[„Kardinal“] Hans Urs von Balthasar: KLARSTELLUNGEN: TRADITION [2]

Wie es in der Kirchengeschichte konkret zugeht, zeigt ansatzweise die Apostelgeschichte, die ein Anfang ist; zeigen die Apostelbriefe, die — mitten in der Problematik der einzelnen Gemeinden, an denen es viel zu rügen und zu reformieren gibt — das Prinzip der lebendigen Einheit von Christus und Kirche im gemeinsamen Heiligen Geist versichtbaren. Wir heben drei Punkte heraus.

a) Das Mysterium der Menschwerdung Gottes in Christo, seines Leidens für die Welt im ganzen, seines Sieges in der Rückkehr zum Vater, ist so unerschöpflich, daß es nach immer neuer Betrachtung ruft, neu umdacht, umforscht, reicher und wenn möglich präziser formuliert werden will. Wo es offensichtlich, rechts oder links, ver­fehlt wird, müssen richtunggebende Formeln jenen Weg der Mitte weisen, der das Mysterium unangetastet läßt. Das ist der Sinn der „Ausführungsbestimmungen“, wie sie die ersten ökumenischen Konzilien geben. Es ist ferner sinnvoll, daß vom Hintergrund des alttestamentlichen Geschichtshandelns Gottes her, das konzentrisch auf Jesus Christus zuläuft, der Versuch gedanklicher Ausfächerung der in der neutestamentlichen Spitze geballten göttlichen Wahrheit unternommen wird, in theologisch-dogmatischer Arbeit. Diese Entfaltungen werden zwar zeitbedingt bleiben, aber wo sie beim Wesentlichen verharren, auch Wesentliches und Unverlierbares zei­tigen, das auf den weiteren Weg mitgenommen werden muß. Die Theologie der Kirchenväter und Scholastiker läßt sich nicht einzig an den expliziten Aussagen der Heiligen Schrift messen, und die Ausfaltung ist nicht als entbehrliche, ja schädliche Zutat fallen­zulassen. Man würde sonst den Jüngling am Kind, den wachsenden Strauch am Samenkorn messen. Nur wer die große Tradition nicht oder bloß oberflächlich (und damit eben doch nicht) kennt, sie nach Schlagworten beurteilt, nie von ihrer theologischen Fülle überwältigt wurde, kann die Schrift gegen die Tradition ausspielen. Freilich muß man immer den ganzen Geschichtsgang im Blick be­halten: man muß neben Irenäus Origenes sehen, diesen neben Au­gustinus, darf sich auch nicht auf Augustinus als „Vater des Abend­landes“ festlegen, sondern erkennen, wie sich in Thomas von Aquin eine neue Öffnung zur „weltlichen Welt“ anbahnt, sich wiederum nicht auf Thomas als unüberholbaren Höhepunkt versteifen, son­dern seine Bezogenheit nach rückwärts und vorwärts im Auge be­halten. Aber nicht weil bei Thomas gewisse biblische Dimensionen fehlen (doch wer liest seine Bibelkommentare?) und bei Augustinus einige spätantike Relikte nicht völlig abgestreift sind, können wir heute (als Zwerge neben diesen Riesen) ihre gewaltige Leistung verachten und von vorn anfangen. Die Riesen waren demütig; wir Zwerge sind überheblich.

b) Christentum ist nicht bloße Theorie, sondern Praxis — Gott handelt, nur handelnd kann der Mensch antworten —, deshalb gibt es hier eine nur durch Handeln zu gewinnende Erfahrung und Gewißheit. Wer den Willen des sendenden Vaters tut, „wird in­newerden, ob meine Lehre von Gott stammt oder ob ich aus mir selber rede“ (Jo 7, 17). Wer ihn nicht tut, dem schaut aus dem Spie­gel nur das eigene Gesicht entgegen, und sobald er sich abwendet, vergißt er schon wieder dieses Gesicht (so unbedeutend ist es): Jak 1, 24. Seit Abraham hört Gott selber nicht auf, den Glauben der Seinen zu „erproben“; wie werden sie sich verhalten, wenn es ernst gilt?, da kommt die Wahrheit ans Licht. Kirchliche Tradition ist eine Kette von weitergereichter christlicher Erfahrung, deshalb auch von erfolgten Unterscheidungen — Bewährung oder Entlarvung ­im Ernstfall. Diesen gibt es sowohl im verborgenen Alltag wie im öffentlichen Bekenntnis wie schließlich im Blutzeugnis. Der verbor­gene Ernstfall ist für die lebendige Tradition nicht weniger wichtig als das spektakuläre Martyrium, er ereignet sich täglich, wo Eltern ihren Kindern ihre christliche Erfahrung vorleben und sie mit oder ohne Worte überliefern, wo ein christliches Beispiel bewußt oder unbewußt zündet und der Funke des Glaubens, der Hoffnung, der Liebe überspringt, wo aus gelebtem Christsein (und nicht nur am grünen Tisch der Pastoralsoziologen!) christliche Phantasie schöpferisch neue Wege der Kirche zu den Menschen ausdenkt. Die Wege werden nicht primär aufgrund von Enttäuschungen mit den alten ungangbar gewordenen entdeckt, sondern aus geheimnis­vollen gelebten Erfahrungen der Wirklichkeit Jesu Christi. Und weil man Erfahrungen entweder macht oder nicht macht, läßt sich darüber kaum disputieren; Erfahrungen beweist man nicht, kann höchstens einladen, sie mitzuvollziehen. Wer das nicht will, hat leichtes Spiel: er braucht nur zu behaupten, „nach seiner Erfahrung“ sei „Gott tot“, er jedenfalls sei ihm nie lebendig begegnet; wenn Christen früherer Zeiten solche Begegnungen massenhaft wider­fahren seien, so gehe ihn das nichts an (er als Psychologe vermute hier Massensuggestion), und wenn Erfahrung ein Kriterium christ­licher Wahrheit sein solle, so werde jede Volksabstimmung eindeu­tig beweisen, daß die Zeit dieser Wahrheit um sei, und so fort. Der Ton verrät, daß der Redende sich nicht die Mühe nehmen wird, in den Kreis von Gabe und Empfang einzutreten. Man kann es nicht leugnen: das Katholisch-Allgemeine war in seiner ganzen Tradition doch zuletzt esoterisch. Erfahrung endgültiger Hingabe zwischen Mann und Frau (gemeint ist nicht jeder zufällige Geschlechtsakt) ist immer einmalig, lebenbesiegelnd. Der Bund zwischen Gott und Mensch, der in Jesus Christus bis ins Innerste dringt und dort ver­siegelt wird, ist in der Schrift öfter mit dem Ehebund verglichen worden. Die Christen überliefern einander dieses „heilig-öffentliche Geheimnis“; sie wissen, was die kostbare Perle wert ist und weshalb man sie nicht vor die Schweine wirft.

c) Die großen Erfahrer waren stets die Heiligen. Kirchenge­schichte ist doch wohl vor allem Geschichte der Heiligen. Der be­kannten und unbekannten. Sie, die alles auf eine Karte gesetzt haben und durch ihr Wagnis zu lauteren Spiegeln wurden, haben in rei­chem Spektrum das Licht von innen in unser dunkles Außen ge­worfen. Sie sind die große Auslegungsgeschichte des Evangeliums, echter und beweiskräftiger als alle Exegese. Sie sind Beweis sowohl der Fülle wie der Präsenz. Man sollte sich hüten, Dinge, die sie von Jahrhundert zu Jahrhundert immer neu erfuhren, als überholt abzutun (etwa ihre Begegnungen mit den Engeln Gottes und mit dem Dämon: bis hin zu Vianney und Don Bosco). Oder den reinen Spiegel Bernadettes und was er von der Wahrheit Marias aufstrahlen läßt, geringzuachten neben irgendwelchen exegetischen Fündlein. Es wird heute viel über die Zeitbedingtheit des Weltbilds der Heili­gen gesagt und geschrieben, und manches davon ist richtig. Das enthebt uns nicht der Aufgabe, uns ihrem zentralen Anliegen zu stellen: ihrem unbedingten Ernstmachen mit der Liebe zu Gott in Christus und — aus dieser Enteignung in die absolute Liebe — ihrem Sich-übereignenlassen an die Mitmenschen. So, in dieser Reihen­folge, nicht umgekehrt. Nächstenliebe war bei ihnen nie ein Ersatz für die Gottes- und Christusliebe. Ihre Liebe entzündet sich daran, daß sie sich absolut geliebt wissen und der absoluten Liebe mit ihrer ganzen Existenz antworten möchten. Man braucht, um das Modell zu haben, nur auf Paulus zu sehen, der sich insofern als „Vorbild“ hinstellt, als er ganz zum Modell Christus enteignet ist. Oder fast noch besser auf „den Jünger, den Jesus liebte“ und für den Christus- und Nächstenliebe untrennbar sind vom Glauben an den absoluten Vorrang der Liebe des dreieinigen Gottes zu uns (1 Jo 3, 16; 4, 10). Verzagen wir nicht, als ob es in unserer Zeit solche Liebende und Bekennende nicht mehr gebe. Die Tradition bricht nicht ab.

Die Tradition ist ebenso nötig wie die Schrift. Diese legt sich (oder besser ihren Inhalt: Christus) immer neu in die, christliche Existenz hinein aus. Jene entfernt sich nicht vom Ursprung, sondern läßt ihn (hinblickend auf die Schrift) je-jetzt kraft des geschenkten Heiligen Geistes Gegenwart sein. Kirche wächst als Leib, wenn auch nicht nach den feststellbaren Gesetzen innerweltlicher Evolution. Aber wäre Maria nicht durch dreiunddreißig Jahre gewachsen, so hätte sie schwerlich unter dem Kreuz stehen können. Wäre Kirche diese zweitausend Jahre nicht beharrlich gewandert, so fehlte ihr die Erfahrung, eine Situation wie die heutige zu bestehen. Wir Chri­sten sind keine Individuen, die, ohne Eltern oder im Aufstand gegen sie, die nicht nachkommen, uns allein in der Gegenwart zurecht­finden müßten. Wir sind und bleiben Glieder der Kirche, Zweige an ihrem Baum, genährt von den Säften ihrer gesamten Erfahrungen, die zuletzt aus den unergründlichen Erfahrungen Jesu Christi aufsteigen. Diesen in uns wirkenden Kräften sollen wir trauen, auch sie vermitteln uns — unentbehrlich — in das Unmittelbare hinein.

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Quelle: Hans Urs von Balthasar: Klarstellungen – Zur Prüfung der Geister, Herderbücherei, Band 393, 1971

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