeder dem Werk des Schöpfers nicht widersprechend, was mit der Würde des Menschen und seinen naturgegebenen Rechten und Pflichten vereinbar ist, pflanzt aber darüber hinaus den Reichtum der Wahrheit und Gnade Jesu Christi in sie ein und erreicht dadurch, daß die verschiedenen Kulturen, so fremd sie sich gegenüberzustehen schienen, einander nahekommen und wirklich Schwestern werden. Die Geschichte der Mission und Ausbreitung des Christentums und der Kirche von den Zeiten der Völkerwanderung bis heute ist ein überzeugender Beweis für den Segen, der von der katholischen Kirche auf die Kulturen ausgeht. In diesem Sinne ist auch die Kirche für die Erneuerung und Stärkung der abendländischen Kultur10.
Die Kirche hat von Anfang an bestimmte Grundsätze in die Menschengeschichte eingeführt, die allmählich, im stillen und ohne die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, das kulturelle Leben beeinflußt und von innen heraus tiefgehend verwandelt haben: die Ausrichtung der gesamten menschlichen Existenz auf einen persönlichen Gott hin, vor dem der Mensch wie ein Kind vor seinem Vater steht; die Achtung vor der persönlichen Würde des Einzelnen; alle Menschen sind durch ihre Natur, ihren Ursprung, ihre Bestimmung ohne Unterscheidung von Kaste oder Nationalität gleich; sie sind alle Brüder und Schwestern in Christus; ebenso die Verbundenheit der Menschen untereinander und die Errichtung des sozialen Lebens, nicht unter der Einwirkung des instinktiven Drucks der Masse oder des Willens eines Diktators, sondern unter dem Einfluß Christi. Man kann noch die Achtung vor der Handarbeit als mit> der Würde des freien Menschen vereinbar hinzufügen11.
Die christliche Religion muß also die Bindung, die die Kultur an die Religion sucht, bejahen, sie kommt ihr mit großer Bereitwilligkeit — wenn auch gleichzeitig mit Vorsicht und mit immer wacher Anspannung des Unterscheidungsvermögens entgegen. Denn die christliche Religion wendet sich an den ganzen Menschen, sie kann keine Spaltungen des menschlichen Lebens in radikal voneinander abgetrennte Bereiche etwa des wirtschaftlichen, des politischen, des kulturellen und des religiösen Lebens anerkennen. Wenn von einer Unabhängigkeit der Bereiche gesprochen wird, so gilt das immer von der Unabhängigkeit des höheren gegenüber dem niederen Bereich; dieser niedere aber ist darauf angewiesen, daß die Kräfte des höheren ihn durchformen, und deswegen neigen sich diese Kräfte ihm auch liebevoll zu und suchen ihn zu durchwirken.
Das Christentum sucht keinen reinen Spiritualismus, denn der wäre unmenschlich. Der vollkommene Christ ist auch ein vollkommener Mensch, denn niemand war in vollerem Sinn Mensch als der Gottmensch Jesus Christus selber. Die vollkommene Hingabe an Gott ist gewiß ein geistiger Akt; aber er muß sich in der Wirklichkeit des menschlichen Lebens beweisen, von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr. Das Christentum kennt auch im ganzen Weltall keinen Bereich, in den Gott nicht eindringen könnte. Die Kirche hat jede Form von manichäischem Dualismus abgewiesen: „Brüder“, sagt der Apostel Paulus, „was immer wahr, ehrwürdig, gerecht, lauter, Was angenehm, was wohllautend, was irgendeine Tugend und irgendein Lob ist, darauf seid bedacht“ (Phil. 4, 8), und noch klarer in der wohlbekannten klassischen Formel: „Alles ist euer, ihr aber seid Christi, Christus aber ist Gottes“ (1. Kor. 3, 22_23)12.
Hütet euch vor jenen, die diesen christlichen Dienst an der Welt verachten und ihm ein sogenanntes ,reines‘, geistiges Christentum entgegenstellen. Sie haben jene göttliche Institution nicht begriffen, angefangen mit ihrem Fundament: Christus, dem wahren Gott, aber auch wahren Menschen. Der Apostel Paulus läßt uns den vollen integralen Willen des Gottmenschen erkennen, der auch diese irdische Welt ordnen will; darum gibt er ihm zwei beredte Ehrentitel: ‚Mittler‘ und ‚Mensch‘ (1 Tim. 2, 5)13.
Unter diesen Gesichtspunkten muß das Verhältnis der Kirche zur europäischen Kultur gesehen werden. Sie war die erste Kultur, in die das Christentum eindrang und in deren Vielfalt es die Möglichkeit einer umfassenderen Einheit herausbildete; so ist es zur „Seele“ des Abendlands geworden und hat dessen Fruchtbarkeit entscheidend gefördert. Solange sie von der Lehre und vom christlichen Sittengesetz durchdrungen war, konnte sich die europäische Kultur mit Recht christlich und katholisch nennen. Aber sie hat keinen Monopolanspruch auf diesen Titel. Historisch haben ja auch andere Kräfte wie die der Antike sie mitgeformt, die eine Sonderform menschlicher Kultur ist. Deswegen ist auch die mittelalterliche Kultur nicht die christliche Kultur schlechthin. Und die Entwicklung Europas hat es durch die Religionsspaltung und die Säkularisierung seiner Lebensformen weit von dem Anspruch, eine christliche Kultur zu sein, abgeführt.
So bleibt also die Kirche von der europäischen Kultur in der Distanz, die ihrer Katholizität entspricht, und dokumentiert diese Distanz dadurch, daß sie Europa unablässig zur Ordnung ruft und unter ihrer Kritik hält. Da es aber geschichtlich die Seele dieser Kultur war, bleibt es ihre Aufgabe, diese Seele neuzuerwecken und zu beleben, um Europa der Aufgabe, die ihm kraft seiner Gaben und Reichtümer in der Welt zukommt, fähig zu machen und zu erhalten.
Wenn auch das römische Reich die ersten juristischen, rechtlichen und kulturellen Grundlagen Europas legte, indem es die griechisch-lateinische Kultur verbreitete, so hat das Christentum die Seele der Völker im tiefsten gebildet. Es hat in ihnen trotz ihrer ausgeprägten Verschiedenheiten die unverwechselbaren Merkmale der freien Person herausgearbeitet, die absoluter Rechtsträger und vor Gott nicht nur für ihr Einzelschicksal verantwortlich ist, sondern auch für das Geschick der Gemeinschaft, in der sie steht. In dieser Überzeugung sind die Achtung vor dem Nächsten, der Sinn für seine unveräußerliche Würde und die Hilfspflicht, die man sich gegenseitig schuldet, verwurzelt. Sie allein gewährleistet und fördert diese Güter, die mit allen Reichtümern der Erde nicht zu bezahlen wären14.
Sicherlich ist das Christentum nicht das Monopol einer bestimmten Form der Zivilisation. Es paßt sich leicht an alle an und läutert alle, es schenkt ihnen allen die Vollendung ihres eigenen Charakters, indem es sie an Gott, an dem anderen, ewigen Leben orientiert und durch diese Tatsache selbst sie alle im Sinn des gesunden und wahren Humanismus vervollkommnet. Aber es ist nicht minder wahr, daß zeitlich gesehen zunächst auf die Kultur, deren Wurzel der Hellenismus ist, die christliche Religion aufgepfropft wurde. Und wenn sich im Laufe der Jahrhunderte diese fruchtbare Verbindung immer weiter entwickelt hat, ist nicht der Ausgangspunkt dieses Fortschrittes in den Schriften des Neuen Testamentes gegeben, dessen Ursprache die griechische ist15?
Man hört oft Mittelalter und katholische Zivilisation gleichsetzen. Diese Gleichsetzung ist nicht ganz zutreffend. Das Leben eines Volkes, einer Nation bewegt sich in einem sehr vielfältigen Raum, der den Bereich der rein religiösen Lebensäußerung überschreitet. Sobald eine Gesellschaft aus Ehrfurcht vor den Rechten Gottes es sich in der ganzen Breite dieses weiten Bereiches versagt, die Grenzen zu überschreiten, die durch die Lehre und Ethik der Kirche gezogen sind, kann sie sich mit Recht christlich und katholisch nennen. Aber keine Kultur dürfte sich im ganzen als hervorragend christlich und katholisch ausgeben, nicht einmal die mittelalterliche Kultur, ganz abgesehen davon, daß diese eine ständige Entwicklung durchmachte und sich gerade in jener Zeit einem neuen mächtigen Einstrom antiker Kultur öffnete16.
Das, was man Abendland oder westliche Welt nennt, war seit dem Mittelalter starken Veränderungen unterworfen. Die Religionsspaltung im 16. Jahrhundert, der Rationalismus und Liberalismus führten zum Staat des 19. Jahrhunderts, zu seiner Politik der Stärke und seiner säkularistischen Zivilisation. Es konnte daher nicht vermieden werden, daß in den Beziehungen der katholischen Kirche zum Abendland eine Verschiebung eintrat. Die Kultur des Mittelalters selbst kann aber nicht als diekatholische Kultur schlechthin charakterisiert werden; auch sie hat, obwohl sie eng mit der Kirche verbunden war, ihre Kraft aus verschiedenen Quellen geschöpft. Selbst die Religionseinheit, die das Mittelalter kennzeichnet, ist für dasselbe nicht spezifisch; sie war bereits ein Merkmal des christlichen Altertums im östlichen und westlichen Römischen Reich von Konstantin dem Großen bis zu Karl dem Großen17.
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1 Ansprache vom 7. 9. 1955 an die Teilnehmer des 10. Internationalen Historikerkongresses; HK 10. Jhg., S. 77.
2 Ansprache vom 9. 3. 1956 an die Mitglieder der Internationalen Vereinigung der Institute für Archäologie, Geschichte und Kunstgeschichte in Rom; HK 10. Jhg., S. 349.
3 wie 2; HK 10. Jhg., S. 349.
4 wie 2; HK 10. Jhg., S. 349.
5 wie 1; HK 10. Jhg., S. 78.
6 wie 2; HK 10. Jhg., S. 350.
7 wie 2; HK 10. Jhg., S. 350.
8 wie 2; HK 10. Jhg., S. 351.
9 wie 2; HK 10. Jhg., S. 350.
10 Brief vom 27. 6.1955 an Bischof Joseph Freundorfer von Augsburg anläßlich der 1000-Jahrfeier der Schlacht auf dem Lechfeld (Sankt Ulrichs-Woche); HK 9. Jhg., S. 525.
11 wie 2; HK 10. Jhg., S. 351.
12 wie 2; HK 10. Jhg., S. 350.
13 Rundfunkansprache vom 24. 12. 1955 (Weihnachtsbotschaft 1955); HK 10. Jhg., S. 178.
14 Ansprache vom 15. 3. 1953 an Professoren und Studenten des Europa-Kollegs von Brügge; HK 7. Jhg., S. .11; U.-G. Nr. 3895, S. 2003.
15 Ansprache vom 20. 4. 1948 an die römischen Korrespondenten griechischer Zeitungen; HK 2. Jhg., S. 333.
16 Ansprache vom 16. 5. 1947 an Welsch-Schweizer Pilger anläßlich der Heiligsprechungsfeier des hl. Nikolaus von Flüe; HK 1. Jhg., S. 527.
17 wie 1; HK 10. Jhg., S. 77f.
Es gibt kein LEHRSCHREIBEN von PAPST PIUS XII. „VON DER EINHEIT DER WELT..“
Es gibt aber ein LEHRSCHREIBEN VON PAPST LEO XIII.:
„ÜBER DIE VEREINIGUNG IM GLAUBEN UND IN DER EINEN KIRCHE“ (PRAECLARA GRATULATIONIS)
Apostolisches Rundschreiben PRAECLARA GRATULATIONIS (Auszug):
“Weil Wir nun einerseits die Stelle des Allmächtigen Gottes auf Erden vertreten, der da will, daß alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen,… so bietet es Uns einen passenden Anlaß, vertrauensvoll den Gegenstand Unserer Wünsche darzulegen und Uns, so weit Wir es vermögen, zu bemühen, daß alle Menschen, welchem Volk und welchen Ländern sie auch angehören, ZUR EINHEIT IM GÖTTLICHEN GLAUBEN gerufen und angespornt werden.
Da die heilige Liebe Uns in diesem Vorhaben drängt.. so eilen Unsere Gedanken zuerst zu den unglücklichsten unter allen Völkern: nämlich zu jenen, welche das Licht des Evangeliums entweder niemals empfangen haben oder welche das empfangene Licht durch eigene Nachlässigkeit oder wegen ihrer Abgelegenheit wieder erlöschen ließen; daher haben sie KEINE ERKENNTNIS GOTTES und sind IM ÄUSSERSTEN IRRTUM befangen. Weil nun alles HEIL VON JESUS CHRISTUS ausgeht, denn es ist kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, durch den wir selig werden sollen, so ist es der allergrößte unter Unseren Wünschen, daß dieser hochheilige Name JESUS recht bald alle Länder der Erde erfüllen und vollenden möge. In dieser Beziehung hat ja die Kirche die ihr von GOTT übertragene Pflicht zu keiner Zeit unterlassen…”
(Bis die Neue “Kirche” der Konzilssekte auftauchte! Die nicht mehr will, daß die Heidenvölker zur Wahrheit gelangen und zu christlichen Sitten und Grundsätzen geführt wird.)
Die Enzyklika fährt weiter:
„Denn wonach strebte und was betrieb die Kirche in neunzehn Jahrhunderten mit mehr Eifer und Ausdauer, als die Heidenvölker zur Wahrheit und zu den christlichen Sitten und Grundsätzen hinzuführen? Auch in unseren Tagen fahren oftmals die Verkündiger des Evangeliums kraft Unseres Auftrages über die Meere, um in die entlegensten Gegenden der Erde vorzudringen: und täglich suchen Wir es von Gott zu erlangen, daß er gütig und liebevoll die Zahl der Diener des heiligen Glaubens vermehren wolle, die der apostolischen Aufgabe würdig sind: solcher, die nicht zögern, ihre Bequemlichkeiten, ihre gesicherte Existenz, ja selbst ihr Leben, wenn es erforderlich ist, für die Ausbreitung der Königsherrschaft Jesu Christi aufzuopfern….
Wecke die Menschen auf, die in der Finsternis und im Schatten des Todes verharren, damit sie, erleuchtet durch die Strahlen Deiner Weisheit und Kraft, in Dir und durch Dich vollendet seien IN DER EINHEIT.
Wenn Wir dieses Geheimnis der EINHEIT erwägen, tritt Uns ferner die Gesamtheit der Völker vor die Seele, welche die göttliche Gnade schon längst von lange bestehenden Irrtümern für die Weisheit des Evangeliums gewonnen hat. Es gibt wahrlich nichts Erfreuenderes für die Erinnerung und nichts Erhabeneres zum Ruhm für die allumfassende Göttliche Vorsehung als das Andenken an die alten Zeiten, wo noch allgemein der von Gott empfangene Glaube als ein gemeinsames und unteilbares väterliches Erbgut angesehen wurde; wo noch sämtliche durch echte menschliche Bildung vervollkommneten Völker in ihrer Verschiedenheit nach Gegend, natürlicher Beschaffenheit und Charakter, mochten sie auch oft bezüglich anderer Dinge nicht in Einklang stehen, trotzdem, WAS DIE RELIGION ANGEHT, ALLE MITEINANDER
DURCH DEN CHRISTLICHEN GLAUBEN INNIG VERBUNDEN WAREN. Umso mehr Kummer bedeutet es für die empfindende Seele, wenn in späteren Zeitaltern unter unglücklichen Umständen und Verhältnissen große und blühende Nationen, durch Mißtrauen und Feindseligkeiten erregt und erschüttert, sich vom Schoß der Römischen Kirche losgerissen haben.
…..wir ermahnen und beschwören sie mit väterlicher heiliger Liebe, doch Zwist und Feindschaft beizulegen und zur EINHEIT DES GLAUBENS zurückkehren zu wollen…“ (20. Juni 1894)